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Marie

Noch nicht so lange verkehrte er im Hause als Hedwigs Verlobter, und mit der Verlobung war es schnell geworden. Ihre Schwester Marie hatte er überhaupt nur selten zu sehen bekommen, wußte kaum etwas über sie. Es mochte an Mariens besonderem Wesen, vielleicht auch daran liegen, daß sie – die Mutter war seit Jahren tot – als die Ältere so ausschließlich mit den häuslichen Angelegenheiten zu tun hatte und aus ihrer Küche nicht viel herauskam. Vielleicht hatte es auch einen anderen Grund.

Als er heut' Abend aber, zur Feierabendzeit, auf das Haus zuschritt, war sie es, die er in der Haustür stehen sah. Offenbar war sie, um ein paar Augenblicke Luft zu schöpfen, eben erst aus ihrer Küche hervorgetreten.

Die Haustür stand offen, und gegen den schwarzen Hintergrund konnte er, zumal es schon stark dämmerte und das letzte Tageslicht sich mit dem des aufgegangenen Vollmondes mischte, von Marie kaum mehr sehen als den weißlich bleichen Fleck des Gesichtes mit den dunklen Löchern der schwarzen, tiefliegenden Augen drin. Denn auch ihr sehr reichliches, wie eine dicke, struppige Mähne emporstehendes Haar war schwarz, und sie trug ein schwärzlich dunkelblaues Kattunkleid, so daß ihre Gestalt, wie sie da gegen den einen Türpfosten angedrückt dastand, von dem schwarzen Flur fast ausgelöscht wurde.

Sie war eher klein, lahmte in der einen Hüfte, die schief hervorstand. Deshalb war ihr auch die eine Schulter kürzer und ging tiefer herab als die andere.

Nein, eine Schönheit war sie gerade nicht, die arme Marie. Eher schon geradezu abstoßend häßlich; so sehr er sie dabei bemitleidete und innerlich mit sich unzufrieden war: so häßlich, daß er's immer mit einer gewissen Nervosität hatte, wenn er mit ihr sprach, und die Unterhaltung nie lang werden ließ. Auch hatte sie eine unbeholfene, leise Sprechweise, war schweigsam, nie besonders zu einer Unterhaltung aufgelegt, der sie vielleicht, wer wußte warum, am liebsten auswich. Übrigens war sie ja fast beständig von ihrer Wirtschaft in Anspruch genommen.

Ja, ihr Gesicht war weißlich bleich, die Augen lagen tief, von kantigen Stirnknochen mit dicken, schwarzen Brauen überbaut. Die Stirn war breit und niedrig und von dem vorstrebenden starren Haarbusch überwulstet. Die Backenknochen traten breit und eckig hervor, das ganze Gesicht war viereckig, kantig. Dazu hatte sie einen breiten, dicklippig roten Mund und eine Stuppsnase. Nur die großen, tiefschwarzen Augen waren vielleicht bemerkenswert. Sie sahen einen immer gerade an; aber doch mit einem verhaltenen, tief nach innen fliehenden, man hätte sagen können: sich zurückstremmenden Ausdruck.

»Guten Abend, wie geht's noch immer, Marie?« sagte er, als er bei ihr angelangt war.

»O, gut ... Dir auch?«

Es blieb ein Schweigen, unter welchem Marie ihn in einer Weise ansah, als erwarte sie, daß er gleich an ihr vorbei in das Haus eintreten und hinter in den Garten zu Hedwig gehen werde. Doch er hatte es wieder mit seinem dummen Mitleid, schämte sich auch wohl darüber, daß er tatsächlich am liebsten gleich hinter in den Garten gegangen wäre. Und so verweilte er noch.

»Du bist ein bißchen aus deiner Küche 'raus und feierst?« fragte er, bloß um etwas zu sagen.

Sie sah ihn an. Dann aber sagte sie unter einem Lächeln, das aber bloß eins aus Höflichkeit war, denn alles vibrierte in ihr, weil sie fühlte, daß er ja doch am liebsten gleich bei Hedwig gewesen wäre:

»Ach, ja, ja.«

Aus Verlegenheit sah er mittlerweile zu einem Schwarm Tauben in die Höhe, der drüben über einem roten Hausfirst, der aus den Baummassen eines großen Gartens aufragte, in der blauen Abendluft kreiste.

»Es ist ja auch ein so außergewöhnlich herrlicher Abend heut. Ja, das ist er ... Da drüben steht schon der Vollmond über den Bäumen.«

Marie hob ihren Blick gegen den Mond hin, ließ ihn, doch ohne einen besonderen Ausdruck, an ihm haften.

»Ja, schon!« sagte sie.

Und wieder blieb ein Schweigen. Er fand aber nichts mehr, wurde jetzt sehr verlegen und sagte bloß noch:

»Hedwig ist hinten im Garten?«

»Ja, hinten.«

Er ging.

Marie aber wandte sich um und verfolgte ihn stumm mit ihrem Blick, bis er am anderen Ende des Flures angelangt war. Er öffnete die Tür. Für einen Augenblick drang aus dem Garten eine Helle in das schwarze Dunkel, dann schloß sich die Tür wieder.

Langsam wandte Marie den Blick wieder ab und sah vor sich hin auf die Gasse hinaus.

Er atmete auf, als er sich im Garten befand. Es schien ihm, als sei es hier heller als draußen vor der Tür auf der Gasse. Man konnte hier auch den Vollmond deutlicher sehen.

Die Hand noch auf der Türklinke suchte er mit den Blicken nach Hedwig. Aber da sah er sie schon zwischen Rosen, Nelken, Lilien und den vielen anderen bunten Sommerblumen den Kiesweg daherkommen.

Er ging ihr entgegen, begrüßte sie, legte den Arm um sie, zog sie an sich heran und gab ihr einen Kuß, den er halb unbewußt zu einem längeren werden ließ.

Wie sehr war sie das Gegenteil ihrer leiblichen Schwester, körperlich und geistig! Es war wie das unglaublichste Naturwunder. Immerhin war die Mutter schwarzhaarig gewesen, während der Vater lichtblond war.

Die eher kleine Gestalt zwar hatte Hedwig mit ihr gemeinsam. Aber im übrigen war sie wie ein Lichtelf gegen eine schwarze Hexe. Wobei noch dazu kaum zu vermuten stand, daß Marie ihrem Wesen nach so eine richtige »Hexe« hatte genannt werden können. Lieber Gott, sicher nicht mal das! dachte er so.

In einem lichten Sommerkleid, lichtblond, blauäugig, mit einem lieblichen, wie aus Milch und Blut gehauchten Gesichtchen, sanft und harmlos fröhlich lag sie ihm im Arm und sah zu ihm empor, sah ihm glückselig lachend in die Augen. Ein Sonnenscheinchen, ein kleiner Zwitschervogel war sie, die einzige Freude ihres verwitweten Vaters, und so ein köstlich anmutiges, kleines Weibchen. Er wußte, daß sie auch zu Marie, wie zu jedem Menschen, lieb und gutartig war. Es bedeutete nicht Schlechtigkeit oder Trägheit, wenn sie ihr in der Wirtschaft alles überließ: sie war dazu eben nicht geschaffen; mit denen sie in Berührung kam gutes Sonnenscheinchen zu sein, das war ihre Bestimmung.

Mit verschränkten Armen gingen sie langsam die Gartenwege entlang, das Gesicht einander zugeneigt. Er war sehr, sehr glücklich, lauschte ihren, fröhlichen, lichten Geplauder, ihrem silberhellen Lachen, ganz in ihr glückseliges Wesen verloren.

Tiefer senkte sich die Dämmerung. Oben stand groß der gleißend helle Mond, fing mit seinem Glast an, die Farben der Blumen in ein magisches Violett auszulöschen. In einem Nachbargarten, an dem der kleine, umbuschte Fluß vorbeiging, schlug eine Nachtigall. Die Rosen dufteten betäubend.

Unter einem blühenden Jasminbusch hatte er sich mit Hedwig auf eine Bank niedergelassen. In einer Umarmung verloren plauderten sie leise, Auge in Auge versunken, flüsterten einander Koseworte zu, hatten die Welt und ihre Umgebung vergessen.

Aber da geschah es, daß er plötzlich auffuhr.

Ein wunderbarer, unbeschreiblich schöner, volltöniger Gesang hatte sein Ohr getroffen. Mit angehaltenem Atem lauschte er.

Der innige, leidenschaftliche Ausstrom einer glühenden Seele. Nein, keiner glühenden. Er wußte nicht, was ihn traf? Es war ein Anderes, Tieferes, Schöneres. Er hätte es nicht sagen können, wußte kaum, ob er das verstand; er war ja dazu ein zu schlichter, beschränkter Alltagsmensch.

Und er lauschte. Jetzt war die erste Strophe zu Ende. »Adelaide!« ... »Adelaide!« rief die unbeschreiblich schöne, tiefe Altstimme.

»Wer singt da?« flüsterte er.

Hedwig lachte.

»Ach ja, du weißt ja nicht ... Sie tut's ja nur so ganz selten. Merkwürdig, daß sie gerade heut' Abend singt ... Marie.«


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