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»San S' leicht ekli?« pflegt nicht nur der weitere Niederösterreicher, sondern auch der engere Urwiener zu fragen, wenn er sich vergewissern möchte, ob der Angesprochene eine sensible Natur sei, das heißt: ob er für die Empfindungen des Ekels leicht zugänglich oder mit anderen Worten: ob er »häkelich« (nämlich: »heiklich« – in der Sprache der Lichtentaler Germanen »hagli«) sei? Ist der Betreffende mit dieser Schwäche behaftet, dann ist der Redner vielleicht so human, mit seinen Expektorationen innezuhalten und in Rücksicht auf den Weichling und Zärtling ein delikateres Thema zu wählen. Denn es gibt solch reizbare Naturen, welche nur auserlesene Gesprächsstoffe vertragen, während sie bei minder behutsamen Detailberichten von fatalsten Übelkeitsanwandlungen bedroht werden, wie es ja auch so zartbesaitete und mit so unselig feinen Nerven ausgestattete Menschen gibt, die bei den geringsten Anlässen vor Entsetzen laut aufschreien und beispielsweise über eine harmlose Fliege in der Suppe oder ein unvorsichtiges Mäuschen im steinernen Bierkrug ihre Zustände bekommen, indes der Besonnene und härter Organisierte die unerwarteten und allerdings unbequemen Einwürfe lautlos mit den Fingern beseitigt und unerschütterlich weiter diniert und pokuliert.
»San S' leicht ekli?« muß ich denn selbst auch meine teuren Leser fragen, und, im Falle sie die in wahrhafter Angst gestellte Nachforschung ahnungsgruselnd bejaheten, sie demütig bitten, diese meine notgedrungene Studie rasch zu überschlagen und sich gütigst mit dem übrigen Inhalte des Buches zu beschäftigen. Denn es kommen leider Dinge zur Sprache, die, soll die Darstellung getreu sein, wohl auch nicht appetitlich, die aber eben deshalb endlich doch einmal besprochen werden sollen und müssen, für welche heldenmütige Tat ich mir hinwieder vielleicht doch auch den Dank tausend anderer verdiene, die, gleich mir, bei ihren stillen Zwangsbetrachtungen viel gelitten.
Ich glaube nämlich, daß es höchste Zeit wäre, gewisse Unarten öffentlich zu rügen, bei deren längerer Duldung entweder eine allgemeine Verrohung – ich spreche immer von den mittleren Ständen – eintreten, oder der nicht zu verwildernde, also unausgesetzt leidende Teil allmählich an Appetitlosigkeit zugrunde gehen müßte. Und da stelle ich denn den Lehrsatz auf, daß es nicht genug sei, wenn der Mensch das nötige Geld besitzt, um öffentliche Lokale besuchen und seine Zeche bezahlen zu können, sondern daß dazu immerhin auch ein gewisser Fond von Bildung oder doch wenigstens so viel Denkvermögen gehöre, um zu verhindern, durch sein Erscheinen oder sonstige ungenierteste Manipulationen dem Nächsten unangenehm zu werden. Und so gebe ich mich bei meiner unerquicklichen Arbeit der Hoffnung hin, daß es etwa doch nur eines Anstoßes bedürfe, um bei diesem oder jenem eine Leuchte anzuzünden, d. h. den Gedankenlosen bei seinen unbewußten Gewohnheiten zum Denken zu bewegen.
Ach, wie mußte ich lachen, als vor ein paar Jahren auf der Hochschule der Lebensart, also in der eleganten Weltstadt an der Seine, ein zierlicher Almanac de savoir vivre erschien, worin dem kurz vorher verstorbenen feinfühligen St. Beuve mehrere Verstöße gegen den guten Ton vorgeworfen wurden, die sich der erlauchte Geist als Gast an einer napoleonischen Tafel zu Schulden kommen ließ! Der Zeremonienmeister des imperialen Parvenü soll über das etikettwidrige Benehmen des Gelehrten geradezu empört gewesen sein! Breitete der klassische Literarhistoriker doch die Serviette über beide Knie aus, statt sie nur zur Hälfte zu entfalten! Spaltete er eine Birne doch der Breite statt der Länge nach! Faßte er ein Huhnsknöchelchen doch mit den Fingern an! Ja noch mehr: Er sagte zu einem Lakaien » merci«! Er legte Messer und Gabel auf den Tisch, statt auf den Teller! Er roch zu dem Wein, bevor er ihn trank! Und was der unverzeihlichen Verbrechen gegen gute Sitte ansonst waren. Aber das hat man davon, wenn man zu Tische Krethi und Plethi lädt, vom altadeligen Mitgliede des Jockeyclubs bis herab zum ungebildeten Gelehrten!
Wie gesagt, ich mußte lachen, als ich diesen Steckbrief mit den untrüglichen Wahrzeichen des schlechten Geschmackes las, beruhigte mich aber wieder, als ich mich erinnerte, wie wohl es einem wird – von solchen Exaltados der Förmlichkeiten und solch verrückten Aposteln der vermeintlich echtesten tenue selbstverständlich abgesehen –, wenn man mit Menschen von schönen Manieren und nur von schönen Manieren zu tun hat. Und das hat Paris doch unbestritten für sich, wenn sie dort zuweilen auch eine Massacre, und zwar ohne Glacéhandschuhe dazu anzuziehen, beginnen, die die Weltkugel wackeln macht. Nein, es sind zierliche, liebenswürdige Leute, wenn sie nicht just mit der Guillotine oder mit Füsilladen beschäftigt sind, und sie erquicken das Auge, durch ihre Art zu sein und sich zu geben, wenn sie nicht gerade Petroleumfässer heulend heranwälzen und brennende Pechkränze in die Häuser schleudern.
Aber ansonst haben sie, wie gesagt, schöne Manieren, und sie bestehen auch unnachsichtlich auf der strikten Erfüllung derselben. Wie man sich dort nur kleidet, wie man besucht und empfängt, wie man spazieren geht, reitet und fährt, wie man sich öffentlich zeigt, wie man ißt und trinkt! Und in allen Ständen! Allerdings war mir mancher Gebrauch anfänglich unbequem, und ich ärgerte mich nicht wenig, daß ich eines Logensitzes wegen mein Hotel aufsuchen mußte, um mich mit der weißen Krawatte und sonstigem Festhabite zu armieren, welchen ortsüblichen Usancen ich mich auch dann zu unterwerfen hatte, wenn man so gütig war, den abendländischen Barbaren zu bitten, an einem partikulären Souper teilzunehmen. Wie bald gewöhnt man jedoch die scheinbar lästige Form, und wie hübsch ist vielmehr der Anblick, wenn der Cercle, ob groß ob klein, so nett und sauber ausstaffiert, wenn alles, und seien es die intimsten Freunde, in respektvoller Paradeadjustierung sich einfindet, wenn selbst der Herr des Hauses sich den Zwang auferlegt, einiger geladenen Gäste wegen, die schwere Rüstung des Frackes zu tragen und den Löffel Suppe, die er schlürft, nur hinter einer blendend weißen Halsbinde verschwinden lassen will. Glaube man nicht an Unbehagen, man findet sich rasch in die Sitte und erklärt sie sogar in Bälde selbst für löblich, sieht man doch, daß sie auf wechselseitiger Achtung beruht, daß diese Rücksicht auf den Nächsten eine gegenseitige, und so jene Atmosphäre erzeugt wird, welche den Ton der Konversation sänftigt und mildert und auch dann nicht zu rüden Ausschreitungen gedeihen läßt, wenn selbst die letzte Flasche Cliquot längst geleert und die Gesellschaft bereits mit der Prüfung von Anisette, Chartreuse, Benedictinorum, Alasch, Irish-Whisky, Crème de Thé und Imperiales-Flor vollauf beschäftigt ist.
Ja, sie haben gute Manieren, obwohl Frau von Girardin vor zirka dreißig Jahren über einen Rückgang in den Umgangsformen der besseren Stände seufzte. Nun, ich war nach Dezennien noch von den beaux restes ihrer historischen Rassen-Anmut entzückt und bewunderte die ungezwungene Artigkeit, die appetitlichen Hantierungen und zierlichen Allüren dieser netten Leutchen, ob sie nun in tadelloser Toilette bei Tortoni Eis nahmen oder bei Véfour Austern aßen oder in der blauen Arbeiterbluse in einem Etablissement de Bouillon bei Duval um anderthalb Francs tafelten. Allüberall das modesteste Benehmen. Nirgends ein Ärgernis dem Auge.
Unsere feingeistige Betti Paoli schrieb einst, daß »die beständige Selbstüberwachung und Selbstverleugnung eine Grundbedingung geselliger Liebenswürdigkeit sei«. Beachten wir diese goldene Regel? Ach, es fällt der Mehrzahl unserer gemütlichen Kompatrioten nur selten oder nie ein, sich wenigstens darum zu kümmern, ob man nicht etwa schon durch seine allzu zwangslosen äußerlichen Gestionen der Umgebung zur Qual und Plage werde, von den geistigen Ungezogenheiten gar nicht zu reden! Und da bin ich bei dem fatalen Punkte angelangt, dessen ich eingangs gedachte und der als keineswegs untergeordneter Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechtes angesehen werden möge.
Ich frage nämlich: wie benehmen wir uns öffentlich? und lade den freundlichen Leser ein, mit mir eine der größeren Bierlokalitäten zu besuchen und Umschau zu halten.
Beginnen wir mit dem »rauhen Krieger«. Er erscheint kordial lächelnd, grüßt mit soldatischem Freimut, langt mit elastischer Armbewegung nach der Kommodekappe und – schleudert dieselbe mit der Innenseite nachlässig auf den Tisch. Diese Innenseite ist aber nicht selten fettgetränkt oder doch vom Schweiße feucht, auch gehört es nicht zu den Raritäten, daß einige Haare ihr entfliegen, womit wohl auch leicht jener Fleck regaliert wird, auf welchen du, erschreckter Nachbar, später dein Eßbesteck oder dein Brot zu legen gesonnen warst!
Aber mundet dir denn, gütiger Mitleidender, das erwählte Brot? Dein anderer Nachbar hat ja die üble Gewohnheit, sämtliche Gebäcksmuster des Brotkorbes einer eindringlichen Druckprüfung und oft mit ungewaschenster und ungarantiertester Hand zu unterziehen. Er quetscht die diversen Spezialitäten energisch und wirft sie unzufrieden in den Korb zurück, worauf er nach Schwarzbrot sucht, es knapp an die Nase hält, um Geruch und Säure zu erforschen, bis er endlich mißmutig ein Stück erkiest, den abgegriffenen Rest dir zur Wahl überlassend.
Von diesen Vorarbeiten verstimmt, beginnst du trotzdem an dein Abendessen zu denken und dich für einen delikaten Bissen zu entscheiden. Diesen Augenblick hält dein knappester Nachbar für den passendsten, um seinen Meißner Stummel oder horribile dictu! eine »gemischte Ausländer« frisch anzuzünden, während dein Vis-à-vis sich nicht genug wundert, wie du zu Bier fetten Schweinbraten genießen könnest, der ihm stets Übelkeiten bereite, welche glückliche Gesprächswendung den »dischcusiven« Mann nun zur Erzählung anderer Krankheiten verleitet, bis er im Reportereifer auch eine gelungene Operation zum besten gibt, die er an einem unsagbaren Teile seines werten Ich erdulden mußte. »Schenirt Ihna dös vielleicht?« fragt der gutmütige Redner, wenn er doch bemerkt, daß du dich verdrießlich abgewendet, »Mi schenirt so was nit, meinetwegen kann einer derzählen, was er will!« erklärt der Edle und erzählt nun die unbegehrtesten Geschichten aus dem Gebiete des Widerwärtigen.
Du verfluchst den Zufall, der dich an diesen Tisch gebracht? Nun, nebenan ist's ja nicht besser. Trotz des Verbots der Mitnahme von Hunden in öffentliche Lokalitäten promenieren die ekelhaftesten Köter nicht nur ungehindert zwischen den Beinen der Gäste, die strategischesten Punkte besudelnd, dort wackelt ein schäbiger Pinscher sogar auf dem Tisch umher, den p.t. Anwesenden die offenste Reversseite zur geneigten Beschauung überlassend, bis daß er aus einem disponiblen Glase oder auf dem ad interim freigemachten Brotteller Wasser erhält, worauf dieser oder jenes der früheren Bestimmung zurückgegeben wird. Man ist über diese Prozedur nicht im mindesten indigniert, denn der invalide »Joli« ist der Liebling der Frau von X., und die Frau von X. ist der Liebling und die gefeierteste Persönlichkeit am Stammtische.
Du wendest dich abermals unwillig ab, aber wohin dein Auge schweift, du siehst die brutalsten, gedankenlosesten Verrichtungen. Es beginnen nun ringsum die Malträtierungen der armen Serviette, die sogar ein separates Kapitel erheischen; es putzt sich einer mit dem Zahnstocher die schwarzen Ränder seiner Nägel, und dort ein anderer mit der Endseite eines Zündhölzchens den saftigen Zigarrenspitz oder das Gehörorgan. Aber das Unbeschreibliche und Unbegreifliche ist damit noch nicht getan: besonders ökonomisch organisierte Charaktere, welche aus platonischer Liebe für Wirt oder Kellner diesen kein Stück unnötig veruntreuen wollen, werfen das also verunreinigte Hölzchen nicht weg, sie – stecken es in den respektiven Behälter zur anderweitigen Benützung der Nachkommenden zurück! –
So unsauber der Stoff, aber wir sind noch nicht fertig. Dort manipuliert der Selbstfriseur, der, mit Kamm und Bürste bewaffnet, diese dazu coram populo benützt, um aus einem Struwelpeter ein Endymion zu werden, worauf er, nachdem ihm dies vermeintlich gelungen, seine Apparate an der Tischtuchecke reinigt. Wieder ein anderer, ein Tabakschnupfer par excellence, der die blaugeblümte, inhaltreiche und bedenkliche Trophäe nicht nur vor sich auf den Tisch zu legen die Laune hat, sondern auch bei den unausgesetzten Gebrauchsfällen, unbekümmert um jegliche Nachbarschaft, jedem Einblick in seine stark benützten Utensilien gestattet. Hier der gewohnheitsmäßige Zähnestocherer, welcher die erbeuteten Überreste dem Tischtuche appliziert, dort der unaufhörliche Salzspieler, der mit zweifelhaften Fingern unablässig die Flächen des Fäßchens glatt streicht; hier der Nasenbohrer und dort der stets Schwitzende, welcher dich treuherzig auffordert, ihm unter die Achsel zu greifen, um sich von seiner Angabe, wie sehr er schwitze, selbst zu überzeugen.
Ist die Geduld meiner nachsichtigen Leser erschöpft? Wohlan, so schließe ich, obwohl ich noch von anderen Ungehörigkeiten genug zu erzählen hätte, wie es z.B. rücksichtslose Leute gebe, die mit juchtenen Stiefeln sich in die engsten Kreise drängen, was für diese vielleicht nicht weniger erquickend, als wenn ihnen das gegenteilige Extrem beschieden, nämlich an der Seite eines mit Orpheum-Bisam, mit vorstädtischestem Patschouli oder echtem Fünfhauser Bagamotenöl imprägnierten und parfümierten Bezirks-Dandy ein duftendes Filet verzehren zu müssen.
Aber um Himmelswillen, ruft die imposanteste Majorität, geniert denn dies alles jemanden im Ernste? Geschieht einem einzigen Menschen dadurch ein Unheil? Nein – nun also: »Mir sein schon einmal so«, und wer sich darüber mokiert, macht sich einfach lächerlich.