Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Achtes Kapitel

Biba und Lesabéndio werden auf ihrer Luftuntersuchungsexpedition von einem andern Weltkörper angezogen, sie landen auf diesem ohne Gefahr und machen die Bekanntschaft mit ganz kleinen Lebewesen. Und diese zeigen ihnen mit Hilfe besonderer Vergrößerungsinstrumente das Kopfsystem des Pallas. Es gelingt den beiden Pallasianern, zehn der ganz kleinen Lebewesen dazu zu bewegen, mit zum Pallas zu fahren. Die Abschleuderung mit Rückfahrt zum Pallas geht nach längerer Zeit glücklich vonstatten; nur der Biba zieht sich eine Körperverletzung zu.

Nach einer kleinen Weile sagte der Biba:

»Daß die Luft dünner wird, scheint mir nicht so wichtig. Ich merke gleichzeitig an meinem Meßinstrumente, daß wir uns mit größerer Geschwindigkeit von unserm Stern Pallas entfernen; unsre Fluggeschwindigkeit müßte sich, wenn alles mit richtigen Dingen zuginge, verringern. Das heißt: wir werden von einem Weltkörper, den ich noch nicht sehe, angezogen.«

»Das wäre ja furchtbar«, rief der Lesabéndio, »dem müssen wir entgegenarbeiten.«

»Ich fürchte«, erwiderte der Biba, »daß uns das nichts nützen wird.«

Sie drehten blitzschnell ihren Kopf zum Pallas, machten ihren Körper anderthalb Meter kurz, breiteten den Saugfuß tellerförmig aus und stießen nun, mit dem Kopf voran, den ganzen Körper fünfzig Meter dem Pallas zu. Dann breiteten sie die Flügel auseinander und zogen den Körper wieder zusammen. Und das taten sie einige Stunden durch mit größtem Eifer, ohne ein Wort zu sagen. Auf dem Pallas brannten schon alle Nachtflammen, sodaß der ganze Stern wie ein Glühwurm aussah.

Aber sie kamen dem Glühwurm nicht näher; die Anziehungskraft des unbekannten Weltkörpers war größer als die des Pallas; alle Anstrengungen waren vergeblich; Lesabéndio zitterte vor Erregung.

»Wo bleibt mein Turm?« fragte er kläglich.

»Fragen wir lieber«, versetzte Biba, »wo wir selber bleiben.«

Beide sahen immer noch nicht den Weltkörper, der sie anzog. Biba sagte lächelnd:

»Mir scheint beinahe, daß wir von einem Körper angezogen werden, den wir nicht sehen können.«

Lesabéndio sagte aber:

»Mir scheint, daß wir unsre Augen überschätzt haben; wir hätten schon längst für mehr Vergrößerungsgläser sorgen können. Wir haben die vergrößernden Glaslinsen nur bei den photographischen Apparaten verwendet. Das ist eigentlich unbegreiflich. Unsre Lage ist zum Verzweifeln.«

»Zum Verzweifeln«, rief Biba rasch, »haben wir jetzt keine Zeit. Übrigens: es ist wirklich unbegreiflich, daß wir mit Vergrößerungsgläsern nur bei den photographischen Apparaten operiert haben. Wir überschätzten unsre Teleskopaugen.«

Danach schwiegen die Beiden ein paar Stunden hindurch, und dann sagte der Lesabéndio:

»Wir sind jetzt nach meinem Meßinstrument bereits zwölf Meilen vom Pallas entfernt, die Atmosphäre ist aber nicht dünner geworden – im Gegenteil. Wir dürfen deshalb annehmen, daß wir uns in der Atmosphäre eines andern Weltkörpers befinden.«

»Und«, sagte nun der Biba leise, »von dem andern Weltkörper sehe ich bereits etwas – da drüben.«

Lesabéndio sah nun auch dorthin, wohin der Biba mit einem Finger hinwies, und da sahen denn die Beiden im violetten Himmel zarte hellere Konturen, die zu einem geisterhaften Sterne zu gehören schienen.

Und diesem geisterhaften Sterne kamen sie immer näher; sie machten gar keine Anstrengung mehr, sich von ihm zu entfernen.

Es war ein Stern, der aus quallenhaft durchsichtigen Massen bestand. Aber in allen Teilen war er nicht durchsichtig; in seinem Kerne zeigten sich jetzt sogar ganz deutlich karminrote und orangefarbige Stellen, die man vorhin nicht hatte entdecken können.

Der durchsichtige Stern hatte einen Durchmesser von ungefähr tausend Metern, die farbigen Stellen befanden sich in der Mitte und schienen nicht sehr umfangreich zu sein.

Und ganz in der Nähe sahen die Beiden, daß die quallenhafte durchsichtige Hülle aus vielen reichgegliederten flügelartigen Gebilden bestand, zwischen denen sich orangefarbige Wiesenstrecken zeigten, und ganz im Innern glühten karminrote Flecke wie Glutaugen auf.

Die beiden Pallasianer schwebten neben den durchsichtigen Flügeln vorbei und berührten mit ihren Saugfüßen vorsichtig den orangefarbigen Wiesengrund.

Biba konstatierte gleich, daß da Schwämme wüchsen, von denen sich Pallasianer sehr wohl ernähren könnten.

»Legen wir uns auf die orangefarbigen Schwämme«, sagte er ganz heiter, »und schlafen wir zunächst; unser Körper bedarf sowohl des Schlafes wie der Nahrung.«

Lesabéndio zitterte und murmelte immerzu:

»Mein Turm! Mein Turm!«

Aber der Biba sagte tröstend:

»Vom Pallas sehen wir nichts mehr, denn auf dem Pallas ist Nacht; die Spinngewebewolke hat unsern ganzen Stern wieder umsponnen. Wenn die aber wieder oben überm Nordtrichter ist, dann könnten wir unsern ganzen Stern sehen und auch das, was über unsrer Spinngewebewolke ist.«

»Meinst Du?« fragte Lesabéndio.

»Ja«, versetzte der Biba ungeduldig, »das meine ich: aber nur dann, wenn Du jetzt nicht mehr zitterst und ruhig einschläfst.«

Da nahm jeder der beiden Pallasianer einen Stengel seines Blasenkrautes in den Mund, ließ bunte Blasen in die Luft hinaufwirbeln und sah zu, wie sich die Ballonhaut auf den Seiten des Körpers aufreckte und sich oben schloß.

Und dann schliefen die Beiden sehr bald ein.

Kaum lagen sie nun in ihren dunkelbraunen Ballonschläuchen ganz ruhig da auf der orangefarbigen Wiese, so wurde es in ihrer Umgebung lebendig; Tausende von kleinen faustgroßen Kugeln rollten heran, und aus den Kugeln, die auch quallenförmig durchsichtig waren, kamen opalisierende Köpfchen heraus, die Köpfchen hatten lange fühlerartige Augen mit roten Spitzen, die leicht zurückgezogen werden konnten wie die Teleskopaugen der Pallasianer. Nase und Mund bildeten bei diesen kleinen Kugelwesen zusammen einen komplizierten kleinen Rüssel, der auch Schnabelform annehmen konnte. Und mit diesem Schnabel konnten die Kleinen eine sehr laut klingende Sprache sprechen.

Die Kleinen waren durchaus nicht ungebildet; sie benutzten knochenartige Teile der großen Quallenflügel ihres Sterns als Teleskope und konnten auch durch regenschirmartiges Aufspannen der quallenartigen Flügelhäute eine außerordentliche optische Vergrößerung der nächstgelegenen Raumteile hervorbringen.

Und daher hatten sie die Pallasianer längst entdeckt, als diese garnichts von dem zum größten Teile undurchsichtigen Sterne ahnten. Zunächst untersuchten die Kleinen die Ballonhaut der Schläfer, schlitzten kleine Löcher hinein und besahen durch diese die neuen Ankömmlinge, bewunderten die dunkelbraune porenreiche Kautschukhaut mit den gelben Flecken, bewunderten auch die dicken Augenlider und die messerscharfe gebogene Nase und den feinen Mund und die vielen Falten im Gesicht und auch die große wulstige Kopfhaut – und am Halse die kleinen Bücher und die Meßinstrumente; die letzteren erklärten sie sofort für das, was sie waren, aber über die Bücher konnten sie sich nicht einigen; manche der Kleinen hielten die Bücher für Nahrungsmittel, andre für Luftveränderungspräparate und so weiter.

Als nun die Pallasianer erwachten, schnitten sie, wie sies auf dem Pallas gewöhnt waren, wieder ihre Ballonhaut dicht am Körper mit ihren Nägeln ab und glaubten nun, die Haut würde, getragen von den Blasenkrautblasen, wieder in die Morgenlüfte emporsteigen. Das geschah aber nicht, da unzählige kleine Kugelleute auf der Blasenhaut saßen und sie runterdrückten.

Biba verstand gleich das neue Wunder und erklärte es dem Lesabéndio. Und als nun die Kleinen die beiden Riesen sprechen hörten, sprachen sie plötzlich alle auch, daß es den Pallasianern so vorkam, als hörten sie plötzlich zwitschernde, sehr helle Morgenmusik.

Und dann zogen die Kleinen die Ballonhäute zur Seite und zeigten sich den Riesen.

Diese sahen nun gleich, daß sie sich im Kreise sehr kluger kleiner Geschöpfe befanden, reckten sich vorsichtig auf, um den Kleinen nicht wehe zu tun und versuchten, sich verständlich zu machen.

Das ging natürlich nicht so schnell, aber in einigen Stunden gings doch – besonders mit Hilfe der kleinen Bücher, die am Halsbande der Pallasianer baumelten.

Die kleinen Kugelwesen konnten übrigens ihren Körper in alle möglichen Formen bringen und gaben sich nun zunächst Mühe, ihren Körper so zusammenzurecken, daß er wie ein pallasianischer Molchkörper aussah – selbst die Flügel, die die Pallasianer zeigten, konnten die Kleinen nachmachen – aber ohne damit fliegen zu können.

Lesabéndio machte seine Augen zu großen Teleskopaugen und blickte zum Pallas hinüber, der jetzt in seiner vollen Atmosphärengröße zu sehen war.

Biba blickte auch zum Stern Pallas hinüber – rief aber gleich ganz erregt:

»Das ist garnicht der Stern Pallas, auf dem wir bisher gelebt haben.«

Da schrie der Lesabéndio laut auf.

Als nun die Kleinen sahen, daß die Beiden ganz verzweifelt taten, da forschten sie nach der Ursache der Verzweiflung.

Kaum hörten sie von der, so spannten sie gleich ihre regenschirmartigen Hautlinsen über den Pallasianern auf und sagten lachend:

»Da drüben ist immer noch der Pallas, aber für einfache Augen ist nur die Atmosphäre des Pallas sichtbar, die kugelförmig ist und sechzig Meilen im Durchmesser zeigt.«

Jetzt erst erkannten die beiden Pallasianer durch die Atmosphäre hindurch ihren Stern wieder, und Lesabéndio war selig.

Und die Beiden wollten jetzt wieder zu ihrem Stern hinübergeschleudert werden.

Biba aber zeigte zunächst mit allen seinen Armen zu dem, was über dem Nordtrichter des Sterns zu sehen war – dort befand sich zehn Meilen über dem Nordtrichter, über dem die Spinngewebewolke sehr deutlich und helleuchtend, aber noch in der Atmosphäre befindlich, sichtbar wurde, noch ein andres Gebilde, das zehn Meilen hoch über der leuchtenden Spinngewebewolke ganz schwach leuchtete wie ein spitzer Kegel, dessen Spitze unten ist. Doch dieser Kegel bestand aus drei Teilen, die sich voneinander in Farbe und Helligkeit stark unterschieden.

Die Kleinen zogen ihre Vergrößerungshäute bald zurück, und da sahen die Pallasianer nichts mehr von dem dreiteiligen Kegelgebilde, das zehn Meilen über der Pallas-Atmosphäre zu sehen gewesen.

Lesabéndio erklärte abermals:

»Siehst Du, Biba! Wir haben unsre Augen überschätzt! Mit unsern Teleskopaugen allein hätten wir niemals das Kopfsystem des Pallas entdeckt!«

Biba schrie darauf heftig:

»Aber wir haben jetzt doch das Kopfsystem entdeckt. Merkst Du nun, daß es richtig ist, was ich Dir von der Ergebenheit erzählte? Wenn wir uns nicht ruhig unserm Schicksal – unserm unsichtbaren Führer – überlassen hätten, so würden wir niemals dieses Kopfsystem entdeckt haben – auch nicht mit Hilfe Deines großen Turms.«

Lesabéndio war ganz außer sich.

Danach erklärte er dem Biba feierlich:

»Wir brauchen also nur zehn Meilen hoch unsern Turm zu bauen – und dann können wir ganz genau sehen, was da oben ist. Dazu brauchen wir aber kolossale Vergrößerungsgläser, für die der Nuse sorgen muß.«

»Jetzt müssen wir aber erst zurückkommen!« meinte dazu der Biba.

Nun – das ging natürlich nicht so schnell.

Auf dem Pallas ward es währenddem achtzehnmal Nacht und ebenso oft wieder Tag.

Und die Pallasianer glaubten schon nicht mehr an eine Rückkunft von Lesabéndio und Biba.

Doch diese hatten den kleinen, zumeist kugelrunden Bewohnern des Quallenflügelsterns alles, was auf dem Pallas vorging, erzählt, und die Kleinen hatten erklärt, daß ihr Stern periodisch die Schnelligkeit seiner Umdrehung um sich selbst verstärkte. Und beim Maximum der Schnelligkeitsstärke sollten die Pallasianer, nachdem sie an einem Flügelende fest angebunden waren, im richtigen Momente abgeschnitten werden und so, in den Raum hinausgeschleudert, der Atmosphäre ihres Sterns zufliegen.

Die Kleinen beschlossen, die Köpfe der Pallasianer mit großen Ballonhüllen zu umgeben, damit sie den Mangel an Atmosphäre nicht so bemerkten. Von der Kälte brauchten sie nichts zu befürchten, da selbst der Raum, der in dem Ringe, den die Asteroïden bildeten, scheinbar frei von jeder Atmosphäre war, doch durch besondere Stoffverbindung – eine vollkommen unsichtbare und nicht zu untersuchende – so warm blieb, daß er den Asteroïdenbewohnern nicht lebensgefährlich wurde.

Nun erklärte der Lesabéndio den Kleinen Folgendes:

»Seht mal, Ihr Kleinen, man wird uns auf dem Pallas nicht glauben, daß über unserm Nordtrichter noch ein Lichttrichter sich befindet, den man nur mit Vergrößerungsgläsern entdecken kann. Ihr aber habt diesen Lichttrichter mit Euren Vergrößerungsgläsern entdeckt. Könnten da nicht einige von Euch mitkommen, um uns zu bezeugen, daß über unserm Stern noch ein großes dreiteiliges Kopfsystem zu finden ist? Würde das nicht möglich sein?«

Da kugelten sich die Kleinen über die quallenartigen Flügel ihres Sterns und rollten überall lebhaft und aufgeregt herum.

Und dazu machten sie mit ihrer lauten Sprache eine so große zwitschernde Musik, daß es den Pallasianern unter der Kopfhaut gellte.

Schließlich erklärten sich zehn der kleinen Leute bereit – angehängt am Halsbande der Riesen neben deren Büchern – mitzukommen. Danach wurden die verirrten Riesen wieder im richtigen Moment zu ihrem Stern hingeschleudert, in dessen Atmosphäre sie nach zweitägiger Raumfahrt anlangten.

Biba hatte sich an einem vorbeifliegenden Meteor im unteren Teile seines Leibes eine so starke Verletzung zugezogen, daß er sich sofort nach seiner Ankunft verbinden lassen mußte.


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