Arthur Schnitzler
Anatol
Arthur Schnitzler

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Episode

Anatol. Max. Bianca.

Maxens Zimmer, im ganzen dunkel gehalten, dunkelrote Tapeten, dunkelrote Portieren. Im Hintergrunde, Mitte, eine Tür. Eine zweite links vom Zuschauer. In der Mitte des Zimmers ein großer Schreibtisch; eine Lampe mit einem Schirm steht darauf; Bücher und Schriften liegen auf demselben. Rechts vorn ein hohes Fenster. Im Winkel rechts ein Kamin, in welchem ein Feuer lodert. Davor zwei niedere Lehnsessel. Zwanglos daneben gerückt ein dunkelroter Ofenschirm.

Max (sitzt vor dem Schreibtisch und liest, seine Zigarre rauchend, einen Brief). »Mein lieber Max! Ich bin wieder da. Unsere Gesellschaft bleibt drei Monate hier, wie Sie wohl in der Zeitung gelesen haben. Der erste Abend gehört der Freundschaft. Heute abend bin ich bei Ihnen. Bibi . . .« Bibi . . . also Bianca . . . Nun, ich werde sie erwarten. (Es klopft.) Sollte sie es schon sein . . .? Herein!

Anatol (tritt ein, ein großes Paket unter dem Arm tragend, düster). Guten Abend!

Max. Ah – was bringst du?

Anatol. Ich suche ein Asyl für meine Vergangenheit.

Max. Wie soll ich das verstehen?

Anatol (hält ihm das Paket entgegen).

Max. Nun?

Anatol. Hier bringe ich dir meine Vergangenheit, mein ganzes Jugendleben: Nimm es bei dir auf.

Max. Mit Vergnügen. Aber du wirst dich doch näher erklären?

Anatol. Darf ich mich setzen?

Max. Gewiß. Warum bist du übrigens so feierlich?

Anatol (hat sich niedergesetzt). Darf ich mir eine Zigarre anzünden?

Max. Da! Nimm, sie sind von der heurigen Ernte.

Anatol (zündet sich eine der angebotenen Zigarren an). Ah – ausgezeichnet!

Max (auf das Paket deutend, welches Anatol auf den Schreibtisch gelegt hat). Und . . .?

Anatol. Dieses Jugendleben hat in meinem Haus kein Quartier mehr! Ich verlasse die Stadt.

Max. Ah!

Anatol. Ich beginne ein neues Leben auf unbestimmte Zeit. Dazu muß ich frei und allein sein, und darum löse ich mich von der Vergangenheit los.

Max. Du hast also eine neue Geliebte.

Anatol. Nein – ich habe nur vorläufig die alte nicht mehr . . . (rasch abbrechend und auf das Paket deutend) bei dir, mein lieber Freund, darf ich all diesen Tand ruhen lassen.

Max. Tand, sagst du –! Warum verbrennst du ihn nicht?

Anatol. Ich kann nicht.

Max. Das ist kindisch.

Anatol. O nein: Das ist so meine Art von Treue. Keine von allen, die ich liebte, kann ich vergessen. Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle – du mußt mir gestatten, manchmal zu dir zu kommen, nur um zu wühlen – dann bin ich wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie aufs neue an.

Max. Du willst dir also in meiner Behausung ein Stelldichein mit alten Geliebten geben . . .?

Anatol (kaum auf ihn hörend). Ich habe manchmal so eine Idee . . . Wenn es irgendein Machtwort gäbe, daß alle wieder erscheinen müßten! Wenn ich sie hervorzaubern könnte aus dem Nichts!

Max. Dieses Nichts wäre etwas verschiedenartig.

Anatol. Ja, ja . . . denke dir, ich spräche es aus, dieses Wort . . .

Max. Vielleicht findest du ein wirksames . . . zum Beispiel: Einzig Geliebte!

Anatol. Ich rufe also: Einzig Geliebte . . .! Und nun kommen sie; die eine aus irgendeinem kleinen Häuschen aus der Vorstadt, die andere aus dem prunkenden Salon ihres Herrn Gemahls – eine aus der Garderobe ihres Theaters –

Max. Mehrere!

Anatol. Mehrere – gut . . . Eine aus dem Modistengeschäft –

Max. Eine aus den Armen eines neuen Geliebten –

Anatol. Eine aus dem Grabe . . . Eine von da – eine von dort – und nun sind sie alle da . . .

Max. Sprich das Wort lieber nicht aus. Diese Versammlung könnte ungemütlich werden. Denn sie haben vielleicht alle aufgehört, dich zu lieben – aber keine, eifersüchtig zu sein.

Anatol. Sehr weise . . . Ruhet also in Frieden.

Max. Nun heißt es aber einen Platz für dieses stattliche Päckchen zu finden.

Anatol. Du wirst es verteilen müssen. (Reißt das Paket auf; es liegen zierliche, durch Bänder zusammengehaltene Päckchen zutage.)

Max. Ah!

Anatol. Es ist alles hübsch geordnet.

Max. Nach Namen?

Anatol. O nein. Jedes Päckchen trägt irgendeine Aufschrift: Einen Vers, ein Wort, eine Bemerkung, die mir das ganze Erlebnis in die Erinnerung zurückrufen. Niemands Namen – denn Marie oder Anna könnte schließlich jede heißen.

Max. Laß lesen.

Anatol. Werde ich euch alle wieder kennen? Manches liegt jahrelang da, ohne daß ich es wieder angesehen habe.

Max (eines der Päckchen in die Hand nehmend, die Aufschrift lesend).

»Du reizend Schöne, Holde, Wilde,
Laß mich umschlingen deinen Leib;
Ich küsse deinen Hals, Mathilde,
Du wundersames süßes Weib!« . . .

Das ist ja doch ein Name –? Mathilde!

Anatol. Ja, Mathilde. – Sie hieß aber anders. Immerhin habe ich ihren Hals geküßt.

Max. Wer war sie?

Anatol. Frage das nicht. Sie hat in meinen Armen gelegen, das genügt.

Max. Also fort mit der Mathilde. – Übrigens ein sehr schmales Päckchen.

Anatol. Ja, es ist nur eine Locke darin.

Max. Gar keine Briefe?

Anatol. Oh – von der! Das hätte ihr die riesigste Mühe gemacht. Wo kämen wir aber hin, wenn uns alle Weiber Briefe schrieben! Also weg mit der Mathilde.

Max (wie oben). »In einer Beziehung sind alle Weiber gleich: Sie werden impertinent, wenn man sie auf einer Lüge ertappt.«

Anatol. Ja, das ist wahr!

Max. Wer war die? Ein gewichtiges Päckchen!

Anatol. Lauter acht Seiten lange Lügen! Weg damit.

Max. Und impertinent war sie auch?

Anatol. Als ich ihr drauf kam. Weg mit ihr.

Max. Weg mit der impertinenten Lügnerin.

Anatol. Keine Beschimpfungen. Sie lag in meinen Armen; – sie ist heilig.

Max. Das ist wenigstens ein guter Grund. Also weiter. (Wie oben.)

»Um mir die böse Laune wegzufächeln,
Denk ich an deinen Bräutigam, mein Kind.
Ja dann, mein süßer Schatz, dann muß ich lächeln,
Weil's Dinge gibt, die gar zu lustig sind.«

Anatol (lächelnd). Ach ja, das war sie.

Max. Ah – was ist denn drin?

Anatol. Eine Photographie. Sie mit dem Bräutigam.

Max. Kanntest du ihn?

Anatol. Natürlich, sonst hätte ich ja nicht lächeln können. Er war ein Dummkopf.

Max (ernst). Er ist in ihren Armen gelegen; er ist heilig.

Anatol. Genug.

Max. Weg mit dem lustigen süßen Kind samt lächerlichem Bräutigam. (Ein neues Päckchen nehmend.) Was ist das? Nur ein Wort?

Anatol. Welches denn?

Max. »Ohrfeige.«

Anatol. Oh, ich erinnere mich schon.

Max. Das war wohl der Schluß?

Anatol. O nein, der Anfang.

Max. Ach so! Und hier . . . »Es ist leichter, die Richtung einer Flamme zu verändern, als sie zu entzünden.« – Was bedeutet das?

Anatol. Nun, ich habe die Richtung der Flamme verändert: Entzündet hat sie ein anderer.

Max. Fort mit der Flamme . . . »Immer hat sie ihr Brenneisen mit.« (Sieht Anatol fragend an.)

Anatol. Nun ja; sie hatte eben immer ihr Brenneisen mit – für alle Fälle. Aber sie war sehr hübsch. Übrigens hab ich nur ein Stück Schleier von ihr.

Max. Ja, es fühlt sich so an . . . (Weiterlesend.) »Wie hab ich dich verloren?« . . . Nun, wie hast du sie verloren?

Anatol. Das weiß ich eben nicht. Sie war fort – plötzlich aus meinem Leben. Ich versichere dir, das kommt manchmal vor. Es ist, wie wenn man irgendwo einen Regenschirm stehen läßt und sich erst viele Tage später erinnert . . . Man weiß dann nicht mehr wann und wo.

Max. Ade Verlorene. (Wie oben.) »Warst ein süßes, liebes Ding –«

Anatol (träumerisch fortfahrend). »Mädel mit den zerstochenen Fingern.«

Max. Das war Cora – nicht?

Anatol. Ja – du hast sie ja gekannt.

Max. Weißt du, was aus ihr geworden ist?

Anatol. Ich habe sie später wieder getroffen – als Gattin eines Tischlermeisters.

Max. Wahrhaftig!

Anatol. Ja, so enden diese Mädel mit den zerstochenen Fingern. In der Stadt werden sie geliebt und in der Vorstadt geheiratet . . . 's war ein Schatz!

Max. Fahr wohl –! Und was ist das? . . . »Episode« – da ist ja nichts darin? . . . Staub!

Anatol (das Kuvert in die Hand nehmend). Staub –? Das war einmal eine Blume!

Max. Was bedeutet das: Episode?

Anatol. Ach nichts; so ein zufälliger Gedanke. Es war nur eine Episode, ein Roman von zwei Stunden . . . nichts! . . . Ja, Staub! – Daß von so viel Süßigkeit nichts anderes zurückbleibt, ist eigentlich traurig. – Nicht?

Max. Ja, gewiß ist das traurig . . . Aber wie kamst du zu dem Worte? Du hättest es doch überall hinschreiben können?

Anatol. Jawohl; aber niemals kam es mir zu Bewußtsein wie damals. Häufig, wenn ich mit der oder jener zusammen war, besonders in früherer Zeit, wo ich noch sehr Großes von mir dachte, da lag es mir auf den Lippen: Du armes Kind – du armes Kind –!

Max. Wieso?

Anatol. Nun, ich kam mir so vor, wie einer von den Gewaltigen des Geistes. Diese Mädchen und Frauen – ich zermalmte sie unter meinen ehernen Schritten, mit denen ich über die Erde wandelte. Weltgesetz, dachte ich – ich muß über euch hinweg.

Max. Du warst der Sturmwind, der die Blüten wegfegte . . . nicht?

Anatol. Ja! So brauste ich dahin. Darum dachte ich eben: Du armes, armes Kind. Ich habe mich eigentlich getäuscht. Ich weiß heute, daß ich nicht zu den Großen gehöre, und was gerade so traurig ist – ich habe mich darein gefunden. Aber damals!

Max. Nun, und die Episode?

Anatol. Ja, das war eben auch so . . . Das war so ein Wesen, das ich auf meinem Wege fand.

Max. Und zermalmte.

Anatol. Du, wenn ich mir's überlege, so scheint mir: Die habe ich wirklich zermalmt.

Max. Ah!

Anatol. Ja, höre nur. Es ist eigentlich das Schönste von allem, was ich erlebt habe . . . Ich kann es dir gar nicht erzählen.

Max. Warum?

Anatol. Weil die Geschichte so gewöhnlich ist als nur möglich . . . Es ist . . . nichts. Du kannst das Schöne gar nicht herausempfinden. Das Geheimnis der ganzen Sache ist, daß ich's erlebt habe.

Max. Nun –?

Anatol. Also da sitze ich vor meinem Klavier . . . In dem kleinen Zimmer war es, das ich damals bewohnte . . . Abend . . . Ich kenne sie seit zwei Stunden . . . Meine grün-rote Ampel brennt – ich erwähne die grün-rote Ampel; sie gehört auch dazu.

Max. Nun?

Anatol. Nun! Also ich am Klavier. Sie – zu meinen Füßen, so daß ich das Pedal nicht greifen konnte. Ihr Kopf liegt in meinem Schoß, und ihre verwirrten Haare funkeln grün und rot von der Ampel. Ich phantasiere auf dem Flügel, aber nur mit der linken Hand; meine rechte hat sie an ihre Lippen gedrückt . . .

Max. Nun?

Anatol. Immer mit deinem erwartungsvollen »Nun« . . . Es ist eigentlich nichts weiter . . . Ich kenne sie also seit zwei Stunden, ich weiß auch, daß ich sie nach dem heutigen Abend wahrscheinlich niemals wiedersehen werde – das hat sie mir gesagt – und dabei fühle ich, daß ich in diesem Augenblick wahnsinnig geliebt werde. Das hüllt mich so ganz ein – die ganze Luft war trunken und duftete von dieser Liebe . . . Verstehst du mich? (Max nickt.) – Und ich hatte wieder diesen törichten göttlichen Gedanken: Du armes – armes Kind! Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zum Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. Sie war wieder eine von denen gewesen, über die ich hinweg mußte. Das Wort selbst fiel mir ein, das dürre Wort: Episode. Und dabei war ich selber irgend etwas Ewiges . . . Ich wußte auch, daß das »arme Kind« nimmer diese Stunde aus ihrem Sinn schaffen könnte – gerade bei der wußt' ich's. Oft fühlt man es ja: Morgen früh bin ich vergessen. Aber da war es etwas anderes. Für diese, die da zu meinen Füßen lag, bedeutete ich eine Welt; ich fühlte es, mit welch einer heiligen unvergänglichen Liebe sie mich in diesem Momente umgab. Das empfindet man nämlich; ich lasse es mir nicht nehmen. Gewiß konnte sie in diesem Augenblick nichts anderes denken als mich – nur mich. Sie aber war für mich jetzt schon das Gewesene, Flüchtige, die Episode.

Max. Was war sie denn eigentlich?

Anatol. Was sie war –? Nun, du kanntest sie. – Wir haben sie eines Abends in einer lustigen Gesellschaft kennengelernt, du kanntest sie sogar schon von früher her, wie du mir damals sagtest.

Max. Nun, wer war sie denn? Ich kenne sehr viele von früher her. Du schilderst sie ja in deinem Ampellicht wie eine Märchengestalt.

Anatol. Ja – im Leben war sie das nicht. Weißt du, was sie war –? Ich zerstöre jetzt eigentlich den ganzen Nimbus.

Max. Sie war also –?

Anatol (lächelnd). Sie war – vom – vom –

Max. Vom Theater –?

Anatol. Nein – vom Zirkus.

Max. Ist's möglich!

Anatol. Ja – Bianca war es. Ich hab es dir bis heute nicht erzählt, daß ich sie wiedertraf – nach jenem Abend, an dem ich mich um sie gar nicht gekümmert hatte.

Max. Und du glaubst wirklich, daß dich Bibi geliebt hat –?

Anatol. Ja, gerade die! Acht oder zehn Tage nach jenem Feste begegneten wir uns auf der Straße . . . Am Morgen darauf mußte sie mit der ganzen Gesellschaft nach Rußland.

Max. Es war also die höchste Zeit.

Anatol. Ich wußt' es ja; nun ist für dich das Ganze zerstört. Du bist eben noch nicht auf das wahre Geheimnis der Liebe gekommen.

Max. Und worin löst sich für dich das Rätsel der Frau?

Anatol. In der Stimmung.

Max. Ah – du brauchst das Halbdunkel, deine grün-rote Ampel . . . dein Klavierspiel.

Anatol. Ja, das ist's. Und das macht mir das Leben so vielfältig und wandlungsreich, daß mir eine Farbe die ganze Welt verändert. Was wäre für dich, für tausend andere dieses Mädchen gewesen mit den funkelnden Haaren; was für euch diese Ampel, über die du spottest! Eine Zirkusreiterin und ein rot-grünes Glas mit einem Licht dahinter! Dann ist freilich der Zauber weg; dann kann man wohl leben, aber man wird nimmer was erleben. Ihr tappt hinein in irgendein Abenteuer, brutal, mit offenen Augen, aber mit verschlossenem Sinn, und es bleibt farblos für euch! Aus meiner Seele aber, ja, aus mir heraus blitzen tausend Lichter und Farben drüber hin, und ich kann empfinden, wo ihr nur – genießt!

Max. Ein wahrer Zauberborn, deine »Stimmung«. Alle, die du liebst, tauchen darin unter und bringen dir nun einen sonderbaren Duft von Abenteuern und Seltsamkeit mit, an dem du dich berauschest.

Anatol. Nimm es so, wenn du willst.

Max. Was nun aber deine Zirkusreiterin anbelangt, so wirst du mir schwerlich erklären können, daß sie unter der grün-roten Ampel dasselbe empfinden mußte wie du.

Anatol. Aber ich mußte empfinden, was sie in meinen Armen fühlte!

Max. Nun, ich habe sie ja auch gekannt, deine Bianca, und besser als du.

Anatol. Besser?

Max. Besser; weil wir einander nicht liebten. Für mich ist sie nicht die Märchengestalt; für mich ist sie eine von den tausend Gefallenen, denen die Phantasie eines Träumers neue Jungfräulichkeit borgt. Für mich ist sie nichts Besseres als hundert andere, die durch Reifen springen oder kurzgeschürzt in der letzten Quadrille stehen.

Anatol. So . . . so . . .

Max. Und sie war nichts anderes. Nicht ich habe etwas übersehen, was an ihr war; sondern du sahst, was nicht an ihr war. Aus dem reichen und schönen Leben deiner Seele hast du deine phantastische Jugend und Glut in ihr nichtiges Herz hineinempfunden, und was dir entgegenglänzte, war Licht von deinem Lichte.

Anatol. Nein. Auch das ist mir ja zuweilen geschehen. Aber damals nicht. Ich will sie ja nicht besser machen, als sie war. Ich war weder der erste, noch der letzte . . . ich war –

Max. Nun, was warst du? . . . Einer von vielen. Dasselbe war sie in deinen Armen wie in denen der anderen. Das Weib in seinem höchsten Augenblick!

Anatol. Warum hab ich dich eingeweiht? Du hast mich nicht verstanden.

Max. O nein. Du hast mich mißverstanden. Ich wollte nur sagen, du magst den süßesten Zauber empfunden haben, während es ihr dasselbe bedeutete wie viele Male zuvor. Hatte denn für sie die Welt tausend Farben?

Anatol. Du kanntest sie sehr gut?

Max. Ja; wir begegneten uns häufig in der lustigen Gesellschaft, in welche du einmal mit mir kamst.

Anatol. Das war alles?

Max. Alles. Aber wir waren gute Freunde. Sie hatte Witz; wir plauderten gern miteinander.

Anatol. Das war alles?

Max. Alles . . .

Anatol. . . . Und dennoch . . . sie hat mich geliebt.

Max. Wollen wir nicht weiterlesen . . . (Ein Päckchen in die Hand nehmend.) »Wüßt' ich doch, was dein Lächeln bedeutet, du grünäugige . . .«

Anatol. . . . Weißt du übrigens, daß die ganze Gesellschaft wieder hier eingetroffen ist?

Max. Gewiß. Sie auch.

Anatol. Jedenfalls.

Max. Ganz bestimmt. Und ich werde sie sogar heute abend wiedersehen.

Anatol. Wie? Du? Weißt du, wo sie wohnt?

Max. Nein. Sie hat mir geschrieben; sie kommt zu mir.

Anatol (vom Sessel auffahrend). Wie? Und das sagst du mir erst jetzt?

Max. Was geht es dich an? Du willst ja – »frei und allein« sein!

Anatol. Ach was!

Max. Und dann ist nichts trauriger als ein aufgewärmter Zauber.

Anatol. Du meinst –?

Max. Ich meine, daß du dich in acht nehmen sollst, sie wiederzusehen.

Anatol. Weil sie mir von neuem gefährlich werden könnte?

Max. Nein – weil es damals so schön war. Geh nach Hause mit deiner süßen Erinnerung. Man soll nichts wiedererleben wollen.

Anatol. Du kannst nicht im Ernst glauben, daß ich auf ein Wiedersehen verzichten soll, das mir so leicht gemacht wird.

Max. Sie ist klüger als du. Sie hat dir nicht geschrieben . . . vielleicht übrigens nur, weil sie dich vergessen hat.

Anatol. Unsinn.

Max. Du hältst es für unmöglich?

Anatol. Ich lache darüber.

Max. Nicht bei allen trinkt die Erinnerung von dem Lebenselixier Stimmung, das der deinen ihre ewige Frische verleiht.

Anatol. Oh – jene Stunde damals!

Max. Nun?

Anatol. Es war eine von den unsterblichen Stunden.

Max. Ich höre Schritte im Vorzimmer.

Anatol. Sie ist es am Ende.

Max. Gehe, entferne dich durch mein Schlafzimmer,

Anatol. Daß ich ein Narr wäre.

Max. Geh – was willst du dir denn den Zauber zerstören lassen.

Anatol. Ich bleibe. (Es klopft.)

Max. Geh! Gehe rasch!

Anatol (schüttelt den Kopf).

Max. So stelle dich hierher, daß sie dich wenigstens nicht gleich sieht – hierher . . . (Er schiebt ihn zum Kamin hin, so daß er teilweise durch den Schirm gedeckt ist.)

Anatol (sich an den Kaminsims lehnend). Meinetwegen. (Es klopft.)

Max. Herein!

Bianca (eintretend, lebhaft). Guten Abend, lieber Freund; da bin ich wieder.

Max (ihr die Hände entgegenstreckend). Guten Abend, liebe Bianca, das ist schön von Ihnen, wirklich schön!

Bianca. Meinen Brief haben Sie doch erhalten? Sie sind der allererste – der einzige überhaupt.

Max. Und Sie können sich denken, wie stolz ich bin.

Bianca. Und was machen die anderen? Unsere Sachergesellschaft? Existiert sie noch? Werden wir wieder jeden Abend nach der Vorstellung beisammen sein?

Max (ist ihr beim Ablegen behilflich). Es gab aber Abende, wo Sie nicht zu finden waren.

Bianca. Nach der Vorstellung?

Max. Ja, wo Sie gleich nach der Vorstellung verschwanden.

Bianca (lächelnd). Ach ja . . . natürlich . . . Wie schön das ist, wenn einem das so gesagt wird – ohne die geringste Eifersucht! Man muß auch solche Freunde haben wie Sie . . .

Max. Ja, ja, das muß man.

Bianca. Die einen lieben, ohne einen zu quälen!

Max. Das ward Ihnen selten!

Bianca (den Schatten Anatols gewahrend). Sie sind ja nicht allein.

Anatol (tritt hervor, verbeugt sich).

Max. Ein alter Bekannter.

Bianca (das Lorgnon zum Auge führend). Ah . . .

Anatol (näher tretend). Fräulein . . .

Max. Was sagen Sie zu der Überraschung, Bibi?

Bianca (etwas verlegen, sucht augenscheinlich in ihren Erinnerungen). Ah, wahrhaftig, wir kennen uns ja . . .

Anatol. Gewiß – Bianca.

Bianca. Natürlich – wir kennen uns sehr gut . . .

Anatol (erregt mit beiden Händen ihre Rechte fassend). Bianca . . .

Bianca. Wo war es nur, wo wir uns trafen . . . wo nur . . . ach ja!

Max. Erinnern Sie sich . . .

Bianca. Freilich . . . Nicht wahr . . . es war in St. Petersburg . . .?

Anatol (rasch ihre Hand fahren lassend). Es war . . . nicht in Petersburg, mein Fräulein . . . (Wendet sich zum Gehen.)

Bianca (ängstlich zu Max). Was hat er denn? . . . Hab ich ihn beleidigt?

Max. Da schleicht er davon . . . (Anatol ist durch die Tür im Hintergrunde verschwunden.)

Bianca. Ja, was bedeutet denn das?

Max. Ja, haben Sie ihn denn nicht erkannt?

Bianca. Erkannt . . . ja, ja. Aber ich weiß nicht recht, wo und wann?

Max. Aber, Bibi, es war Anatol!

Bianca. Anatol –? . . . Anatol . . .?

Max. Anatol – Klavier – Ampel . . . so eine rot-grüne . . . hier in der Stadt – vor drei Jahren . . .

Bianca (sich an die Stirn greifend). Wo hatte ich denn meine Augen? Anatol! (Zur Tür hin.) Ich muß ihn zurückrufen . . . (Die Tür öffnend.) Anatol! (Hinauslaufend, hinter der Szene, im Stiegenhaus.) Anatol! Anatol!

Max (steht lächelnd da, ist ihr bis zur Tür nachgegangen). Nun?

Bianca (eintretend). Er muß schon auf der Straße sein. Erlauben Sie! (Rasch das Fenster öffnend.) Da unten geht er.

Max (hinter ihr). Ja, das ist er.

Bianca (ruft). Anatol!

Max. Er hört Sie nicht mehr.

Bianca (leicht auf den Boden stampfend). Wie schade . . . Sie müssen mich bei ihm entschuldigen. Ich habe ihn verletzt, den guten, lieben Menschen.

Max. Also Sie erinnern sich doch seiner?

Bianca. Nun, gewiß. Aber . . . er sieht irgend jemandem in Petersburg zum Verwechseln ähnlich.

Max (beruhigend). Ich werde es ihm sagen.

Bianca. Und dann: Wenn man drei Jahre an jemanden nicht denkt, und er steht plötzlich da – man kann sich doch nicht an alles erinnern.

Max. Ich werde das Fenster schließen. Eine kalte Luft kommt herein. (Schließt das Fenster.)

Bianca. Ich werde ihn doch noch sehen, während ich hier bin?

Max. Vielleicht. Aber etwas will ich Ihnen zeigen. (Nimmt das Kuvert vom Schreibtisch und hält es ihr hin.)

Bianca. Was ist das?

Max. Das ist die Blume, die Sie an jenem Abend – – an jenem Abend trugen.

Bianca. Er hat sie aufbewahrt?

Max. Wie Sie sehen.

Bianca. Er hat mich also geliebt?

Max. Heiß, unermeßlich, ewig – – wie alle diese. (Deutet auf die Päckchen.)

Bianca. Wie . . . alle diese! . . . Was heißt das? Sind das lauter Blumen?

Max. Blumen, Briefe, Locken, Photographien. Wir waren eben daran, sie zu ordnen.

Bianca (in gereiztem Tone). In verschiedene Rubriken.

Max. Ja, offenbar.

Bianca. Und in welche komme ich?

Max. Ich glaube . . . in diese! (Wirft das Kuvert in den Kamin.)

Bianca. Oh!

Max (für sich). Ich räche dich, so gut ich kann, Freund Anatol . . . (Laut.) So, und nun seien Sie nicht böse . . . Setzen Sie sich zu mir her, und erzählen Sie mir etwas aus den letzten drei Jahren.

Bianca. Jetzt bin ich gerade aufgelegt! Wenn man so empfangen wird!

Max. Ich bin doch Ihr Freund . . . Kommen Sie, Bianka . . . Erzählen Sie mir was!

Bianca (läßt sich auf den Fauteuil neben dem Kamin niederziehen). Was denn?

Max (sich gegenüber von ihr niederlassend). Zum Beispiel von dem »Ähnlichen« in Petersburg.

Bianca. Unausstehlich sind Sie!

Max. Also . . .

Bianca (ärgerlich). Aber was soll ich denn erzählen.

Max. Beginnen Sie nur . . . Es war einmal . . . nun . . . Es war einmal eine große, große Stadt . . .

Bianca (verdrießlich). Da stand ein großer, großer Zirkus.

Max. Und da war ferner eine kleine, kleine Künstlerin.

Bianca. Die sprang durch einen großen, großen Reif . . . (Lacht leise.)

Max. Sehen Sie . . . Es geht schon! (Der Vorhang beginnt sich sehr langsam zu senken.) In einer Loge . . . nun . . . in einer Loge saß jeden Abend . . .

Bianca. In einer Loge saß jeden Abend ein schöner, schöner . . . Ach!

Max. Nun . . . Und . . .?

(Der Vorhang ist gefallen.)

 


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