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Nun waren die Trauerlieder ausgesungen, die letzten Wortgrüße, die Liebe und Ehrfurcht zollten, verhallt, und die Blumenkränze begannen zu welken, mit denen der letzte Weg eines Mannes von seltener Art, prunkvoll, wie es einem Leben voll von Erfolg und Glanz gebührte, geschmückt worden war. Ernst von Bergmann, bei dessen Namensklang den Herzen derer, die ihn kannten, ein wärmerer Lichtstrom, als ihn der Alltag kennt, zuzufließen schien, ein Mann, aus dessen Art und Wesen schon bei seinen Lebzeiten etwas Klassisches, Bedeutendes, Unvergeßliches hervorleuchtete, sank in die Todesgruft, und zugleich, um die Osterzeit 1907, glitt er hinüber in die Ehrenhalle der Unsterblichen. Nun gehörte er nicht mehr der damals gerade tagenden Deutschen Gesellschaft für Chirurgie an, unter uns weilend als ein Führer auf der Kommandobrücke; er trat hinüber in jene erlesene, stumme Gemeinschaft großer Toten, von deren lebendigem Wirken unter den Nachlebenden bald der kalte Griffel der Geschichte zu berichten hatte. Freilich: der Schatten, den sein Heimgang über die damaligen Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie warf, wird genug Lichtstrahlen besitzen, um auf neue Bahnen, weite Wege, begehrenswerte Ziele hinzuweisen.
So mochte sein Scheiden und das Tagen der weltberühmten ärztlichen Versammlung mir schon damals ein willkommener Anlaß gewesen sein, auch einmal vor einem größeren Forum das Leben und das Wirken Ernst von Bergmanns zu beleuchten und damit dem Faden nachzuspüren, welche die deutsche Chirurgie vor ihm, mit ihm und nach seinem Rat gegangen ist.
Ernst von Bergmann entstammte dem russischen, im Kern deutschen Livland, wo er in Riga 1836 als Sohn eines Pfarrers geboren wurde. Er konnte in seiner volltönenden Sprache, die er so meisterhaft beherrschte, niemals den Heimatklang verleugnen; die scharfen, etwas harten, explosiv hervorgestoßenen Konsonanten der Deutschrussen, die den preußischen Dialekt gleichsam zur Übertreibung zu bringen scheinen, waren auch bei ihm voll und unverkennbar ausgeprägt, oft unendlich drastisch zur Geltung kommend, wenn er kurze Aphorismen im Idiom der Heimat prägte. »Wenn einer das Genick brecht, sterbt er«: so schloß er einst sein Gutachten vor Gericht nach der Frage, ob jemand von einem Bruch der Halswirbelsäule mit dem Leben davonkommen könne. Meist freilich war das heimatliche Idiom bei ihm abgemildert durch eine ungewöhnliche Grazie der Sprechweise. Sein Redeton konnte etwas unendlich Verbindliches, Diplomatisches, Verlockendes erhalten, aber auch ebenso schwerterscharf in die Diskussion hineinschwirren. Ich habe oft Gelegenheit genommen, auf die Macht von Bergmanns eminenter Sprachgewandtheit hinzuweisen; hier soll nur bemerkt werden, daß er mit den Wurzeln seines Wesens tief in den Heimatboden hinabreichte (wie ja wohl schließlich jeder ganz Große). Wenn schon die Sprache, dieser Verräter und zugleich Hehler innerlichster Vorgänge, den Einfluß des Jugendlandes bezeugte, so war dieser Einfluß auf seine tiefsten Überzeugungen noch viel deutlicher fühlbar. Er war im Elternhaus gewohnt, die Dinge im Bann der ewigen Mächte zu betrachten, und ist, wie der befreundete Geistliche an seinem Sarge zu vieler Überraschung gesagt hat, sein Leben lang tief religiös gewesen. »Lobe den Herrn, meine Seele« war sein Lieblingslied (was auch in musikalischer Beziehung keinen schlechten Geschmack verrät); die Frage der Unterrichtsreform mit ihrer Tendenz, die Religion aus der Schule zu entfernen, habe ihm schweres Bedenken erregt, er sei darauf gefaßt gewesen, öffentlich für die Religion im Herrenhaus, dessen Mitglied er auf Wunsch seines Kaisers geworden war, einzutreten, weil »sie das Beste sei, was wir aus der Jugend hinüberretten«. Als das letzte Stündlein kam, hat Bergmann in Demut betend sich an seinen Gott gewandt. Es ist von großem Wert, zu wissen, daß ein Mann dieses Schlages also kein Materialist war, daß er, trotz medizinischer Schulung, einen religiösen Unterstrom in sich bewahrte, aus dem seine Begeisterung für alle Taten der Nächstenliebe eine verborgene Speisung erfuhr. Er hatte, trotz aller Weltlichkeit und trotz der Fülle seiner Naturwissenschaft, nicht das Beten aus der Kinderstube und nicht seinen Heimatglauben verlernt. Auch seine Liebe zur russischen Heimat mag oft auf eine harte Probe gestellt worden sein: so zum Beispiel, als ihm die Gunst des russischen Kaisers den Petersburger oder Kiewer Lehrstuhl der Chirurgie anbot und er zugleich einen Ruf nach Würzburg (1878) erhielt. Gern hätte gewiß der Zar einen so bewährten Mann dem Russischen Reich erhalten; und Bergmanns Rede auf dem Schlachtfeld von Plewna hat bewiesen, daß ihm seine Entscheidung für das deutsche Vaterland nicht leicht geworden sein kann. Hatte ihm doch die russische Heimat seine ganze Erziehung und Bildung geschenkt. In der Privatanstalt Birkenruh bei Wenden wurde er nach mehrjährigem Unterricht im Elternhaus für das Universitätsstudium vorgebildet, das er von Anfang bis zu Ende in Dorpat absolvierte. Nach dem, was Bergmann gelegentlich aus seiner Studentenzeit erzählte, und nach der humorvollen Fröhlichkeit, die ihn beim Pokulieren erfassen konnte, muß er ein lustiger, ja ein ausgelassener Bruder Studio gewesen sein; wenigstens hatte er als junger Assistent in Dorpat noch keineswegs das Vergnügen an lustigen Studentenstücklein verloren, und ein bißchen Schalkhaftigkeit saß ihm trotz hohen Ämtern und Würden doch wohl immer im Nacken. Nicht viele werden von seinem herzigen, kindlichen Humor etwas zu kosten bekommen haben; den meisten Kollegen gab er sich zwar höflich und ohne Zwang, doch mit einer gewissen Reserve und Zugeknöpftheit.
Bergmann promovierte im November 1860 in Dorpat. Seine Doktorarbeit betraf die Wirkung von Balsamen auf den tierischen Körper. Sehr bald darauf erhielt er eine Assistentenstelle an der dortigen Chirurgischen Universitätsklinik, die von den Professoren von Adelmann und von Oettingen abwechselnd geleitet wurde. Vier Jahre später habilitierte er sich als Privatdozent für Chirurgie. Eine Studienreise führte ihn nach Wien und Berlin, und 1866 folgte er dem Ruf des Generalarztes Wagner in Königsberg als dessen außerordentlicher Assistent und ging, dem Generalarzt dauernd attachiert, mit in den Preußisch-Österreichischen Feldzug. Im Jahre 1870 war er gerade im Physiologischen Institut des Professors Kühne in Amsterdam beschäftigt, als der Krieg ausbrach. Er eilte nach Berlin und fand in der ärztlichen Armeereserve eine Anstellung, die ihm ermöglichte, die Schlachten von Weißenburg und Wörth mitzumachen. Er hatte das Glück, den beiden größten lebenden Chirurgen nach Langenbeck, Billroth und Volkmann, bei ihrer schweren Arbeit helfen zu dürfen: in Mannheim, wo ihm das Kriegs-Reservelazarett »Seilebohn« übertragen wurde. In Karlsruhe war er eine Weile in einem Barackenlazarett angestellt und machte später die Fahrten nach Belfort und Paris mit dem badischen Sanitätszug mit. Nach 1871 kehrte er nach Dorpat zurück, wo er noch im Juli desselben Jahres zum Nachfolger seines Lehrers Adelmann ernannt wurde. In verhältnismäßig jungen Jahren also hatte er Gelegenheit, den größten Schauplatz chirurgischer Verletzungen zu schauen. Was ein ganzes Menschenleben an Beobachtung in Friedenszeiten nicht zu betrachten gestattet, streute hier ein einziges Jahr vor den staunend sich weitenden Augen des jungen Chirurgen aus. Es war ergreisend, Bergmanns lebhaften Schilderungen aus dieser Zeit zu lauschen; sein offener Blick und sein warmes Herz sahen und empfanden neben all dem Verblüffenden im rein chirurgischen Sinn auch die tiefe, der ganzen Menschheit in einem Kriege geschlagene Wunde, die grenzenlose Trauer, die mit solcher Menschheitskatastrophe hereinbricht. Hier und später im Russisch-Türkischen Krieg (1877), den er im Hauptquartier des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch mitmachte, hat Bergmann all das erdacht und gelernt, was er später für die Pflege und für die Schonung Verwundeter empfahl. Noch war ja die Zeit für die Antisepsis nicht reif. Zwar hatte Lister schon 1869 seine ersten Arbeiten veröffentlicht, schon hatte ein deutscher Stabsarzt, Schulze, die ersten Lobeshymnen auf das Verfahren zur Vermeidung der Wundzersetzung durch Mikroorganismen begonnen; aber noch lange Zeit verging, ehe die Methoden Listers, des großen Menschheitswohltäters, Allgemeingut der Ärzte waren. Was Wundfäule, Ruhr, Cholera damals unter den Augen Bergmanns, der als Konsultant-Chirurg der Donauarmee die Schlachten bei Plewna, Felisch und Gornji-Dubnick mitmachte, in dem russischen Heer angerichtet haben, mag sich zu einer großen Sehnsucht nach Besserung dieser fürchterlichen Verhältnisse so stark im Herzen Bergmanns verdichtet haben, daß er einer der ersten und glühendsten Befürworter der strengen Methoden Listers wurde, schon zu einer Zeit, als noch ein Billroth kühn genug war, Volkmann zu verspotten, der glatt auf den Listerschen Schwindel hineingefallen sei.
Während Bergmann von 1878 bis 1882 in Würzburg als Lehrer der Chirurgie lebte (in verhältnismäßig stiller, gleichsam vorbereitender Organisation des klinischen Dienstes), festigte sich in ihm ein neues Programm der Wundbehandlung. Bergmanns ganze Bildungsrichtung war bisher durchaus anatomisch-physiologisch gewesen. Sein inniger Verkehr mit dem genialen Physiologen des Blutes, Alexander Schmidt in Dorpat, mag ihm wohl die physiologisch-chemische Tendenz gegeben haben, die sich in seinen ersten bedeutenden Arbeiten über »Das putride Gift«, »Die Fieber und Entzündung erregenden Wirkungen der Produkte des fauligen und entzündlichen Gewebszerfalles«, »Das Sepsin« offenbart. Bergmann war hier, in seiner kräftigsten Manneszeit, also ganz auf dem Boden der Humoralpathologie, ganz den Theorien zugeneigt, die alle Krankheitserscheinungen aus einer chemischen Alteration des Blutsaftes, wie wir heute alle, herzuleiten sich bemühten. Wie es kam, daß er später, in seinem Alter, diesen Anschauungen seiner besten Jahre abhold wurde, wird noch kurz erwähnt werden. Zunächst war Würzburg für ihn die Quelle, aus der er Virchows Fundamentalsätze von den Zellen als den letzten biologischen Einheiten schöpfte. Da entstand die von Pasteur begründete, von Lister früh und vorgreifend in die größte praktische Konsequenz übertragene, von Koch durch geniale Methodik zu einem neuen biologischen Riesenarbeitsfeld grandios erweiterte Bakteriologie. Wohlgerüstet mit den Waffen aus allen vorhandenen Arsenalen, kam Ernst von Bergmann 1882 im August nach Berlin, ein bis dahin völlig unbekannter Mann und doch der Nachfolger eines Bernhard von Langenbeck. Damals kursierte ein von dem greisen Bardeleben geprägtes Wort: »Weiß der Himmel, wo gerade den wieder der Minister ausgegraben hat«; womit angedeutet werden sollte, wie wenig man sich von dem bisher stillen Unbekannten versprach. Es war die spannungsvolle Erwartung vor einem Sturm. Ich selbst war Zeuge des zähen Wandels der Dinge, als letzter Famulus (Koassistent) von Langenbeck und als übernommener Famulus des neuen Herrn. Vor unserem Auge vollzog sich eine verblüffende Neuordnung, die zu den interessantesten Kapiteln meiner medizinischen Erinnerungen gehört. Vor dem entschlossen zupackenden Griff des eben gelandeten Eroberers blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Ein bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitetes System des antiseptischen Drills wurde mit der Strenge und Pedanterie einer militärischen Instruktion den alten, lieb gewordenen Gepflogenheiten gegenübergestellt. War Langenbeck ein Genie gewesen, dessen sichere, elegante Aristokratenhand seine fast ausschließlich von ihm selbst erfundene Operiermethode demonstrierte, wie ein Virtuos sein anderen unerreichbares, staunenswertes, nur ihm gegebenes Können, war Langenbeck der Geist und die Seele der Chirurgie selbst, so glich sein Nachfolger einem großartigen Organisator der überkommenen, zusammengefaßten und in einem System lehrbaren Ideen der Vergangenheit und der Gegenwart. Wie Moltke, die Ideen des Großen Friedrich und Napoleons verschmelzend, einer Armee die Mittel aufzwang, zu siegen durch Manöverübungen und den vielverschrienen preußischen Drill, der uns doch ein Vaterland zusammenschweißte, so verstand Bergmann, das Überlieferte, das genialisch Verstreute zu fundamentieren und mit allen Mitteln des Diktators den Schülern aufzuzwingen. Trotz allem Kopfschütteln im Anfang und dem hämischen Vermissen des eigentlich Genialen, »das man doch an Langenbeck gewohnt sei«, ist es heute zweifellos, daß von der durch Bergmann angebahnten Erziehung zu einer Technik des chirurgischen Gewissens gegen die Leidenden der größte Segen ausgegangen ist. Erst mit diesen Methoden im Tornister, die bis ins kleinste zur Wirksamkeit gegen die Bakterien ausgeklügelt waren, konnte jeder Rekrut die Anwartschaft zu einem General in sich fühlen. Die Genies mochten für sich selber sorgen; hier hieß es erst einmal: Griffe üben, sich halbe Stunden lang vorbereiten, eine stete présence de danger abtaxieren lernen, ehe man drangehen durfte, Schlachten zu schlagen. Mag sein, daß Bergmann nicht der erste war, der den großen Schritt von der Bekämpfung der Bakterien (Antisepsis) zur Methode der Fernhaltung der Bakterien (Asepsis), vom Irrtum zu der in der Schale verborgenen Wahrheit gewagt hatte, mag auch dem hochverdienten Kieler Chirurgen Neuber für immer der Ruhm bleiben, fast alles vorher schon erfüllt zu haben, was Schimmelbusch und Bergmann zu einem anscheinend nagelneuen System zusammenstellten: Bergmann war doch der Mann, aus dessen Hand der volle Segen der Gedanken und Taten Lawson Taits und Neubers hervorging. Mag nun auch Neuber dem großen Organisator dankbar sein: durch ihn sind seine Werke des bleibenden Bestandes um so sicherer, und die Wissenden sind ihm, Neuber, um so mehr Ehre schuldig!
In jenen ersten Tagen der Neuordnung war eines Morgens ein zwölfjähriger, auffallend schöner Knabe aus Schöneberg in die Klinik eingeliefert worden, der nach einer Verletzung am Fuße schwere Anfälle von Wundstarrkrampf bekommen hatte. Obwohl die Wunde mit größter Sorgfalt geöffnet und desinfiziert worden war, wiederholten sich gegen Abend die Krämpfe, und Bergmann beauftragte uns jüngere Famuli, bei dem Kranken die Nacht zu durchwachen und jeden Anfall mit Chloroformnarkose zu bekämpfen. Drei Uhr nachts war es, als sich plötzlich die Tür auftat und der neue Chef im Frack und vollen Ordensschmuck eintrat, um nach dem Kinde zu sehen. Er schlug die Decke von dem tief Betäubten zurück und sprach ergreifende Worte: über die Griechenschönheit dieses jungen Leibes, über den Segen der Narkose und über das Mysterium des Todes. Wir waren erschüttert, als er trauernd dem sterbenden Kinde über die Stirn strich und dann sinnend davonging. Die Szene hatte auf mich einen unvergeßlichen Eindruck gemacht. Niemals in meinem Leben hatte ich einen Menschen so hinreißend, so wehmütig-tief und so ganz im Ton einer ärztlichen Priesterschaft am Krankenlager reden hören.
Und wie brach der zündende Strom seines Vortrages im Kolleg hervor! Welches Temperament, welche Begeisterungsfähigkeit für die gestellten Aufgaben, welche Fülle und Gegenwärtigkeit des Fachwissens, welche Beherrschung aller Hilfswissenschaften, namentlich der pathologischen Anatomie! Wir, die Bergmann und Virchow hörten, hatten stets den Eindruck, Bergmann sei dem Klassiker namentlich auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie der Knochen mindestens ebenbürtig; so völlig beherrschte er jedes histologische Detail. Wie im Kolleg durch den Schwung seines Vortrages, so begeisterte er im Anatomiesaal durch unermüdliche Hingabe an die Sache. Schon um sechs oder sieben Uhr früh war er in der Charité. Seine Kraft schien unerschöpflich. Sechzehn Stunden währte, so sagte der Priester an seinem Sarg, sein Normalarbeitstag; und doch hat in den Stunden der Ruhe niemals ein Leidender umsonst an ihn appelliert. Seine Familie habe ihn kaum je ermattet, sondern stets in mitempfindender Liebe für jeden einzelnen bedacht, auch an den Tagen schwerster Pflichterfüllung, gesehen. Kein Wunder; er hatte zu den Seinen ja das Wort gesprochen: »Man ist nicht zu seinem Glück auf der Erde, sondern dazu, es anderen zu bereiten.« Bedenkt man, daß Bergmann trotz der Arbeitslast ein Freund der Geselligkeit war, so steht man staunend vor der Hünenhaftigkeit dieser urgesunden Natur. Von seiner Macht der Rede und seiner dabei noch in spätesten Abendstunden herzgewinnenden Frische waren wir oft Zeugen in der Medizinischen Gesellschaft, in der Ärztekammer, in den Sitzungen der Ärztlichen Rettungsgesellschaft. Er hat all seine reichen Gaben in den Dienst seines Berufes gestellt, war ein Diplomat und Weltmann, wo es galt, die Mittel für Stiftungen großen Stiles zu beschaffen, überredete spielend große Künstler und Millionäre zu Wohltätigkeitsleistungen und wußte stets die für den Zweck geeigneten Männer zu finden.
Seine größten Segenswirkungen aber hat er erzielt durch die Schulung seiner Assistenten und Hörer; denn dadurch wurde seiner Wissenschaft und Kunst die ausgedehnteste Verbreitung. Was in der Hand so geschulter Chirurgen das Messer zu leisten vermochte, weiß heutzutage ja auch der Laie aus seiner Zeitung zu gut, als daß hier der Triumphzug im einzelnen beschrieben zu werden brauchte, den die aseptischen Methoden unter Bergmanns, Billroths, Czernys, Miculiczs, Biers und Payrs und anderer Führung angetreten haben. Keine Körperhöhle, und sei es die Hülle des Herzens oder sogar dieser tiefgelegene Born des Lebenssaftes selbst, war so verborgen, daß nicht Messer, Säge und Schere, Nadel und Unterbindungsfaden des Chirurgen zu ihnen hindurchreichte; kein Organ, sei es Magen, Darm, Niere, Milz oder Leber, an dem nicht kühnste, das Leben rettende Eingriffe gewagt werden konnten. Bergmann selbst war es, der in vorbildlicher Weise die Kapsel des geistigen Geschehens eröffnen und einer großen Zahl krankhafter Zustände am Gehirn, dieser mächtigen Seelenzentrale, chirurgisch beikommen lehrte. Bergmann und die Klinik in der engen Ziegelstraße wurden Kraftquellen, von denen aus die Chirurgie der ganzen Welt Licht und Arbeitsstoff bezog. Er hat bis zum letzten Atemzug dieses Leuchtfeuer mit eigener Hand genährt; auf höchster Warte hat er Ausschau gehalten, ob rings im Land und darüber hinaus nicht Fackeln aufleuchteten, deren Glut der von ihm gehüteten Flamme zu gewinnen sei. Freilich hat er da manchmal geirrt und einen Brand, der kläglich verlosch, für ein Himmelslicht gehalten und umgekehrt echte Leistungen erstickt. So, als er in heller Begeisterung dem Taumel der Tuberkulinimpfung zündende, leider nicht langlebige Worte lieh. Als er dann die modernen humoralpathologischen Lehren Behrings ablehnte, sagte er im Hinblick auf seine Parteinahme für das Tuberkulin wehmütig: »Sie begreifen, meine Herren: als gebranntes Kind scheue ich das Feuer!« Wohl hat er hier und da Dingen, die Zukunft in sich hatten, mit allzu hartem Hemmungsdruck das Aufkommen schwer gemacht; er hat aber auch Unzählige ermutigt und ihnen Kredit verschafft.
Ich erfülle eine Dankespflicht, wenn ich ihm nachrühme, daß er den Bestrebungen zur Einführung der Infiltrationsanästhesie, nachdem er sich von ihrer Brauchbarkeit als Methode bei seinem kaiserlichen Herrn überzeugt hatte, ein warmer, wenn auch nur verstohlen schützender Freund geworden ist, trotzdem dieser neue Weg von so vielen übersehen wurde und verschüttet werden sollte. Er hat zu Robert Kuttner es offen bekannt: »Schleichs Anästhesie ist die erste deutsche chirurgische Großtat überhaupt. Wir haben außer ihr der Narkose und dem Lister überhaupt nichts Ebenbürtiges entgegenzustellen. Schleichs Unterdrückung ist ein Schandfleck für die deutsche Chirurgie. Wir waren einfach blind!« So hat es mir Robert Kuttner, der Direktor des Kaiserin-Augusta-Hauses, wörtlich belichtet. Aber als ich Bergmann zum letzten Male sah, sprach er mich an und sagte: »Gehen Sie ein Stück mit mir. Ich habe mich verfrüht bei einer Konsultation. Lassen Sie uns plaudern!« Er war melancholisch. Als ich auf seine stolze Höhe des Erreichten wies, sagte er: »Junger Freund. Ich habe gar nichts Neues gefunden. Ich habe nur Konsequenzen gezogen. Aber Sie haben einen Spatenstich getan in neue Quellen. Ja, ja«, sagte er, als ich abwehrte, »man wird sich sehr spät erst dessen bewußt werden, was Sie eigentlich ganz selbständig geleistet haben. Ihre Theorien von der Funktion der Neuroglia werden eine Epoche begründen!«
Ich habe diese nach der Nacht einer Unterdrückung mir so wohltuenden Äußerungen eines unserer Besten niemals veröffentlicht, aber an dieser Stelle meiner Erinnerungen darf ich auch wohl die alten, vergilbten und vertrockneten Blumen hervorholen, die mir einst so sonnenhell und mich mit allem versöhnend ins Herz geleuchtet haben.
Aber auch die ganze Nachwelt schaue dankbar empor zu dem aus edelstem Metall gefügten Monument, das sich Ernst von Bergmann durch seine Taten und sein Wirken selbst gesetzt hat. Er war ein großer Meister und ein großer Mensch, einer von den ganz wenigen, die imstande sind, die flammende Sehnsucht ihrer Jugend bis in ein gesegnetes Alter zu erfüllen. Was seiner edlen Natur zu erreichen war, hat er, beglückt und dankbar, erreicht; nachdem ihm eben noch der Lieblingswunsch seiner letzten Jahre, die Gründung der großstädtischen Rettungsgesellschaften, fast bis zur letzten Krönung, der Übernahme des Rettungswerkes durch die Stadt Berlin, geglückt war, starb er, der ein Neuland nicht nur von fern sah, sondern der es auch selbst bebauen durfte, um es anderen zur Heimat zu geben.
Wer sollte Erbe sein? Auf welchem neuen Weg sollte er kommen? Wie vor dem vergleichenden Blick der Nachlebenden bestehen? Bergmann hatte, ein königlicher Lotse, ein lichtes Segensschiff dem Hafen zugeführt. Von welcher Richtung würde der Wind wehen, aufs neue zu kühnen Entdeckerfahrten die Segel zu schwellen? Was die Chirurgie seiner Tage war, das repräsentierte Ernst von Bergmann in wahrhaft vollendeter Weise, wie einst Bernhard von Langenbeck, bevor der neue Mann einzog. Welche Möglichkeiten, Aussichten, Ziele hatte der Kommende?
Was die Technik der Chirurgie leisten kann, ist der Erfüllung nah, und unaufhaltsam wird sie ihren Siegeslauf vollenden. Die Zukunft der Medizin wird methodisch sein, oder die Medizin wird zurückgehen. Narkose, Asepsis, Anästhesie, Röntgenlicht, Serumtherapie, elektrische Durchleuchtung, Hormonenlehre: das sind Beispiele, die lehren, welche Fülle von Segen den methodischen, exakten, allgemein anerkannten und dauernd gültigen Erfindungen entströmt ist. Hier überall steht, an der Stelle der Laune, auf verschiedenen Wegen nach Rom zu gelangen, immer nur ein ganz bestimmter, ein ans Ziel führender Pfad zu Gebote. Wo wir in der Medizin etwas ganz sicher können, gibt es keine Lehrmeinung, keine Schule, kein Outsidertum, keine Kurpfuscherei, kein Individualisieren (ein Wort, das so reich und bestechlich an Klang, so arm, so bitter arm an Inhalt ist). Die dem Laien schmeichelhafte Vorstellung, als könne die Medizin ein geheimnisvolles Eingehen auf etwas gänzlich Undefinierbares, die biologische Persönlichkeit, das Individuum, erreichen, ist leider nicht mehr als eine Phrase. Man müßte denn die Wahl einer größeren oder geringeren Dosis, eines mehr oder weniger tiefen Schnittes mit dem stolzen Wort »Individualisieren« benennen: geradeso bescheiden individualisiert, wer dem Kunden einen größeren oder kleineren Hut oder Stiefel anmißt. Nein: statt durch eine geheimnisvolle Fähigkeit, die ein einzelner wohl einmal besitzen mag, Wunder zu tun, wollen wir, wie Bergmann, streben, gegen jedes Leid eine streng lernbare Methode, ein nimmer versagendes Programm zu finden. Einst wird es keine Kurpfuscher und Wunderdoktoren mehr geben: sobald die Medizin dieses Ideal, gegen jede Krankheit eine methodische Behandlung ersonnen zu haben, erreicht hat. Nur bis dahin werden viele Wege nach Rom führen; schon heute gibt es da, wo wir Wissende sind, nur einen, gewiß willig beschrittenen, geraden Weg. So ist die Chirurgie groß geworden: und in diesem Sinn wird die Medizin namentlich in bezug auf die Geisteskrankheiten immer chirurgischer werden, denn das rastlose Streben nach neuen Erkenntnismethoden wird auch konsequente Umsetzungen in methodische Taten der Verhütung und Heilung bewirken. Die Weberschiffchen gleiten, die goldenen Eimer steigen.
Der Empfänger dieser kostbaren Erbschaft Bergmanns war August Bier, Esmarchs Schüler. Wir alle wissen, wie sehr er sie gewahrt und gemehrt hat, und voller Verehrung und kollegialer Zuneigung habe ich mich zu diesem todesmutigen und bahnbrechenden Generalissimus der Chirurgie bis zur heutigen Stunde bekannt. Ist er doch in genialer Kühnheit den Weg meiner immer dringlicher geforderten Ausschaltung der Narkose, wo sie entbehrlich ist (immerhin ein ganz klein wenig in der Richtung meines so brutal niedergeschlagenen Wegweisers im Wald der Möglichkeiten), gegangen und ist auch mir stets offen, frei und freundlich gegenübergestanden. Ich besitze einen Brief von ihm an einen Verleger, in dem er meiner bescheidenen Fähigkeiten mit den ehrendsten Worten gedenkt. Ein Zufall spielte mir diese freimütigen, kollegiale Gesinnungen klassisch bekundenden Anerkennungen in die Hand.