Heinrich Schliemann
Ithaka der Peloponnes und Troja
Heinrich Schliemann

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Neuer Besuch in Hissarlik. – Ophrynium. – Abreise nach Alexandria-Troas. – Eichenwald. – Grossartige Ruinen von Alexandria-Troas. – Alter Hafen. – Aus Säulen geschnittene Kanonenkugeln. – Musicirende Karren. – Das Dorf Ujik. – Der Dieb Topal. – Rückkehr nach Neochorion. – Meine Klage. – Abreise. – Grosse Anzahl von Schildkröten in der Ebene von Troja. – Rückkehr nach den Dardanellen. – Scheussliche Unsauberkeit im Gasthofe. – Frank Calvert's herrliche Alterthümersammlung.

Am folgenden Tage, den 16. August, brach ich abermals mit meinem Führer auf, um noch einmal Hissarlik zu besuchen, von wo wir zu dem herrlichen Thal des Dumbrek-Su (Simoïs) hinaufstiegen bis zu den Ruinen von Palaio-Castron, dem alten Ophrynium, Hektors Grabstätte.

Wir folgten darauf dem Laufe des Dumbrek-Su, der sich unter Kieseln und Sand oberhalb des Dorfes Halil-Eli verliert, unterhalb desselben aber wiedererscheint. Hier zweigt sich ein Bach von ihm ab, welcher durch den Sumpf auf der Nordseite von Hissarlik fliesst und sich mit dem kleinen Flusse Kalifatli-Asmak, in der Nähe des Dorfes Kum-Kevi, vereinigt, während, wie ich schon bemerkt habe, der Hauptarm des Dumbrek-Su von Halil-Eli zunächst gegen die Hügelkette von Rhöteum nach Westen fliesst und dann eine Krümmung mit der Wendung nach Norden macht. Der schon erwähnte künstliche Kanal verbindet ihn in dieser Krümmung mit dem Kalifatli-Asmak. Er scheint auf diesem Wege viel Wasser aufzunehmen, denn von hier aus wird sein Bett breiter und tiefer. Seine Ufer sind sehr hoch und steil an seiner Mündung, welche die Form eines kleinen Hafens hat und deshalb Haranlik-Liman genannt wird.

Ich besuchte abermals die Mündung dieses Flusses und die des Kalifatli-Asmak, um noch einmal mit der grössten Aufmerksamkeit die Ufer derselben zu untersuchen, und mehr als jemals überzeugt, dass diese Ebene auf keinen Fall aus den Anschwemmungen dieser Flüsse entstanden sein kann, kehrte ich am Abend mit meinem Führer nach Bunarbaschi zurück und übernachtete von neuem an den Quellen.

Am folgenden Tage, den 17. August, ging ich 5 Uhr Morgens mit meinem Führer nach Alexandria-Troas, jetzt Iskistambul genannt.

Diese von Antigonus gegründete und von ihm Antigonia benannte Stadt wurde von Lysimachus vergrössert und verschönert, der zu Ehren Alexanders des Grossen ihr den Namen Alexandria-Troas gab. Sie liegt an der Küste des ägeischen Meeres, süd-südwestlich von der Ebene von Troja und ungefähr 20 Kilometer von Bunarbaschi.

Der Weg führte uns zuerst durch unbebaute, mit wilden Eichen und Fichten bedeckte Gegenden, dann durch schöne Eichenwälder, welche gleichfalls auf der Stelle der alten Stadt stehen. Ehe wir die Stadt selbst erreichten, kamen wir über mehrere türkische Kirchhöfe, deren Gräber alle mit prächtigen, aus Alexandria-Troas weggeführten Marmorbildwerken geschmückt sind.

Die 10 Meter breiten Stadtmauern bestehen aus zwei Reihen von Quadersteinen, unter denen viele 2 Meter 66 Centimeter Länge bei 1 Meter 34 Centimeter Breite haben. Der Raum zwischen diesen beiden Steinreihen wird durch ein Mauerwerk von kleinen Steinen und Ziegeln ausgefüllt. Mehrere Stadtthore sind noch an deutlichen Spuren zu erkennen. Bei jedem Schritt in der Stadt selbst trifft man auf Ruinen grosser Gebäude, und wenn der dichte Eichenwald nicht hinderlich wäre, so würde die Aussicht eine der herrlichsten und interessantesten sein.

Unter diesen Ruinen zogen besonders die von zwei runden Thürmen meine Aufmerksamkeit auf sich, welche jedenfalls zu einem Palaste gehört haben, ferner die Ueberreste einer ungeheuren Badeanstalt, von nicht weniger als 350 Meter Länge bei ebenso grosser Breite, deren Mauern 6 Meter 66 Centimeter dick sind und mehrere Bogen von 10 Meter Durchmesser enthalten.

Im Walde findet man hunderte von Marmorsäulen, theils liegen sie auf der Erde, theils stehen sie aufrecht. Sie lassen auf die ehemalige Pracht von Alexandria-Troas schliessen. Nach der Ausdehnung der Ruinen zu urtheilen, mag die Stadt eine Bevölkerung von 500,000 Seelen gehabt haben.

Nachdem ich sie in allen Richtungen durchwandert hatte, kam ich nach dem kleinen türkischen, mit der alten Stadt gleichnamigen Dorfe Iskistambul, und kehrte im Hause eines Türken ein, um zu frühstücken. Der brave Mann beeilte sich, mir Brod, Ziegenkäse, Eier, Rosinen, Melonen und Quellwasser vorzusetzen. Ich hatte gewaltigen Appetit, der durch den Anblick der äussersten, im Hause herrschenden Reinlichkeit noch gesteigert wurde. Für die Mahlzeit zahlte ich dem braven Türken 1 Fr. 40 Cent. Er war damit so zufrieden, dass er sich mir als Führer nach dem alten Hafen von Alexandria-Troas anbot.

Die Ausdehnung dieses kreisförmigen Hafens wird durch die Ruinen eines alten Duanenmagazins und anderer Bauwerke, sowie durch zahlreiche Säulen genau bezeichnet; sein Durchmesser kann nicht über hundert Meter betragen haben, und man begreift in der That nicht, wie dieser liliputanische Hafen für eine so grosse Stadt ausgereicht haben soll. Da der Eingang des Hafens auf der Meeresseite jetzt durch Sand verstopft ist, so ist nur noch ein kleiner Teich übrig.

Gegen 1 Uhr Nachmittags ging ich vom Dorfe Iskistambul in der Richtung der Ebene von Troja weiter ab, wo ich die Nacht zuzubringen gedachte.

Als ich dem Meeresufer entlang ging, sah ich eine ungeheure Menge Kanonenkugeln von Granit und Marmor, 33 bis 67 Centimeter im Durchmesser, welche, wie in den Arsenälen, in Haufen geschichtet waren. Diese Kugeln sind von den Türken aus den Säulen von Alexandria-Troas geschnitten worden.

Der Weg führte uns fast fortwährend durch unbebaute, mit wilden Eichen und Eichten bedeckte Felder.

Gegen halb fünf Uhr kam ich durch das nur von ackerbautreibenden Türken bewohnte Dorf Gikly, das auf der Stelle einer alten Stadt zu liegen scheint, denn in den Mauern der Brunnen, Häuser und Scheidewände sah ich überall Trümmer von Bildwerken; indess können diese auch von Alexandria-Troas hierhergebracht worden sein.

Die Einwohner des Dorfes waren gerade dabei, Korn zu dreschen und zu reinigen; Männer, Frauen und Kinder, alle waren bei dieser Arbeit. Für den Transport der Lasten bedienen sie sich zweirädriger Karren, deren Räder keine Felgen haben und aus einer mit einem eisernen Bande eingefassten Scheibe bestehen. Wie es scheint, werden die Achsen dieser Karren nicht geschmiert, denn sie machen, selbst in weiter Entfernung, eine die Ohren zerreissende Musik.

Mein Pferd war dermassen ermüdet, dass ich nur mit Mühe gegen neun Uhr Abends zum Dorfe Ugik gelangte, wo ich gezwungen wurde die Nacht zu bleiben. Auch hatte ich viele Gründe, mich über meinen Führer zu beklagen, der mich bei jeder Gelegenheit zu betrügen suchte. Ausserdem wünschte ich sobald wie möglich nach den Dardanellen zurückzukehren und suchte deshalb für den Morgen des folgenden Tages einen neuen Führer und zwei Pferde, aber alle meine Bemühungen waren vergeblich.

Endlich stellte sich mir ein Mann Namens Topal vor und sagte, er hätte für mich zwei gute Pferde gefunden, man fordere aber 50 Piaster, und er selbst beanspruche im Voraus ein Trinkgeld von 10 Piastern. Da meine Geduld zu Ende war, so nahm ich das Anerbieten an und bezahlte die 10 Piaster. Ich legte mich auf der Strasse vor einem Hause nieder, war aber kaum eingeschlafen, als derselbe Mensch zurückkam und auch die 50 Piaster im Voraus verlangte, da ich sonst am folgenden Tage die Pferde nicht bekommen könnte.

Da ich mir nicht anders helfen konnte, so bezahlte ich die 50 Piaster und schlief wieder ein. Halb zwei Uhr Morgens kam er wieder, weckte mich und sagte, die beiden Pferde ständen auf einem benachbarten Hofe bereit und lud mich ein, ihm zu folgen. Er führte mich in einen Hof, wo ich allerdings einen Menschen und ein Pferd fand. Auf meine Frage, wo das andere Pferd wäre, antwortete er mir: auf dem benachbarten Hofe, und verschwand. Der andere Mann band meine Reisetasche an das Pferd, und da erkannte ich trotz der Dunkelheit, dass dies der nämliche Schurke und die nämliche elende, abgemattete Rosinante waren, die mir seit mehreren Tagen soviel Verdruss verursacht hatten, und dass kein zweites Pferd da war.

Nun sah ich wohl ein, dass mich ein Spitzbube betrogen hatte; da er aber verschwunden war, so fiel ich über den andern Menschen her, der sein Mitschuldiger sein musste, und durch viele Drohungen gelang es mir, von ihm 48 Piaster zu erhalten, die ganze Summe, welche er nach seiner Behauptung von dem andern bekommen hatte.

Vor Allem wollte ich mich nun an dem Spitzbuben rächen, und nachdem ich für zehn Piaster einen Strassenjungen gemiethet hatte, um meine Reisetasche zu tragen, machte ich mich 3 Uhr Morgens nach dem 9 Kilometer entfernten Dorfe Neochorion zu Fuss auf den Weg, um dort meine Klage anhängig zu machen. Ich musste am Fusse des Grabhügels Udjek-Tepe vorbei, dessen ungeheure Ausdehnungen die Finsterniss noch zu vergrössern schien.

Wir liefen so schnell, dass wir um 4 Uhr, in Schweiss gebadet, zu Neochorion ankamen, wo ich in einem Kaffeehause einkehrte.

In Eile verfasste ich eine Klageschrift in griechischer Sprache und überreichte sie dem liebenswürdigen Demarchen Georgios Mengiussis, mit der Bitte, den Bösewicht Topal gefänglich einzuziehen, ihn zur Herausgabe der 12 gestohlenen Piaster zu zwingen, und sie an die Armen des Dorfes zu vertheilen.

Der Demarch entgegnete mir, er werde sogleich einen Gendarmen schicken, um den Schurken zu verhaften, denn er stände in grossem Verdacht, mehrere Viehdiebstähle begangen zu haben, und in Folge meiner Anzeige wäre kein Zweifel über seine Strafbarkeit wegen jener Diebstähle.

Ich schloss darauf mit dem Kaffeewirth Georgios Tirpos den Vertrag, dass er mir für 27 Piaster ein Pferd bis Rinkoi leihen und mich auf einem Esel dorthin begleiten sollte.

Wir ritten durch die Ebene von Troja und über die Höhen des Vorgebirges Rhöteum. So hatte ich noch einmal die Freude, den Skamander, Kalifatli-Asmak und Simoïs zu passiren und aus der Ferne Hissarlik, die Gräber des Ajax, Achilles, Patroklus u. s. w. zu sehen.

Als ich das hochliegende Terrain jenseits Troja passirte, sah ich seitwärts vom Wege einen 30 Centimeter langen und 16 Centimeter breiten Stein mit einer langen griechischen Inschrift, von der unglücklicher Weise die Hälfte fehlte. Ich brauche nicht erst zu bemerken, dass ich ihn trotzdem mitnahm, um ihn meiner Sammlung beizufügen.

Wie in Griechenland, tödtet man auch hier die Schildkröten nicht, und in Folge dessen sind sie in ungeheurer Anzahl vorhanden. Man trifft bei jedem Schritt Landschildkröten, und jeder Fluss, Bach oder Teich wimmelt von Wasserschildkröten.

Ich begreife wahrlich nicht, warum man diese Thiere nicht nach Frankreich ausführt, wo sie für eine sehr ausgesuchte Speise gehalten und theuer bezahlt werden. Mein Führer sagte mir, er sei überzeugt, zehn Arbeiter könnten in kurzer Zeit hunderttausend Schildkröten auflesen.

Als ich am Mittag zu Rinkoi angekommen war, miethete ich für 25 Piaster zwei Pferde zur Reise nach den Dardanellen, wo ich um 4 Uhr Nachmittags ankam. Ich kehrte in dem einzigen Gasthofe des Ortes ein und nahm ein Zimmer. Von Anstrengung ermüdet streckte ich mich auf dem Bette aus und schlief sofort ein. Kaum aber hatte ich eine Viertelstunde geschlafen, als ich wegen heftiger Schmerzen an Händen, Gesicht und Nacken aus dem Schlafe auffuhr und mich zu meinem grossen Schrecken abermals von Wanzen belagert fand, die ich erst mit vieler Mühe los wurde.

Unglücklicherweise fuhr kein Dampfboot vor dem 21. August nach Constantinopel ab, sodass ich drei Nächte in den Dardanellen zubringen musste.

Um nicht wieder vom Ungeziefer gepeinigt zu werden, nahm ich mein Nachtlager ausserhalb der Stadt auf dem Sande des Meeresufers und liess zwei griechische mit Pistolen und Dolchen bewaffnete Arbeiter bei mir wachen. Den Tag hielt ich mich auf dem nach dem Meere zugehenden Balcon meines Hôtels auf und beschäftigte mich mit Lectüre.

Meinen Aufenthalt in den Dardanellen benutzte ich namentlich zur Besichtigung der reichen Sammlung antiker Vasen und anderer merkwürdiger Sachen des geistreichen und unermüdlichen Archäologen Frank Calvert, welcher dieselbe bei seinen zahlreichen Ausgrabungen gefunden hat.


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