Paul Scheerbart
Na prost!
Paul Scheerbart

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Die Nacht war groß.

Eine Sterngeschichte.

Die Nacht war groß. Und am Himmel blitzten die alten Sterne – die großen Weltkörper des unendlichen Raums – sie blitzten durch die Finsternis hinab... bis auf den Parnaß der Erde.

Auf dem Parnaß der Erde saßen viele Dichter, die schauten hinauf, hinein in den unendlichen Raum, in dem die fernen Weltmassen, die alten unzähligen Sternheere fortwährend blitzten.

Plötzlich ging ein tolles Flackern, Flammen und Leuchten durch die Unendlichkeit. Tausende neuer Sterne entstanden, wurden furchtbar hell und sausten als gleißende glühende Streifen auf den Parnaß der Erde hinab. Mit ungeheurer Kraft bohrten sie sich knarrend – tief in das feste Gestein des Parnasses.

Die neuen Sterne erhuben ein großes Geschrei, sie riefen immerfort:

«Wir sind vom Himmel gefallen!»

«Wir sind vom Himmel gefallen!»

«Betet uns an!»

«Betet uns an!»

Die Dichter aber auf dem Parnaß der Erde begannen heftig zu murren. Sie sagten sich ärgerlich:

«Das sind ja gar keine Sterne.»

Da wurden die, die vom Himmel gefallen waren, sehr böse; sie kreischten auf und brüllten:

«Ihr Lumpenhunde, wenn ihr uns nicht anbetet, so schmeißen wir euch vom Parnaß runter, hört ihr's?»

«Wir hören», sagten die Dichter, holten aus ihren Höhlen die Spaten heraus und beschütteten die neuen Sterne, die sich tief in das harte Gestein des Parnasses hineingebohrt hatten, mit nasser Lehmerde.

Und da zischten die neuen Sterne wie giftige Schlangen auf.

Doch die Dichter mit ihren Schaufeln wurden sehr böswillig, sie verzogen die Stirnhaut in tiefe Falten, knirschten mit den Zähnen und schmissen immer mehr nasse Lehmerde auf die neuen Sterne, die noch immer ganz heiß waren.

Dieses alles sahen nun sofort die ältesten Dichter, die ganz in der Mitte des Parnasses lebten; sie kamen ohne Spaten näher; sie sprachen, während sie sich bedächtig die langen weißen Bärte glatt strichen, mit lauter Stimme:

«Kameraden! Kameraden! Fürchtet ihr euch denn vor den neuen Kräften? Ob's Sterne sind oder nicht – das ist doch einerlei – für uns. Wir dächten, ihr hättet was Besseres zu tun. Ihr seid doch keine Totengräber! Bedenkt das doch! Laßt die Verschüttung! Die eilt ja nicht. Die Kleinen werden schon von selbst wieder ruhig werden. Ärgert euch doch nicht gleich so, ihr seid ja böswillig! Nicht doch! wartet! hört auf!»

Wie das die neuen Sterne vernahmen, wurden sie sehr froh, denn die Lehmerde war sehr naß und sehr kalt. Sie begrüßten die alten Dichter sehr artig und meinten – jetzt schon viel bescheidener:

«Wir sind aber doch wirklich vom Himmel gefallen, wirklich aus dem Himmel herausgefallen. Habt ihr uns denn nicht gesehen?»

Hiernach versetzte der eine der Alten: »Wir sahen euch schon aus eurem Himmel herausfallen, glaubt's nur! Mancher von uns soll auch aus dem Himmel gefallen sein. Wir wissen's nicht genau. Aber deswegen brauchten wir ihn noch nicht anzubeten. Auf dem Parnaß der Erde hat nur der Dichter was zu sagen. Die Kraft allein macht's bei uns nicht... und die Klugheit auch nicht. Ihr habt euch ja mit großer Kraft in unsren Parnaß hineingebohrt. Indessen damit habt ihr doch noch nicht gezeigt, was ihr als Dichter könnt!»

Und ein Andrer der Alten fuhr fort: «Sagt mal, ihr kleinen, ihr neuen Sterne, warum sollten wir euch eigentlich anbeten? Glaubt ihr, wir haben so'n unbezwingliches Betbedürfnis? Wir beten ja ganz gern. Aber wenn wir beten wollen, dann haben wir ja dort oben die alten festen großen Sterne, die ganze Weltenmassen sind – die lassen sich die Anbetung immer noch gefallen, da sie gutmütig sind wie alte Riesen. Ihr glaubt, Stern sei Stern. Und das stimmt doch nicht. Dann müßt ihr auch bedenken, daß ein Stern noch nicht ein Dichter der Erde ist. Seht ihr? Wir halten uns nicht für so gering, als ihr dachtet.»

Und ein leises Lächeln ging durch die Reihen der irdischen Dichter. Und aus einer Gruppe von den Jüngeren, die sich jetzt müßig auf ihren Spaten stützten, sprang rasch ein Dichter mit schwarzem Haar hervor, fuchtelte mit dem Spaten in der Luft herum und rief: «Wir sind böswillig gewesen, ihr neuen Sterne, nehmt es nicht krumm! Wenn ihr aber Dichter werden wollt, dann wollen wir euch wieder ausgraben, wollt ihr?»

«Ach ja! tut das! die verdammte Lehmerde wirkt gräßlich.» Also erwiderten die neuen Sterne.

Da gingen die Dichter mit ihren Spaten wieder zu den neuen Sternen hin und begannen, die tief im harten Gestein Festgerammten – auszugraben.

Die älteren Dichter waren währenddem ins Reden geraten. Einige meinten:

«Übrigens haben wir auch noch alle einen Stern hinter unsrer Stirn – das ist unser eigner Stern, und den werden wir wohl am häufigsten anzubeten haben, damit was Ordentliches aus uns wird.» Und in einer anderen Gruppe meinte man: «Wenn wir uns gegenseitig anbeten wollten, dann mußten wir wohl recht viel überflüssige Zeit haben. Und – fördern würden wir uns dadurch doch wohl nicht.»

«Nein, nein!» sagten die Andern, und sie gingen auseinander – schmunzelnd, lächelnd, mit Falten auf den Wangen neben der Nase...

Die Nacht ward wieder groß. Und am Himmel blitzten die alten großen Sterne – die Weltallsonnen – viel, viel heller als sonst.

Der Älteste der irdischen Dichter dachte jedoch eifrig nach, ob wohl die großen Sterne des Himmels auch dichten könnten – nur dann wollte er sie für seinesgleichen halten – denn der älteste Dichter der Erde war maßlos stolz.

«Wie sollte ich wohl», fragt mürrisch der Brüllmeyer, «eine solche Geschichte geschrieben haben? Könnt ihr wirklich annehmen, daß so was in meinem Kopf entstehen könnte? Ihr müßt mich doch kennen.»

Passko ist noch nicht überzeugt, er behauptet, das sei bloß eine Satire auf die Unproduktiven, die sich immer für was Großes hielten, da man ihnen nicht so leicht auf den Zahn fühlen könne wie den Unvorsichtigen, die sich gleich kühn wie Brüllmeyer vorwagen.

Dem kühnen Germanisten schwillt der Kamm.

Kusander sagt:«Bevor wir die Frage der Autorschaft endgiltig erörtern können, möchte ich dich, lieber Brüllmeyer, freundlichst ersuchen, zunächst einmal diese Sterngeschichte in deiner Weise zu erklären. Ich glaube, das wird uns eine Reihe vergnügter Stunden bereiten. Rege dich nicht auf! Schenk die Gläser voll!»

Brüllmeyer schenkt ein und spricht:

«Der kluge Passko, der Alles so einfach wie möglich auffassen will und den Geheimnissen abhold ist, weshalb ich ihn den klugen Simpelmeyer nennen möchte, wird gleich sehr erstaunt sein. Doch das gönn' ich ihm. Wir stehen, um's kurz zu sagen, dieses Mal vor einer ‹Parodie auf die allgemeine Wehrpflicht›. Die Blütezeit der deutschen Dichtung war gleichzeitig wie gesagt eine tragikomische Zeit in sozialer und politischer Beziehung. Die skandalöse demokratische Institution des Volks-Militarismus, der nicht einmal die unersetzlichen Talente vom Kriegshandwerk befreien wollte, mußte notgedrungen die gesamte Dichterwelt empören. Die Talente sind natürlich die Meteore. Und die Dichter sind natürlich gar keine Dichter – sondern Unteroffiziere, die die höhere Gesittung mit dem Lehm ihrer dreckigen Redensarten beschmeißen. Die älteren Dichter sind die Herren Offiziere, die, da sie selber gern zu den Talenten gerechnet werden wollen, diesen eine kleine Erleichterung gewähren – wenn sie Ordre parieren und gute brave Soldaten werden wollen. In dem Parnaß erkenne ich den südlich von Berlin gelegenen Kreuzberg wieder, der von oben bis unten mit lauter Kasernen bepflanzt war. Der Kreuzberg wurde, wie ein gewisser Rothmüller berichtet, vom Volksmunde Parnaß genannt. Die Bezeichnung wird uns nicht unpassend erscheinen, wenn wir berücksichtigen, daß dort alle Dichter Deutschlands nebenbei noch Soldat werden mußten. Da eine Auflehnung gegen die staatliche ‹Ordnung› zur Blütezeit der deutschen Dichtung scheußlich geahndet wurde, so dürfen wir uns nicht wundern, daß diese Verhöhnung der militärischen Dienstzeit in hochpoetische Form gebracht worden ist. Dieses ist das Resultat meiner Forschungen. Nun frage ich jeden verständigen Menschen: kann ich, der ich doch zehntausend Jahre später in glücklicheren sozialen und politischen Verhältnissen im alten Hongkong geboren bin, eine derartig feine Satire auf den Militarismus der philosophenlosen Dichterzeit Deutschlands schreiben? Ich sage: laßt euch nicht auslachen! Und damit schließe ich! Jetzt könnt ihr reden!»

Passko springt wütend empor, trommelt mit den Fingern gegen die Aussichtsscheiben, durch die man Nichts als grünen Nebel sieht, und legt dann los:

«Mensch!» ruft er wild aus, «diese Erklärerei ist ja schon die reine Verklärerei! Die alten Deutschen können doch nicht immerfort in Allem Alles haben sagen wollen. Ich sehe höchstens nur ein Eifern gegen die wilde Kraft in dieser großen Nacht. Und so was kannst du allerdings nicht geschrieben haben. Ich nehme also in bezug auf die Echtheit des literarischen Fundes alles Gesagte zurück. Von deinen Verklärungen will ich aber Nichts wissen – das ist bloß geistreiche Phantasterei.»

«Wir wollen», unterbricht den Erregten der alte Kusander, «niemals vergessen, daß es uns mit den Mitteln, die uns in unsrer Flasche zu Gebote stehen, nie und nimmer gelingen wird, eine nach allen Richtungen befriedigende Erklärung des Brüllmeyerschen Schatzes zu liefern. Wir müssen an der vollständigen Durchdringung des Stoffes schlechterdings verzweifeln. Wenn wir also mal ein bißchen oder ziemlich stark danebenhauen, so kann uns das kein Mensch übelnehmen – ganz abgesehen davon, daß wir auf eine Verbreitung unsrer Ansichten nicht rechnen können. Die Erde ist längst entzwei. Und ob außer uns noch jemand gerettet ist, wissen wir nicht. Das wollen wir nicht vergessen. Darum, lieber Passko, sei dem Ulk in unsren wissenschaftlichen Forschungen nicht gram. Wir wußten ja schon auf Java, daß es leichter ist, eine Hammelkeule zu verspeisen – als ein Produkt des alten Germaniens schmackhaft zu machen.»

«Nun komm auf die Autorschaft zurück!» ruft erregt der kühne Brüllmeyer dazwischen.

«Ich lehne», fährt der Kusander fort, «schon aus ästhetischen Bedenken jeden Zweifel an der Echtheit der Papiere sehr bestimmt ab. Ich weiß nicht, ob die Deutschen jemals die Absicht hatten, in ihren Kunstwerken immer ‹Alles in Allem› zu sagen. Das ist meines Wissens auch in den späteren Jahrtausenden niemals ein allgemein geäußerter Wunsch gewesen. Aber – im Stile der vorliegenden dichterischen Arbeiten steckt so viel Veraltetes, die Folge der Ereignisse ist so einfach aneinandergereiht, die Sprache beinahe ängstlich, gar kein gewandtes Umspringen mit dem Thema, stets das lächerliche Bemühen, keine Lücken lassen zu wollen, überall einen ebenen Fluß vorzuführen – – daß Brüllmeyer als Autor gar nicht in Frage kommt. Die unschickliche Art, in der die Sterngeschichte schließt, sagt ebenfalls genug. So weit kann unser Freund nicht sinken, daß er die Bedeutung der Sterne in den Staub ziehen könnte. Daß die Sterne noch ein bißchen mehr verstehen als die Dichterei – diese Erkenntnis ist uns Gott sei Dank in Fleisch und Blut übergegangen. Du siehst demnach, mein kühner Bruder, daß die Kritik manchmal doch nicht so verächtlich ist, wie du mit deinen Windspielen anzudeuten wagtest.»

Man schmunzelt in der Flasche.

Und Alle werden wieder gemütlich.

Brüllmeyer behauptet nur noch, daß nach seiner Meinung jeder Dichter sich Mühe geben müsse, immer wieder ‹Alles in Allem› zu sagen – denn sonst säßen ja die gelehrten Erklärer und Zeichendeuter allzu bald auf dem Trocknen.

Und aus Freude über die Gemütlichkeit gibt Brüllmeyer, während es draußen plötzlich so dunkel wird, daß man die elektrischen Lampen anzünden muß – ein veritables Nachtstück zum Besten:


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