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Achtes Kapitel.
Karls Pflegevater

Karl lebte auf seinem väterlichen Schlosse so vergnügt, als wäre er in den Himmel versetzt. Je mehr er seine Mutter kennen lernte, desto mehr mußte er die vortreffliche Frau verehren. Eben so mußte er seine Schwester, die unermüdet fleißig, und dabei immer fröhlich und freundlich war, mit jedem Tage mehr schätzen. Seine Ankunft in Waldheim hatte indeß noch eine andere glückliche Folge für ihn, für seine Mutter und seine Schwester. Das Schloß, das vorhin das Eigenthum seiner Väter gewesen, war gegenwärtig nur mehr der Wittwensitz seiner Mutter; allein jetzt konnte er dieses Schloß wieder als sein väterliches Erbtheil zurück fordern, und die Bewohner unten in dem Dorfe und einigen benachbarten Weilern als seine künftigen Unterthanen ansehen. Seine Mutter führte ihn daher voll Freude überall im Schlosse herum, zeigte ihm die Umgebungen des Schlosses nebst den Gütern, die dazu gehörten, und redete mit ihm über seine künftige schöne Bestimmung, zum Glücke der Bewohner des kleinen Thales unten am Berge so vieles beitragen zu können.

Unter solchen Gesprächen saßen Frau von Waldheim, Karl und Emilie einmal am Nachmittage auf der alten, eichenen Bank, die, nebst einem ähnlichen ländlichen Tische, auf einem schönen, mit reinlichem Kiese bestreuten Platze vor dem äußern Thore des Schloßhofes stand, und von zwei dichten Kastanienbäumen beschattet war. Da sahen sie einen ehrwürdigen Greis, mit schneeweißen Haaren und in schwarzer Kleidung, auf sich zukommen, der einen ziemlich langen Reisestab in der Hand führte und einen dreifach aufgeschlagenen Hut unter dem Arme hielt. »Gott im Himmel! Mein Pflegevater!« rief Karl, indem er aufsprang und mit weit offenen Armen auf ihn zu eilte. »Ist's möglich,« rief er wiederholt, »Sie, Sie sind es, liebster, bester Herr Pfarrer! Wie kommen Sie hieher?«

»Lieber Karl! Theurer Pflegesohn!« sprach der Pfarrer; »sobald ich deinen Brief erhalten hatte, war ich sogleich entschlossen, ungeachtet meines hohen Alters die weite Reise hieher zu machen. Ich hielt aus wichtigen Gründen meine Gegenwart dahier für nützlich, ja für nothwendig. Auch war es mein lebhaftester Wunsch, die Mutter und Schwester meines lieben Pflegesohnes kennen zu lernen, und die Freude, die Gott allen Dreien beschert hat, nicht nur in weiter Ferne, sondern an Ort und Stelle zu theilen.« Karl fiel ihm um den Hals, und die Mutter und Emilie konnten nicht Worte genug finden, dem edlen Manne ihre Dankbarkeit auszudrücken.

Der ehrwürdige Greis, den das Ersteigen des Berges ermüdet hatte, setzte sich zu ihnen auf die Bank. Frau von Waldheim bot ihm Erfrischungen an. Allein dem edlen Manne war es jetzt gar nicht um Speis' und Trank. Er fing sogleich an mit eben so viel Einsicht als Rührung von den wunderbaren Wegen der göttlichen Vorsehung zu reden; er sagte hierauf, was nun zu thun sey, damit der Landesfürst Karln als einen jungen Herrn von Waldheim anerkenne; auch sprach er noch sehr ausführlich davon, was Karl noch Alles zu lernen habe, um ein weiser und guter Vater seiner künftigen Unterthanen zu werden.

Indessen kamen Rosalie und ihre Tochter, wie gewöhnlich, auf Besuch. Frau von Waldheim stellte beide dem ehrwürdigen Pfarrer vor. »Sehen Sie, mein lieber Herr Pfarrer,« sagte sie, »dieses da ist das gute Kind, das uns mit dem Lamme ein so segenreiches Geschenk gemacht hat, und hier ist ihre Mutter, die das Halsband mit den drei entscheidenden Buchstaben geziert hat.« Der edle Pfarrer freute sich sehr, die gute Rosalie und ihre Tochter kennen zu lernen, und grüßte beide auf das freundlichste.

Frau von Waldheim trug nun Rosalien auf, den Thee, nebst Brod und Butter, Wein und Obst unter die Kastanienbäume herab zu bringen. Emilie und Christine aber schlichen sich fort, zierten das Lämmchen, das immer rein und weiß war wie Schnee, mit Kränzen von frischem grünem Laub und jungen, halbgeöffneten Rosen, legten ihm das goldgestickte Halsband an, und führten es dem Herrn Pfarrer vor. Der freundliche Greis betrachtete es mit Wohlgefallen, streichelte es und sagte zu Frau von Waldheim und zu Emilien: »Sie haben mich mit den zwei werthen Personen, durch die Ihnen Gott ein so großes Glück bereitete, bekannt gemacht, und sogar das Lamm hier nicht vergessen, das, ohne etwas davon zu wissen, zu diesem Glücke so vieles beigetragen hat. Nun muß ich Sie aber auch noch den Mann kennen lehren, der nach Gott die vorzüglichste Ursache dieser erfreulichen Ereignisse war, und der das Größte that, was Menschen thun konnten, Ihrer aller Glück zu gründen. Ich meine jenen edelmüthigen Soldaten, der sich mit Gefahr seines eigenen Lebens muthig in den Rhein stürzte, und unsern lieben Karl hier, als ein zartes, unmündiges Knäblein, aus den reißenden Fluthen glücklich herausholte.

Der gute Mann hatte, seit dem er jene edle That vollbrachte, sehr vieles auszustehen. Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Wesentliche davon kurz erzähle. Er machte mehrerer Feldzüge mit, hatte unsägliche Mühseligkeiten zu erdulden und wurde endlich schwer verwundet. Er und eine Menge anderer Verwundeter wurden auf Wagen geladen und weiter geführt. Nun traf sich's, daß der lange Zug von Wagen an dem Hause eines Wollfärbers vorbeikam, der außen vor dem Thore eines kleinen Städtchens nahe am Wasser wohnte. In diesem Hause war der brave Krieger ehemals einige Wochen im Quartier gelegen, und hatte dem Färber, dessen Wohnung dem Uebermuthe der Soldaten am meisten ausgesetzt war, ganz ungemeine Dienste geleistet, und ihm Vermögen und Leben gerettet. Der Färber schaute eben jetzt aus dem Fenster, die Wagen vorüber ziehen zu sehen – und erblickte unter den Verwundeten seinen ehemaligen Beschützer, der sich auf dem Wagen mühsam aufrichtete und sehnlich zu den Fenstern heraufsah. Augenblicklich eilte der Färber hinab, grüßte ihn, und bat den Offizier, der den Zug begleitete, den armen todtschwachen Mann ihm zu überlassen. Der Feldarzt ward gerufen und dieser erklärte, der Mann werde ohnehin, wie schon hundert Andere, das Militärspital nicht mehr erreichen und zuverläßig unterwegs sterben. Man solle ihn also ohne weiters in das Haus des barmherzigen Mannes bringen, so würde der arme Leidende wenigstens für seine letzten Augenblicke noch einige Erleichterung finden.

Der Färber nahm nun seinen ehemaligen Hausfreund und Wohlthäter voll des herzlichsten Mitleids in sein Haus auf. Die sorgfältigste Pflege und der Fleiß des geschickten Wundarztes im Orte retteten ihm, unter Gottes Beistand, wider alle Erwartung das Leben; nur blieb er noch lange Zeit so schwach, daß er nicht weiter reisen, auch keine etwas schwere Arbeit verrichten konnte. Der Färber, der ein reicher Mann war und ein sehr weitläufiges Gewerbe hatte, behielt ihn aber sehr gern bei sich, und der dankbare Krieger, der eine schöne Handschrift hat, besorgte ihm seinen Briefwechsel und führte ihm sein Handlungsbuch mit dem größten Fleiße und mit der pünktlichsten Genauigkeit. Beide gewannen einander immer lieber, und lebten zusammen in wahrhaft brüderlicher Eintracht.

Allein nun änderte sich auf einmal die Sache. Der ehrliche Färber starb sehr unvermuthet. Der Tod hatte ihn zu schnell übereilt, sonst würde er seinen Freund sicher in seinem Testamente bedacht haben. Sein Vermögen fiel den Verwandten zu; die Färberei wurde verkauft; die hartherzigen Erben ließen den guten Mann mit leeren Händen abziehen. Er mußte sein Unterkommen weiter suchen. Er wollte jedoch zuvor zu seinem Regimente reisen, und, weil sein linker Arm etwas gelähmt blieb, um seinen Abschied bitten. Der Weg führte ihn nicht weit von meinem Pfarrdorfe vorbei. Da regte sich natürlich in seinem Herzen der Wunsch, zu erfahren, was aus dem Kinde geworden sey, das er einst aus dem Wasser gezogen hatte. Er kam an eben dem Tage, an dem Karl Morgens abgereist war, Abends in mein Haus. Ich hatte eine große Freude, den edelmüthigen Krieger wieder zu sehen, behielt ihn bei mir, und sann nach, ob ich ihm nicht irgendwo ein angemessenes Plätzchen verschaffen könnte.

Da kam Karls Brief mit der unerwarteten Freudennachricht. Ich hielt es für sehr zweckmäßig, den braven Mann mit hieher zu nehmen. Denn fürs Erste, dachte ich, kann er bezeigen, daß er in jenem Jahre und an jenem Tage ein Knäblein von etwa vier Jahren aus dem Rheine zog, und es nebst einem Päcklein mit dessen Kleidern, in dem sich jener Ring befand, mir übergeben habe, was sehr dienlich seyn wird, zu erweisen, Karl sey wirklich der Sohn der gnädigen Frau von Waldheim, von dem man glaubte, er sey ertrunken. Fürs Zweite hoffte ich, Karl werde gegen den Retter seines Lebens gewiß nicht unerkenntlich seyn – zumal der brave Mann treu wie Gold, im Schreiben und Rechnen sehr gewandt, besonders aber ein trefflicher Forstmann ist, und dem künftigen Herrn von Waldheim in Verwaltung seiner Güter sehr nützliche Dienste leisten kann.«

»O, wo ist er denn? Wo ist er?« riefen Frau von Waldheim, Karl und Emilie fast mit Einer Stimme.

Der Pfarrer wandte sich um, winkte einem ordentlich gekleideten Manne, der bescheiden in einiger Entfernung stand, nahm ihn bei der Hand, stellte ihn der gnädigen Frau vor und sprach: »Hier ist er – der gute, ehrliche, vortreffliche Johann West!«

»Johann West!« rief Rosalie, die eben den Thee brachte und auf den Tisch stellte, ganz außer sich. »O Gott, er ist mein Mann!« Sie flog in seine Arme; sie begrüßte ihn zitternd und bebend vor Freudenschrecken.

Alle erstaunten über diese neue Fügung der göttlichen Vorsehung. Der Mann aber stand wie versteinert da. Es währte lange, bis er sich in dieses unverhoffte Glück finden konnte und endlich in Freudenthränen ausbrach. Die hocherfreute Rosalie rief nun ihrer Tochter zu: »O Christine, er ist dein Vater! O grüße ihn doch auch!« Christine, die mit gefalteten Händen unbeweglich da gestanden, näherte sich ihm schüchtern, und er schloß sie unter heißen Thränen in seine Vaterarme. Alle drei hatten eine Freude, wie vor einigen Tagen Frau von Waldheim, Karl und Emilie sie gehabt hatten.

Nachdem sie sich von der ersten, ungestümen Freude erholt hatten, trat Karl herbei und umarmte den Retter seines Lebens mit unaussprechlicher Rührung. Die Frau von Waldheim und Emilie aber boten ihm freundlich die Hand, und überhäuften ihn mit Danksagungen und Lobeserhebungen. »Lieber West,« sagte Frau von Waldheim, »Ihr, Eure Frau und Eure Tochter sollen von diesem Augenblicke an in dieses Schloß aufgenommen seyn, und nie mehr von uns getrennt werden; und wenn wir, wie ich hoffe, unsere Güter wieder zurück bekommen, so sollet Ihr eine solche Anstellung erhalten, mit der Ihr gewiß zufrieden sein werdet«

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