Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Dreizehntes Kapitel. »Freut euch des Lebens!«.

Man hat es tausendmal gesagt, und doch drängt es sich unserer Betrachtung täglich von neuem wieder auf, daß das Narrenspiel des Lebens seine Zugkraft nur den grellbunten Gegensätzen verdanke, aus welchen es sich zusammensetzt. Allerdings ist dieses Narrenspiel überwiegend mehr traurig als lustig, aber als Hersteller des Gleichgewichts ist ja Vater Humor da, der alte und ewigjunge Tröster der Menschheit, der mit dem Munde zu lachen vermag, während ihm die Träne im Auge steht, der gute Papa, der die über Mühsal und Schmerz seufzenden und schreienden Kinder in salomonische Weisheit einwindelt und die klagenden mit den Worten schweigt: »Was soll der Lärm? Alles ist eitel, wißt ihr? Drücken euch die Schuhe, in denen ihr springen und tanzen müßt? Tun euch die Hühneraugen weh, an den Füßen oder gar am Herzen? Bagatelle, nicht der Rede wert! Ihr habt bei alledem nichts zu tun, als ein paar Jahre mehr oder weniger Geduld zu haben. Dann fällt der Vorhang, die Lampen verlöschen und die ganze Narretei ist aus.« Der gute Papa hat vollkommen recht, aber um »die paar Jahre« ist's doch eine gar eigene Sache: denen, die mit in spanische Stiefel gepreßten Beinen das große Narrenspiel mitmachen müssen, werden denn doch die paar Jahre lang, sehr lang, entsetzlich lang! Nur den Glücklichen gehen ja die Uhren zu schnell.

Wer in der Nacht, wo im Hause zum Rütli eine Tat des edelsten Heldentums getan wurde, nicht so gut schlief wie die Rosi, das war der Pfarrer von Windgellen. Wunderliche Geschöpfe, die wir sind! Als der gute Milder das Zerwürfnis zwischen Rosi und ihrem Gatten zuerst in dessen ganzem Umfang erfahren, als er sich klar gemacht, wie unheilbar dieser Bruch sei, hatte sich daran eine unbestimmte, aber süße Hoffnung für ihn geknüpft. Wenn die Scheidung wirklich vollzogen würde, könnte es dann nicht geschehen, daß das Herz der unglücklichen, trostbedürftigen Frau ihm sich zuwendete, ihm, der sie so lang und so innig geliebt? Aber diese Hoffnung und was sich von Aussicht auf Glück damit verbunden, war ebenso schnell wieder verschwunden und zwar nicht erst verschwunden bei dem ängstlich-staunenden, wildfremden Blick, womit ihn Rosi angesehen, als er ihr droben am Wildsee so lange Verhehltes gestanden – nein, nicht erst da. Selbst edlen Gemütern wohnt eine instinktartige Scheu vor dem Unglück inne, und wenn ihnen auch der von Zeus' Blitze getroffene Baum heilig ist, wie er es den frommen Griechen war, so tragen die meisten doch Bedenken, aus dem zersplitterten Stamm eine Hütte sich zu zimmern. Aber eine Hütte, ein Heim will am Ende jeder haben, und so ist es begreiflich, daß sich Milders Gedanken mehr und mehr von der älteren Schwester ab und der jüngeren zuwandten. Und doch machte er sich wieder ein Gewissen daraus, seiner ersten Neigung untreu zu werden; aber zu seinem Troste fiel ihm dann ein – selbst die besten Menschen sind nicht immer frei von Sophistik – daß er als Vrenelis Gatte für Rosi zu tun vermochte, was ein Bruder nur immer tun könnte. War' nur das Vreneli erst seine Frau! Aber das war ja auch vorderhand eine bloße Phantasie. Die Rosi könnte sich doch getäuscht haben und – und – kurz, eine ganze Rotte von lauter »und« und »wenn« und »aber« turbulierte und drangsalierte den armen Pfarrer, während er sich schlaflos in seinem Bette hin und her warf. Am Ende mußte sich jedoch diese ganze Rotte vor dem Zaubersprüchlein ducken: »Es wäre doch möglich! Es könnte doch sein!« Jungen Leuten, selbst jungen Pfarrherrn, ist diese Formel sehr geläufig. Älter geworden, verlernt man sie oder glaubt wenigstens nicht mehr an ihre magische Kraft.

»Ja, es könnte doch sein!« Damit duselte Stephan Milder gegen Morgen zu endlich ein und erwachte denn auch viel später als gewöhnlich. Er wäre auch dann noch nicht erwacht, wenn nicht die alte Klephe,Kleophea, welcher kothurnhafte Frauenname in der angegebenen Korrumpierung in der Schweiz sehr häufig ist. seine »Spetterin«, die ihm Frühstück und Abendkost bereitete und das Mittagessen aus dem blauen Fuchs holte, an die Türe seiner Schlafstube gepöpperlet hätte, »gäng verwunderet«, daß der Herr Pfarrer »so lang im Nest syg«. Der Kaffee stehe auf dem Tisch, und binnen einer halben Stunde würde gäng der Leichenzug des alten Schurbaurs das Tal heraufkommen, und gäng sei vorhin auch der Strobelchäpi, der Bränntsludi, dagewesen und hätt' neime 'nen Brief gebracht.

»Schurbauer, Strobelchäpi, Bränntsludi, Brief?« brummelte der schlaftrunkene Pfarrer, sich die Augen reibend. »Ach ja, der wird heute begraben, nämlich der Alte aus der Schur.«

Damit fuhr er in seine schwarzen Amtshosen, welche dem in solchen Dingen nicht sehr akkuraten Pfarrherrn die alte Klephe am Abend zuvor fürsorglich hingelegt hatte.

Er war aber immer noch halb im Schlaf und Traum, »'s Vreneli ist ein so allerliebstes, ›dundersnettes‹, ja noch viel dundersnetteres Vreneli, als sich der gute Hebel nur irgendmal von einem träumen ließ – soviel ist gewiß!« sagte er mit voller Überzeugung vor sich hin und lachte dazu und fiel in eine so angenehme Zerstreuung, daß er ohne Arg, das heißt, ohne es zu merken, über die engen schwarzen Amtshosen noch die weiten grauweißen Sommerbeinkleider anzog, die er zu dieser Jahreszeit zu tragen gewohnt war. Seine übrige Toilette war bald gemacht, und so ging er in die Stube hinaus, um sich seinen Morgenkaffee durch den fraglichen Brief, der auf dem Tische lag, nicht versüßen, aber versalzen zu lassen.

Schon das Äußere des Briefes verstimmte ihn, weil die Adresse, eine nicht unzierliche Frauenhand verratend, lautete: »Meinem sehr lieben Herrn weiland Seelenhirten, Jugend- und Tugendlehrer Stephan Milder.« Auch roch das Papier so nach Patschuli, und das konnte der Pfarrer nicht leiden. Er vertiefte sich aber doch so eifrig in das Schreiben, daß er nicht beachtete, wie der zahme Star, welchen er sich als Gesellschafter hielt, mitten in der Zuckerbüchse sich etablierte und da nach Herzensluft wirtschaftete.

Schwarzelfi schrieb dem Pfarrer, unter Anwendung von allerlei krausen und frivolen Redensarten, ihre sonst klostertief gewurzelte Tugend sei leider zu Falle gekommen, wie dies ja in dieser sündigen Welt der Tugend überhaupt öfter passiere als nicht. Im vorigen Jahr habe es nämlich zu Berlin schon im Oktober Glatteis gegeben, und da sei es nicht eben wunderbar zugegangen, daß sie eines schönen Abends ausgeglitscht und gefallen sei. Die Folgen dieses Unfalls würden ihm, dem Pfarrer, ohne Zweifel schon bekannt sein, da es ja in Windgellen eine vortreffliche Zeitung gebe. Zu ihrem Bedauern habe sie in den letzten Tagen die Überzeugung gewinnen müssen, daß der Mann, welcher besagtes Berliner Glatteis so schnöde mißbraucht hätte, sie sitzen lassen wollte, indem er seinem feierlichen Versprechen zum Trotz, von Thun aus die nötigen Schritte zu ihrer Rehabilitation einzuleiten, nichts habe von sich hören lassen. Sie hätte aber weder Zeit noch Lust, sitzen zu bleiben, weder im wörtlichen noch im figürlichen Sinn. Demzufolge sei sie, wann er diese Zeilen lese, schon über alle Berge, welche jemals wiederzusehen sie nicht das geringste Verlangen trage. Seien ihr doch die letzten vierzehn Tage unendlich lang geworden, noch um einen ganzen Zoll länger als der Bart der berühmten Jungfer Bibbeli. Das hätte sie nicht länger prästieren können, nicht um tausend Dutzend Ruodis willen. Er, der Pfarrer, und wohl auch noch andere Leute seien sicherlich so billig und christlich, einzusehen, daß sie sich mit dem Kinde, das übrigens getauft sei und Rudolf heiße wie sein Vater, nicht habe schleppen können, um so weniger, da sie nicht ganz sicher gewesen, ob ihr guter alter närrischer Baron und Großpapa von der Schnarrbitz für dieses schweizerische Produkt auch so eine große Zuneigung empfunden haben würde wie für anderes Schweizerspielzeug. Sie habe daher, in Abwesenheit des Vaters, gestern abend das Kind einstweilen der Rosi ins Haus gestellt. Die Rosi habe sich ja ohne Zweifel schon lange ein Kind gewünscht, und das ihr jetzt über Nacht bescherte sei ein allerliebstes Püppchen. Durch dieses simple Arrangement sei ihr, der Elfi, von einem und der Rosi zu einem Kinde, und also sei beiden geholfen. Im übrigen empfehle sie sich der öffentlichen Meinung von Windgellen zu Gnaden und – auf Nimmerwiederkehr.

»Die Rabenmutter!« brach der Pfarrer zornig los. Fast hätte er gesagt: »Das Rabenaas!« Es gibt Dinge, über welche selbst ein Milder wild werden kann, werden muß, und unser guter Pastor war wenigstens früher keiner von denen gewesen, in welchen sich die Zornesader nie regt. In der ersten Zeit nach seiner Ordination hatte er in einer Gemeinde im Emmental vikarisiert, und da war es ihm begegnet, daß er als Katechet über einen Bauernjungen wild wurde, der nicht nur vernunftwidrig, sondern sozusagen polizeiwidrig vernagelt war. Was hatte sich der Vikar Mühe gegeben, wenigstens den einen oder andern von den berühmten Sprüchen der Bergpredigt in dem Tohuwabohu dieses Schädels anzusiedeln! Umsonst. Da riß ihm endlich die Geduld, und während er dem hoffnungsvollen Jungen zum hundertstenmal den Spruch vorsagte: Seid sanftmütig von Herzen usw., schlug er ihm zugleich das Buch nach Noten um die Ohren. Da er nicht ohne Sinn für das Komische war, konnte er an diesen Akt evangelischer Sanftmut nie zurückdenken, ohne innerlich zu lachen. Aber derselbe war auch eine große Lehre für ihn geworden. Er hatte doch den Vernagelten nie mehr ansehen können, ohne sich im stillen vor demselben zu schämen, und so hatte er jener theologischen Sanftmut entsagen gelernt, welche im kleinen Stil dumme Jungen beohrfeigt und im großen die Weltgeschichte mit einem von Scheiterhaufenflammen rot angestrahlten Meer von Blut und Tränen erfüllt hat.

Derweil hatte es drüben auf dem Kirchturm zu läuten begonnen, und der Pfarrer warf den Brief auf den Tisch, was für den Star eine Andeutung war, seine Razzia in der Zuckerbüchse zu beendigen. Er flog auf die Ofenstange und, höchlich zufrieden mit seiner Morgenarbeit, pfiff er hellauf die Melodie: »Freut euch des Lebens!«

»Ja, freut euch des Lebens!« fagte der verstimmte Milder. »Du hast gut pfeifen, du! In der Vogelwelt gibt es keine ausgesetzten Kinder, keine Rabenmütter. Und doch – Kuckucksmütter. – 's ist ein Elend – Aber jetzt möcht' ich nur wissen, wo meine schwarzen Hosen stecken.«

Er war in das Schlafzimmer getreten und suchte dort nach dem fraglichen unentbehrlichen Stück seines pfarramtlichen Anzugs. Es war hohe Zeit, denn schon kam die alte Klephe herein mit der Meldung, daß der Leichenzug auf dem Kirchhof angelangt sei.

»Ich komme schon, auf der Stelle. – Aber, Klephe, wo sind denn nur meine schwarzen Hosen?«

»Herr Jessis, jetzt hat er noch nit einmal die Pfarrershosen an!«

»Wo habt Ihr sie denn?«

»Ich? Ich hab' sie gäng nit an, ich! Sie müssen neime dort neben dem Bett liegen, wo ich sie gestern z' obig, hing'legt.«

»Sie sind nicht da. Helft mir doch suchen! 's pressiert!«

»Fryli, fryli, Herr Pfarrer. Sie läuten ja da drüben, daß ahsograd d' Glocke zerspringen möcht'.«

Große, eilfertige, fliegende Untersuchung, da, dort, hüben, drüben, Kasten-Auf- und Zuschlagen, Umkehrung aller Ordnung, vollständige Anarchie.

»Die Hosen!« rief der Pfarrer.

»Die Hosen!« jammerte die alte Klephe.

»Hosen!« echote der Star.

»Klephe, wo bleibt denn der Herr Pfarrer?« rief eine Stimme drunten an der Treppe.

»Herr mynes Lebens, jetzt kommt noch 's Bibbeli dazu!«, ächzte die alte Frau.

Und richtig, schon erschien die Gestalt der ehrsamen Jungfer in ihrer ganzen Länge unter der offenen Stubentüre. Drüben auf dem Kirchhof stand harrend der Leichenzug, und der Pfarrer kam nicht. Das hatte was zu bedeuten. Die Zytig vo Windgellen witterte ein Ereignis. Es hatte sie herübergetrieben und herauf.

»Schön guten Morgen, Herr Pfarrer. Nichts für ungut. Wollte nur sagen, die Leich' –«

»Ich weiß, ich weiß. – Aber die Sache ist, ich kann meine Hosen nicht finden.«

»Seine schwarzen Hosen!« erklärte die Klephe außer sich.

»Er kann seine schwarzen Hosen nicht finden?« erwiderte Bartbibbeli tragisch und hätte gern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn sie nur nicht in der einen Hand das Sacktuch und in der andern das Gesangbuch gehabt hätte.

»Aber, Herr Pfarrer,« sagte die Klephe, sich ermannend. »Ihr habt ja noch ein anderes Paar. Die alten, wißt Ihr?«

»Richtig, richtig; wo sind sie? Geschwind her damit! – Aber halt, da fällt mir ein, ich habe sie, glaub' ich, vor etlichen Tagen einem armen Handwerksbursch gegeben, den sein Unstern da herauf verschlagen hatte.«

»Herr Jessis, Herr Jessis! Jetzt hat er die anderen verschenkt. Ja, so ist er! Der gäb' gäng alles weg. – Aber wo sind denn die neuen Hosen? Sie können doch nit wegg'flogen sein? Man möcht' ja nu ahsograd' verzwarzle und verräble.«

»Das ist 'ne G'schicht'!« bemerkte Bartbibbeli sententiös.

»Zum Tollwerden!« der unglückliche Pfarrer.

»Freut euch des Lebens!« schrie der Star wie besessen auf seiner Ofenstange.

Das schlug dem Faß den Boden aus. Milder mußte hell hinauslachen.

»Herr Jessis, jetzt lacht er gar noch! Hat man je so was verlebt?«

»Aber, Herr Pfarrer, was werden die Leut' denken? Die Leich' kann doch nit länger warten, 's ist gäng grüsli! Nit drum, ich mein', der alt' Schurbaur könnt' neime auch in Himmel kommen, wenn Ihr ihm in so helli Hösli d' Leichenpredigt haltet.«

»Weise gesprochen, Jungfer Bibbeli, weise wie Salomo. Alles ist eitel, wißt Ihr? Sogar die schwarzen Hosen.«

Und in komischer Verzweiflung wollte er sich in seine Stiefel stürzen.

Da, als er zu diesem Zwecke die hellen Sommerhosen hinaufstreifte, kamen darunter die theologischen schwarzen zum Vorschein.

»Viktoria!« rief er aus.

»Hat man je so was g'sehen?« sagte 's Bibbeli hinausgehend. »Er hat zwei Paar' Hosen an und merkt's nit!«

Die Zeitung konnte es kaum erwarten, bis der alte Schurbauer im Grabe war. Hunderttausend Paar Hosen, schwarze und hellgraue, baumelten ihr vor den Augen, vor der Seele. O, das gab wieder mal einen Geschäftstag für sie! Kaum war die Zeremonie vorüber, lief die erweckliche und erschreckliche Hosengeschichte wie ein Lauffeuer durchs Dorf. Die Windgellener lachten, aber die Zytig nahm die Sache nicht so leicht. Das sei gar nicht so lächerlich, meinte sie. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Sie wolle zwar nichts gesagt haben, sie, gar nichts. Sie sei keine so eine, die ihre Freude dran habe, ihre Mitmenschen in üble Nachrede zu bringen, und vollends gar so 'es Männli, wie der Herr Pfarrer sei. Aber man werde schon sehen, wie das noch ausländen würde, man werde schon sehen. Sie hätte es ja schon längst gemerkt, daß es dem braven Herrn nummeeinisch rabbeln müßte. Er sei ja immer so ernsthaft und traurig gewesen, und jetzt fang' er plötzlich an, hellauf zu lachen, und hab' in hellgrauen Hosen, in Sommerhosen eine Leichenpredigt tun wollen. Nur ihre Dazwischenkunft habe dieses Spektakel verhütet. Der arme Herr hätte eben heiraten sollen, ja, das hätte er. So allein in seinem Pfarrhaus hab' er sich überstudiert. Das ginge gäng so. Sie habe mal einen verflixt gescheiten Mann sagen hören, von dem ewigen Bücherlesen wüchse gäng der Verstand, aber rückwärts wie ein Kuhschwanz. Sie könne aber nichts dafür, sie hätte es dem armen Herrn mängist deutlich merken lassen, daß er beizeiten heiraten sollte, wie andere Pfarrer auch. Jetzt habe man's, jetzt sei er letzköpfig, und man würd's erleben, daß er mal drei Paar Hosen oder soviel er nur immer hätte, übereinander antäte oder aber gar – pfüdi, sie mög's kaum denken, es sei eine g'schämige Sach' – eines Sonntags ohne Hosen auf die Kanzel käme. Doch, wie gesagt, sie wolle nichts gesagt haben, sie; aber man würd's sehen, man würd's schon sehen.

»Was wird man sehen, alt's Bibbeli?« schrie der Wirt zum blauen Fuchs, in dessen Küche die Zytig ihren Leitartikel über die pfarrherrliche Hosenfrage zum besten gab. »Was wird man sehen? Das wird man sehen, daß deine Zahnluck' gäng allwyl größer und dein Bart allwyl länger wird.«

Bibbeli hob die Augen gen Himmel und warf dann ihrem Vetter, dem Fuchswirt, einen Blick zu, einen Blick, wie ihn etwa der Prophet auf das dem Untergang geweihte Ninive geworfen. Hierauf schritt sie mit schweigsamer Majestät hinaus. »Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen« – würde sie gedacht haben, wenn sie nur den Vers gekannt hätte.

Inzwischen war der Pfarrer zur Zwihl hinaufgegangen, Schwarzelfis Brief in der Tasche. Er wollte mit der Zwihlbäurin darüber reden. Er wollte aber noch über etwas anderes reden, nicht mit der Zwihlbäurin, wenigstens nicht in erster Linie, aber mit dem Vreneli.

Als er nach der Bestattung des Schurbauers heimkam und den Kirchenrock abtat, mußte er noch einmal herzlich über die Szene lachen, die zuvor von ihm und der Klephe und dem Bibbeli und dem Star aufgeführt worden, und als er ausgelacht, meinte er:

»Meine liebe Mutter selig hat ja oft gesagt, wenn man etwas recht Wichtiges vorhabe, so soll man es ausführen an einem Tage, welcher recht lustig angefangen. Nun, die Geschichte mit den verwunschenen Hosen war lustig genug. Der Brief freilich – aber einerlei, probier's mal, Stephan, probier's!«

So ging er denn, es zu probieren.

In die große Stube des Zwihlhofs getreten, fand er dieselbe leer und wollte eben die zur Küche führende Türe öffnen, wo er Geräusch hörte, als dieselbe von draußen aufging und mit vorgebundener weißer Küchenschürze 's Vrenelt hereintrat.

Es war doch auf und eben so ein Hebelsches »Hexli«, das duntersnette Meitschi! Nicht geputzt, aber doch so frisch und sauber in den weißen Hemdärmeln und dem roten Brusttuch wie ein Vögeli, akkurat wie ein Vögeli.

Dem Pfarrer ward es siedend heiß, als er sich dem Mädchen so plötzlich allein gegenüber sah. Er hatte den ganzen Weg her eine schickliche Anrede einstudiert; die war aber jetzt bis zum letzten Buchstaben aus seinem Gedächtnis verschwunden, verdunstet, rein weg. Er drehte den Hut in den Händen, mit einem Eifer, als wär' ihm aufgegeben worden, die Krempe wegzudrehen.

Seine Verlegenheit machte auch das Mädchen verlegen, auf dessen Wangen die Farben rasch wechselten. Aber nicht für lange. Die Frauen haben einen merkwürdig schnellen Überblick und finden sich unschwer zurecht.

»Mein Müetti wird sogleich da sein, Herr Pfarrer,« sagte Vreneli. »Sie ist neime nur in den Heugaden hinüber. Ich will sie rufen.«

»Ja, tut das, Vreneli, das heißt, ich kann schon warten, ich –«

»Ihr wollt doch mit dem Müetti reden, Herr Pfarrer?«

»Eigentlich ja, indessen – nun ja, ich wollte auch mit Euch reden, Vreneli.«

»Mit mir?«

»Ja, und – seht, ich kann nicht lange hinter der Hecke halten, und so will ich es denn gerade heraussagen, daß ich als Freiwerber komme.«

Das Wort traf Vreneli schwer. Es ist in dem Tal von Windgellen der Brauch, daß namentlich in Fällen, wo die Heiraten nicht Herzens-, sondern Konvenienzsache sind, der Heiratslustige durch einen guten Bekannten die Anfrage an seine Erwählte tun läßt. Vreneli wurde bleich und schlug die Augen nieder. Aber als sie dieselben wieder erhob und bang forschend den Pfarrer ansah, kehrte die Röte auf ihre Wangen zurück, und in den allerliebsten Grübchen derselben kicherte der Schalk.

»Als Freiwerber kommt Ihr?« fragte sie. »Für wen?«

»O, ich glaube sagen zu dürfen: für einen ordentlichen Mann. Wenigstens wird man ihm nicht gar viel Übles nachreden können.«

»Ich meinte –«

»Was meintet Ihr, Vreli?«

Wie sprach er nur diese vertrauliche Abkürzung ihres Namens so gar eigen! Er hatte dieselbe auch noch gar nie ihr gegenüber gebraucht. Es klang so gut, so lieb, so süß! Die Jugend hat solche seelenlösende Laute und Akzente in der Brust, die Jugend und das Glück.

»Ich meinte – aber ich darf's nit sagen.«

»O, Ihr dürft mir alles sagen, Vreli.«

Schon wieder »Vreli!« Nun wohl, da mußte es schon heraus.

»Ich meinte,« stammelte sie hochrot, »ich meinte, Ihr wolltet für Euch selber sprechen.«

»Und wenn ich's wollte, Kind, wenn ich's wollte?«

»So würd' ich sagen: Tut es in Gottes Namen!«

»In Gottes Namen denn: Vreli, wollt Ihr meine Frau werden?«

»Ja, und von ganzem Herzen und von ganzer Seele ja und tausendmal ja!«

Der arme Hut mit seiner mißhandelten Krempe fiel auf den Boden, denn der Pfarrer hatte jetzt etwas anderes zu halten.

Es ward ihm doch recht »himmelhochjauchzend« zumute, als er das frische, schöne, vor Wonneüberschwang lachende und weinende »Chind« von neunzehn Jahren in den Armen hielt.

Die Glücklichen! Auch sie umklang jetzt das alte Hohelied, welches in seiner ganzen Kraft und Glut nur einmal dem Menschen tönt und für neunundneunzig Paare von hunderten so bald verklingt, wenn nicht gar in trübselige Dissonanz umspringt. Und dennoch, wer es nie gehört, der darf auf die Frage: »Was tust du denn eigentlich in der Welt?« mit gutem Grund zur Antwort geben: »Ich weiß es selber nicht.«

Die Zwihlbäurin, welche unter der offen gebliebenen Küchentüre erschien, ohne daß die beiden sie wahrnahmen, mußte wohl auch etwas von dem Liede hören; denn sie schien die Gruppe, welche sie vor sich erblickte, gar nicht mit Mißfallen anzusehen, im Gegenteil, ganz im Gegenteil.

Endlich tat sie einen Schritt vorwärts in die Stube, und die Liebenden mußten jetzt wohl auch wieder in die Wirklichkeit zurückkehren.

»Werte Frau Leuenberger,« hob der Pfarrer an.

Aber Vreneli ließ ihn nicht vollenden. Das Antlitz voll Glut und Glück und die Hand des geliebten Mannes festhaltend, lachte sie der Mutter entgegen:

»Müetti, lieb's Müetti, lueg', der Recht' ist kommen!«

»Ich seh's, Kind, ich seh's und gäng mit Freuden. Und loset, Herr Pfarrer, ich darf wohl sagen, 's Vreli wird ein brav's Fraueli werden und bleiben, wenn Ihr gut mit ihm seid.«

»Wie könnt' ich anders? Nicht wahr, Vreli, du vertraust mir?«

»Von ganzem Herzen, lieber Stephan.«

»Ja, das tut sie fryli, Herr Pfarrer, 's ist kein falsch Äderli im Vreneli. Aber, Kinder, die Sach' hat neime doch ein Häkli.«

»Ein Häkli?« erwiderten die Verlobten aus einem Munde.

»Ja, aber seid nur nit gleich so erschrocken. Lueget, 's ist so. Du weißt, Vreli, der Vater selig hat uns noch auf dem Todbett anbefohlen, die Zwihl nit in fremde Hand' kommen zu lassen. Nun hat aber das arm' Rosi keine Kinder und du, Vreli, wirst Frau Pfarrerin. Ich wüßt' wohl 'nen Ausweg, Chind, wenn mir dein Hochzyter ebbis versprechen wollt'.«

»Von Herzen gern, liebe Mutter,« sagte Milder. »Was wollt Ihr, daß ich verspreche?«

»Daß Ihr den ersten Chnaben oder mira auch den zweiten, den Euch 's Vreli bringt, zu 'nem rechtschaffenen Bauersmann erziehen wollt. So blieb die Zwihl doch im Leuenberger Blut und könnt' ich mei'm Kuori, wenn ich wieder zu ihm komm', sagen, daß sein letzter Wille getreuli erfüllt worden.«

»Es soll so sein!« erwiderte ernst der Pfarrer, der Mutter die Hand hinreichend. Und scherzend fügte er, zu seiner Braut gewandt, hinzu: »Du wirst mich mit meinem Versprechen nicht zuschanden werden lassen, Vreli, nicht wahr?«

Die errötende Braut antwortete nur mit einer Senkung der Wimpern, aber diese Antwort stellte den glücklichen Pfarrer vollkommen zufrieden.

Nachher brachte er den Brief Schwarzelsis zur Sprache, dessen Inhalt Mutter und Tochter sehr bestürzt machte. Da kam aber gerade die Rosi selber, und das gefaßte und sichere Auftreten der jungen Frau verwunderte die drei nicht wenig. Sie hatten Verzweiflung erwarten müssen und fanden jetzt nur milde Gefaßtheit. Es entging dem Pfarrer auch nicht, daß die Haltung Rosis wieder viel aufrechter als seit langem und daß ein Hauch der früheren Rosenfarbe auf ihre bleichen Wangen zurückgekehrt sei.

Natürlich wurde die ältere Tochter des Hauses von dem soeben eingetretenen frohen Familienereignis sofort in Kenntnis gesetzt. Ihrer jüngeren Schwester zärtlich zugetan und voll Hochachtung vor Milders Charakter, sah sie damit einen lange gehegten Wunsch erfüllt. Ihre Freude war groß, und innig rührte sie es, als der Pfarrer sie mit einfacher Herzlichkeit bat, ihn von jetzt an als ihren Bruder zu betrachten und zu halten. Sie erzählte dann in ihrer ruhigen Weise ihre Erlebnisse während der letzten Nacht. Was sie dabei gelitten, wie sie gekämpft, wie sie gesiegt, verschwieg sie; aber ihre Zuhörer fühlten das alles mit, ohne daß sie davon sprach. Daß sie hätte handeln müssen, wie sie gehandelt, setzte sie als selbstverständlich voraus, und eröffnete schließlich ihren festen, unabänderlichen Entschluß, dem Findling Mutter zu sein und denselben in aller Form an Kindes Statt anzunehmen.

»Dein Herz hat dir gut geraten, und du hast das Beste erwählt, liebe Schwester Rosi,« sagte der Pfarrer tiefbewegt. »Segen über dich!«

Die Zwihlbäurin schüttelte den Kopf, aber es geschah nur aus Verlegenheit, wohin sie mit ihren feuchten Augen sollte.

»Ich hätt' das nit gekonnt, Rösli,« sagte sie, und Vreneli fügte hinzu: »Arm's, arm's Rösli, ich glaub', ich hätt's auch nit gekonnt.«

»O, Vreli, du und 's Müetti ihr hättet grad' so getan, wäret ihr an meiner Stelle gewesen und hätt' euch das arm' Kind so ang'luegt wie mich. Was hätt' ich denn anderes tun können?«


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