Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Zweites Kapitel

Es wird zunächst die Tonnenform des Pallas geschildert. Dann werden die schwirrenden Bandbahnen des Nordtrichters vorgeführt. Und dann kommt Lesabéndio mit Biba zum neuen Riesenlichtturm, den sie mit Nuse, Dex und Manesi auf Seilbahnen besteigen. Auf der Spitze des Turms erleben sie das wunderbare Schauspiel des Nachtbeginns. Während Nuse auf dem von ihm erbauten Lichtturm bleibt, begeben sich die vier anderen Herren zum Mittelpunkt des Sterns – Lesabéndio fliegt hinunter und sieht sich die Beleuchtungen des Nordtrichters an, während die drei Andern eine Seilbahn benutzen, um schneller zum Mittelpunkt des Sterns zu gelangen.

Das Gebirge, das den oberen Rand des Pallas kreisförmig abschließt, hat viele hohe Gipfel und viele schroff abfallende Felswände. Der Kreis, den dieses Gebirge bildet, hat einen Durchmesser von zwanzig Meilen.

Der Stern Pallas sieht äußerlich so aus wie eine Tonne. Die Höhe der Tonne von oben nach unten beträgt vierzig Meilen, die Breite in der Mitte dreißig Meilen. Und dort, wo die Deckel der Tonne sind, ist der Durchmesser der runden Deckelfläche oben wie unten zwanzig Meilen groß. Aber es befinden sich keine Deckel an dieser Tonne; im Innern der Tonne sind oben wie unten zwei leere Trichter von zwanzig Meilen Tiefe. Die beiden Trichter stoßen mit ihren Spitzen im Mittelpunkte zusammen. In diesem Mittelpunkte befindet sich ein Loch, das im engsten Teile noch eine halbe Meile breit ist. Durch dieses Loch sind die beiden Trichter miteinander verbunden. Die kräftig ausgebauchte Tonne dreht sich langsam um sich selbst – um die senkrechte Linie, die durch den Mittelpunkt von oben nach unten geht. Und mit Ausnahme der leeren Trichter besteht die Tonne aus festem Stoff.

Lesabéndio befand sich nun mit dem Biba auf dem oberen Rande des Nordtrichters. Und dieser obere Rand zeigte viele hohe Gebirgsgipfel. Und nach unten gings zwanzig Meilen schräg ab in die Tiefe zum Mittelloch. Aber die Wände dieses Riesentrichters waren nicht flach und glatt – sie zeigten wie der Rand oben viele zackige Gipfel und viele schroff abfallende Felswände. Aber diese Felswände waren auch nicht glatt, sondern vielfach zerrissen und von vielen tiefen Tälern durchfurcht.

Die Pallasianer hatten nun wohl die Fähigkeit, infolge ihres Saugfußkörpers hoch in die Lüfte zu springen und sich auch in den Lüften mit Hilfe ihrer Rückenflügel schwebend zu erhalten, sodaß sie leicht zu jeder Bergspitze und überallhin gelangen konnten. Diese natürliche Fortbewegungsart erschien aber den Pallasianern sehr bald nicht schnell genug. Und sie hatten daher in den beiden Trichtern unzählige sogenannte Bandbahnen hergestellt, die die Gipfel und Täler nach vielen Richtungen hin – schräg, waagrecht und auch senkrecht – miteinander verbanden.

Die Bandbahnen bestanden aus langen Bändern, die nicht viel breiter als fünf Meter waren und sich an den beiden Endpunkten auf automatisch tätigen Rollen sehr schnell fortbewegten; ein Bandstück bewegte sich oben und das andre unten. Nun brauchte der Pallasianer nur auf das Band aufzuspringen und sich mit seinem Saugfuß auf dem Bande festzuheften – so sauste er mit rasender Eile dahin. Am Schluß sprang dann der Pallasianer ab und flog mit der gegebenen Geschwindigkeit so lange durch die Luft weiter, bis er eine zweite Bahn erreicht hatte, die ihn mit derselben Schnelligkeit wie die erste weiter beförderte.

Nun liefen immer sehr viele Bandstreifen auch in andrer Richtung, sodaß alle Trichterwände nach allen Richtungen hin leicht befahren werden konnten. Die Bandstreifen bewegten sich natürlich sämtlich ohne Unterlaß, da die rotierende Tätigkeit der Rollen, um die die Bandstreifen rumgelegt waren, nicht aussetzte.

Die Bandbahnen boten ein Bild der heftigsten Verkehrsfreude; die Pallasianer flogen immerzu auf die Bänder rauf und immerzu wieder von den Bändern runter, sodaß langsam in natürlicher Bewegung dahinschwebende Pallasianer durch ihr langsames Schweben auffielen – wie träge Nichtstuer.

Um ihre Saugfüße ein wenig zu schonen, pflegten zusammenfahrende Pallasianer aufeinander zu sitzen – was zuweilen sehr drollig aussah. So saß auch der Biba mit seinem Saugfuß auf Lesabéndios Rücken hinter den Flügeln, als die Beiden auf den Bandbahnen rasch einem ferner gelegenen Berggipfel zustrebten. Nachher saß der Lesabéndio auf dem Biba. Die Beiden kamen rasch weiter im oberen Teile des Trichters und überflogen mindestens dreißig breite Talschluchten in ein paar Augenblicken.

Und dann flogen sie rasch von der letzten Bahn ab nach oben hinauf auf die Spitze eines sehr hohen Berggipfels, auf dem Tausende von Pallasianern ganz still dasaßen und ein neues Bauwerk anstarrten.

Das Bauwerk war ein Glasturm.

Doch dieser Glasturm ragte eine volle deutsche Meile in den Weltenraum hinauf.

Und so wars sehr natürlich, daß Tausende von Pallasianern dieses neue Bauwerk ganz still anstarrten.

Der Pallasianer Nuse, der diesen Turm gebaut hatte, sah jetzt den Lesabéndio mit dem Biba heranfliegen und breitete gleich seine Kopfhaut wie einen riesigen Regenschirm seitwärts aus und brachte den Rand seiner Kopfhaut zum Schwingen. Lesabéndio und Biba taten dasselbe; so pflegten sich die Pallasianer immer zu begrüßen, wenn sie gern miteinander sprechen wollten.

Und sie sprachen miteinander.

Viele feine Falten glitzerten dabei neben den Mundwinkeln der Pallasianer. Und die messerscharfen Nasen zuckten öfters.

Der Glasturm war ein Lichtturm, der heftig leuchten sollte – in der langen Nacht. Die lange Nacht war auf dem Pallas so lang wie ein Monat auf der Erde; der Tag war ebenso lang.

Der eigentliche Lichtspender ist aber auf dem Pallas nicht die Sonne, sondern eine weiße große Wolke, die hoch über dem Nordtrichter befindlich ist.

Diese weiße Wolke leuchtete jetzt auch in vollem Glanze. Die Berge auf dem Trichterrande waren auch zumeist weiß; nur einzelne Stellen zeigten blaue und graue Farben; in der Tiefe des Trichters waren die blauen und grauen Farben dunkler und vorherrschend, sodaß man da das Weiße nur vereinzelt sah.

Die Gesichter der Pallasianer hatten gelbe Farbe – nur die Augen waren braun und die Lippen ebenfalls, während die Kopfhaut aufgesperrt innen radiale braune Streifen auf gelbem Untergrunde zeigte; die Rückseite der Kopfhaut war dunkelbraun. Der kautschukartige dunkelbraune Körper hatte viele große und kleine gelbe Flecke.

Nuse hatte schon viele Lichttürme gebaut – zumeist auf den Berggipfeln, die sich tiefer im Nordtrichter befanden – aber keiner der Lichttürme hatte den zehnten Teil der Größe erreicht, die der Lichtturm erreichte, vor dem jetzt Tausende von Pallasianern staunend dasaßen.

Nuse klagte und sagte:

»Es ist so unsäglich schwierig, die Pallasianer zu so großen Arbeiten zu überreden. Ich will doch eigentlich noch hundert solche Türme bauen. Aber meine guten Freunde wollen vorläufig noch nicht; sie wollen immer wieder was Andres.«

»Oh«, versetzte da der Lesabéndio, »das ist ja das Geheimnis unsrer Kraft: je mehr Schwierigkeiten und Hindernisse von uns zu überwinden sind, um so mehr wächst unsre Kraft. Und es läuft doch alle unsre Tätigkeit nur darauf hinaus, uns immer kräftiger, größer und bedeutender zu machen.«

Alle Tätigkeit der Pallasianer konzentrierte sich aber darum: den Stern Pallas weiter auszubauen – umzubauen – besonders landschaftlich zu verändern – prächtiger und großartiger zu machen.

Und sie hatten vor nicht allzulanger Zeit ein Material im Innern ihres Tonnensterns entdeckt, das den Horizont ihrer Baugelüste merklich erweiterte. Dieses Material hieß Kaddimohnstahl und bestand aus unzerbrechlichen meilenlangen Stangen.

Mit solchen Stangen war auch der neue Lichtturm erbaut; ohne dieses neue Material hätte man natürlich nicht so hoch in die Höhe gehen können.

Der Pallasianer Dex, der neben Nuse stand, wußte mit diesem Kaddimohnstahl am besten umzugehen; auf dem gegenüberliegenden Teile des Trichterrandes hatte er zwei riesige Bergspitzen in riesigem Bogen miteinander verbunden, und Manesi, der Vegetationsarrangeur, hatte diesen Bogen, der im Halbkreise die beiden Gipfel verband, mit hängenden und hochaufragenden Pallas-Bäumen besetzt. Auch der Manesi stand neben dem Nuse.

Nuse war nur Beleuchtungsarrangeur und sehr stolz auf seinen ganz bunten Glasturm, der übrigens im oberen Teile sehr viele Ausbuchtungen und weit heraustretende Ausläufer zeigte; die letzteren sprangen wie radiale Strahlen aus dem Turm heraus.

Als die Fünf den Turm genug bewundert hatten, machten sie aus ihren Augen wieder lange Fernrohre, schlugen die Kopfhaut wie ein Futteral um die Fernrohraugen rum und sahen sich jetzt die neue Schöpfung des Dex an, die noch nicht fertig war und gegenüber auf dem Trichterrande in einer Entfernung von zwanzig Meilen auch recht kühn in den Weltenraum hinaufragte.

Dann bat der Nuse die vier anderen Herren, mit ihm auf die Spitze des neuen Glasturmes zu steigen.

Der Himmel war dunkelviolett, und man sah auch all die grünen Sterne am Himmel – auch die dunkelgrüne Sonne, neben der ein kleiner hellgrüner Komet sichtbar wurde. Oben mitten über dem Nordtrichter leuchtete die weiße Wolke. Aber die weiße Wolke bekam schon ein paar dunkelgraue Flecke.

»Wir müssen uns beeilen!« sagte der Nuse.

Und danach sprangen die Fünf in den Turm, und jeder von ihnen nahm dort ein Instrument in die Hand, das einer großen Kneifzange ähnelte.

Im Innern des Turmes rollten dicke Seile über Rollen. Diese Seile wurden mit den Kneifzangen fest angepackt – und dann wickelte der Pallasianer blitzschnell seinen Unterkörper um die langen Druckstangen der Kneifzange herum – und flog so in ein paar Sekunden zur Spitze des Turmes hinauf. Die Hemmvorrichtungen funktionierten oben auf einer Strecke von tausend Metern, sodaß sich die Zange im richtigen Moment oben von dem Seile loslöste, ohne daß der Passagier Gefahr lief, auf der Spitze des Turmes gleich weiter hinauf in den Weltenraum hinaufzufliegen.

Die Fünf waren also bald oben.

Und oben sagte der Lesabéndio sehr heftig:

»Wundervoll ist ja hier die Aussicht. Ich wundre mich nur, daß wir so hoch gekommen sind. Wenn wir vom Gipfel unsrer Trichterrandberge aus uns mit Hilfe der schnellsten Bandbahnen in die Höhe schießen lassen, so erreichen wir kaum eine Höhe von dreihundert Metern, und mit solchem Turmbau kommen wir siebentausendfünfhundert Meter hoch. Wenn das nicht seltsam ist, so weiß ich nicht, was seltsamer wäre. Unsre Leuchtwolke oben hat abstoßende Kraft. Wie wärs, wenn wir nun diese abstoßende Kraft überwänden, indem wir noch höhere Türme bauten?«

»Wie willst Du«, fragte nun der Dex, »das anfangen?«

»Wir bauen«, versetzte Lesabéndio, »auf jeden Trichterrandgipfel einen meilenhohen, ganz schlanken Turm, der sich nach der Mitte des Trichters hinüberbeugt. Dann verbinden wir die Spitzen dieser schiefen Türme durch einen Ring, dessen Durchmesser kleiner ist als der Durchmesser des Trichterrandes. Und dann bauen wir auf diesen Ring wieder schiefe Türme, verbinden wieder die Spitzen der schiefen Türme durch einen noch kleineren Ring – und fahren so in fünfzig bis hundert Etagen fort – dann sind wir oben mitten in der Wolke und wissen bald, was sich dahinter oder über der Wolke befindet. Ich vermute, daß da oben das Geheimnis unsres Lebens verborgen ist.«

Da schmunzelten die vier Herren, die dem Lesabéndio zugehört hatten. Und dann lachte der Nuse und sagte:

»Schöner Bauplan das! Aber ich möchte wissen, wo Du die Bauleute herbekommst. Ich kriege sie nicht zu einem zweiten Turm – und Du willst, wenn ich nicht irre, an die tausend Türme bauen.«

Dex rief danach:

»Und das Material? Ei, da müßten wir noch viel Kaddimohnstahl ausbuddeln! Obs so viel gibt? Ich glaube allerdings, daß es ganz bestimmt so viel gibt.«

Da bestürmten die Andern den Dex zu sagen, woher er das wisse. Und er erzählte ihnen etwas von seinen Entdeckungen und Vermutungen.

Währenddem wurde oben die Wolke immer dunkler und senkte sich dann mit ungeheurer Schnelligkeit hinab – und machte Nacht auf dem Pallas, indem sie sich um den ganzen Tonnenstern herumwickelte; nur unter dem Südtrichter ließ sie eine freie Aussicht in den Weltenraum übrig.

Diese Wolke bestand aus Trillionen feinster Spinngewebefäden, die sich durcheinander spannen, ohne sich zu verwickeln und zu verknoten.

Die Sterne des Himmels waren nun nicht mehr zu sehen.

Dafür leuchteten im Nordtrichter Hunderte von Nuses kleineren Lichttürmen auf, und der große Lichtturm, auf dessen Spitze die fünf Herren standen, leuchtete mit vielen beweglichen buntfarbigen Scheinwerfern so mächtig in die Nacht hinein, daß aus der Tiefe des Kraters ein großes Beifallsgeschrei hervordrang.

Nun wollte Biba mit Manesi und Dex rasch zum Centralloch des Sterns, um dort die merkwürdige Musik zu hören, die sich immer beim Einbruch der Nacht hörbar machte; sie schossen wieder mit der Seilbahn auf ihren Zangen zur Tiefe hinunter und benutzten unten eine Tunnelbahn, die ebenfalls eine Seilbahn war – und auf der man auch mit Zangen in zwei Minuten die zwanzig Meilen bis zum Centralloch hinuntersausen konnte. Solche Tunnelbahnen gab es sehr viele. Und in allen Tunneln wurden an Stelle der Bandstreifen starke Seile verwandt.

Nuse blieb auf seinem Turm.

Und Lesabéndio sprang von der Turmplatte aus hoch in die Höhe – er kam aber nicht fünfzig Meter hoch und breitete danach oben seine Rückenflügel aus und schwebte seitwärts schräg in den Trichter hinein und sah dabei sich langsam drehend überall die unzähligen elektrischen Lichter im Trichter. Und es waren nicht nur die Lichttürme des Nuse, die da leuchteten; alle Bäume hatten an Stelle der Früchte und Blüten größere und kleinere Ballons, die am Tage schlaff herunterhingen, nachts aber sich weit aufblähten und leuchtende phosphoreszierende Farben in die Nacht hinausstreuten.

Leuchtkäfer gabs auch – sehr viele.

Und Lesabéndio leuchtete wie alle Pallasianer ebenfalls an einzelnen Stellen seines Körpers – wenn ers wollte.

Er zog seinen langen Schlangenleib im Kreise hintenüber und erfaßte mit seinem Saugfuß seinen Hinterkopf und schwebte so langsam sich drehend mit ausgebreiteten Flügeln in bequemster Lage langsam zur Tiefe. Die Nacht war köstlich.


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