Maximilian Schmidt
Der Zuggeist oder die erste Zugspitzbesteigung
Maximilian Schmidt

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VIII.

Görgls Mutter ward unter großer Teilnahme der Pfarreiangehörigen zur Erde bestattet. Keiner der Veteranen und früheren Knappen aus dem Höllenthalbergwerk fehlte, um der Witwe ihres einstigen, braven Kameraden die letzte Ehre zu erweisen, und ganz besonders gereichte es dem trauernden Sohne zur Genugthuung, daß auch der Bärenbauer mit Afra dem Leichenbegängnis und dem darauffolgenden Gottesdienste beiwohnten und statt seiner auch die sogenannten Spenden lieferten. Alle, welche bei einem solchen Seelenamte zum Opfer gehen, erhalten nämlich einen Groschen- oder Sechserwecken. Wohlhabende überlassen dieses Brot den Armen, die anderen bringen es »von der Leich« nach Hause. Görgl aber kam mit dem festen Vorsatze heim, nunmehr ein geregeltes Leben zu beginnen, zwar spät, aber wie er hoffte, nicht zu spät.

So wollte er sich vor allem des Bärenmartele Zufriedenheit erwerben, indem er schon an einem der nächsten Tage dessen Jagdrevier beging. Die soeben stattfindende Auerhahnbalz veranlaßte ihn, schon vor Tagesgrauen die ihm wohlbekannten Plätze aufzusuchen, und es gelang ihm gleich beim ersten Verhör einen prächtigen Schildhahn abzubäumen. Das dünkte ihm ein glückliches Zeichen für seine Zukunft und voll der kühnsten Hoffnungen versorgte er den prächtigen Vogel in seinem Rucksack.

83 Sein Herz war an diesem Morgen sogar offen für den Genuß der Natur. Er verlor sich tiefer in das Gehölz und klomm einen Berg hinan, um auf dem Scheitel desselben den Morgen zu feiern.

Der Nebel war infolge der Regentage noch ziemlich dicht und ließ ihn die nahen Bergkuppen und Alpen nur ahnen, aber nicht sehen. Er überwältigte mühsam die Bergwaldung und gewann einen offenen, geränmigen Platz, von dem er sogleich Besitz nahm.

Die Sonne hatte indes eine beträchtliche Höhe am Himmel erreicht, der Nebel fing an, sich zu verdünnen, und die Spitzen der Berge traten wie Inseln aus dem Meere hervor. Plötzlich zerriß der Schleier ganz, und Hügel, Alpen und Hochgebirge standen im schönsten Morgenschimmer da. Das Thal zu seinen Füßen lag wie eine ausgerollte Karte vor ihm. Die Loisach und Partnach, von den Strahlen der Morgensonne berührt, flossen schimmernd wie flüssiges Silber dahin und in den Tannenwaldungen sang und jubilierte es aus tausend frohen Kehlen.

Görgl war ergriffen von der Herrlichkeit der Szene. Zum ersten Mal erkannte er, wie schön die Heimat, in der es ihm vergönnt war, nunmehr als ehrlicher Mann zu leben, nachdem auch von ihm die Nebel gewichen, welche sein Geschick bislang verdüsterten. Und als von den Ortschaften zu seinen Füßen klar und feierlich die Glockentöne heraufzitterten, welche den Bewohnern das Zeichen zum Morgen-Ave-Maria gaben, da lüftete auch er den Hut und betete seinen englischen Gruß.

Noch eine Weile blickte er dann nach all der Herrlichkeit ringsum, bis ihn ein vom jenseitigen Gebirge 84 herüberschwebender und dem Wetterstein zueilender Geieradler aus seinen kurzen Wonneträumen weckte. Er verfolgte ihn mit seinen Augen, so lange es anging, und beim Anblick dieses Vogels wurden plötzlich all die Gedanken und Wünsche wieder in seinem Herzen wach, mit denen er sich so oft in glänzende Zukunftsträume gewiegt. Der verborgene Reichtum im Wettersteingebirge und am Badersee schimmerte wieder in seinem Kopfe, und als schämte er sich der Regung, welche einige Minuten vorher der Anblick dieser wunderbaren Natur in ihm hervorgerufen, sagte er sich jetzt:

»Was nutzt dir all die Schönheit, wenn nix dei' g'hört, wennst arm bist und veracht', wennst di plagn muaßt für andre Leut! Der Reiche hat'n Himmi auf der Welt, der Arm d' Höll. Drum soll's mei' erst's Trachten sei', reich z'wern, und ehnda bet' i koa' Vaterunser mehr, eh dös nit g'schiecht. Mit der Afra muaß si's entscheiden. I will mi zamnehma, ihr an' Respekt abz'gwinna, und's weiter giebt si' scho', sie müaßt netta koa' Dirndl sei'.«

Der Bärenmartele war sehr erfreut, als ihm Görgl 85 den prächtigen Hahn überbrachte, und auch Afra ergötzte sich an dessen grünschimmerndem Federwerk. Es war dem Mädchen alles von Interesse, was mit der Schußwaffe in Verbindung stand, denn sie selbst war einer jener weiblichen Schützen, welche in jenen Zeiten an der bayerisch-tirolischen Grenze nicht zu den Seltenheiten gehörten. Die bayerischen Mädchen machten dies ihren tirolischen Schwestern nach, die in den letzten Kämpfen gleich den Männern zu den Waffen gegriffen hatten, um die Grenzen ihres Vaterlandes zu verteidigen und sich bei mehreren Gelegenheiten rühmlichst hervorthaten.

So hatte auch der Bärenmartele und manch anderer schießkundiger Bauer seine Tochter im Schießen nach der Scheibe abgerichtet, und nicht selten trug ein Mädchen beim festlichen Scheibenschießen den besten Preis davon.

»Um's Treffen wär's mir nit,« meinte Afra, den Vogel beschauend, »wenn i mit auf d' Balz gaang, aber load wär's ma um den schöna Vogel, den sei' Lebn grad a so g'freut, wie uns.«

»Geh mit!« forderte sie der schwarze Görgl auf, und seine Augen leuchteten. »I woaß an' Platz, wo's nit schwer is, hinz'kemma, da Herr« – damit meinte er Afras Vater – »begleit' uns, und höllensaxendi! was müßt dös für a Freud für di sei', wennst sagen kannst, du hast an' Hahn abbäumt. 's is ja grad, als schießest auf d' Scheibn; d' Hauptsach is's Anspringa, und i wett' mit dir, es g'lingt dir. Geh mit, Afra!«

Diese lachte über den Einfall des Burschen, welcher dies als teilweise Zustimmung nahm und in beredtester Weise die Begierde des Mädchens zu erregen suchte, bis dieses endlich den Bemühungen Görgls ein Ende machte: 86 »Wie dir nur so was einfalln kann! I werd' mit dir auf d' Hahnbalz gehn! Aufs Königsschießet geh i, wenn der Vata nix dagegen hat, aber mit dir auf d' Balz – b'büt mi Gott!«

Und sie ging in die Nebenkammer.

Görgl blickte ihr schweigend nach, dann sagte er zu sich selbst:

»I bin ihr z'niederträchti, weil i arm bin. Sie schaamt si', mit mir z' gehn, selm wenn ihra Vata dabei is. Was willst machen? Vordersamst hoaßt's kuschen und die recht' Zeit ablurn (ablauern).«

Täglich machte er nun seine Waldgänge, riegelte auf die Füchse, schoß Wildtauben, Schnepfen und Raubvögel, und der Bärenbauer hatte alle Ursache, mit seinem Jagdgehilfen zufrieden zu sein. –

Mathies betrieb inzwischen sein Flößergeschäft, das ihm nur wenige Zeit gestattete, sich in seinem Dörfchen aufzuhalten. Das Zusammenrichten der Flöße und die Kalkbrände machten seine Anwesenheit teils an der Loisach, teils bei den Kalkgruben den ganzen Tag über nötig, dazwischen fuhr er dann auch häufig seinen Floß, dem er als Führer oder »Ferg« vorstand, die Loisach, und öfters sogar die Isar hinab.

Vom oberen Flußgebiet bei Oberau und Garmisch geht nämlich die erste Fahrstraße bis Beuerberg, wo neue Flößer bis Wolfratshausen eintreten; oft aber bringen dieselben Floßleute den Floß bis München und je nach der darauf befindlichen Fracht noch weiter bis zur Donau und selbst bis nach Wien.

Wie schon eingangs erwähnt, wohnt an der Loisach ein starkes, rüdes Geschlecht von Floßleuten, wozu die 87 meisten Söldner (Kleinhäusler) dieser Gegend gehören. Die Floßleute sind in eine feste Zunft vereinigt und halten sich streng nach den alten verkapselten Briefen ihrer Zunftlade. Ueberall hängen in den Wirtshäusern ihre Gewerbsschilde, zierliche, kleine Flöße mit Hütten und Fährleuten, aus Holz geschnitzt, das Floß meist in den bayerischen Farben mit weißen und blauen Rauten bemalt. Ihre Jahrtage, mit Gottesdienst und Tanz, haben eine große Berühmtheit. Die Zunft besteht aus Floßmeister und Floßknechten. Letztere sind entweder Fergen, das sind die Floßführer oder Steuerer. Nach alten Satzungen muß jeder Flößer ein Lang- oder Baumfloß herstellen, Schnallen, Wieden und Ruder zurichten, eine Kalktruhe bauen und ein Floß bis München steuern können. Den Floßleuten stand vor allem das Recht zu, an einer bestimmten Anzahl Oefen Kalk zu brennen, und mußten sogar alle Kalkbrenner sich auch in die Zunft der Flößer aufnehmen lassen. Kein Lediger durfte Floßhandel treiben, und nur wer verpflichtet und hausgesessen war und ein Floß von rauhem Zeug aufzuschlagen verstand, durfte in die Zunft aufgenommen werden.

In späterer Zeit wurde manches an diesen alten Satzungen geändert; es wurden auch ledige Burschen als Meister in die Zunft zugelassen, aber nur solche, die sich als gut beleumundet erwiesen. Immerhin bilden noch jetzt die Flößer eine festgeschlossene Zunft aus braven und arbeitsamen Leuten und jeder, der ihr angehört, ist stolz darauf, denn der ganze Stand genießt ein ihm mit Recht gebührendes Ansehen.

Mathies stand im Dienste des Floßmeisters Bürger in Garmisch, und dieser vertraute dem Burschen, der als Ferge seinem Floße vorstand, nicht nur letzteren an, sondern 88 auch den Verkauf der Bäume und der Fracht, wie Kalk, Kohlen u. a., und er hatte alle Ursache, mit ihm zufrieden zu sein.

So gab es vollauf zu thun und für sein Dörfchen hatte der Bursche, wie erwähnt, nur wenige Stunden der Nacht, oft auch nicht diese.

Aber Afra grüßte ihn von ihrem Kammerfenster aus, wenn sie ihn im Morgengrauen vorübergehen sah, und abends nach Sonnenuntergang blickte sie wieder sehnsüchtig nach ihm aus, und der Juhschrei, den er vom Thalgrunde unten zum Dörfchen hinaufschickte, galt ihr jedesmal als ein ersehnter Liebesgruß.

So war der Vorabend von Johanni herangekommen.

Mathies hatte seinen Floß nach München gefahren und von dort erwarteten ihn heute die Großmutter und Afra zurück.

Der Sommer hatte bereits die ganze Vollglut seiner Farbenpracht über die malerische Gegend ausgegossen und die Strahlen der Sonne lagen gleich einem goldenen Netze über den saftig grünen Thälern der Loisach und Partnach. Die Uferränder schienen wie übersät mit den lieblichsten Vergißmeinnichtblüten und anderen Blumen, und an den warmen Felswänden empor prangten förmliche Teppiche von glühenden Alpenrosen und vielen anderen Gebirgsblumen. Mathies kam, wie erwartet, an diesem Nachmittag mit noch zwei Kameraden, dem Seehansele und dem Floßerjackerle, über Murnau her gen Garmisch gewandert. Er hatte sich in München bei seinem ehemaligen Leutnant Naus erkundigt, wann er zur Terrainaufnahme in die Berge hereinkäme und wie er ihm dabei in irgend einer Weise dienlich sein könne.

89 Sein vormaliger Herr ergriff mit Freuden die Gelegenheit, den wackeren Burschen als Meßgehilfen für die Vermessungsdauer im Werdenfelsschen zu gewinnen, da er ihm durch seine Ortskenntnis große Dienste zu leisten imstande wäre, und Mathies war dies recht wohl zufrieden. Er konnte sich dabei mehr verdienen, als bei der Flößerei, und auf die Bemerkung des Offiziers, daß dieser Dienst sehr anstrengend wäre, meinte er, es sei ihm noch niemals eine Arbeit zu viel geworden und es mache ihm eine ganz besondere Freude, nochmals seinem früheren Herrn dienen zu können.

So ward denn verabredet, daß Mathies mit dem Offizier am Johannistag im »Stern« zu Partenkirchen zusammentreffen solle.

Es war in den Nachmittagsstunden, als Mathies mit seinen beiden Kameraden in dem am Fuße des prächtig geformten Kramers gelegenen freundlichen Markte Garmisch ankam, welch letzterer Ort mit seinen üppigen Baumgruppen, grünen Wiesplätzen und blumenreichen Gärten, von den raschen Fluten der Loisach durchströmt, einen äußerst heimischen Eindruck macht.

Der Ort, in alter Urkunde schon im 13. Jahrhundert als Germarsgave (Garmischgau) im Besitze Konrad I., Bischofes von Freising aufgeführt, zählt an 290 Häuser, worunter zwei Kirchen, ungefähr 1500 Einwohner und ist der Sitz des Landgerichtes und Rentamts Werdenfels und eines Revierförsters.

Das wohl seines Namens wegen bekannteste Wirtshaus in dem schönen Alpenorte war damals wie noch heutigen Tages »der Husarenwirt«, am linken Ufer der Loisach gelegen. Es ist ein im Gebirgsstil erbautes Haus 90 mit vorspringendem Dache. Im spanischen Erbfolgekrieg lagen dort österreichische Husaren und Infanteristen im Quartier. In Erinnerung an diese Einquartierung hat irgend ein Maler einen Husaren und einen Infanteristen im weißen Rock, mit dem Dreispitz auf dem Kopfe, gemütlich zu einem blinden Fenster herausschauend, al fresko dorthin gemalt und so dem Wirtshaus seinen berühmten Namen »zum Husar« gegeben. Dieses Gasthaus war auch die Herberge der Flößer und dahin hatten Mathies und seine Kameraden ihre Schritte gelenkt. In der kühlen Gaststube wollten sie sich stärken für den Weitermarsch und die Tageshitze vorüber gehen lassen.

Mathies aber hatte daneben noch einen anderen Zweck. Er wollte dem Floßmeister für die Dauer des Sommers den Dienst aufkünden, was der Floßknecht nach altem Herkommen nicht vor dem Abendläuten thun darf und zwar bei Strafe des Ausschlusses aus der Zunft.

Floßmeister Bürger erwartete seine Knechte schon seit geraumer Weile in der Herberge. Er saß ganz allein in der Stube an dem Tische, über welchem das Herbergsschild der Flößer angebracht war. Man merkte es dem Manne an, daß er in der Lage war, andere Leute für sich arbeiten zu lassen, davon zeugte auch der runde dicke Kopf mit dem Doppelkinn und eine sehr umfangreiche Leibesstärke.

Der Trunk wollte ihm so allein nicht recht munden, zumal auch der Wirt und die unterhaltende Frau Wirtin schon gestern nach Mittenwald zu einem Festschießen gefahren waren, an dem sich der Husarenwirt beteiligte. So war außer einer alten Kellnerin niemand zugegen, mit dem er sich ausschwätzen konnte. Um so froher war er, als endlich seine Floßknechte in die Stube traten und ihn 91 höflichst begrüßten, und doppelt froh, als Mathies seine Geldgurte abschnallte und dem Meister eine nicht unbeträchtliche Summe als Erlös für die Floßbäume und die verkaufte Fracht aushändigte.

Ueber der nun folgenden Abrechnung hatten sie das Eintreten eines jungen Mannes in der Tracht, wie sie hier zu Lande die Burschen tragen, mit Rucksack und Bergstock, ein Gewehr in einem ledernen Ranzen über der Schulter hängend, fast ganz übersehen.

Der Eintretende, vom Marsche sehr bestaubt und infolge der großen Hitze etwas ermattet, setzte sich auf dem belederten Sopha am hintern Tische nieder, stellte Gewehr und Bergstock in die Ecke und legte den Rucksack neben sich. Das Gesicht des jungen Mannes mit den krausen, braunen Haaren, den großen, dunklen Augen und einem kleinen Schnurrbärtchen zeugte von lebhaftem Geiste. Die alte Kellnerin setzte ihm auf Wunsch »a halbe Bier und an' Kaas« hin und erwiderte auf die Frage des Fremden, ob er ein Zimmer haben könne, daß die Frau Wirtin jeden Augenblick von Mittenwald zurückkommen müsse. Sie werde ihm dann schon eine Liegerstatt anweisen, wenn er nicht vorziehen sollte, wie andere Wanderer für den Nachtgroschen auf dem Stroh zu schlafen, das nachts auf den Stubenboden gebreitet wird.

»I hon d' Wirtin schon troffen draus z' Mittenwald,« versetzte der Fremde, »sie woaß's schon, daß i heunt da zu Gast bin und – i bin zwar kon' Verachter vom Stroh – glaub' aber dengerscht, daß i a Bett krieg.«

»Mir kann's recht sei',« meinte die alte Jungfer obenhin und nahm die leeren Maßkrüge vom Tische der Flößer, 92 um sie wieder voll zu füllen. Der Fremde ließ sich indessen Trank und Speise munden und stopfte sich sein Ulmerpfeifchen. Dann nahm er ein Notizbuch aus der Seitentasche seiner Joppe und schrieb in dasselbe.

Er wurde in seiner Arbeit durch den Ausruf des Floßmeisters unterbrochen: »Jeß, der Jagatoni! Guat, daß ma mit 'n roaten (rechnen) firti san; der machet uns mit sein G'schmaatz grad irr.«

Und er verwahrte die Silberstücke in seiner Geldkatze. 93


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