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Christine, ein armes Mädchen von etwa zehn Jahren, pflückte in dem Walde Erdbeeren. Es war ein heißer Nachmittag, und an den sonnigen Waldplätzen, wo kein kühlendes Lüftchen hinkam, war es fast zum Verschmachten schwül. Ihr leichtes Strohhütchen vermochte nicht mehr den brennenden Sonnenstrahlen zu wehren. Die hellen Schweißtropfen standen ihr beständig auf der Stirne, und ihre Wangen waren wie Glut. Dennoch pflückte sie, ohne aufzusehen, emsig fort. »Denn,« sagte sie freudig, indem sie mit ihrem weißen Tuche den Schweiß abwischte, »es ist ja für meine kranke Mutter! Das Geld, das ich aus den Beeren erlöse, verschafft ihr doch wieder eine kleine Erquickung.«
Gegen Abend ging sie, mit ihrem Körbchen voll Beeren am Arme, durch den Wald nach Hause. Es fing an zu regnen. Immer lauter rauschten die Regentropfen in den Blättern der Bäume, und aus der Ferne her donnerte es sehr stark. Als sie aus dem Walde heraus kam, erhob sich ein Sturmwind; ein heftiger Platzregen schlug ihr entgegen, und an dem glühendrothen Abendhimmel standen dunkle Gewitterwolken, wie Gebirge auf einander gethürmt. Christine wußte, wie gern der Blitz in hohe Bäume schlage. Sie suchte sich daher fern von den hohen Bäumen unter niedrigen Hauselstauden ein sicheres Plätzchen, stand hier unter, und wollte warten bis das Gewitter vorüber wäre.
Allein auf einmal hörte sie in dem nahm Erlengesträuche ein klägliches Geschrei, fast wie das Geschrei eines kleinen Kindes. Das gute mitleidige Mädchen ließ sich vom Sturm und Regen, Blitz und Donner nicht abhalten, nachzusehen, was es doch wohl seyn möge? Sie ging hin, und sieh da! es war ein kleines, zartes Lämmchen. das vom Regen tröpfelte, zitterte und nicht wußte wohin. »Ach du armes, armes Thierchen!« sagte Christine. »Nein, du sollst nicht umkommen. Komm, ich nehme dich mit mir nach Hause.« Sie nahm das Lämmchen sorgfältig in die Arme, und eilte damit, sobald der Regen nachließ, ihrer kleinen, strohbedeckten Wohnung zu.
»O sieh doch, liebe Mutter,« rief sie, sobald sie in das niedere, reinliche Stübchen trat, »sieh doch, was ich da gefunden habe! Sieh, ein wunderschönes Schäflein! O wie glücklich war ich! Wie will ich es pflegen! Es soll meine ganze Freude seyn!«
»Kind,« sagte die kranke Mutter, indem sie sich in dem Bette aufrichtete und den Kopf auf die Hand stützte, »du vergissest in deiner Freude, daß dieses Lämmchen schon seinen Herrn haben muß. Es ist bloß verloren – und da müssen wir es wieder zurückstellen. Gewiß gehört es dem reichen Bauern auf dem Eichhofe. Fremdes Gut sollen wir nicht einmal über Nacht im Hause behalten. Trag' es also heute noch hin.«
»Ihr seyd nicht gescheid,« rief jetzt eine rauhe Stimme zum offenen Fenster herein; »man muß nicht Alles so genau nehmen!« Der Mann, der dieses sagte, war ein Maurer, der draußen die Mauer des kleinen Hauses ausbesserte, ihr Gespräch behorcht hatte, und jetzt zum Fenster hereinschaute. Mutter und Tochter blickten ihn erschrocken an. Er aber sprach weiter: »Macht keine so seltsamen Gesichter! Ich meine es gut. Wir wollen das Thierchen metzgen, und es mit einander theilen. Das Fleisch gibt gerade ein Paar kleine Braten, und das Fellchen ist auch noch einige Kreuzer werth. Der reiche Bauer hat über hundert schöne, große Schafe; ob er das winzig kleine Ding da noch habe oder sticht, daran ist nichts gelegen. Ich will es also geschwind schlachten. Ihr dürft euch dabei nicht fürchten. Es sieht's ja Niemand. Und mir dürft ihr schon trauen. Ich kann schweigen« – sagte er und warf eine Kelle voll Mörtel an die Wand – »wie eine Mauer.«
Christine entsetzte sich über die Reden des Mannes. Der Gedanke, das Lämmchen zu behalten, kam ihr jetzt abscheulich vor. »Ihr habt Unrecht!« sagte sie zu dem Maurer. »Was kein Mensch sieht, sieht doch Gott! Du aber, liebe Mutter, hast Recht – und mich wunderte nur, daß mir das, was du sagtest, nicht von selbst einfiel. Ich hätte das Schäflein,« fuhr sie fort und Thränen traten ihr in die Augen, »freilich so gern, o so gern behalten! Allein dem lieben Gott müssen wir willig gehorchen.« Sie wickelte das Lämmchen in ihre Schürze, und wanderte damit dem Eichhofe zu, obwohl es noch nicht ganz aufhörte zu regnen und die Sonne bereits unterging.
Als Christine auf dem Eichhofe ankam, stand die Bäuerin, mit ihrem kleinsten Kinde auf dem Arm, eben vor der Hausthüre, und die größeren Kinder standen um sie her. Sie betrachteten andächtig den schönen Regenbogen, der jetzt nach dem Gewitter in der ganzen Pracht seiner sieben Farben im schwarzgrauen Gewölke zu sehen war. »Seht den Regenbogen an,« sprach die Mutter zu den Kindern, indem sie mit ausgestrecktem Arme darauf hinzeigte, »und preiset Denjenigen, der ihn gemacht hat. In dem flammenden Blitze und dem furchtbaren Donner zeigt uns Gott seine große Macht und Herrlichkeit; in den schönen Farben des Regenbogens aber seine Güte und Freundlichkeit.«
Christine ergötzte sich bald an den lieblichen Farben des Regenbogens, bald an den lächelnden Gesichtchen der Kinder, und schwieg, bis der Regenbogen verschwunden war. Nun nahm sie das Lämmchen aus ihrer Schürze hervor, stellte es auf die Füße, und erzählte, wie sie es gefunden habe.
»Das ist ja recht schön und brav,« sagte die Bäuerin freundlich, »daß du noch so spät am Abend und noch dazu im Regen da herausgehest! Du bist ein sehr gutes, grundehrliches Mädchen.«
»Ja wahrhaftig, das ist sie!« sprach der Bauer, der jetzt auch zur Hausthüre herauskam. »So ehrlich und rechtschaffen, wie dieses arme Mädchen, müßt ihr auch seyn und bleiben, meine Kinder! Besser ist's, nicht einmal ein einziges Schäflein im Vermögen haben, und ehrlich und redlich seyn, als hundert Schafe besitzen, und dabei ehrlos und unredlich seyn. Die Ehrlichkeit, mit der das arme Kind hier das Lamm zurück gab, ist ein Schatz im Herzen, der reicher macht, als eine ganze Schafheerde – und diesen Schatz kann uns kein Wolf und kein Feind rauben.«
Franz, der Knabe des Bauers, lief jetzt zum Schafstalle hin, und führte das alte Schaf heraus. Wie da das Junge darauf zusprang und sich freute! Christine sah das so mit an und sagte: »Schon um dieser Freude willen, die das arme Thierchen jetzt hat, reuet es mich nicht, daß ich es zurückgab, so lieb es mir auch war, und so gern ich es behalten hätte!«
»Weißt du was?« sprach der Bauer; »da du so ehrlich bist und an dem Thierchen eine so große Freude hast, so will ich es dir schenken. Jetzt würde es dir aber nichts helfen. Es kann noch nicht ohne Milch leben und würde elend umkommen. Allein in vierzehn Tagen wird es stark genug seyn, sich von Gras und Kräutern zu ernähren, und dann soll mein Franz es dir bringen.«
»Gib aber dann wohl darauf Acht!« sagte die Bäuerin. »Es aufzuziehen, kostet dich übrigens wenig Mühe, und keinen Heller Geld. Während du Erdbeeren sammelst oder strickest, kannst du es leicht hüten, und so viel Gras kannst du, ohne es von einer Wiese zu nehmen, auch leicht sammeln, und zu Heu austrocknen, als das Lamm für den Winter nöthig hat. Wenn es einst groß ist, wird die Milch dir und deiner Mutter in eurer kleinen Haushaltung wohl bekommen, und die Wolle gibt euch jährlich einige Paar Strümpfe.«
»Und wenn ihr glücklich damit seyd,« sprach der kleine Bauernknabe, »so könnet ihr wohl noch gar eine ganze Schafheerde bekommen!«
Christine mußte nun noch bei dem Abendessen bleiben und ließ sich Milch und Butterbrod recht wohl schmecken. Die gute Bäuerin gab ihr überdieß noch ein schönes Stück goldgelbe Butter, das sie in grüne Rebenblätter einmachte, und ein Dutzend Eier mit nach Hause. »Bring das deiner Mutter,« sagte sie, indem sie ihr die Eier vorsichtig in die Schürze that; »ich lasse sie freundlich grüßen, und Gott wolle sie bald gesund werden lassen!«
Christine eilte voll Freude durch das blumige Thälchen ihrer Hütte zu. Der Himmel hatte sich indeß aufgehellt, und der Abendstern und ein zartes Streifchen des Mondes, der heute das erste Mal wieder sichtbar war, glänzten freundlich in das Thal. Alle Blumen und Kräuter tröpfelten noch von Regen, und dufteten von Wohlgeruch. Es war Christinen unbeschreiblich wohl um das Herz. »Nach einem Gewitter,« dachte sie, »sind Himmel und Erde zwar immer schöner; allein so schön und freundlich, wie diesen Abend, sind sie mir noch nie vorgekommen.«
Sie erzählte dieses, als sie nach Hause kam, ihrer Mutter. »Siehst du,« sprach die Mutter, »das ist's eben, was ich dir immer sage. Es ist die Freude des guten Gewissens. Wenn wir recht thun, so erfüllt süßer Friede unser Herz. Gott gibt uns durch das Gewissen zu erkennen, daß Er mit uns zufrieden sey. O Christine, gib daher der Stimme deines Gewissens immer Gehör, und thu' nie etwas Anderes, als was vor Gott recht und gut ist. Du weißt wohl, wir sind arm und haben wenig in der Welt. Aber laß uns nur ein gutes Gewissen bewahren, so sind wir reich genug, und es fehlt uns nie an Freude; ja die edelste und süßeste aller Freuden ist dann unser.«
Christine zählte nun alle Tage, bis sie ihr Lämmchen bekommen würde. Sie hätte auch an jedem Tage in den Kalender gesehen, wenn sie einen im Hause gehabt hätte. Nun sah sie aber alle Abende nach dem Monde, und ging dann, vergnügt zu Bette. »Denn,« sagte sie, »wenn er voll ist, bekomme ich mein Lämmchen.«
Endlich ward es Vollmond, und der Mond nahm wieder merklich ab; allein das Lämmchen wollte nicht kommen. Christine wartete – und wartete – und hatte bereits alle Hoffnung aufgegeben. »Ich werde von meinem Schäflein wohl nichts mehr sehen!« sagte sie eines Abends, als sie eben traurig neben dem Bette ihrer Mutter saß. »Habe Geduld,« sagte die Mutter; »Geduld bringt Rosen.« Und sieh! da ging auf einmal die Stubenthüre auf, und der muntere Bauernknabe trat mit dem Lamme und einem Korbe voll frischen, grünen Futters herein. Christine, sprang vor Freude auf, kniete zu dem Lämmchen hin, streichelte es freundlich und sagte: »O wie groß und schön ist es indeß geworden! Ich kenne es ja fast nicht mehr! Und wie die Wolle so schön weiß und zart geringelt ist! O jetzt ist meine Freude erst vollkommen.«
»Ich wollte dir das Lämmlein schon vor einigen Tagen bringen,« sagte der Knabe. »Allein mein Vater sagte: Laß es noch eine Zeit da. Es gedeiht dann besser, und wird noch größer und stärker.«
»Du und deine Aeltern sind doch recht gut!« sprach Christine. Wenn ich nur nicht so arm wäre, und dir auch Etwas schenken könnte! Allein von der ersten Wolle, die ich von dem Schäflein bekomme, stricke ich dir ein schönes Paar Strümpfe. Du sollst gewiß sehen, daß ich die Wahrheit rede.«
Der Knabe ging, und Christine führte das Lamm in den kleinen Stall, der sich im Hause befand, und streute ihm Futter vor. Das Lamm gewöhnte sich bald an sie, und wurde so zahm, daß es das Brod aus ihrer Hand aß, aus ihrem Schälchen Milch trank, und ihr wie ein Hündchen nachlief. Christine durfte nur rufen, so kam das Lamm sogleich daher gesprungen. Wenn nun die Mutter es so mit ansah, was für eine große Freude Christine mit dem Lämmchen hatte, da sagte die Mutter öfter: »Nicht wahr, jetzt reuet es dich doch nicht, daß du meinen Rath befolgt und das Lämmchen zurück gegeben hast?« »O Mutter!« antwortete Christine, »wie mein Lämmlein mir auf den Ruf folgt, so folgsam will ich auch immer gegen dich seyn! Denn ich weiß es ja, du liebst mich noch unendlich mehr, als ich mein Lämmchen.«