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Sechstes Kapitel

Eduard und Florentin hatten einigemal kleine Reisen im Gebirg und in der umliegenden Gegend gemacht. In abwechselnden Verkleidungen hatten sie die benachbarten Städtchen und Dörfer durchzogen, auf Kirmsen, Hochzeiten, Jahrmärkten, bald als Krämer oder als Spielleute. Manches lustige Abenteuer kam ihnen entgegen, sie wiesen keines von sich. Wenn sie dann von ihren Wanderungen zurückkamen, hatten sie viel zu erzählen und von den Eroberungen zu sprechen, die sie wollten gemacht haben. Juliane bekam den Einfall sie einmal zu begleiten; und das nächste Mal, daß sich die beiden jungen Männer wieder zu einer solchen abenteuerlichen Reise anschickten, teilte sie Eduard ihren Wunsch sie zu begleiten mit. Er war voller Freude über diesen Entschluß, der ihm die Hoffnung gab, Julianen auf ein paar Stunden der Förmlichkeit zu entziehen, die jetzt bei der vergrößerten Gesellschaft immer mehr überhand nahm, und ihrer in der Einsamkeit froh zu werden; auch seinem Freunde war es lieb, er hatte einen solchen Wunsch bei Julianen gar nicht vermutet. Der Graf und seine Gemahlin hatten aber viel dawider, und wollten es anfangs unter keiner Bedingung zugeben. Der Wohlstand ward beleidigt, Julianens Gesundheit ausgesetzt, der übrigen Gefahren und ihrer eignen Ängstlichkeit nicht zu gedenken. Florentin, der seinen Kopf auf diesen Plan gesetzt hatte, und Eduard, der ein Recht zu haben glaubte, eine solche Erlaubnis zu fordern, hörten mit Bitten und Vorstellungen nicht eher auf, bis sie ihnen zugeteilt ward, nur unter der Bedingung, daß sie nicht zu Pferde sondern zu Fuß gingen, und daß sie nicht die Nacht ausbleiben wollten. Und nun wurden noch so viele Anstalten gemacht, so viel Regeln und Warnungen gegeben, daß Juliane, ganz ängstlich gemacht, sich im Herzen vornahm, gewiß nichts zu übertreten, und gewiß zum letztenmal eine solche Erlaubnis zu begehren. Eduard aber ward der ganze Einfall beinah zuwider wegen der großen Umständlichkeit, und er war eben nicht gesonnen, sich gar zu streng an die Vorschriften zu halten.

Nachdem sie endlich alles zustande gebracht, und Juliane den Abend mit schwerem Herzen von ihren Eltern Abschied genommen hatte, machten sie sich morgens früh auf den Weg, nur von ein paar Jagdhunden begleitet. Sie waren alle drei als Jäger gekleidet. Eduard und Florentin trugen Büchsen, Juliane hatte nur ein Jagdmesser und Tasche, statt der Büchse trug sie die Guitarre, von der sich Florentin selten trennte. Da Juliane gut zu Pferde saß, und oft in Männertracht ausritt, so war sie ihrer nicht ungewohnt, sie ging so leicht und ungezwungen daher, als hätte sie nie eine andere Kleidung getragen, und auch so als Knabe sah sie wunderschön aus; auch die beiden Freunde nahmen sich gut aus, als ältere Brüder des lieblichen Kindes. Sie gingen dem Morgen entgegen, der in voller Pracht heraufstieg, der Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit umfing sie, die Vögel sangen munter, Blüten dufteten und die Bäume glänzten im Schein der Sonne.

Sie gingen durch den Wald nach dem Gebirge zu, fröhlich und unbekümmert wie die Kinder. Sie genossen sich selbst in reiner Unbefangenheit; Vergangenheit und Zukunft war ihren Gedanken fern, der Wille des Augenblicks war ihnen Gesetz.

»Ach«, rief Eduard auf einmal aus; »so leben, wenn auch nur eine kurze Zeit, und sterben, eh wir den Tod zu wünschen haben! Schlafen gehen und nicht wieder aufstehen!« – »Ihr denkt an den Tod«, sagte Florentin, »um zu bedenken wie ihr so gern nicht an ihn denken wollt!« – »Torheit!« rief Juliane, »wer will jetzt vom Tode sprechen?« – Florentin nahm ihr die Guitarre ab, und spielte einen raschen Tanz, sie drehte sich mit Eduard in schnellen Kreisen. Er hatte sich unter einem Baume niedergesetzt. Nachdem sie zu tanzen aufgehört hatten, setzten sich beide neben ihn. – »Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase.« – »Besser und erfreulicher als auf dem getäfelten Fußboden eurer Säle, das ist gewiß.« – »Wenn man nun hier im Walde an eine Assemblee denkt!« – »Davon kein Wort, Juliane, ich mag eben so wenig von Assembleen hören, als Sie vom Tode.« – Hiemit nahm er die Guitarre wieder auf, und sang:

Sie ist mir fern, wie soll ich Freude finden!
Ich kann dem Kummer nur mein Leben weihn.
Wie um den Baum sich üppig Ranken winden,
Die Nahrung raubend seiner Krone dräun,
So, fern von dir, mich Sorg und Unmut binden,
Daß keine Erdenlust mich kann erfreun.
Fragt nicht, warum mein Sinn so rastlos eilt;
Für mich ist nirgends Ruh, als wo sie weilt.

Juliane, erhitzt vom raschen Tanz, lehnte sich an Eduard, ein sanfter Wind, der hoch in den Wipfeln der jungen Birken rauschte, kühlte ihr das glühende Gesicht, und wehte die Locken zurück, die in der Bewegung durch ihre eigne Schwere sich von der Nadel losgemacht hatten, und nun bis tief auf die Hüften herabfielen. Eduard verlor sich ganz im Anschaun ihrer Schönheit, und die Töne der Guitarre, die dazu gesungenen Worte drangen in sein Innerstes. Er drückte Julianen mit Heftigkeit an seine Brust; die Gegenwart des Freundes vergessend hielt er sich nicht länger, seine Lippen waren fest auf die ihrigen gepreßt, seine Umarmung wurde kühner, er war außer sich. – Juliane erschrak, wand sich geschickt aus seinen Armen, und stand auf, ihm einen zürnenden Blick zuwerfend. Eduard war betroffen, sie reichte ihm beruhigend die Hand, die er mit Küssen bedeckte. Nunmehr sang Florentin, mit raschen Griffen sich begleitend, gleichsam als beruhigendes Echo jener ersten sehnsuchtsvollen Anklänge:

Ich bin dir nah, wie soll die Wonn' ich fassen,
Die mir aus deinen lieben Augen winkt!
Als sollt ich nimmermehr dich wieder lassen.
Wann voll Verlangen Herz an Herz nun sinkt,
So soll mein Arm den holden Leib umfassen,
Indes mein Mund der Liebe Tränen trinkt.
O Glück der Liebe, seliges Entzücken!
Geschenk der Götter, Menschen zu beglücken!

»Wie schön«, rief Juliane, als das Lied geendigt war, »wie schön weiß er die Seligkeit und die Schmerzen eines liebenden Herzens auszusprechen! Florentin, Sie lieben! gewiß Sie lieben! Sie sollten uns die Geschichte Ihres Glücks mitteilen! oder, wenn Sie nicht glücklich lieben ... armer Florentin!« – Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände. Er seufzte und lehnte seine Stirn auf ihre Hand.

»So öffnen Sie uns Ihr Herz«, fuhr sie mit bewegter Stimme fort, »wir sind es beide wert.« – Florentin richtete sich auf. – »Wie mich eure Teilnahme rührt, ihr Guten. Es ist das erste von Herzen zu Herzen Gehende, dem ich begegnet bin! Wohl trage ich Liebe in meiner Brust, Juliane, aber ein Weib, dem sie eigen gehörte, die sie mit mir teilte ... die fand ich noch nie!« – »O das ist unglaublich. Sie entziehen sich uns.« – »Nein, bei Gott, nein!

Sie werden es weder glückliche noch unglückliche Liebe nennen wollen, wenn Sie hören, daß ich von meinem sechzehnten Jahre an der Erziehung der berühmtesten schönen Frauen in Venedig überlassen war. Ich lernte jeden Sinnenrausch kennen, früher als ich das geheime Feuer im innersten meines Herzens kannte und verstand, und keine Verderbnis der verderbtesten Welt hat es daraus vertilgen können. Die Schönheit betete ich an, wo sie sich mir darbot, ein glückliches Naturell unterstützte mich ... kurz, ich ward nirgend grausam behandelt. Nachher lebte ich eine Zeit lang von aller schönen feinen Welt entfernt bei armen Hirten in den Gebirgen; dieser schönen Tage werde ich immer mit Freude gedenken. Ich lebte mit lieben holden Kindern zusammen, wahren Kindern der Natur, und der ersten Unschuld; bei ihnen heilte meine Phantasie wenigstens wieder. ... Einen Gegenstand der Liebe aber, die bis jetzt mir nur unbelohnt, aber tief im Herzen lebt, wo würde ich den wohl finden? Er existiert irgendwo, das weiß ich, von dieser frohen Ahndung werde ich im Leben festgehalten: aber wo er existiert? wo ich ihn finde?« – »Aber welche Forderungen werden Sie auch machen?« sagte Juliane. »Was wird der Herr verlangen von einer Frau, die ihm die rechte sei!« – »Unwiderstehlich reizend sind Sie, Juliane, wenn Sie die kleine Lippe so trotzig aufwerfen, und das Näschen höhnisch rümpfen!« – »Welche Anmaßung!« – »O keinen Zorn, wenn ich meinen Kopf behalten soll, er kleidet Sie viel zu schön! Was hilft es denn, daß ich in einer alles vereinigt fand, was meine Wünsche fassen? Sie ist ja die liebende Braut des Glücklichen dort!« – »Sie sind ausgelassen, Florentin!« –

»Nun seht, ihr Lieben, ich fordre wenig, ihr werdet es vielleicht nicht glauben, recht sehr wenig; doch scheint es eine große Forderung zu sein, denn ich fand sie nie erfüllt. Nichts als ein liebenswürdiges Weib, die mich liebt, liebt wie ich sie, die an mich glaubt, die ohne alle Absicht, bloß um der Liebe willen, die meinige sei, die meinem Glück und meinen Wünschen kein Vorurteil und keine böse Gewohnheit entgegensetzt, die mich trägt wie ich bin, und nicht erliegt unter der Last; die mutig mit mir durch das Leben, und, wenn es sein müßte, mit mir in den Tod schreiten könnte. ... Sehen Sie Juliane, das ist alles! ... und ich habe es nicht gefunden, obgleich schöne Frauen jedes Standes mir überall und ohne Bedenken die unzweideutigsten Beweise ihrer Liebe, wie sie es nannten, gaben.« – »Mit welchen Frauen haben Sie gelebt, Florentin!« – »In der besten, der feinsten Gesellschaft mitunter, sein Sie versichert, gute Juliane.« – »Sie sollten uns doch bald mit Ihren Schicksalen und Abenteuern bekannt machen«, sagte Eduard. – »O tun Sie es«, sagte Juliane, »Ihr Lebenslauf muß sehr interessant sein!« – »Interessant!« rief er aus; »ich bitte euch, was nennt ihr denn interessant? Ich weiß wahrhaftig nicht, ob er das sein wird. Ich wollte, mein Lebenslauf gehörte irgend einem andern zu, vielleicht würde ich ihn dann auch ergötzlich finden: als mein eigner Lebenslauf aber gefällt er mir eben nicht. Euch will ich auch einmal die Lust verschaffen, nur jetzt nicht, denn mich dünkt, es ist Zeit, daß wir uns nach einer Mahlzeit umsehen.« – »Wenn Sie es zufrieden sind«, sagte Juliane, »so gehen wir, während die Mittagssonne brennt, nicht von diesem Platz, er ist schattig und kühl. Geben Sie her, was von kalter Küche da ist, unser grünes Lager mag zugleich unsre Tafel sein.« – »Sehen Sie, auch für ein sauberes Tuch hat man gesorgt, um es aufzudecken.« – »Sogar Wein findet sich hier«, sagte Florentin, indem er die Flasche hervorzog. – »Stellen Sie ihn dort an den Bach hin, damit er abkühle.« – »So reichlich fanden wir uns noch nie auf unsern Zügen versorgt.« – »So hat die Umständlichkeit, die meine Begleitung verursachte, doch wieder etwas Angenehmes erzeugt.« – »Wie oft mußte ich nicht schon die Annehmlichkeiten eines bequemen Lebens entbehren! konnte ich mir aber nur eine größere Unabhängigkeit damit erkaufen, so geschah es mit tausend Freuden.« – »Doch wohl auch oft dem Liebchen zu gefallen?« sagte Eduard. – »Auch das genug«, sagte Florentin, »ich hatte dann auch süßen Lohn.«

Sie lagerten sich um das Tuch und verzehrten ihren Vorrat unter fröhlichen Scherzen, Gesängen und Lachen. Florentin pflegte durch den Wein lebhafter noch und heiterer zu werden als gewöhnlich, Eduard aber fühlte seine Lebensgeister leicht durch ihn erhitzt, reizbarer und zugleich schwerer; Juliane ward von ihnen mit Bitten bestürmt, diesesmal doch ihren Wein ohne die gewöhnliche Mischung von Wasser zu trinken, sie war aber nicht dazu zu bewegen. Die Ausgelassenheit und der steigende Mutwille der beiden fing an sie zu ängstigen, sie fand jetzt ihr Unternehmen unbesonnen und riesenhaft kühn; die beiden Männer kamen ihr in ihrer Angst ganz fremd vor, sie erschrak davor, so ganz ihnen überlassen zu sein; sie konnte sich einen Augenblick lang gar nicht des Verhältnisses erinnern, in dem sie mit ihnen stand, sie bebte, ward blaß. – Eduard bemerkte ihre Angst. »Was fürchtest du holder Engel! Du bist bei mir, bist mein« – er umarmte sie mit einigem Ungestüm. – »Lassen Sie mich, Eduard!« rief sie, sich aus seinen Armen windend; »nicht diese Sprache ... ... Sprechen Sie jetzt gar nicht zu mir, Ihre Worte vergrößern meine Furcht ... ich bin so erschreckt ... ich weiß nicht warum?« – Sie verbarg ihr Gesicht in ihre beiden Hände. – »Beruhigen Sie sich Juliane!« – »Stille, ich beschwöre Sie, nicht ein Wort weiter, wenn Sie mich lieben!« – Florentin hatte sich, als er ihre Unruhe bemerkte, zurückgezogen, die Guitarre genommen, und allerlei Melodien phantasiert; die beiden Hunde hatten sich zu ihm gelagert, und drückten aufwärts ihre Köpfe an seine Knie. Gesammelt fing Juliane endlich an: »Die Sonne steht noch zu hoch, wir können in der drückenden Hitze diese Schatten nicht verlassen. Sie, Florentin, könnten jetzt Ihr Versprechen erfüllen und uns einiges aus Ihrem Leben erzählen!«

Er schwieg ein Weilchen, dann sang er folgende Worte:

Draußen so heller Sonnenschein,
Alter Mann, laß mich hinaus!
Ich kann jetzt nicht geduldig sein,
Lernen und bleiben zu Haus.

Mit lustigem Trompetenklang
Ziehet die Reuterschar dort,
Mir ist im Zimmer hier so bang,
Alter Mann, laß mich doch fort!

Er bleibt ungerührt,
Er hört mich nicht:
»Erlaubt wird, was dir gebührt,
Tust du erst deine Pflicht!«

Pflicht ist des Alten streng Gebot;
Ach, armes Kind! du kennst sie nicht,
Du fühlst nur ungerechte Not,
Und Tränen netzen dein Gesicht.

Wenn es dann längst vorüber ist,
Wonach du trugst Verlangen,
Dann gönnt man dir zu spät die Frist,
Wenn Klang und Schein vergangen!

Was du gewähnt,
Wonach dich gesehnt,
Das findest du nicht:
Doch bleibt betränt
Noch lang dein Gesicht.

»Was soll uns jetzt das Lied, Florentin?« fiel Juliane ungeduldig ein; »ich dringe auf die Erfüllung Ihres Versprechens!« – »Sie könnten auch mein Lied als eine Einleitung nehmen zu dem, was ich Ihnen zu erzählen habe. Aus meiner Kindheit weiß ich mir nichts so bestimmt zu erinnern, als den Zwang und das Unrecht, das mir geschehen ist, und das ich schon damals sehr klar fühlte. Gewiß ist jedem Kinde so zumute, dem man nach einer vorher bestimmten eigenmächtigen Absicht eine streng eingerichtete Erziehung gibt.«


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