Johannes Schlaf
Papa Hamlet
Johannes Schlaf

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IV

Seit die schöne Frau Kanalinspektor, sorgsam in Sackleinwand genäht, endlich abgegangen war und weitere Promenaden am Hafendamm sich nicht wieder ergiebig erwiesen hatten, war jetzt auch nebenan bei dem kleinen Ole Nissen nichts mehr zu holen. Erneute Bohrversuche bei dem famosen, noblen Putthuhn hatten auch nichts gefruchtet. Seine »Alte« schien ihm nicht sonderlich imponiert zu haben. Wenigstens hatte ihr kleiner »Tintoretto« sie bei seiner letzten offiziellen Visite draußen vergeblich an den neuen, schöntapezierten Wänden gesucht. Übrigens waren die Herrschaften gerade ausgegangen. Man schien eben nicht bloß in Christiania allein undankbar zu sein.

Keine Hummern bei Hiddersen mehr, keine Ägypter mehr, keine »Mieze« mehr! Das letzte schmerzte den armen, kleinen Ole natürlich am meisten. Aber man konnte es der Kleinen wirklich unmöglich verdenken. Von aufgeweichten Brotkrusten ließ sich nicht satt werden.

Der alten, lieben, guten Frau Wachtel aber war damit ein sehr großer Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nämlich die niedliche kleine Mieze einmal dabei ertappt, als sie dem abscheulichen Ole grade Modell stand, und da sie hierfür wirklich auch nicht das mindeste Verständnis besaß, ein gewisses, kleines Vorurteil gegen sie gefaßt.

Ihr gutes Herz zu betätigen hatte sie in letzter Zeit leider nur zu wenig Gelegenheit gehabt. Am unzufriedensten aber war sie jedenfalls mit den dummen Thienwiebels. Was bei der alten Schlamperei dort schließlich rauskommen mußte, konnte man sich ja an den Fingern abzählen.

Der alte, alberne Kerl ???flözte sich den ganzen Tag auf dem Sofa rum und trieb Faxen, das faule, schwindsüchtige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit, seinem Schreisack das bißchen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie alle drei nichts, und die Miete – ach, du lieber Gott! Wenn man nicht wenigstens noch die paar Sparkreeten gehabt hätte ...

– – Ja! Es war Wermut! Sein Verstand war krank! Es fehlte ihm an Beförderung! Im Schoße des Glückes? Oh, sehr wahr! Sie ist eine Metze! Was gibt es Neues? Als Roscius noch ein Schauspieler zu Rom war ... Geharnischt, sagt Ihr? Sehr glaublich! Sehr glaublich! – Ein Mann, der Stöß' und Gaben mit gleichem Dank genommen, der zur Pfeife nicht Fortunen diente, den Ton zu spielen, den ihr Finger griff, ein Bettler, wie er ... Nichts mehr davon!! Sprich weiter, komm auf Hekuba!

In der Tat, es ließ sich nicht mehr leugnen: er war jetzt wirklich zu bedauern, der große Thienwiebel!

Oh, welch ein Schurk' und niedrer Sklav' er war!! War's nicht erstaunlich? War's zu glauben? War's möglich? War's nur durch Angewohnheit, die den Schein gefäll'ger Sitten überrostet, war's Übermaß in seines Blutes Mischung: kurz und gut, aber er kam jetzt immer wieder auf sie zurück: auf nichts, auf Hekuba!

Wozu sollten Gesellen wie er zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Dem Staub gepaart, dem er verwandt, so rings umstrickt mit Bübereien ... nicht doch, mein Fürst!! Die Mausefalle? Und wie das? Metaphorisch! Ich bitte, spotte meiner nicht, mein Schulfreund; Du kamst gewiß zu meiner Mutter Hochzeit!

Armer Yorick! Denn wenn die Sonne Maden aus einem toten Hunde ausbrütet, eine Gottheit, die Aas küßt ... Armer Yorick!

Sein Wahnsinn war des armen Hamlet Feind. –

Amalie, die endlich ihre Drohung wahrgemacht und in der Tat seit einiger Zeit etwas zu tun angefangen hatte, was sie Trikottaillen nähen nannte, ließ alles getrost über sich ergehen. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so.

Der gute, kleine Ole Nissen war unendlich zarter besaitet. Da Frau Wachtel so freundlich gewesen war und ihm nach so vielen andern geliebten Gegenständen kürzlich auch noch seine schönen leberwurstfarbenen Pantalons ins Leihhaus getragen hatte, war er jetzt dazu verdammt, die ganzen Tage über in seinem Bett zu liegen und durch die dünnen Bretterwände durch die ganze Wirtschaft mit anzuhören.

»Ha! Büberei! Auf, laßt die Türen schließen! Verrat! Sucht, wo er steckt! Du betest schlecht! Ich bitt dich! Laß die Hand von meiner Gurgel! Kennst du diese Mücke?!«

Armer, kleiner Ole! War es Angst oder nur Langeweile? Aber der Schweiß brach ihm oft tropfenweis durch die Stirn.

Der große Thienwiebel schien es ordentlich auf ihn abgesehn zu haben! Alle Nachmittag Punkt fünf Uhr versäumte er es jetzt nie, sogar seine »Bude« zu inspizieren. Diese war freilich noch erbärmlicher als seine eigene, aber sie besaß dafür den Vorzug, daß man aus ihrem Fenster bequem unten auf das breite, platte, geteerte Nachbardach klettern konnte, von dem man dann eine erfreuliche Aussicht auf die verschwiegenen Brandmauern mehrerer Hinterhäuser genoß. Ein kleines anspruchsloses Pflaumenbäumchen, dessen verkrüppelte Ästchen von Raupen und Spatzen nur so wimmelten, vervollständigte das Idyll. Der arme kleine Ole spürte die verhängnisvolle Zeit schon immer eine ganze Weile vorher in seinen Knochen. Der große Thienwiebel beliebte es dann nämlich immer, gewisse Unterhaltungen mit ihm anzuknüpfen, die so geistvoll, ideentief und farbenreich waren, daß dem kleinen Ole, den seine ewigen Brotkrusten schon ohnehin arg mitgenommen hatten, nur so der Kopf danach brummte.

»Ich will hier im Saale auf und ab gehn, wenn es Seiner Majestät gefällt; es ist jetzt bei mir die Stunde, frische Luft zu schöpfen. Laßt die Rapiere bringen!«

Die »Rapiere« waren zwei Leiterstücken, die man zusammenlegen und von draußen her in das Fensterkreuz einhaken konnte.

Wenn sie »gebracht« worden waren, endete die Geschichte natürlich stets damit, daß man sie auch richtig einhakte und an ihnen hinabkletterte.

»Hic et ubique! Ändern wir die Stelle!«

Dann war man in »Helsingör« und promenierte auf der »Terrasse«. Der große Thienwiebel in Fez und Schlafrock, der kleine Ole in Havelock und Unterpantalons.

»Ich will die Lieb' Euch lohnen, lebt denn wohl, Horatio! Auf der Terrasse zwischen elf und zwölf besuch ich Euch ... Nicht wahr? Ihr – e ... seid ein – Fischhändler?!«

Scham, wo war dein Erröten!

Der arme, kleine Ole wußte zuletzt selbst nicht mehr: war eigentlich er verrückt, oder Nielchen.

Aber er hätte sich nicht so zu härmen brauchen. Der große Thienwiebel wußte nur zu gut, was er tat. Er war nur »toll aus Methode«. Er war nur toll bei Nordnordwest; wenn der Wind südlich war, konnte er sehr wohl einen Kirchturm von einem Leuchtenpfahl unterscheiden.

Die ewige Aktsteherei unten in der alten, dummen Akademie war ihm eben nachgerade langweilig geworden, und da er der alten, lieben, guten Frau Wachtel doch unmöglich zutrauen durfte, daß sie ihn noch länger gratis beherbergte, wenn er sich jetzt die »Quelle köstlicher Dukaten« so sans façon wieder zustopfte, war er eben eines schönen Tages auf die großartige Idee verfallen, sich hier in dieser herben Welt voll Müh' nach und nach für wirklich übergeschnappt auszugeben.

»Ha! Heisa Junge! Komm, Vögelchen! Komm! Ich muß nach England; wißt Ihr's? Himmel und Erde! Es ist nur eine Torheit, aber es ist eine Art von schlimmer Vorbedeutung, die vielleicht ein Weib ängstigen würde. Was? Eine Ratte? Die Spitze auch vergiftet? Nein! Nein, schöne Dame! Nicht nur mein düstrer Mantel, gute Mutter, noch die gewohnte Tracht von ernstem Schwarz, noch stürmisches Geseufz beklemmten Odems: nein: auch die Schmeichelsalb'! Ich hab's geschworen! Weglöschen von der Tafel der Erinnerung will ich all jene törichten Geschichten! Nie beuge sich dieses Knies gelenke Angel, wo Kriecherei Gewinn bringt! Ich trotze allen Vorbedeutungen: es waltet eine besondere Vorsehung über dem Fall eines Sperlings. In Bereitschaft sein ist alles. Wetter! Denkt ihr, daß ich leichter zu spielen bin als ein Flöte? Nennt mich, was für ein Instrument ihr wollt! Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen ...«

Ha! Was? Ein königliches Bubenstück!

Dem kleinen Fortinbras schien dieses königliche Bubenstück am wenigsten zu imponieren. Ja, aus gewissen Anzeichen glaubte sein großer Papa manchmal sogar schließen zu dürfen, daß er noch nicht einmal recht Notiz von ihm genommen hatte.

Am auffälligsten zeigte sich dies aber regelmäßig dann, wenn es sich um die »ersten Elemente der Gesangskunst« handelte. Denn der »arme Yorick« war durchaus nicht gewillt, seinem schrecklichen Wahnsinn zuliebe auch die seltnen Talente seines zu so großen Hoffnungen berechtigenden Söhnchens verkümmern zu lassen.

Es war ausgemacht! Es war ausgemacht, o reizende Ophelia! Ja! Sagen wir Ophelia! Teufel! Warum sollten wir nicht Ophelia sagen? Kurz und gut: es war ausgemacht. Es sollte ihn und seine Sache den Unbefriedigten erklären ... Den Unbefriedigten! ...

Sobald er daher nur irgendwie merkte, daß der kleine Ole nebenan wieder einmal eingeschlafen und die gute Frau Wachtel wieder mal ausgegangen war und so »die beiden, denen er wie Nattern traute«, eine Zeitlang wieder »unschädlich« gemacht waren, ging der Tanz los. Seines Kummers »Kleid und Zier« war dann plötzlich wie abgefallen von dem großen Thienwiebel.

Seine »Einbildungen, schwarz wie Schmiedezeug Vulkans«, hatten den armen Yorick verlassen, er war wieder »zahm, Herr!«

»Hört doch! Ich bin wieder zahm, Herr! Sprecht! Ich bin wieder zahm!«

Aber der kleine, verstockte Fortinbras wollte nicht. Er hatte sich wieder nur in Ermangelung seines Gummipfropfens, den ihm die reizende Ophelia verbummelt hatte, seinen großen Zeh in den Mund gestopft und sog nun, daß es ihm aus den kleinen, mattrosa Mundwinkelchen nur so tropfte. Die ersten Elemente der Gesangskunst ließen ihn heute augenscheinlich noch kälter als sonst.

Empört hatte sich jetzt der große Thienwiebel wieder in die Höhe gerückt. Die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock zuzubinden hatte er natürlich wieder vergessen.

»Amalie! Ich bemerke soeben zu meinem größten Erstaunen, Fortinbras ist störrisch!«

Amalie, die jetzt ihre kleine, mollige Fußbank der Trikottaillen wegen zu ihrem großen Leidwesen vom Ofen ans Fenster hatte verlegen müssen, war grade dabei, sich ihre erste Nadel für heute einzufädeln. Sie hatte wieder so lange inhalieren müssen ...

»Störrisch?«

»Wie ich dir sage, Amalie! Störrisch!«

»Ach, nich doch!«

»Amalie? Ich sage dir noch einmal – störrisch! Fortinbras ist störrisch! Stör – risch!!«

»Ach, red doch nich! Wo soll er denn störrisch sein!«

»Amalie?!«

Amalie sah sich nicht einmal um. Sie zuckte kaum mit den Achseln.

»So! So! Also du glaubst mir nicht mehr, wenn ich dir etwas sage! Du mißtraust mir! In der Tat! In der Tat! Ich hätte mir das denken können! Sag's doch lieber gleich! Wozu die Umstände! Du bedauerst, daß ich mich nicht noch schneller aufreibe!«

Amalie nieste. Sie wollte ihren Schnupfen gar nicht mehr loswerden. Mitten im Sommer.

»Natürlich! Wie sollte man auch nicht! Man vertreibt sich die Zeit mit – Niesen! Man trinkt Kaffee und vertreibt sich die Zeit mit – Niesen! In der Tat! In der Tat! Andre Leute mögen unterdes zusehn, wie sie fertig werden! ... Aber, ich werde es dir beweisen, Amalie! Hörst du? Ich werde es dir beweisen, daß Fortinbras störrisch ist! – – Du! Sag a ... a ... Nun? Wird's bald? ... Na? ... A! ... Du Schlingel! A! ... A!! ... Ha! Siehst du?! Wie ich dir sagte, wie ich dir sagte, Amalie! Der Lümmel brüllt, als wenn ihm der Kopf abgeschnitten wird! Er ist störrisch! Habe ich recht gehabt?! – Willst du still sein, du Zebra?! Gleich bist du still!«

Jetzt endlich war Amalie an ihrem Fenster plötzlich etwas aufmerksamer geworden.

»Du willst ihn doch nicht etwa – schlagen?«

»Gewiß will ich das, Amalie! Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie! Eine leichte Züchtigung ...«

»Niels!?«

»Ach was! Aus dem Weg! Aus dem Weg, sage ich! ... Da, du in-famer Schlingel! Da, du in ... Amaaalie!«

»Gewiß, du alter Esel! Du glaubst wohl, du kannst hier am Ende tun, was du Lust hast? Du gehörst ja in die Verrücktenanstalt! Wie kann man denn 'n Kind von 'nem halben Jahr so malträtieren?! Wie kann man es schlagen!«

»Amaaalie!!«

War's möglich?! War es zu glauben?! War das seine Backe?!

»Amaaalie!!! ...«


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