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So zog ich dicht am Belle-Alliance-Platz am Ende der Friedrichstraße 1889 mit meiner jungen Frau Hedwig, der ich also mein innerlich gegebenes Herzenswort von 1869 treu gehalten habe, in meine seit einem Halbjahr bestehende Privatklinik für Chirurgie und Frauenheilkunde ein. Von meiner Hochzeitsfeier ist nichts Besonderes zu melden, außer daß ich, der ich fast unsere gesamte ausgedehnte Familie Schleich-Küster mit Verlobungs-, Polterabendstücken und Hochzeitskarmina überschüttet hatte, meinen eigenen Polterabend durch keinen Stammesdichter oder Familiendarsteller gefeiert erleben mußte, so daß meine resolute junge Braut beschloß, daß wir beide uns selbst eine improvisierte Theaterfeier inszenieren sollten. Daß geschah, und da unsere barockesten Einfälle Anklang fanden, so war bald die kleine geladene Gesellschaft höchst talentierter Künstler am Werke, ein Programm zu absolvieren, in welchem jeder eine Extranummer beanspruchte, was zu dem amüsantesten Polterabendfest führte, das wir alle je miterlebt hatten. Der von meinen engsten Verwandten gesungene Brautchor war sowieso von mir gedichtet und komponiert.
Damit war die Jugend aufs heiterste beendet, und der Kampf mit dem Leben begann. Ich hätte nicht gedacht, daß es ein Ringen auf Tod und Leben werden sollte.
Ich werde meine Leser nicht damit aufhalten, ihnen die einzelnen Phasen gerade meines Ringens in der Arena der Medizin vorzuführen, ich gedenke mich in allen fachwissenschaftlichen Angelegenheiten sehr kurz zu fassen. Nur wo es sich um Ideen handelt, möchte ich, der hier sooft Verkannte, mich ganz ungehemmt äußern und mehr die Renkontres und Affären mit Persönlichkeiten in den Vordergrund stellen, die ihres allgemein bekannten Namens wegen an sich Interesse zu erregen vermögen. Im allgemeinen möchte ich, daß aus dieser Abteilung meiner Erinnerungen auch im wesentlichen das Sonnige, Herzerquickende, mein Glück mehr hervorleuchtet als die Schattenfülle, die ja keinem Sterblichen erspart bleibt. Auch wünschte ich, daß immer mehr erhellte, daß es meine Bestimmung war, nicht allein der Medizin meinen Ansturm gegen das Leben zu lassen, sondern daß es erkennbar wird, wie immer mehr der Künstlermensch, der Philosoph und der Dichter, der Maler und Musiker auch Luft zu holen und Arme zu breiten getrachtet hat. Auch gehören meine medizinischen Leistungen ja zum Teil schon der Geschichte an und sind leicht in der Fachliteratur aufzufinden, nur für die Entstehungsgeschichte, die inneren Motive und die Verkettung der vielstrahligen Betätigungen möchte ich einiges biographisch vervollständigen.
Da ist vor allem der Konflikt mit dem Chirurgenkongreß erwähnenswert, der mich mit einem Schlage aus der Liste des anständigen Wettbewerbes um die Palme für immer auszulöschen schien. Die nackte Tatsache, daß ein Arzt für eine dann später absolut anerkannte Wohltat für Leidende, für einen Fortschritt in der Bekämpfung der Schmerzen, für die Aufdeckung eines absolut neuen Prinzips der Schmerzstillung überhaupt, für eine Entdeckung also, die nach Bergmanns Ausspruch zu den Großtaten der Chirurgie überhaupt gehört, von einem Forum von 800 Fachchirurgen, Spezialkollegen also, zum Tempel hinausgejagt wird, ist so ungeheuerlich, daß sie wohl einer eingehenderen Besprechung und Beleuchtung wert ist und sich niemand wundern kann, wenn ein einfacher Arzt, Dr. Karl Briegleb in Worms, damals eine flammende Broschüre schrieb, die mich als den Galilei des 19. Jahrhunderts in Schutz nahm. Und doch ist der Fall nicht so vereinzelt, wie man denken sollte. Nein! Leider ist es die Regel, wo es sich um den naiven Anprall eines harmlosen Entdeckers gegen den mit allen Bomben und Granaten geschützten Ringwall der akademischen Burg, dieses Hochwalls der Reaktion jeder Art, dieses Monsalvat der Monopole, dieser Lindwurmhöhle des Ungeheuers Clique, handelt. Spielt sich doch schon jetzt seit fast 15 Jahren gegen einen Erfinder, der einst hell neben Jenners Stern strahlen wird, den Ersinner der Schutzimpfung und Bekämpfung gegen die Tuberkulose, Friedrich Franz Friedmann, Zug um Zug derselbe Kampf ab, war er doch um Jenner, um Semmelweis, um Lister, um Prießnitz, um Thure Brandt, um Dührssen, um das Chinin, um das Quecksilber usw. stets derselbe, so daß ich den beweisbaren Satz aufstellen konnte: Jeder Fortschritt in der Medizin bedarf eines Kampfes von 15 Jahren, die früher siegreichen sind keine, und den anderen: Alle großen medizinischen Entdeckungen werden außerhalb der Hochburg der Großsiegelbewahrer der Wissenschaft gemacht. Niemals aber hat sich dieser Anprall akuter, dramatischer, verblüffender vollzogen als im Falle meiner Anästhesie durch örtliche Einverleibung unschädlicher Flüssigkeiten.
Es war um das Jahr 1890, als ich lebhaft im Kreise Dehmel, Bierbaum, Hartleben, Ola Hanson auch mit dem Polen Stanislaus Prszybyszewski in Berührung kam, den wir immer den blutigen Physiologen nannten, einem Geniemenschen von erstaunlicher spinnenartiger Geistigkeit à la Félicien Rops, Callot oder E. T. A. Hoffmann. Dieser hinreißend Chopin spielende Dichter zeigte mir einst seine wundervollen Kollegienhefte nach Waldeyer, dessen Hörer er war, worin sich prachtvolle Details von Ganglienstrukturen fanden. Ich sah sie durch. Alle meine schönen Bilder von Jürgens' Präparaten und Hirnschnitten fielen mir ein. Ich war wie versunken in diese mir einst so vertraute Intimität kleinster Wunder. Plötzlich sprang ich hoch. »Stanislaus!« rief ich. »Mensch! die Neuroglia ist ein Klaviersaitendämpfer! Ein elektrisches Sordino, ein Registerschaltapparat, ein Hemmungsregulator!« – »Blitz! Himmel! Kreuzmillionen fis-moll noch einmal! Bruder, sag es noch einmal. Er ist verrückt geworden. Oder es ist eine Erleuchtung!« Schnell setzte ich ihm die Möglichkeit auseinander, daß Nerven durch Einschaltung feuchter Ströme abgedämpft werden könnten, daß Denken phasisch sei mit dem Blutpulse, und daß, wenn das richtig sei, man ja nur verändertes Blut zwischen die Hauttasterglocken zu spritzen brauche, um Gefühlsdämpfung oder Überempfindlichkeit beliebig künstlich zu erzeugen. Ich stürzte in mein Institut und habe in Gegenwart meines Assistenten Wittkowski innerhalb einer halben Stunde durch Selbstinjektionen verschiedener blutähnlicher Salzlösungen festgestellt, daß Wasser ein Anästhetikum erster Klasse ist, nach vorheriger Reizung. Daß diese Reizung ausschaltbar ist, wenn man ½ pro Mille Kochsalz zusetzt, und daß physiologische Kochsalzlösung das Gefühl läßt, wie es bei Blutumspülung ist. Das war die Basis. Sehr bald geschah das eigentlich Entscheidende. Setzte man der ½-pro-Mille-Kochsalzlösung Kokain zu, so ergab sich, daß alle Anästhetika ihre Wirksamkeit um das Mehrtausendfache erhöhen, wenn sie in geeigneter Kochsalzlösung enthalten sind. Damit war eigentlich die neue Lokalanästhesie entdeckt. Wo andere nur eine Pravazspritze Kokain gebrauchen durften, weil die Giftigkeit Halt gebot, konnte ich tausend Spritzen anwenden. Alle so aufgeschwemmten Gewebe, wie ich das an vielen Hunderten von Selbstexperimenten Schritt für Schritt erwies, waren für Stich, Druck, Pressen, Schaben, Brennen absolut taub.
Dies im Grunde genommen sehr einfache Prinzip habe ich dann in Tausenden von Fällen systematisch technisch angewandt und vermochte auf Grund einer allerdings nicht immer sehr einfachen Technik große Unterleibsgeschwülste, Knochen, Gelenke zu entfernen, Amputationen, Trepanationen, Augenenukleationen vorzunehmen ohne Narkose, bei vollendeter Schmerzlosigkeit. Woher hätte ich, so frage ich, ein einfacher Arzt der Friedrichstraße, dieses immense Material hernehmen sollen, wenn ich den Leuten Schmerzen gemacht hätte? In acht Tagen wäre ich boykottiert worden drei Meilen im Umkreis meiner Klinik. So aber sagte das Wunder einer dem andern, und die Menschen strömten mir zu. Wittkowski, Haupt, Immelmann, Kauthe, Dönitz und viele andere, die nicht meine Assistenten waren, wie jene, können es mir bezeugen, daß ich die Wahrheit spreche. Wir haben täglich zwölf und mehr schmerzlose Operationen ausgeführt. Viele Hunderte ausländischer Ärzte waren in meiner Klinik zum Lernen. Veröffentlicht hatte ich bis dahin nichts.
So trat ich denn im April 1892 vollgerüstet auf dem Chirurgenkongreß an. Mein Manuskript in der Hand. Vorher bat ich noch stolz meine junge Frau, mir meinen besten Rock zu reichen. »Wenn man eine so große Entdeckung verkündet«, sagte ich selbstbewußt, »so muß man ein bißchen anständig aussehen!« Meines Vaters Augen leuchteten vor den erwarteten Triumphen seines Carl, der's in der Medizin doch zu was Großem, Graefe Ähnlichem bringen würde, wie er ja immer gesagt habe. Die Reise ging los. Der Saal überfüllt, als ich auf das Podium trat. In aller Gemütsruhe begann ich, ein Protokollant stenographierte. Gott sei Dank! Ich entwickelte Theorie und Praxis und schilderte das Erreichte. Der Präsident Bardeleben, ein Michelangeloscher Moseskopf, rückte schon mehrmals unruhig auf dem Sessel und sah sich um. Als ich nun schloß: »So daß ich mit diesem unschädlichen Mittel in der Hand aus ideellen, moralischen und strafrechtlichen Gesichtspunkten es für nicht mehr erlaubt halte, die gefährliche Narkose da anzuwenden, wo dieses Mittel zureichend ist.« – Da erhob sich ein Sturm – der Entrüstung, der mich beinahe umgeworfen hätte, so verblüfft war ich. Bardeleben läutete lange die Glocke. Als sich das Getöse einigermaßen gelegt hatte, sagte er: »Meine Herren Kollegen! Wenn uns solche Dinge entgegengeschleudert werden, wie sie in dem Schlußsatze des Vortragenden enthalten sind, dann dürfen wir von unserer Gewohnheit, hier keine Kritik zu üben, wohl abweichen, und ich frage die Versammlung: Ist jemand von der Wahrheit dessen, was uns hier eben entgegengeschleudert worden ist, überzeugt? Dann bitte ich, die Hand zu erheben!« (Welch Wahnsinn, abstimmen zu lassen, ob eine neue Entdeckung wahr ist oder nicht!) Es hat sich keine Hand erhoben! Ich trat vor das Podium. Ich wollte sagen: »Meine Herren! Bitte, schauen Sie sich die Sache an, ich kann Ihnen jeden Augenblick beweisen, daß die Dinge wahr sind. Ich habe nicht gelogen!« Ich rief: »Ich bitte ums Wort!« – »Nein!!« donnerte der alte Moses, Blitze unter den buschigen, grimmigen Augen mir entgegensprühend. Da zuckte ich die Achsel und ging. In den Zeitungen stand: »Der also Gekränkte verließ gedemütigt den Saal.« Es war mir, als ich unten an der Terrasse stand, nur leid um den alten Mann, der so viel von dieser Stunde gehofft hatte, der Zeuge des ganzen Auftrittes gewesen war – mein Vater. Vor ihm stürzte ein einziger Arzt von den 800 Chirurgen mir nach, es war der alte Litthauer. Er sagte ganz entsetzt: »Junger Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie recht haben mit dem, was Sie erfunden; aber sollte das der Fall sein, so ist das, was sich hier eben abgespielt, das Unerhörteste, was sich je in der Wissenschaft zugetragen hat.« Da kam mein armer, alter Vater. Siehe da, kreuzvergnügt, beinahe tänzelnd, die Stufen herab. »Vater!« rief ich aus. Er sagte: »Carl! Die Kerls sind ja ganz und gar verrückt. Komm! wollen zu Hiller gehen und eine Flasche Sekt trinken. Recht kriegst du ja doch!«
Ja, freilich! Nach zehn Jahren, als Mikulicz aus Breslau für alle höchst überraschend dem Chirurgenkongreß mitteilte, daß er viele Tausende von Operationen mit dem Schleichschen Verfahren völlig schmerzlos ausgeführt habe, und daß die Methode zweifelsohne in den eisernen Bestand des chirurgischen Könnens gehöre. Für den mir angetanen Schimpf aber hat bis zum heutigen Tag niemand ein Wort der Sühne gefunden. Im Gegenteil, die einmal gebildete Legende, ich hätte jeden mit dem Staatsanwalt bedroht, der sich noch erdreiste, Chloroform anzuwenden, ist heute noch im Schwange, so dreist sie auch erfunden ist. Aber wenn man nur eine Formel hat, eigenes Unrecht abzuwehren, pflegt das Gewissen mit jedem Ruhekissen zufrieden zu sein. Es gibt noch heute Hunderte von Chirurgen, die fest überzeugt sind, ich hätte mir meinen Mißerfolg und die Vernichtung meiner Karriere durch Beleidigung des Chirurgenkongresses selbst zuzuschreiben, was natürlich alles aus der Luft gegriffen ist wie Spinngewebe, um die eigene Blöße und Blamage zu bedecken. Nun gut, gesetzt, ich hätte einen Verstoß begangen; wäre das ein Grund gewesen, ein Verfahren abzulehnen, welches Millionen Leidenden fünfzehn Jahre früher zur Wohltat gereicht hätte, statt das unter tausend Fällen mindestens zweimal tödliche Chloroform und den übrigen Narkosenschlendrian ruhig beizubehalten?! Ist das eine wissenschaftliche Gesellschaft zu nennen, welche eine angebliche Verletzung ihrer eingebildeten Würde soviel höher stellt als den Wert eines Segens der Menschheit, der sich inzwischen die Welt erobert hat, daß sie es mit allen Mitteln zu ignorieren und zu unterdrücken sich entschlossen hat? Immer wieder wiederholt sich derselbe Kampf auf Tod und Leben. Nur niemand vorlassen, eher totschweigen, als sich überspringen zu lassen! Ein Konkurrenzkampf, heiß wie das Pferderennen, nur um so ekler, als es sich um das Heil der Menschen handelt, dessen Wahrung angeblich doch immer das höchste Interesse der Verwalter der medizinischen Machtstellungen sein soll. »Gewiß, alles Gute den Menschen; nur nicht auf Kosten unseres mühsam erworbenen Ruhmes und der Methoden, von denen wir unsere Existenz polstern!« Wiederholt sich nicht in unseren Tagen Phase um Phase dasselbe bei Friedmanns Kampf um die Ausrottung der Tuberkulose? Es ist entsetzlich zu denken, ich habe es lange nicht geglaubt, bin aber jetzt von dem Satze überzeugt, den Friedmann einst in begreiflicher Entrüstung meinen Linderungsargumenten entgegengerufen hat: »Gehen Sie, lieber Schleich, Ihrem ganzen Temperament nach können Sie es nicht glauben, der letzte Grund des Widerstandes gegen eine Neuerung in der Medizin ist immer der, daß Hunderttausende von Menschen davon leben, daß etwas unheilbar ist. Alle Institutionen, alle Berufe, ganze Gewerbe, Hotels, Sanatorien sind nun einmal zugeschnitten auf die freilich bedauerliche Tatsache, daß die Tuberkulose unheilbar ist, denn das Gesetz des ökonomischen Egoismus ist stärker als jede Humanitätsidee!« Fruchtbarer Pessimismus! Aber vieles ist ohne ihn unverständlich. Mein Anprall an die Ökonomie der Narkose ist aber die eigentliche Triebfeder, welche mich mit aller Macht an die Seite der Fahne Friedmanns geworfen hat. Dieser Genius der Menschheit, den man noch einst über alle lebenden und gewesenen Mediziner stellen wird, soll nicht so allein in der Welt stehen mit traurig gesenkten Flügeln, wie ich damals nach dem Chirurgenkongreß. Mit wahrer Begeisterung kämpfe ich den Kampf meiner Jugend noch einmal für ihn. Ein alter Fechter steht dem jungen zur Seite, der alle Finten der Gegner aus dem Effeff kennt. Damals aber war niemand Autoritatives mir zur Seite, mit erbärmlicher Feigheit verleugneten mich diese Herren des Fortschritts, die noch am Morgen des Vortrags bei mir anästhetische Operationen bewundernd mit angesehen hatten. »Sie wären nicht dabeigewesen!« Typische Ausrede; dabei hätte ich jedem meiner sogenannten Freunde den Platz nennen können, den sie bei meiner Hinrichtung, ohne auf dem Stuhle zu zucken, eingenommen hatten. Nun, ich habe alles still ertragen. Ich hatte ja einen herrlichen Vater, der mir sagte: »Glaube mir, Carl, wem so schweres Unrecht geschieht, dem wird die Mühe erspart, sich zu verteidigen, das nehmen dir einmal andere ab. Arbeite ruhig weiter.« Das habe ich getan; denn schon im nächsten Jahre meldete ich auf dem Chirurgenkongreß Operationen unter Schleichscher Anästhesie an. Wie sehr der Wille, die Sache abzulehnen, nicht ihre Prüfung, Parole war, ging daraus hervor, daß von den 800 anwesenden Mitgliedern des Kongresses noch nicht dreißig in der Bergmannschen Klinik zu diesen Demonstrationen erschienen waren. Und doch hat mich dieser unerschrockene Gang in die Höhle des Löwen erst eigentlich ausgerichtet, denn es ereignete sich eine unendlich drollige Szene. Ich anästhesierte eine Körpergegend, die gesellschaftlich nicht zu den anständigsten Regionen des menschlichen Leibes gezählt wird, an der es etwas zu operieren gab. Bergmann fuhr probeweise mit der ganzen Faust in die anästhesierte Wundhöhle und rief in baltischstem Pathos: »Wenn die AperturEr drückte sich ganz Götz-von-Berlichingensch aus. nicht schmerzlos ist, dann lasse ich mich hängen!« Esmarch aber, der gleichfalls neben mir stand, sagte: »Aber so operiert man solche Sachen doch nicht.« Er verlangte das Schema F. Ich erwiderte ihm, daß eine neue Anästhesierungsmethode auch gewisse Modifikationen der Schultechnik erfordere. Bergmann aber sagte mir ziemlich laut ins Ohr: »Antworten Sie dem alten ... doch nicht, er ist blind und taub und von Gott verlassen!« Ich war zufrieden, als mich dabei mein Vater äußerst vergnüglich lächelnd ansah – Esmarch war sein alter Gegner in der Samariterfrage –, da begann es in mir zu summen: »Gräme dich nicht! Wenn die Heroen deines Herzens so miteinander umgehen, was kannst du, Kleiner, von ihnen verlangen? Auch im Olymp also wurde mit Wasser gekocht.«
Nun an die Arbeit. Zunächst schrieb ich alles Neue auf. Meine ersten Publikationen waren klinische Berichte meiner Tätigkeit in meiner Privatklinik, mit vielen neuen Gesichtspunkten potpourriartig eingestreut. Dann hatte ich eine Broschüre geschrieben: »Über die Ätiologie der Geschwülste« und »Infektion und Geschwulstbildung« mit einer völlig neuen Anschauung über die Natur des Krebses. Er sei ein Produkt pathologischer Zeugung, ein anarchisch-perverser Homunkulus, ein Pseudoembryo. Obwohl ich diese heute immer wichtiger werdende Broschüre an alle Universitäten versandt hatte, allgemeines Totschweigen. Nun hatte ich ein dickes Manuskript: »Schmerzlose Operationen« mit einer fast erschöpfenden Technik der Methode für alle Körpergegenden. Alle Verleger wiesen mich ab, und so stand ich denn einst wie ein abgewiesener Romandichter unter der Linde vor Hirschwalds Buchhandlung und war dem Weinen nahe, als Professor Langgaard vom Pharmakologischen Institut mich ansprach und nach dem Grund meines Angelehntseins an den Baumstamm fragte. Ich klagte ihm mein Leid. Er wollte einmal eine solche Operation sehen. Wir fuhren sofort in meine Klinik, und ich demonstrierte ihm die absolute Schmerzlosigkeit an einer Armplastik bei einer Brandnarbe, die vom Oberarm bis in die Handwurzel reichte. Er war begeistert, und wir fuhren in die J. Springersche Verlagshandlung. Am nächsten Tage begann der Druck meiner ersten Tragödie.
Nicht schließen will ich diese Erzählung, ohne derer besonders zu gedenken, die trotz des allgemeinen Boykotts, der über mich verhängt war, treu und fest zu mir als Menschen, wenn auch gefallenem chirurgischem Engel gehalten haben. Obenan mein guter, lieber Adolf Gottstein, der, mir innigst befreundet, sich nicht genugtun konnte, mich zu trösten und auf eine bessere Zukunft zu verweisen. Der damals schon festgeschmiedete Herzensbund hat allen Stürmen standgehalten. Der geistreiche, ungemein gewissenhafte und gütige Sturmgenosse unserer jungen Jahre ist jetzt an der Spitze der preußischen Medizinalverwaltung.
Mein guter Onkel Konrad Küster, der heute noch rüstige Reformer auf den allerverschiedensten Gebieten, eine burschikose, unüberwindliche Kämpfernatur von echt deutscher Landsknechtsart, mit einem goldenen Herzen voll Humor und Bacchusfreudigkeit unter dem vielfach vom Schicksal geschlitzten Wams, ist nicht eine Stunde an mir irre geworden. Als ein gemeinsamer naher Verwandter, aus dem Chirurgenkongreß kommend, ihm mitteilte: »Du, Carl Schleich hat sich auf dem Kongreß furchtbar blamiert«, antwortete er barsch: »Unsinn! Ihr habt euch blamiert!«
Er hat so unrecht nicht gehabt.