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Als Hubert aus der Betäubung erwacht war, durften seine Mutter und seine Gattin auf einige Augenblicke bei ihm eintreten. Der Chirurg, der den Schnitt an ihm vollzogen hatte, ein blondbärtiger wohlgenährter Mann im selben Alter mit dem Leidenden, begrüßte die Frauen mit heiterer Miene und einer an ihm gefälligen Unbeholfenheit. Schwester Coelestine, die den Vormittagsdienst hatte, lächelte ehrerbietig-vertraut, die Hände vor dem Leibe leicht ineinandergelegt. Der Anstaltsarzt hielt sich, gelb, mager, schwarz, im Hintergründe. Mit mühsam erzwungener Ruhe beugte sich die Mutter über ihr großes Schmerzenskind, dessen Augen, weit aufgerissen und starr, wie Saphire glänzten. Sie küßte die mit kaltem Schweiß bedeckte bleiche Stirn und versuchte dann, den fremden Augen freundlich zuzunicken, während sich die schmale kleine Frau mit einem heißen stillen Kusse auf eine der regungslos ausgebreiteten Hände neigte. Nur ein ängstlicher Blick streifte die Stelle unter der hellbraunen Flanelldecke, wo der Stumpf sich hob. Mit schwerem Atem zog sie sich sogleich zurück, und auch die Mutter strich nur noch mit zitternder Hand über das schüttere, welche Haar, das in einem durch die grünen Stabläden flimmernden Sonnenstrahl goldig aufglänzte. Dr. August Sieber, der Hausarzt, der, hinter den Frauen in mächtiger Länge aufgerichtet, in seiner immer wie erstaunten Weise mit halb offenem Munde vor sich hin geschaut hatte, trat schon, die Hand auf der Klinke, an die Türe. Aber der Primarius, Dr. Walter Merta, sagte mit der gewohnheitsmäßig gedämpften, etwas heiseren Stimme des Rauchers, froh und seiner selbst gewiß: »Es ist alles sehr gut gegangen.« Die Schwester verneigte sich unmerklich, die Hände noch immer vor dem Leibe leicht ineinandergelegt.
Nun standen sie auf dem aus Steinfliesen gefügten und mit einem langen Korkteppich belegten Gange. Dr. Sieber räusperte sich verlegen … »Wird der Herr Primarius noch herauskommen?« fragte die junge Frau. »Ich weiß nicht … Ich glaube wohl … Ich werde vielleicht …«, sagte der schüchterne Riese, dessen mächtige Gewandstücke ihn wie Felle umhingen. Und schon hatte er die prankenartige Rechte wieder auf die Klinke der mit grünem Tuch verkleideten Doppeltüre gelegt. »Nein, bitte …« Hastig hielt sie ihn zurück. »Nicht wahr, Mama, wir warten lieber noch eine Weile? Er muß ja bald gehen … Aber du wirst dich setzen wollen, Mama …« Und ihr Blick flog den langen leeren Gang entlang. »Nein, nein,« wehrte die Schwiegermutter dieser aussichtslosen Umschau … In der Tiefe des Ganges, der dort rechtwinklig umbog, tauchte die untersetzte Gestalt des Direktors auf. Verbindlich kam er auf die Damen zu, denen er nicht umhin konnte seinen Glückwunsch auszusprechen. Gleich darauf legte er sein sauber rasiertes Gesicht in leichte Beileidsfalten und bedauerte kopfschüttelnd den Unfall. »Es ist wirklich geradezu tragisch«, sagte Dr. Ernst Schattenfroh und wiegte mißbilligend den kahlgeschorenen runden Kopf. »Nach fast vier Feldzugsjahren ohne erhebliche Verwundung … Nicht wahr, ein Streifschuß und eine Armknochensplitterung von einem abprallenden Stein? … Ich weiß … Und nun so ein Malheur zu haben! … Es ist nur ein Glück, wirklich ein wahres Glück, daß die Sache so ausgegangen ist. Es soll ja furchtbar ausgesehen haben …« Er merkte die Wirkung seiner Anspielung, da sich die junge Frau, ihrer selbst nicht mächtig, zum Fenster gewandt hatte, und lenkte geschickt ein: »Aber es wird alles ganz gut werden. Eine elegante Prothese, und kein Mensch wird ihm etwas anmerken. Freilich im Anfang ist die Krücke ungewohnt und recht lästig …« Der Primararzt hatte leicht die Türe geöffnet und steckte zuerst wie eine Schnecke seinen blonden zufriedenen Kopf hinaus, dann folgte der Leib mit einer linkischen Drehung nach. »Wir sprechen gerade von den Krücken, Herr Primarius,« behauptete Dr. Schattenfroh und gab dem Gegenstande so eine neue Gangart. Aber die junge Frau hatte ihn am Arm gefaßt und ihm durch einen fast gebieterischen Blick die gewandt hinhüpfende Rede kurz abgeschnitten. Er folgte unwillkürlich der andeutenden Rückwärtsbewegung ihres Kopfes und beeilte sich, der Mutter des Krüppels unerwünschterweise den Arm anzutragen, da er sie, die ihm von einer Schwäche befallen schien, in die Fensternische geleiten wollte. Die Überraschte wehrte mit gütiger Eindringlichkeit diesen Bemühungen. »Ich danke Ihnen, Herr Direktor,« sagte sie und richtete sich mutig empor. »Es ist nicht nötig. Ich will nur einen Augenblick …« Und sie lehnte sich, sanft von der besorgten Schwiegertochter unterstützt, an die schmale Fensterbank.
Hubert hatte die Erscheinung seiner Mutter und seiner Frau wahrgenommen, aber nicht empfunden. Sein Hirn war wie ausgebrannt, bloß der in eine Schmerzrichtung gedehnte Körper war ihm qualvoll gegenwärtig. Er war müde, doch ohne das Bedürfnis nach Ruhe, das den Ermatteten überwältigt. Im Gegenteil: alles an ihm war wach, gereizt, als lägen seine Nerven zutage … Die Wärterin machte sich leise um ihn zu schaffen. Der Anstaltsarzt, der nachzusehen gekommen war, wie es mit dem Kranken stände, hatte sich entfernt. Es war still in dem dämmerigen Gemach … Stunden waren inhaltlos über ihn hingewallt. Allmählich kamen Erinnerungsbilder ohne Zusammenhang, trüb … Plötzlich packte ihn die Besinnung, wie aus dem Hinterhalt hervorspringend. Und mit wollüstiger Grausamkeit stürzte sie ihn in den Abgrund der Gewißheit: ihm war das rechte Bein abgenommen worden. Sein Herz stand einen Augenblick still vor Entsetzen. Und dann versank er abermals in Bewußtlosigkeit … Als er erwachte, kehrte die Besinnung alsbald zurück. Ein großer stiller Schmerz erfüllte ihn, gegen den der körperliche, ein brennendes wirbelndes Zucken an der Wundstelle, das sich wie eine endlose Schraube weiterbewegte, nicht in Betracht kam. Es war ein Gemisch aus Scheu, Wehmut und Sehnsucht, das sich in einem tiefen Seufzer hob. Die Wärterin hatte den Dienst an die Schwester abgegeben, der die Nachtpflege oblag. Der Chirurg war gegen Abend gekommen und gegangen, der Anstaltsarzt hatte seiner Pflicht genügt. Von all dem waren Schatten an ihm vorbeigeglitten … Dann war Mamas Antlitz wieder über ihm erschienen, blaß und gespannt, ein irres Lächeln um die schmalen Lippen. Und da hatte er »Mama« gesagt, und die Augen hatten ihm voll heißer Tränen gestanden. Auch Gretes Kuß war über seine Stirn gehaucht, aber er hatte sie nicht deutlich wahrgenommen … Und dann war er eingeschlummert … Es mochte tief in der Nacht sein, als er zum drittenmal erwachte. Ein ungewohntes Geräusch nagte an seinem Gehör, eintönig, regelmäßig. Er strengte sich an, es festzustellen, und mußte endlich unwillkürlich lächeln: die Wärterin schnarchte … Mit seltsamer Klarheit gingen ihm nun Erinnerungen auf. Seine Kinder, Dorl und Niki! Wie lange hatte er die Geliebten nicht gesehen! Aber ruhig, bei aller Sehnsucht, war's ihm ihretwegen. Nichts von der Sorge, die ihn sonst oft während der kürzesten Abwesenheit peinigte. Nur Liebe, still sich ergießende Liebe … Und Mama. Und Grete … Und sein Haus, sein Bücherzimmer mit den kleinen weißen Stühlen der Kinder in der Ecke an der Gartentür … Plötzlich zuckte sein Herz zusammen in wildem Schmerz, der alles andere verdunkelte: Nicht mehr reiten! Nie mehr reiten! … Und nicht mehr gehen können! Auf Krücken humpeln müssen. Die Wärterin fuhr aus dem Schlummer empor: er hatte ein Schluchzen nicht unterdrücken können. Sie begann ihn auf ihre Weise zu beruhigen. Aber es war gar nicht vonnöten. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Und er fragte sie ohne Übergang – und stellte die Tatsache besonnen bei sich fest –, ob er eine Zigarette rauchen dürfte … Hätte er doch diese Frage nicht getan! Sie hatte weder die Befugnis, ihm die Erlaubnis zu erteilen, noch wagte sie es, wegen dieser immerhin geringfügigen Sache den Anstaltsarzt aufzusuchen. Der mußte ja früh am Morgen kommen. Bis dahin möchte sich der Herr beruhigen. (Sie kannte seinen Namen nicht. Er stellte auch das fest.) Aber nun mußte er an die Zigarette denken, seine Lust danach in der Vorstellung des ihm vorenthaltenen Genusses zur Begierde steigern. In der linken Tasche seines Rockes stak sicherlich die Zigarettenbüchse. Und in der linken oberen Westentasche das Feuerzeug. In der rechten Hosentasche aber der Bernstein»spitz« … Ob ihm bei dem Unfall nicht die Brieftasche abhanden gekommen war? Das Blut schoß ihm in den Kopf. Er hatte ja zur Bank fahren wollen, das Geld zu hinterlegen, das er am Tage vorher für den Smyrnateppich gelöst hatte von dem Italiener. Dreißigtausend Kronen … Ob Grete daran gedacht hatte? Als man ihn nach Hause brachte, war sie sicherlich nicht darauf verfallen. Und er hätte es ihr ja auch verübelt … Freilich, jetzt, da mehr als vierundzwanzig Stunden darüber hingegangen waren, hätte es ihr wohl einfallen müssen. Zumal da sie mit dem Ertrag des Verkaufs gar nicht zufrieden gewesen war, ihn mit ihrer Mißlaune angesteckt hatte. Vielmehr: er selbst war sofort, nachdem er den lebhaften kleinen Mann verabschiedet hatte, mit sich unzufrieden gewesen. Denn er hätte die Sache besser erledigen können, bloß von vornherein mehr fordern müssen. Die Summe hatte ihm eben Eindruck gemacht, weil sie die von dem dicken Tiroler Händler gebotene um ein Erhebliches überstieg. Jahrelang hatte der große Teppich auf dem Dachboden gelegen. Aber seit Grete der Gedanke gekommen war, ihn, die günstige Gelegenheit nutzend, loszuschlagen, hatte er den Plan mit Eifer ergriffen und ohne Verzug Kauflustige aufzutreiben unternommen. Und die Angelegenheit dann, wie es ihm so oft geschah, überstürzt … Daß nun das Geld, dessen man mehr denn je bedurfte, da ihm die kostspielige Behandlung noch in die Quere hatte kommen müssen, gar verloren sollte gegangen sein, das wäre zu viel der Tücke … Aber das Ärgste, was sich in diesem Bereiche abspielte, mußte er geradezu begrüßen, da dadurch vielleicht Schreckliches auf anderem Gebiete abgewendet werden mochte … »Der Ring des Polykrates«. Unwillkürlich sagte er die fein gebauten Strophen der trotz beiläufiger Gefahr des Lächerlichen doch geistreichen Ballade auf, soweit er sie ohne Stocken auswendig wußte. Er hatte sie erst jüngst den Kindern mit Hingebung vorgelesen, stellenweise, zu ihrer bewundernden Freude und mit einiger Selbstbewußtheit, den Kopf vom Buche hebend. Die tägliche Vorlesung … Wie fern das lag! Und sonst hatte er sich von den Kleinen kaum trennen mögen. Hatte er doch, da ihm das Daheimbleiben über alles ging, allgemach jede Beziehung zur Öffentlichkeit, ja Verkehr überhaupt aufgegeben, sich ganz in seine Schale verkrochen, nur den Kindern und in ständiger Verbindung mit ihnen lebend. Niki, der schon das Gymnasium besuchte, begleitete er täglich zur Schule und holte ihn wieder ab, wie ein Fremder die einst ihm so vertraute Stadt besuchend, da er von draußen kam, wo unter Weinhügeln in der reinen Luft des Waldgürtels und des nahen Stromes das alte Haus stand … Um keinen Preis hätte er den bei aller heiteren Klugheit kindlichen Knaben anderer Obhut anvertraut. Und nun hatte Niki ohne ihn die tägliche Reise zurückgelegt … Und wenn der Wagen der Straßenbahn, von dem er, sich gegen die eigenen Warnungsreden vergehend, abgesprungen war, dem Stürzenden nicht das Bein, sondern den Kopf zermalmt hätte, wäre Niki, den seine Frau nicht täglich hin und her zu begleiten in der Lage war, auf sich allein angewiesen gewesen, wie die andern Buben. Und es wäre auch so gegangen. Ohne ihn … Die Kinder hatten gewiß voll Schrecken von dem Unfall erfahren. Wie mußte dem guten kleinen Kerl das weiche Herz gebebt haben bei dem gräßlichen Eindruck, da man ihn auf der Bahre ins Haus trug! Freilich, Grete mochte die Kinder vor dem nachwirkenden Anblick bewahrt haben. Aber die Vorstellung des nicht zu verhehlenden Ereignisses hatte sich nur um so schrecklicher den weichen Gemütern aufdrängen müssen. Und wenn er dann wiederkehrte, auf Krücken! … Ob den Kindern vor dem Verstümmelten nicht grauen würde? Nun würde er wohl überhaupt nicht mehr aus dem Hause kommen. Denn er konnte es dem Knaben doch nicht zumuten, sich von dem Hilflosen begleiten zu lassen. Er würde ihn ja bloß hindern, da sie immer erst im letzten Augenblicke vom hastig eingenommenen Frühstück hinweg zur Haltestelle eilten. Eilten! … Er Niki die viel zu schwere Schultasche abnehmend, während er ihm dafür den Stock im Laufen hinreichte. Im Laufen! … Nie mehr laufen! Und wieder fiel ihm das Reiten ein. Wieder traten ihm Tränen in die Augen. Er hatte das Reiten erst seit kurzer Zeit nach jahrelanger Pause wieder aufgenommen, da ihm ein Zufall die bis dahin versäumte Gelegenheit bot, die Pferde des fürstlichen Marstalls zu benutzen. Seither war ihm diese mit geradezu andächtigem Eifer betriebene Übung zur leidenschaftlichen Gewohnheit geworden. Die acht Pferde, die ihm abwechselnd je zwei täglich zur Verfügung standen und von denen ihm namentlich drei zu schaffen machten, da sie unwillig den Rücken versteiften und den einen Zügel nicht annahmen, liebte er mit der Liebe des Begabten, der unablässig sein Bestes an die Aufgabe setzt, weil er als berufener Reiter weiß, daß es eine niemals zu vollendende Kunst ist. Und er hing an dieser den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Betätigung auch deshalb, weil sie ihm alle trüben Gedanken, alle die Sorgen bannte, die in der schweren Zeit nach dem großen Kriege die zerrütteten Verhältnisse des besiegten Staates gerade dem früher durch Besitz Begünstigten täglich schufen … Er mochte sich noch so oft wiederholen, daß der Verlust einer so lang entbehrten Beschäftigung, die ja doch als überflüssiges Vergnügen zu erachten sei, nicht in Betracht komme gegenüber so manchem andern, was hätte werden können, was noch werden konnte: die peinvolle Vorstellung ließ ihn nicht los. Mit welcher Wonne hatte er dem adligen Tiere den geschmeidigen Hals und die seidenglänzenden Flanken geklopft, sich in den federnden Sattel geschwungen, sich zurechtgeschoben und die Zügel ordnend durch die Hand gleiten lassen, mit den Schenkeln sogleich feste Fühlung nehmend, um den Hengst in guter Haltung in Gang zu bringen, ein Blick in den schmalen Spiegel zeigte ihm sein gefälliges Bild, den hohen Glanzhut, die geschmeidige Gestalt im schwarzen Reitrock, die langen Beine in den grauen Hosen, die vom Knie abwärts eng an die schlanke Wade schlossen … Ob man nicht mit einem Bein reiten könnte? Einen Retter mit einem Arm hatte er gekannt. Freilich hatte er die sonderbare Erscheinung nur mit einigem Mitleid gelten lassen. Aber wenn es auch denkbar schien, daß man mit einem tadellosen Ersatzstück sich im Sattel erhalten mochte: zu reiten, sichere Einwirkung zu haben auf das Pferd, mußte dem Krüppel versagt bleiben … Und welch ein mühseliges Schauspiel, also aufzusitzen! Nein, er wollte die Reitschule nie mehr aufsuchen, überhaupt sich in sein Haus vergraben, am liebsten die Stadt verlassen, sich auf das Land zurückziehen, die Kinder allein unterrichten. Freilich, dazu war er auf die Dauer denn doch nicht geeignet. Und einen untadeligen Hofmeister zu halten, wenn sich ein solcher finden ließe, ging über die geminderten und täglich rascher schmelzenden Mittel. Wieder hielt er beim Gelde, dem verhaßten Gelde, das er mit vollen Händen auszugeben, nicht aber zu erwerben fähig war. Auch Grete, so sehr sie kargte und knauserte, war nicht eigentlich wirtschaftlich. Aus einem reichen Hause stammend, hatte sie bei aller Neigung zur Sparsamkeit die Schule versäumt, die der zur kleinbürgerlichen Hausfrau Bestimmten enge Verhältnisse bedeuten. Sie besaß nicht die Fähigkeit, mit Wenigem etwas zu erzielen, nicht den Sinn für die pünktlich aus sich selbst kreisende, auch im kleinsten Umfang sicher ausschwingende Ordnung. Sie war nicht begnadet, scheinbar mühelos zu schalten, wie es Mama, die bescheidene, immer vermocht hatte, obwohl sie niemals in der günstigen Lage gewesen war, die sich Grete durch ergebnislose Anstrengung selbst verdarb. Ihre Art, im Eingeschränkten zu schaffen, war grämlich und unergiebig. Für den Leichtsinn zumal, mit dem er immer wieder an die Stunde zu verschwenden liebte, was der Tag in Anspruch nahm, hatte sie nicht das geringste Verständnis. Ihr schien alles überflüssig, was er dem Leben abgewinnen zu dürfen meinte. Sie überlegte, wo er sich achtlos hingab. Den Reiz des unmittelbaren Erlebnisses kannte sie nicht. Sie verschloß als brauchbar, was er verbrauchend nur erschöpfte. Ein neues Kleid war ihr etwas, was man für Gelegenheiten bewahrt, während er es um des Genusses willen schätzte. Ihr Dasein bedurfte des Rahmens nicht, da sie es nie selbst gelten, sondern in seinen Mitteln stecken ließ. Sie war wie ein Mensch, der seine Bücher in Kisten stehen hat, während er sie alle aufstellte und die Kisten am liebsten mit einem Fußtritt entfernt hätte. (Er ließ schöne Bücher in ihrem kostbaren Äußern schonungslos wirkend werden, entfernte alle Hüllen und verargte es den Sonnenstrahlen nicht, daß sie den goldbedruckten Rücken die Frische nahmen.) Für ihn waren alle Dinge dazu da, genutzt zu werden, und er vergaß sie, wenn sie sich ihm nicht zeigten. So hatte er auch den großen Teppich, der, gereinigt und gegen Mottenfraß verwahrt, jahrelang zusammengerollt auf dem Hausboden gelegen hatte, deshalb leichten Herzens weggegeben, weil er ihn nicht zu nutzen imstande war, während er andere ebenso verwahrte kleinere, die er bei dieser Gelegenheit mit Freude zugleich an ihrer Schönheit wie mit Ärger über ihre Verbannung entdeckt hatte, sogleich in die Zimmer hinunterbringen ließ, ja einen und den andern davon selbst auf die Schulter schwang. Der Teppich brachte ihn neuerdings auf die Vorstellung des Verlustes der Geldsumme, die er dafür gelöst hatte. Und es überrann ihn abermals heiß vor Ungeduld, Gewißheit zu erlangen. Er wandte, da der Tag zu dämmern anfing, seinen Kopf der Wärterin zu, die schon wieder entschlummert war und, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Oberkörper wiegend, einen kläglichen Anblick darbot. Er mußte noch eine Weile zuwarten … Der Schmerz im gekürzten Bein war heftig wiedergekehrt. Ein Lastwagen rumpelte auf der Straße. Das Zimmer schütterte. Zu Hause war's angenehmer zu ruhen, in den stillen Räumen, die durch Gestalt und Lage den Gedanken der Mietwohnung fernhielten. Lange Jahre hatten sie das alte Haus umkreist; niemals wollte sich die Gelegenheit bieten, es in Anspruch zu nehmen. Zahlreiche kleine Sommerpartien hatten es bevölkert. Im Munde der spottlustigen Vorstädter hieß es die Wanzenburg. Endlich hatte es den Eigentümer gewechselt und war von dem neuen Herrn zu Jahreswohnungen hergerichtet worden. Da hatte er, durch einen Zufall darauf gebracht, rasch zugegriffen und die Einmietung erzielt. Drei kleinere waren zu einer geräumigen Wohnung zusammengelegt worden. Er entsann sich mit Behagen der Zeit, da sie ihr neues Heim gestalteten. Fast täglich war er hinausgefahren, Fortschritte der langsamen Werkleute festzustellen, mit Hilfe eines erfahrenen und gefälligen Bekannten Anordnungen zu treffen. Endlich im Mai waren sie eingezogen. Kaum eine Stunde nach der Ankunft, die sich festlich gegen Abend bei erleuchteten Zimmern vollzog, hatten sie einen großen Schrecken erlebt: die beiden Kleinen waren verschwunden. Im großen Garten war er herumgelaufen, jeden Winkel des Hauses hatte er durchsucht, ohne die Vermißten zu entdecken. Immer entsetzlicher war in ihm die Vorstellung herangewachsen, daß sie entführt worden wären … Da hatte man die Schelme hinter einem ihnen ungewohnten Wandschirm kauernd entdeckt, wo sie sich, belustigt von dem Trubel, der ihretwegen im Gange war, mäuschenstill verborgen gehalten hatten! Dorl und Niki: er sah sie vor sich in ihrer reinen süßen Kindlichkeit, die wie Zwillinge aneinander hingen, unzertrennlich, manchmal in harmlosem Hader, meist in einträchtiger Gemeinschaft am Spiel und an der leicht bewältigten Schularbeit. Sehnsucht schwoll ihm im Herzen, und unwillkürlich murmelte er die geliebten Namen … Fern und ferner traten sie zurück in ein Dämmern, das allerlei Schatten gebar … Er war entschlummert.
Als er erwachte, standen, umspielt vom flimmernden Sonnenschein, Grete und die Kinder an seinem Bette. Das Glück, das ihn übermannte, war so gewaltig, daß er meinte, es nicht ertragen zu können. Er weinte … Die Kinder verhielten sich, nach der scheuen Begrüßung, stille. Sie saßen in ihren Mänteln, die sie, da sie nur kurze Zeit verweilen durften, bloß hatten öffnen, nicht ablegen dürfen, wie Gäste auf den steifen mit Leinwandhüllen bekleideten Blechstühlen, hielten die Hände eingeschüchtert im Schoß und blickten neugierig in dem kahlen Raum umher. Ob sie wohl wußten, daß ihm ein Bein fehlte? Grete sprach mit der Wärterin. Der Anstaltsarzt kam; später erschien der Hausarzt, Dr. August Sieber, der ihm verlegen, mit unterdrückter gurgelnder Stimme Glück wünschte und sich dabei beängstigend in seiner breiten Schwere über ihm geneigt hielt. Endlich kam auch Mama, bei deren Anblick Niki und Dorl aus ihrer Befangenheit erwachten. Er durfte auch rauchen, vorher aber in Gegenwart der Seinen das Frühstück einnehmen, das ihm vortrefflich mundete: Tee und lang entbehrte Butter zum weißen Gebäck! Er ließ durch Grete reichlich davon an die entzückten Kinder verteilen. Ihm war leicht zumute. Als ihn wieder die blauen Rauchwölkchen umwirbelten und er den duftenden Dampf der, wie es ihn deuchte, köstlichen Zigarette durch die Nase einsog, schien ihm das ganze Ereignis ein nichts weniger als trauriges Abenteuer.
Nun war er wieder zu Hause. Er saß auf dem gewohnten Platze im Kinderzimmer, in dem alten weichen grünen Lehnstuhl an Dorls Bett, dem Nikis gegenüber. Die schwarz eingefaßte plumpe Wanduhr mit den abgerundeten Ecken, ein Stück aus der eigenen Kinderzeit, tickte, in dem hochbeinigen schwarzen Eisenöfchen, das feuerungsparend an den Kachelofen angeschraubt war, knackte das Holz, die vielen verglasten Lichtbilder an der Wand über seinem Bette glänzten, Niki saß an seinem weißen Pult an der Schularbeit, Dorl übte im Schlafzimmer nebenan mit steifen Fingerchen am Pianino … Aber zwischen früher und jetzt lag die Kluft der Zeit, und er sah das Einst im traurigen Spiegel der Gegenwart. Es war anders gewesen, als er zuletzt an die Vergangenheit anknüpfte, damals, da er aus dem Felde heimgekehrt war: trotz der Trauer über das schmähliche Ende all der Plage und Sehnsucht hatte ein festlicher Schimmer dankbaren Glückes ihm die Zeiten verwoben; er hatte wochenlang, wie aus einem Traum erwacht, die wonnige Gewißheit, wieder da zu sein, schlürfend genossen, hatte jede kleine Tatsache des behaglich hingleitenden Alltags sich als Besitz, als Geschenk bestätigt; manchmal in der Nacht war es wie ein Rausch über ihn gekommen, und er hatte die Hände gefaltet und sich gesegnet. Jetzt aber hatte er nur ein unwahrhaftiges Lächeln für die aufmerksame Fürsorglichkeit, die ihn umgab, und das Weh, das ihm auf der Seele lag, stieg oft als Bitterkeit in ihm empor. Die eilfertige Betulichkeit, mit der ihm Niki die Krücken bereithielt, wenn er sich zu erheben Anstalt machte, die ängstliche Achtsamkeit, mit der ihm Dorl jede Regung zu ersparen bemüht war, bedrückten ihn, ja, er empfand die geschäftige Betreuung der beiden Kleinen zuletzt nur als Belästigung und rächte sich dafür in selbstquälerischer Wollust durch Ungeduld und Plackerei. Was ihm sonst der Inbegriff gemütlichen Daseins geschienen hatte, das enge Aneinandersein in dem durch die mangelhaften Heizverhältnisse beschränkten Wohnraum, das war ihm jetzt Drangsal, dünkte ihn manchmal unerträglich. Mit scharfen Blicken beobachtete er die häusliche Besorgung seiner Frau, untätig auf seinem Stuhl. Sonst hatte er auf demselben Platze gelesen oder war in das dritte der der Familie während der kalten Jahreszeit zur Verfügung stehenden Zimmer an seinen Schreibtisch gegangen, hatte sich für das, was sich um ihn abspielte, nur dazu aufgerufen, Aufmerksamkeit abgenötigt; jetzt war er wie ein Feind hinter allem her, was ihn nicht unmittelbar betraf, und kämpfte nur mit Mühe Bemerkungen nieder, die gallig ausfallen mußten. Sich selbst überlassen, sann er über das nichtige Leben nach, stellte sich die trübselige Zukunft vor, berechnete das jämmerliche Schicksal der Kinder, die heranwachsen würden zu Menschen mit unerfüllten Hoffnungen. Wie ganz anders hatte er sich die Entwicklung seines Hauses gedacht! Sie waren auf dem besten Wege gewesen vom Wohlstand zur Ansehnlichkeit, man hätte wohl Reichtum sagen mögen. Das alles hatte nicht so sehr der Krieg wie der der Niederlage folgende täglich sich verschlimmernde wirtschaftliche Mißstand zerstört. Denn mit den Erträgnissen des sonst nicht unbeträchtlichen Vermögens, das Grete seit dem Tod ihres reichen Vaters zur Verfügung stand, war den Bedürfnissen des Haushalts, wie sie die ins Ungeheuerliche wachsende Teuerung, der Wucher mit allen Lebenserfordernissen emportrieben, nicht gedient, und sein eigener Beitrag zur Wirtschaft, der Ruhegehalt eines nach kurzer Dienstzeit verabschiedeten Beamten, fiel kaum überhaupt mehr ins Gewicht. Es war Mamas, der sparsamen Witwe, Seelenkummer, daß Hubert sein Amt aufgegeben, es trotzig und in Unmut über den Umschwung der jungen Volksregierung zur offenbaren Pöbelherrschaft hingeworfen hatte; sie war stolz darauf gewesen, daß ihr begabter Sohn in kurzer Zeit eine glänzende Laufbahn durcheilt und sich so dem mißtrauischen Schwiegervater gegenüber zur Geltung gebracht hatte; daß der ehrliche, aber unbequeme Kaufmann nicht mehr am Leben war – Hubert hatte sich dadurch der sonst unausbleiblichen Scheu vor kopfschüttelndem Vorwurf des Erfolgreichen überhoben gesehen –, war ihr ein um so geringerer Trost, als damit der Verbrauch des ererbten Gutes ohne Aussicht auf Hilfe in Notlagen nur näher gerückt schien. Daß ein Mann von der stolzen und edlen Gemütsart ihres einzigen Kindes, ein Offizier, der, wegen Tapferkeit ausgezeichnet, aus mörderischen Schlachten heimgekehrt war, um sich von wüsten Bubenfäusten das Kennzeichen seines Standes herabreißen zu lassen, nur mit Ekel und Selbstverachtung sich hätte demütigen können, im Dunstkreis solcher von den dermaligen Machthabern geduldeten, ja geförderten Gesinnung seinem auch ansonsten erniedrigten Berufe nachzugehen, war ihr zwar begreiflich, dennoch aber erwog sie die Nachteile seines übereilten Verzichts mit Seufzen, zumal da sich gerade in dem Stand, den er mit scharfer Wendung verlassen hatte, die nicht unergiebigen Folgen gelockerter Zucht zum Vorteil der Zurückbleibenden geltend machten. Derlei Auseinandersetzungen, die aus nur zu häufigen Anlässen sich ergaben, waren, da sie zu nichts führen konnten als zu unmutigen Vergleichen der jetzigen mit der einstigen wie der verscherzten Lage, um so erbitternder, als der an seinen Stuhl gefesselte, vielmehr sich selbst daran fesselnde »Krüppel« als ein unermüdlicher und grausamer Beobachter aus nächster Nähe den zermürbenden Kampf erlebte, den der vornehm eingerichtete Haushalt gegen die herabziehende Not kämpfte. Die Unzulänglichkeit, die man nach außenhin einzugestehen noch nicht Anlaß hatte, machte sich nach innen auf das peinlichste fühlbar. Zumal für Hubert selbst. Er, der sonst täglich sein heißes Bad genommen hatte, konnte jetzt Monate hindurch, ganz abgesehen von seinem derweilen noch hilflosen Zustand, überhaupt nicht baden, die Wäsche nicht mehr täglich, sondern kaum zweimal in der Woche wechseln; er saß an schmutzigen Tischtüchern, im schlecht gelüfteten Zimmer, das dem gemeinsamen Leben mehrerer Menschen zu dienen hatte; Fleisch kam nie, gutes Gemüse nur in geringer Menge auf den Tisch; Milch, Butter, Eier, Reis fehlten seit Monaten, sogar an Brot war zuweilen Mangel; und der Wein, dessen raschen Verbrauch ihm schon in guten Zeiten Grete gelegentlich zum Vorwurf gemacht hatte, war, selbst auf das Mindestmaß beschränkt, bei der allgemeinen Entbehrung des Notwendigsten fast ein sündhafter Genuß. Auch die keineswegs schmackhafte Zigarette, deren der Untätige trotz aller Einteilung stets mehr entzündete, als er hinterher auch vor dem nachsichtigsten Gewissen zu rechtfertigen vermochte, mußte, weiter im Preise steigend, bald zum Frevel werden. Daß Mama, die ihm gewiß alles gönnte, manchmal mit einem scheuen Wort an solche kostspielige Bedürfnisse rührte, etwa, wenn er nach der Zigarettenbüchse langte, mit leiser Stimme: »Mußt du wieder rauchen?« fragte, konnte ihn, obwohl oder weil er sich's selbst im Innern mahnend sagte, erbittern. Aber wenn gar Grete eine Bemerkung fallen ließ über Auslagen, die er an Bücher wandte, wie sie ihm nach wie vor eine große Handlung in regelmäßigen Abschnitten ins Haus sandte, fuhr er auf. Mama hatte ihm früher des öftern geradezu Mahnpredigten gehalten wegen der ihrem Bedünken nach vermeidbaren Anschaffungen für seine Person, hatte darauf hingewiesen, daß Grete das Unmaß seiner Bedürfnisse verdrießen müßte; je nach seiner Stimmung hatte er gutmütig, ja reuig zugegeben, daß sie recht hätte, oder ihre Meinung im einzelnen Falle ohne Erfolg bekämpft. Seit der Krieg alles ins Wanken gebracht und sein unglückliches Ende mit den darauf folgenden Wirren der Demagogenwirtschaft im verarmten Lande Reiche zu Bettlern gemacht und gewissenlose Ausbeuter emporgewirbelt hatte, war das Mißverhältnis zwischen seinen eigenen Anforderungen und dem überhaupt zur Wirtschaft Verfügbaren in dem von größeren Sorgen bedrängten Haushalt zurückgetreten, denn wenn ein Nachtmahl, das sonst kaum zwei Kronen gekostet hatte, jetzt, auf das Nötigste beschränkt, das Fünfzig-, das Hundertfache verschlang, kam dagegen der an und für sich geminderte gelegentliche Aufwand für das Überflüssige kaum mehr in Betracht, ja, es geschah nicht selten mit dem Gefühle trotziger Lust, daß er den Kaufpreis einer schlechten Wurst für ein neues Feuerzeug verschwendete. War doch dem schließlichen Zusammenbruch des unterwühlten Besitzes nicht mehr Einhalt zu tun.
Es war bisher gelungen, Besucher abzulehnen. Aber eines Tages stand dennoch Emil Watzik im Zimmer. Auf schier unbegreifliche Weise war der Schwerhörige hereingelangt.
Emil Watzik Edler von Treuimfeld, Sohn eines Feldmarschalleutnants, dem es zum Schmerz der Witwe nicht mehr vergönnt gewesen war, den Diensttitel Exzellenz in den wirklichen Geheimen Rat überzuführen, hatte Hubert als Gleichaltriger seit Kindheitstagen jeweils eine Wegstrecke begleitet, war, während jener im politischen Dienst halb ländliche Amtssitze durchwandert hatte, bei der Finanzbehörde angestellt, in der Hauptstadt verblieben und hatte sich endlich mit ihm im selben Ministerium zusammengefunden, an Rang freilich hinter dem rasch Beförderten zurückbleibend. Nicht unbegabt, aber ein bequemer Schlenderer, verachtete er fast alle Berufsgenossen, von denen ihn die einen gesellschaftlich, die andern geistig gering dünkten, war wegen seiner gehässigen Bemerkungen, die der Rechtfertigung einer überragenden Stellung ermangelten, allenthalben mißliebig und endlich seines körperlichen Gebrechens wegen mit dem Gnadengeschenk des höheren Rangstitels in den Ruhestand versetzt worden. Nun hatte der an den bequemen Tagestrott des untätigen Beamten Gewöhnte den Boden unter den Füßen verloren und, da dem anspruchsvollen Junggesellen der geschmälerte Bezug bei der Teuerung kaum mehr den bescheidensten Lebensgenuß ermöglichte, alles Selbstgefühl eingebüßt. Verwaist und ohne Verwandtenbeziehung, pilgerte er bei den wenigen Menschen umher, die ihm so etwas wie Freunde vorzustellen hatten, in endlosen Gesprächen die Zeit und sein Schicksal darin beklagend und ratlos Unwillig-Höfliche um Zustimmung zu seinen Klagen quälend. Hubert hatte ihm, dessen gebildete Weltbetrachtung den Schwatz der andern angenehm unterbrach, dessen boshafter Witz, da er ihn nur ab und zu kostete, ihn unterhielt, eine gewisse auszeichnende Zuneigung verraten, die jener zur Vertraulichkeit nicht so sehr zu vertiefen, als, seiner egoistischen lässigen Natur gemäß, zu erbreitern Gelegenheit nahm, was Hubert hinwiederum ärgerte und um der Nichtachtung willen, die der Rücksichtslose walten ließ, endlich verdroß. Ahnungslos war Watzik bei dem Tone verharrt, den er sich herausgenommen hatte, und da es Hubert nicht über sich brachte, den Einsamen geradezu zurückzustoßen, hatte der der Aussprache Bedürftige ihm den ohnehin unersprießlichen Aufenthalt im Amte nachgerade verleidet. Nicht zuletzt weil er damit diesen wie andern auf die Dauer unerträglichen Verhältnissen entging, hatte er, so sehr ihm der Abschied von den Seinen an das Herz griff, das Einrücken zu den Waffen als Erlösung begrüßt. Nach dem Kriege hatte er Watzik nur noch einmal gesehen und spöttische Anmerkungen des Hinterlandstaktikers über seine Feldauszeichnungen mit derselben ingrimmigen Wehrlosigkeit hingenommen wie früher ähnliche Anzüglichkeiten, die seine durch Eifer, Geschick und Begabung erzielten Beamtenerfolge betrafen.
Mit einem zweideutigen Lächeln reichte er jetzt dem mit dem Diener zugleich eintretenden Besucher die Hand, während Niki und Dorl, die unzertrennlichen Begleiter seines unfrohen Tagewerks, den untersetzten Ankömmling mit Neugierde betrachteten und Grete die Türe zu ihrem Schlafzimmer noch rasch zu verschließen Zeit fand. Da er sich nicht in der Lage wußte, auch nur das geringste zur Abkürzung der Unterhaltung zu unternehmen, überkam ihn die Sieghaftigkeit dieses Überfalls wie eine lähmende Ohnmacht.
Emil Watzik aber war unbefangen, freundschaftlichen Gleichklangs um so gewisser, als seine wachsende Halt- und Hilflosigkeit ihn weicher, wenn auch nicht herzlicher gemacht hatte. Seine Beredsamkeit hatte etwas Irres. Hatte er sonst seinen ihm selbst vergnüglichen Spott sprudelnd und schäumend ausgegossen, wobei das häufige Lachen die an und für sich undeutlichen Worte verschüttete, so war er nunmehr eintönig, starrte oft mit düsterm Blick vor sich hin und beachtete die spärlichen Antworten kaum, die Hubert mehr aus Artigkeit als aus Teilnahme mit erhöhter Stimme anbrachte. Nur das ruhelose Wandern war dem Schwerfälligen geblieben. Der Raum war durch Geräte beschränkt, Watzik mußte immer wieder seinen Leib an einem hervorstehenden Tisch, den Bücher bis an den Rand bedeckten, zwischen Stühlen vorbei- und hindurchschieben; er entledigte sich der ihm offenbar gar nicht bewußten Aufgabe mit Geduld, zog aber Huberts erregten Blick auf allen diesen Wanderungen und Windungen quälend hinter sich her. Auch Niki und Dorl unterbrachen des öftern ihr flüsterndes Spiel, der unaufhörlichen Bewegung des sonderbaren Gastes staunend mit den blauen Augen zu folgen. Watzik beklagte sein Los. Indessen hielt ihm Hubert im Geiste folgende Rede: Ich kann dich nicht eigentlich bedauern, so kläglich du dich gibst, Dickkopf. Du hast ein nur zu bequemes Leben hinter dir, und daß es dir jetzt nicht mehr so gut, vielleicht sogar wirklich schlecht geht, ist nur »poetische Gerechtigkeit.« Und du bist ein so krasser Egoist, daß du mich, der ich dasitze mit einem Stelzbein und aus einer verheißungsvollen, zielbewußten und viel beneideten Laufbahn geschleudert worden bin, während dir nur ein unfruchtbares Scheindasein endlich abgekappt worden ist, nicht einmal bemerkst. Du bist trotz deiner, wie ich dir gern einräume, gediegenen Bildung und deinen vortrefflichen Geistesanlagen so kalt und leer, daß du in deinem Hintrollen nicht einmal nach einer Frau Umschau gehalten hast, denn es hat dir bequemer geschienen, dich auch mit ergrautem Strudelkopf noch von der Mutter pflegen zu lassen, statt selbst dein Leben tüchtig in die Hand zu nehmen. Wenn du dich heute aus der Welt verlierst, wird niemand dir eine Träne nachweinen … Da aber ward es ihm klar, daß dieser unwirsche, haltlose Mensch eine Mutter besessen hätte, die ihn als ihr einziges Kind nicht nur verzogen, sondern auch geliebt hatte. Und er erinnerte sich des rührenden Eindrucks, den vor einigen Jahren die tiefe Trauer des unmännlichen Mannes auf ihn gemacht hatte, da er ihn beim Leichenbegängnisse seiner Mutter beobachtete. Hatte der arme Watzik nach dem Tode des verehrten Vaters mit der Mutter nicht alles verloren, was ihm das Leben überhaupt gewährt hatte? Was galt denn im Grunde die sogenannte bürgerliche Beschäftigung gegenüber dem wahrhaftigen Zusammenhang von Eltern und Kind, dem gebreiteten Flug der Seele durch den Himmel ihrer Heimat? Ob jener ein mehr oder minder nachlässiger Beamter gewesen war, kam dagegen kaum in Betracht … Freilich, er hatte die Pflicht nicht geachtet, sich über sie hinweggesetzt. Aber war das letzthin seine Schuld, da diese Pflicht, wie die meisten sie verstanden, doch bloß Selbstbetrug oder gar schnöden Augendienst bedeutete? Er hatte als junger Mensch einen sogenannten Beruf ergriffen, weil ihm als dem Sohne Besitzender, der doch nicht Reichtümer sein eigen nennen durfte, die Gepflogenheit eine derartige Bestimmung auferlegte: war er deshalb dem äußerlichen Gehaben irgendwie mit seinem besseren Ich genähert worden? … Da sagte Watzik, in seinem »Weben« innehaltend: »Wir Pensionisten müssen zusammenhalten. Wir werden sonst an die Wand gedrückt. Du solltest dich auch in unsern Versammlungen betätigen.« »Wir Pensionisten!« Er, Hubert, und der armselige Watzik! Jawohl armselig, denn er lebte ja doch noch in der Stickluft des Beamtentums, setzte seine alte Nörgler- und Neiderrolle, die einzige, die er mit seinem Ich zu erfüllen sich je die Mühe genommen hatte, nein, die ihm auf den Leib der Seele zugeschnitten war, im Ruhestande fort, schob sich mit geballter Faust die Wände des öden Gebäudes entlang, das er zu verlassen gezwungen worden war, besuchte die Versammlungen Widersprechender, solcher, die sich lärmend verwahrten gegen ein Unrecht, das, wie sie es sonst an andern geübt hatten, jetzt an ihnen sich vollzog. Sicherlich, die Ruheständler waren übel daran, und den im Dienste Verharrenden trachtete die armselige Regierung, unfähig, die Verhältnisse selbst durch lautere Tatkraft zu bessern, auf Kosten der Gesamtbevölkerung immer wieder aufzuhelfen: aber war nicht Beamtenschaft überhaupt, ob betätigt oder verabschiedet, ein seelischer Mißstand, dem ein rechtlich und selbstbewußt denkender Mensch, wenn die alles verklärende Eitelkeit einmal von ihm abgefallen war, mit Überzeugung, mit Verachtung sich entziehen mußte in einem Staate, der, der sittlichen Triebkraft, stille Helden unscheinbarer Pflichterfüllung heranzubilden, längst ermangelnd, nur dem Schein- und Afterwesen sich als nährender Sumpfboden erwiesen hatte? Und jener, der wahrlich weniger als irgendeiner das Recht besaß, sich als einen Staatsdiener zu betrachten, da er nur zu Lasten der Allgemeinheit Jahre durchbummelt hatte, gebärdete sich jetzt, weil ihm die Möglichkeit verkürzt worden war, weiter vom Staate zu zehren, wie ein Märtyrer, rief Himmel und Hölle für sein vermeintliches gutes Recht auf, wühlte in Versammlungen der »Betrogenen«! Nein, mit diesem Krüppel hatte er, Hubert, wahrlich nichts gemein … Immerhin, die Unzufriedenheit der Entlassenen war nicht unbegründet, wenn sie mit dem ihren das Los der Kleber und Streber verglichen, gar der in die Lücken rasch hineingestopften Günstlinge und Parteigänger, die sich ohne die ihren Vorgängern zugemuteten Enttäuschungen und Drangsale, ohne Vorbildung und Verdienst der mühelos erlangten Vorteile gesicherter Versorgung erfreuen durften. Unmutige Neugierde ließ ihn eine Frage tun. Mit wonniger Gehässigkeit ward sie beantwortet. »Jawohl, der alte Schuft lebt und gedeiht. Er hat sich mit bewährter Charakterlosigkeit wieder zur Verfügung gestellt. Und man kann ihn immer noch brauchen. Dem Erzschwindler ist bisher jeder aufgesessen.« Und er nannte noch einige Namen, gefiel sich darin, die Unwürdigkeit ihrer wetterwendischen Träger mit den schärfsten Ausdrücken zu brandmarken. Hubert nahm seine schweigende Ansprache wieder auf (wobei er sich daran erinnerte, wie Freund Benedikter, der sonst eine so gewichtige Amtsmiene anzulegen verstand, Watziks Taubheit vertrauend, dem Ahnungslosen vor belustigten Ohrenzeugen mit bubenhaftem Behagen die gröbsten Schimpfworte versetzte): Und du selbst, der du dich jetzt so ereiferst über alle die, denen gelungen ist, was dir hat mißraten müssen? Wo wäre deine Gesinnung geblieben, wenn du dich den neuen Machthabern aufzunötigen in der Lage gewesen wärest? Hast du denn einen Augenblick nur den Widerstand deines Gewissens erlebt gegen ein Weitermachen unter so von Grund auf geänderten Umständen, den Widerstand, den gar manche der von dir wegen ihres äußern Erfolges Beschimpften mit Bitterkeit in sich haben ertöten müssen, weil sie die nackte Notwendigkeit, um Weibes und der Kinder willen weiter zu dienen, vor sich sahen und vernünftig genug waren, sie ins Auge zu fassen? –
Als Watzik endlich gegangen war, ließ Hubert, trotz dem kühlen Märztag, die Fenster öffnen. In seinen Plaid gehüllt, saß er schweigend und verstimmt. Da fühlte er einen warmen Kuß auf seiner linken Wange. Niki war an ihn herangeschlichen und drückte ihn nun, da er sich verraten hatte, nur um so inniger an sich.
Der Arzt drang darauf, daß Hubert Bewegung machte, zumindest an die Luft ginge. Sonst hätte man eben einen Wagen gemietet, wäre täglich ausgefahren. Jetzt, da nur protziges Schiebergesindel, wenn es nicht vorzog, staubaufwirbelnd im Automobil dahinzusausen, sich ein solches Abenteuer zu gönnen in der Lage war, blieb dem Zeitgenossen der verwirklichten Freiheit und Gleichheit, der sein Vermögen an Kraut, Rüben und Steuern verausgabte, nichts übrig, als die Natur zu Fuß aufzusuchen. »Zu Fuß«, das hieß in Huberts Fall auf Krücken. Und kurz entschlossen, wie es seine Art war, wenn er lange vor der scheinbaren Unmöglichkeit gezaudert hatte, alles das herausfordernd, was er wie Schmach scheute, humpelte er denn eines Tages, die Kinder zu Seiten, die kurze Treppe hinab und durch den bereits grünenden Vorhof zum Gittertor hinaus auf die Straße, den Waldhügeln entgegen, die er sonst in leichter Jägerkleidung gern durchstreift hatte. Er hatte für den ersten Ausgang die Uniform gewählt und alle Ordensbändchen angelegt. Er bangte bloß vor dem Zusammentreffen mit Bekannten. Renz, der blonde Airedaleterrier, sprang kläffend voraus. Es ging die Gartenplanke entlang, hinter der allabendlich der »Heurigen«-Rummel lärmte, zwischen umpfählten Grundstücken, wo bereits Blütenbäume bräutlich standen, in die Weinhügel. Das »gelbe Haus« tauchte vor ihnen auf, ein schlichtes einstöckiges Gebäude im Barockstil, das mit den zwei feinen Säulen seines schlanken Vorbaus zart und duftig vom reinen Himmel sich abhob. Links senkte sich die Landschaft zum seichten Bach hinab, Rebstock an Rebstock, bis jenseits des Gerinnes Obstbäume gemach emporstiegen; rechts flimmerte der von den unzähligen Stangen zerstückte Horizont blaßviolett um die hellgrünen Gewächse, vorn aber, hinter dem gelben Haus, war nur wolkenlose Höhe, Weite, Wölbung. Aufatmend blieb er stehen, die Kinder ließen leise seine Finger fahren und eilten an die breite Ziegelmauer des Herrschaftsparks, auf deren Rand sie sich zu schwingen pflegten, um, behaglich gekitzelt von der jähen Tiefe unter ihnen, in die von Glassplittern glitzernden Fugen, auf die wimmelnden Kressen darin hinabzusehen. Er aber stand und blickte verloren in die Ferne. Er dachte an Parsifal, der am Karfreitag seinen Hader mit Gott bekennt. Wie Parsifal mochte er sich sagen, daß er es im Streiten der Treue nicht habe ermangeln lassen, daß aber Gott ihm Treue mit Untreue lohne. Da fiel sein Blick auf die Kinder, um deren blonde Häupter die lind wärmende Sonne verklärenden Glanz ergoß. Da sie bemerkten, daß er nach ihnen hinsah, lächelten sie ihm froh entgegen, und Dorl rief zärtlich: »Papa, komm, schau doch die lieben kleinen Kressen!« Aber schon auch hatte sie sich erinnert, daß dem Mühseligen jede überflüssige Anstrengung zu ersparen wäre, und kletterte eilig von der Mauer herab, der zu nahen in dem dort vom Regen tief ausgewaschenen steinigen Wege dem Humpelnden beschwerlich fallen mußte. Huberts geschmeidiger Körper hatte sich mit dem Gebrauche der Krücken bereits abgefunden, er empfand nicht, was andere beim Verfolgen seiner Bewegungen mit ängstlicher Teilnahme Brauen und Oberlippe hochziehen ließ. Und in diesem Augenblicke war ihm das Herz zu sanfter Nachgiebigkeit, zu Wohlwollen bewegt, er holperte rasch hinan und legte sich dann, während auf seinen freundlichen Wink die Kleine beschämt ihren Mauersitz neben dem auch schon sprungbereit knienden Knaben wieder erklomm, mit beiden Armen breit auf den moosigen Ziegelrand. Die Lederpolster der Krücken, die er hatte nach vorn gleiten lassen, ragten starr vor seinen Schultern.
Da er sich in die kleine Kräuterwelt zwischen den Spalten versenkte, die wahrlich eine Welt war, unabhängig fast von der größeren über ihr, dem hohen Himmel, gar dem im Tal unten fern schimmernden Strom und den blassen blauen Bergen am Rande, jubelten plötzlich die Kinder: Ein Marillenkäfer! (So hießen sie scherzhaft die niedlichen braunen halbkugeligen Tierchen, die der Volksmund Marienkäfer getauft hat.) Behutsam ließ Niki das winzige Wesen auf eines seiner feinen Fingerchen steigen. Es kroch eine Weile den ungewohnten Weg entlang, dann hob es mit eins die glänzenden Decklein, entfaltete zwei wunderzarte Flügelchen und entschwirrte. Sie sahen ihm nach … Die Gegend lag einen Augenblick unterm Schatten einer leichten Wolke … Hubert richtete sich auf und stieß die Krücken hart gegen die Steine. Schweigend folgten ihm die Kinder heim.
Am Eingang des Gartens stand Mama. Wie klein und blaß ihr grauer Kopf sich ausnahm! »Du siehst nicht gut aus, Mama.« Damit unterbrach er ihre innige Begrüßung. Er wußte, ohne es erfahren zu haben, daß sie ihn den ersten Ausgang, so gerne sie ihn darauf begleitet hätte, aus Rücksicht allein mit den Kindern hatte machen lassen, und war ihr dankbar dafür, obwohl er, wenn überhaupt wen, gerade sie dabei würde geduldet haben, freilich sich hätte Zwang antun müssen, etwa auch reden, wo er lieber geschwiegen hätte. Niemand kannte ihn besser als Mama, und er wiederum war dessen gewiß. Trotzdem war die alte Vertraulichkeit nicht mehr zwischen ihnen aufgetan. Mama zögerte mit manchem, was sie auf dem Herzen hatte, und er, der ihr's ansah, entbürdete sie nicht durch eine entgegenkommende Frage. Auch war die Fülle seiner Zärtlichkeit auf die Kinder ergossen, und ihnen neidete sie die Mutter nicht, obwohl sie manchmal mit Wehmut sich den Verlust eingestand. Daß sie seiner sicher, daß er ihr treu geblieben war, vermochte sie demgegenüber nicht als Gewinn zu schätzen. Und ihm, der ihrer oft mit überquellender Rührung gedachte, verschloß eine trotzige Scheu den Mund, dem sie die geringste Kunde solcher Gesinnung als Glück würde gedankt haben.
Grete war in der Küche beschäftigt und trat mit gelassener Heiterkeit – eine Miene, die sie, wie er feststellte, vor Mama wie vor einer Fremden zu Schau trug – aus der Türe, da sie in das Haus eingingen. Sie hatte längst auf ihn verzichten gelernt, nicht ohne eigene Schuld, da sie, ungleich ihm, der dem Augenblicke, der Stunde sich dahinzugeben neigte, Erlebnisse in sich nachdunkeln ließ und seinen raschen Ton nicht traf … Mama war gebeten worden, den festlichen Tag – die Kinder liebten »Feste« – mit ihnen zu verbringen. Grete ließ sich bis zur Stunde des wie stets zu solchen Gelegenheiten verzögerten Essens nicht sehen. Ihn ärgerte das immer wieder. Er konnte ihren guten Willen, der sich mit solchem raumgreifenden Eifer geltend machte, bloß in Gedanken feststellen, nicht herzlich würdigen, besaß keine Schonung für ihre unglückselige Art, sich von ihrem Wirken erdrücken zu lassen. Wie er Krankheit nicht mit Mitleid, sondern mit Abscheu neben sich ertrug – an sich selbst mit solcher Ungeduld, daß er sie überwand –, so war ihm alles Unzulängliche lästig, während er das Vollkommene geradezu anbetete. Er konnte einen unbekannten Menschen um der geschlossenen Form willen, in der er sich darstellte, überschätzen, eine Frau wegen sorgfältiger Haartracht rühmen und vertrug an Vertrauten nicht den Schatten einer Nachlässigkeit. Grete, so sehr sie sich zusammenzunehmen verstand, wenn es darauf ankam, ließ sich daheim in ihrem Anzug gehen. Das peinigte ihn. Und obwohl sie es wußte und unangenehm empfand, war ihrem Wesen doch der innere Formtrieb versagt, der erzwang, wozu ihr der Wille mangelte. Das stand in seltsamem Widerspruch zu ihrer geistigen Gelassenheit, die ein richtiges Fühlen für alles Sittliche adelte. Sie war eine bei tiefsten Bedürfnissen, die der innerlich einsam reifenden lange unklar blieben, von früh an vernachlässigte reine Natur, der der sanfteste und festeste Erzieher not getan hätte. Dagegen war sie an eine heftige, unduldsame Kraft geraten, die in sorgfältigster Pflege ihre Fülle mächtig hatte entfalten dürfen. Ihn hatte ihre Anmut gefesselt, die echt mädchenhafte Sprödigkeit mit bildsamer Klugheit verband. Unter leeren, einförmigen Geschöpfen eines aufeinander abgespielten Kreises war sie frisch und herb, wenn auch etwas verkünstelt aufgetaucht: er sah in ihr einen tauglichen Gegenstand seiner erzieherischen Herrschsucht, und er liebte sie um ihrer vollkommenen Weiblichkeit willen. Sie war, wie seine Mutter, die mißtrauisch und unfroh beobachtete, was sich da entspann, bald mit unbeirrbarer Wertung feststellte, ein »Schatz«, eine Fülle ungehobenen lauteren Gutes. Es mochte an ihm gelegen sein, daß manches, was sich schon hatte an die Oberfläche heben wollen, wieder in sie versank, da es mit Geduld erpflegt werden wollte, sich nicht herrisch bannen ließ. Aber mehr lag an ihr, die schon zu fertig, zu selbstsicher in seine Macht geraten war, der sie sich nicht unterwerfen konnte, obwohl sie ihr je und je erlag. Sie besaß eine stille Zähigkeit, sich zu behaupten, gegen die sein Unwille vergeblich anrannte. Was sie an ihm bewunderte, war das rein Geistige. Im Sittlichen hatte er sich, ungebärdig wie er war, zu oft Blößen gegeben. Er achtete dessen nicht, da er, selbstbewußt, nichts auf das Urteil anderer gab. Aber ihr gegenüber war er ein ewig Werdender, trotz seiner Fülle zu unfertig, als daß sie sich, wie es oft über bedeutende Frauen unbeträchtliche Männer vermögen, ihm mit ihrem Sein ergeben hätte. Sie behielt sich mit ihren Mängeln im Schatten seines ihr entwachsenden Wipfels. Die Wurzeln berührten einander nicht, aber die Stämme, obwohl sie sich nie aneinandergeschmiegt hatten, strebten so eng benachbart empor, daß kaum ein Zweig sich hätte dazwischendrängen können.
Die Festlichkeit des Mahles, dem, wie seit Monaten schon, die Fleischspeisen fehlten, bestand in der Vielfältigkeit des Gemüses und einer im Gegensatze zu seinem sonstigen spärlichen Auftreten reichlicheren Menge Reis. Auch gab es außer den zugezählten süßen Schnitten und Äpfeln etwas Käse. Hubert schenkte den begeisterten Kleinen in die Silberbecher von seinem Rotwein. Aus dem Garten waren Veilchen geholt und in kleinen Glasgefäßen auf den Tisch gestellt worden. An den Veilchen entstand ein ärgerlicher Auftritt, der den Tag über drückend fortwirkte. Hubert hatte sich einen Augenblick vorgebeugt an dem feinen Duft geweidet. Grete sagte gegen die Mutter gewendet: »Wir haben heuer so viel Veilchen im Garten gehabt wie niemals.« Und zu Hubert: »Du hast das wohl gar nicht gemerkt?« Der Vorwurf galt seiner geringen Neigung, sich draußen zu ergehen. Und sie fügte hinzu: »Die Wiese war eine Zeitlang ganz blau.« Aber Niki bemerkte mit weinerlicher Stimme: »Ja, wenn die Frau Novak nicht alle abgerissen hätte!« – »Wieso?« fragte Hubert erregt. – »Und mit einem Korb!« fügte der Kleine mehr traurig als entrüstet hinzu. – »Ich hab' dir doch gesagt, Niki, daß du dem Papa nichts davon sagen sollst!« – »Nein. Mir hast du nichts gesagt, Mama,« wehrte sich errötend der wahrheitsliebende Knabe. – » Mir hat's die Mama gesagt,« mischte kleinlaut Dorl sich ins Gespräch. – »Wie kommt die Frau Novak dazu …?« Frau Novak war die Hausmeisterin, eine fleißige, aber gewinnsüchtig-engherzige Person, die Grete nicht leiden mochte, obwohl sie ihr Achtung nicht versagte. »Warum hast du dir das gefallen lassen?« – »Das ist nichts Neues,« sagte Grete. »Da hätt' ich mir manches nicht gefallen lassen dürfen.« – »Du sollst dir auch nichts gefallen lassen … Und wenn du's tust, so werde ich's doch nicht dulden …« – »Dann hättest du längst einschreiten müssen. Übrigens wärst du gar nicht einmal dazu berechtigt.« – »Das möcht' ich doch sehen!« – »Das ist Sache des Hausherrn, nicht deine. Du hast mit ihr nichts zu tun.« – »Frechheit lass' ich mir nicht bieten.« – »Es ist keine Frechheit.« – »So? Uns die Veilchen wegzupflücken! Ich habe den Garten gemietet!« – »Da wäre manches von Anfang an anders abzumachen gewesen. Und es ist sowieso ihr Ärger, daß wir für die große Wohnung noch immer dasselbe bezahlen wie früher.« – »Ihr Ärger? Wessen Ärger? Was soll das heißen? – »Lassen wir das …« – »Nein, das lassen wir nicht. Was bedeutet das?« – »Du kennst doch die Leute …« – »Ich weiß nicht, was du meinst. Also bitte, erklär' mir das.« – »Da ist nichts zu erklären. Du weißt so gut wie ich …« – »Nichts weiß ich. Aber jetzt möcht' ich wissen, was da eigentlich vorgeht.« – »Nichts geht vor …« – »Dann red' nicht herum.« – »Du weißt, daß ich niemals herumrede.« – Gretes Nerven, von der mühsamen täglichen Kleinarbeit erschöpft, hielten die Spannung nicht aus. Sie kämpfte mit Tränen, was sie nur noch mehr erregte, und ihre peinvolle Scham über die heftige grobe Art, wie Hubert sie vor der Schwiegermutter und den Kindern heruntermachte, wehrte sich erliegend gegen den seiner selbst nicht mehr Mächtigen. Sie nahm zu einem Mittel Zuflucht, das stets die entgegengesetzte Wirkung auf ihn übte: statt ihn einzuschüchtern, erbitterte ihn das Verachtung und den Haß des Geschlechts gleichzeitig kündende Drohen ihrer starr auf ihn gehefteten Augen. Er war entrüstet über die Tatsache, daß man sich in der eigenen Behausung von untergeordneten Kräften hatte bieten lassen, was man zu verwehren Recht und Macht besäße, gerührt von des Kindes verschwiegenem Schmerz, der plötzlich zutage getreten war, verletzt von der sonderbaren Andeutung seiner Frau, als ließe sie eine abfällige, ja geringschätzige Beurteilung einer im Verhältnis zur Größe der Wohnung und der Steigerung aller Bedürfnisse wohlfeilen Mietzinszahlung immerhin gelten; vor allem aber ward er durch die ausweichende Art, wie Grete solchen Auseinandersetzungen zu begegnen unternahm, von Antwort zu Antwort nur immer mehr aufgebracht. Mama hatte mit Angst und Unbehagen das heftige Gespräch verfolgt und vergeblich den richtigen Augenblick zu erfassen getrachtet, ihm eine andere Wendung zu geben. Der Eintritt des Dieners unterbrach es. Grete benützte die erwünschte Gelegenheit, sich zu entfernen. Schweigend aßen die andern weiter. Hubert hatte das Bedürfnis, den übeln Eindruck seiner Maßlosigkeit zu verwischen. Da der Diener wieder gegangen war, brummte er: »Aber es ist auch zu arg, was sich Grete alles gefallen läßt!« – »Vor allem von dir,« sagte Mama, erhob sich und suchte Grete auf. Einige Minuten später traten beide wieder ein; Dorl schmiegte sich scheu teilnehmend an die Hand der neben ihr Platz nehmenden Mutter. Hubert würgten Reue und Groll. »Ich werde der Novak den Standpunkt klarmachen,« sagte er trotzig. – »Das unterlaß lieber,« bemerkte Grete mit Nachdruck. Und Mama meinte: »Ihr seid auf den guten Willen der Leute angewiesen.« – »Und es ist ihr ja mehr oder weniger offenbar vom Hausherrn zugestanden,« fügte Grete hinzu. »Sie bricht doch auch den Flieder und bezieht die Kirschen.« – »Von den Kirschen weiß ich, aber der Flieder ärgert mich jedes Jahr.« – »Und hast es doch jedes Jahr hingehen lassen, weil dagegen eben nichts zu machen ist.« – »Sie verkauft wahrscheinlich die Veilchen!« – »Zweifelst du daran?« – Jetzt kam es ihm so recht zu Bewußtsein, wie erbärmlich doch der Zustand wäre, den er zu dulden hatte, weil er von Anfang an versäumt hatte, ihn zu hindern. Frau und Kinder freuen sich an der lieblichen Farben- und Dufterscheinung des sonst nur kärglich blühenden Gartens; ein Weib erscheint, gegen das als gegen die Hausmeisterin die Mietleute, schon um der gestundeten Erhöhung des Mietzinses willen zur Schüchternheit verpflichtet, nicht aufzumucken wagen, stellt einen Korb hin und räumt gelassen vor ihren traurig entsagenden Augen den ganzen reizenden Schmuck des kahlen Wiesenhanges ab. Und er konnte nicht umhin, den Traum seines Herrentums vor den dankbar glänzenden Augen seines Nikolaus zu beschwören. »Ja, mein lieber Niki,« sagte er. »Wenn dein Papa könnte, wie er wollte, hätte er einen Park, in dem er mit euch täglich stundenlang spazieren ritte, auf seinem braunen Irländer zwischen euren glänzenden Ponys und hinter uns zwei Reitknechte auf ebenso herrlichen Pferden, und dann kämen wir an dem See vorbei, wo unsere Schwäne lautlos an das Ufer heransegelten, und …« – »Erzähl' doch den Kindern nicht solche Sachen, Hubert,« unterbrach ihn Grete. »Es wäre richtiger, ihnen andere Aussichten zu eröffnen.« Und Hubert fiel sogleich ein: »Wenn es auf die Mama ankäme, säßen wir schon längst in drei kleinen Zimmern irgendwo in einem kleinen Nest und …« Aber er empfand alsbald, wie sehr er ihr durch solche Herabsetzung der richtigen Einsicht in ihre Umstände Unrecht täte, und fügte plötzlich lächelnd hinzu: »Sie hat ja eigentlich recht, die Mama, denn wir sind arme Teufel geworden, und ein Krüppel wie euer Papa hat am allerwenigsten Ursache, von Pferden zu sprechen.« Nun war es an Niki, sich schmeichelnd an den geliebten Vater zu drängen. Mama aber sagte: »Euer Papa ist schon als Kind ein großer Märchenerzähler gewesen, und ihr wißt ja, daß es in den Märchen immer ganz anders zugeht als im wirklichen Leben. Da wandert der junge Schäfersohn in die Welt hinein und gewinnt die schönste Prinzessin und das halbe Königreich.« Und sie stand auf und gab ihrem alten Sorgenkind einen stillen Kuß auf den gelichteten Scheitel. »Jetzt aber, Kinder, seid ihr dem Papa die Erfüllung aller Märchen seiner Kinderzeit.« Und sie ergriff die Hände der beiden Kleinen, die von all dem Erlebten ahnungsvoll erschauerten, und legte sie sanft um seinen gebeugten Nacken.
Es nützte nichts, einmal mußte der Anfang gemacht werden: Hubert entschloß sich, Niki von der Schule abzuholen, ihn damit zu überraschen. Als er sich der Haltestelle der elektrischen Straßenbahn näherte, gab der Wagenlenker eben das Zeichen zur Abfahrt. Aber von dem Schaffner auf den Heranhumpelnden aufmerksam gemacht, wartete er. Hubert gedachte daran, wie der und jener Wagenführer, wenn er am Morgen mit seinem Knaben gelaufen kam, ohne zu zögern losgefahren war, so daß sie, da er dem Kinde während der Fahrt aufzuspringen verwehrte und selbst nicht ein schlechtes Beispiel geben mochte, obwohl er dem Kleinen noch hätte hinaufhelfen können, mit verdrossenem Verzicht den Zug sich vorbeibewegen lassen mußten. Es hatte ihn diese Rücksichtslosigkeit immer erbittert, da es den Bediensteten, wenn sie etwa Zeitung lasen, die Pfeife auszurauchen oder sich noch miteinander zu unterhalten hatten, sogar auf ein paar Minuten nicht ankam. Diesmal empfand er das schonende Harren des Aufmerksamen bloß peinlich, zumal da auch sämtliche Insassen des ersten Wagens neugierig ihm entgegenstarrten. Er war in bürgerlicher Kleidung und hatte im städtischen Mantel die Krücken noch nicht so sicher unter den Schultern. Fast wäre er beim hastigen Einsteigen ausgeglitten. Wohlwollend half ihm der Schaffner, der sich als ein Bekannter erwies. Der Sitz vorn an der Türe war noch frei; er stampfte, während sich der Wagen bereits in raschere Bewegung gesetzt hatte, eilig darauf los, weder nach rechts noch nach links blickend, das Einglas fest im Auge (er bedurfte des Glases zum Lesen, und da er den »Zwicker« haßte und Brillen aus Eitelkeit außer Hause nicht trug, war ihm das Monokel, das auch für ihn trotz jahrelanger Gewohnheit etwas Herausforderndes an sich hatte, bei seinem Zustand zur Notwendigkeit geworden). Nachdem er die Krücken in die Ecke gelehnt und einen Band Shakespeare hervorgezogen hatte, war noch das Fahrscheinlösen abzumachen, wobei er sich von dem bekannten Schaffner eines teilnehmenden Gesprächs zu gewärtigen hatte. Trotz vorgeschriebener Demokratie blieb ihm der »Herr Baron« nicht erspart, und nun hatte er Rede zu stehen. Wie es denn geschehen sei, das Unglück? Nun, er wäre beim Abspringen ausgerutscht und unter den Wagen geraten. Kopfschütteln die Feststellung: »Ja, das verfluchte Abspringen!« Aber er hatte weiter zu melden, wie hoch unterm Knie das Bein ihm abgenommen worden war, und ob es denn wirklich notwendig gewesen wäre, und ob er viel Schmerzen ausgestanden und wie's die Gnädige aufgenommen hätte. Mit freundlichem Lächeln ließ er alle Fragen über sich ergehen, gab nach Möglichkeit Bescheid und trachtete nur, so leise zu sprechen, daß nicht auch die Mitreisenden an dem Vergnügen teilnähmen. Aber es erhob sich eine männliche Gestalt hinter ihm, er ahnte bangend, daß es ihm gälte, und richtig, Herr Bratenauer, der Möbelfrächter, hatte sein Sprüchlein herzusagen und einen Händedruck mit Ehrerbietung in Empfang zu nehmen. Aber auch Frau Martinek, die Händlerin von der Ecke, mußte – bei Gott mit einer Art von Knix! – sich die Ehre geben. Inzwischen war er den Schaffner losgeworden. Endlich durfte er seinen Shakespeare aufschlagen. Aber es wollte ihm nicht gelingen, seine Aufmerksamkeit dem geliebten »Sturm« zu widmen. An der nächsten Haltestelle, vom Barackenspital kommend, stiegen zwei jüdische Ärzte in militärischer Uniform ein, die knapp neben ihm sich aufpflanzten und eifrig einen »Fall« besprachen. Zwei ebenso unangenehme Stimmen hinter ihm hatten Politik getrieben, von der sie eben zur Börse abschwenkten. Hinten im Wagen verkündete eine schrille Weiberstimme, daß sie sich irgend etwas jetzt nicht mehr werde gefallen lassen: »Die Zeiten san vorüber, meine Liebe!« – Ein junges Mädchen, das später an ihn herangedrängt wurde, hielt ein Heft einer allerneuesten literarischen Zeitschrift in den Händen; die Nähte ihrer Handschuhe waren aufgetrennt, die Stöckel ihrer Schuhe schief einwärts vertreten. Ihr Gesicht sah er nicht erst an. Auf der Straße gab's das gewohnte Bild: gemeine Häuser, häßliche Menschen und arme Zugtiere, dazwischen immer wieder Automobile mit zurückgelehnt rauchenden Insassen. Endlich war er am Ziel. Er schwang sich geschickt auf den Krücken hinab und lenkte, vorsichtig die durcheinanderfahrenden Straßenbahnwagen und sonstigen Gefährte vermeidend, auf den Bürgersteig.
Es waren sonderbare Gefühle, die ihn bewegten, als er sich wieder in dem hoch von Häuserwänden eingeschlossenen Hofe der alten Anstalt befand. Arglos hüpften Sperlinge auf dem von einigen Kastanienbäumen bestandenen eingezäunten kahlen Grasfleck, der die Mitte des stillen Platzes einnahm. Sich gegenüber sah er die plumpe schwarze Tafel, die in breit aufgesetzten weißen Buchstaben den Namen »Gymnasium« trug; ein dicker Punkt endigte die altmodisch ehrwürdige Reihe. Wie oft hatte er harrend diesen guten jovialen Punkt betrachtet, der ihn stets träumisch in die eigene Schulzeit entführte! Denn hierher war er ja selbst gewandert acht Jahre lang, manchmal – zu mathematischen Schularbeiten – mit Angst, meist mit dem unklaren Behagen des Selbstverständlichen, oft, zumal an schönen Frühlingstagen, im leichten hellbraunen Überrock, mit seltsamer Lust, nie mit Abneigung. Er liebte die enge steile Treppe mit den von unzähligen Kinderfüßen ausgetretenen Steinstufen, liebte die Absätze der Stockwerke, die, nach den Schulklassen verteilt, Abschnitte des aufsteigenden Lehrganges bedeuteten, liebte die schmalen, mit klappernden Steinfliesen belegten Gänge, die nüchtern gestrichenen breiten niedrigen Türen, auf deren tiefen Dielen man als Zuspätkommender noch einen Augenblick zu verweilen pflegte, dem geheimnisvoll gedämpften, manchmal von der beherrschenden Stimme des Lehrers überflogenen lebendigen Geräusche da drinnen zu lauschen; er hatte den anhaltenden Schall der vom Schuldiener mächtig gerührten Glocke geliebt, die oft Befreiung kündigte, nicht selten aber auch Verzweiflung bedeutete, wenn ihr durchdringender Klang unabwendbar, unerbittlich die noch nicht beendigte, mit qualvoller Hast zuletzt in Sprüngen geförderte Arbeit zerschnitt (er hatte es als Barbarei empfunden, als, wie ihm Nikolaus bedauernd berichtete, statt der alten treuen Gefährtin so vieler Geschlechter ein elektrisches Läutewerk eingerichtet worden war). Heute wollten ihm, der unterm Torbogen seine Zigarette rauchte, diese heimlichen Erinnerungen nicht recht hervorschwärmen, er hatte zu viel mit der Überwindung des Zeitraumes zu schaffen, der ihn vom letzten Male, da er hier gewartet hatte, schied. Heiter hatte er damals den wie stets mit frohem Lächeln auf ihn zueilenden Niki unter den Arm genommen und seinen schweren Bücherpack am Henkel ergriffen, war mit ihm in angelegentlichem Schulgeplauder zur Haltestelle geschritten, vorsichtig nach allen Seiten die Gefahren des Straßenüberganges überschauend. Und am Nachmittage war ihm das Unglück zugestoßen, da er nach vollbrachter lästiger Höflichkeitspflicht heimwärts eilte. Inzwischen war ihm sein geliebter Bub, den er niemals jemand anders, ungern sogar seiner Frau anvertraut hatte, zur Selbständigkeit entwachsen: die Kindheit, das fühlte er trotz der herzlichen Anhänglichkeit, die ihm der Knabe bewahrte, war vorüber, war von jenem Unfall grausam geendigt worden, der das unbedingte süß vertrauende und selig gewährte Abhängigkeits- und Hutverhältnis zwischen den beiden zerrissen hatte. Denn bis dahin war Niki ganz sein, war völlige Hingabe ein Stück Weltordnung gewesen; ohne den Papa zur Schule zu gelangen, hatte Unmöglichkeit geschienen, nun aber war das Kind, das Grete nicht stets hatte begleiten können, erst versuchsweise, allmählich öfter, endlich immer allein zur Stadt gefahren, hatte sich, anfangs unsicher-neugierig, dann mit wachsendem Selbstbewußtsein, der Aufgabe froh, in das Neue hineingefunden, das es längst als etwas Selbstverständliches hinzunehmen sich gewöhnt hatte.
Das Glockenzeichen ertönte. Einige Mütter und Kinderfräulein, die da und dort in kleinen Gruppen gestanden hatten, machten unwillkürlich ein paar den Ankömmlingen entgegenführende Schritte vorwärts, der und jener Hund zog drängend an seiner Leine. Hubert richtete sich straff empor. Er fürchtete sich ein wenig vor der erbarmungslosen Neugier der Knaben, die ihn hier zumeist in Reiterstiefeln gesehen hatten. Schon erschienen eilig, hüpfend die Vorzügler. Allmählich schob sich Häuflein nach Häuflein der Entlassenen aus dem engen Tor, dessen zweiter Flügel von einem älteren Zögling geöffnet worden war. Ängstlich fast forschten Huberts Blicke nach seinem Buben … Da durchfuhr's ihn warm: die lässig-weiche Gestalt des Hochaufgeschossenen schritt heran. Noch hatte ihn der Knabe nicht bemerkt. Huberts Auge hing an den wiegenden Bewegungen des Harmlosen. Plötzlich, wie angezogen, schlugen sich die gutmütigen Augen zu ihm auf, und ein Strom von Freude und Weh überflutete die offenen Züge. Im nächsten Augenblick lag ihm Niki an der Brust und umschlang mit dem einen Arm, ihn zärtlich zu sich herabziehend, seinen Nacken, während die Rechte unbewußtermaßen wie sonst das schwere Bücherbündel der gern zulangenden Hand des Vaters überantwortete. Sogleich aber auch wollte er es wieder an sich nehmen, denn hart hatte die standsuchende Krücke auf dem Pflaster aufgestoßen. »Laß nur. Ich kann schon,« meinte Hubert, selig über den Eindruck, den er auf seinen Buben gewirkt hatte. Und nun wandelten sie wieder Seite an Seite, und Niki wußte sich so geschickt dem an der Krücke zugreifenden Arm anzuschmiegen, daß es schien, als bestände gar kein trennendes Stück Holz zwischen ihnen.
Als sie um die Ecke des grauen Gebäudes bogen, zog ein leiser wehmütiger Klang ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine kleine Mundharmonika, die ein bettelnder Soldat mit zitternden gelben Händen an seinen Lippen entlang zog. Der armselige Mensch saß an der Erde. Beide Beine fehlten ihm vom Knie abwärts. Er war blind, und der jämmerliche Rest seines in eine zerschlissene Felduniform gehüllten Körperchens bebte in Nervenkrämpfen. Im Schoße lag ihm die Kappe. Ein vierschrötiger junger Mann, den Wickelgamaschen und ein grauer Militärmantel auch als »Heimkehrer« kennzeichneten, sagte laut zu seinem ländlichen Begleiter: »Hast g'hört, die Spitäler wer'n ab'baut? Damit no' mehr solche 'rumsitzen und wogeln (wackeln).« Hubert schauderte. Er blieb stehen und holte mühsam seine Börse hervor. Eilig, beschämt, riß er einen Geldschein hervor und gab ihn Niki, der sich scheu über den traurigen Musikanten beugte. Dann drängte er sich wieder innig an den Vater. »Ja, mein guter Niki, es gibt ärgere Krüppel als deinen Papa.« Und da sie eben vor der Dreifaltigkeitskirche standen, zog er den Knaben unmerklich nach der Schwelle hin. »Wir wollen Gott danken, daß es so ist und daß wir einander haben.« Sie traten in den dämmerigen Raum, in dem nur wenige Beter standen. »Niederknien kann ich nicht, aber du tust es für mich, nicht wahr? Und bitt' auch für die Großmama und die Mama und unsre Dorl.« Schweigend, während Niki andächtig kniete, betrachtete Hubert die stille ragende Halle. Sein Herz war weich. Da sich der Knabe auf sein Zeichen erhoben hatte, küßte er ihn stumm. Er wollte ihm eine Freude bereiten und sah die Schaufenster entlang, an denen sie vorüberkamen. Aber die ausgestellten Dinge, Eßwaren, Kleidungsstücke, Schmucksachen, waren sämtlich so teuer, daß er sich nicht dazu entschließen konnte, irgendwo vorzusprechen. Unauffällig zwischen einem großen Wäschegeschäft und einem überfüllten Kamm- und Parfümerieladen zwängte sich eine schmale Altbücherhandlung, deren Besitzer ihm von früher bekannt war. »Schauen wir dahinein,« sagte er und wußte sich der freudigen Zustimmung des kleinen Bücherfreundes sicher. In dem engen Raume, der bloß durch die Türe Licht erhielt, häuften sich aus den Borden quellend Bücher vom Boden bis an die Decke. Herr Brecher begrüßte den seltenen Gast mit schlichter Ehrerbietung und sichtlicher Freude. Nur ein bescheidener Blick streifte die veränderte Erscheinung. Alsbald aber nahm er Anlaß, sich glückwünschend des frischen Knaben zu freuen und also Freude zu bereiten. »Was haben Sie Schönes, Herr Brecher?« fragte Hubert, und der kurzgeschorene, fast kahle Kopf des mageren Antiquars wanderte bereits über seine Schätze hin, davon er diesen und jenen Stoß vor seinem erfahrenen Besucher auseinanderlegte. Hubert wählte ein niedliches lateinisch-deutsches Wörterbuch in Duodezformat mit gelbem Schnitt und eine mit sauberen Kupfern geschmückte Weltumseglung für den begeisterten Nikolaus, einen wohlerhaltenen Band der » ibliothèque rose« für Dorl. Aber er konnte sich's nicht versagen, noch einen biegsamen grünen Lederband, den Vicar of Wakefield, mitgehen zu lassen. In gehobener Stimmung traten sie wieder in den Sonnenschein, der die belebte Gasse erfüllte.
Aber es war nicht immer so wie an diesem holden Tage. Hubert hatte, empfänglichen Gemüts und lebhaften Willens, nach dem beglückenden Erlebnis des ersten Stadtbesuches beschlossen, wieder wie früher Niki zur Schule zu begleiten. War aber schon sonst die Zeit vom Aufstehen bis zum Aufbruch knapp genug bemessen gewesen, so langte sie jetzt, da sein Ankleiden weitaus umständlicher vor sich ging, nur in aufregender Hast zum Notwendigsten. Gleich am ersten Tage waren sie zu spät zur Bahn gekommen, und Hubert, der, um dem Knaben Bestrafung zu ersparen, einige die Säumnis entschuldigende Worte auf eine Besuchskarte schreiben wollte, sah sich, da sie auf einer entfernteren Haltestelle den aus anderer Richtung zur Stadt fahrenden Zug noch glücklich, aber außer Atem erreicht hatten, im überfüllten Wagen außerstande sein Vorhaben auszuführen. Er mußte mit dem erhitzten Buben auf der Plattform im Gedränge stehenbleiben. Schon in gesunden Tagen hatte ihm diese Lage eine der demütigendsten geschienen, deren sich ein Mensch von Feingefühl überhaupt versehen konnte. Eingepfercht zwischen ungepflegten Menschen, die Nase über unerquicklichen Gerüchen, den empfindlichen Fuß im geputzten Schuh stets in der Gefahr eines schmutzenden Trittes, von den Erschütterungen der bald ruckweise zögernden, bald hinsausenden Fahrt immer wieder aus dem Gleichgewicht und so in noch nähere Berührung mit sonst gemiedenen Mitmenschen gebracht, hatte er beschämende Qualen ausgestanden, wozu die Sorge um das Kind, Ansteckungsvorstellungen und unterdrückter Ärger über rohe Regungen der Ichsucht sich gesellten. In seinem nunmehr natürlicherweise behinderten Zustand waren alle diese Unannehmlichkeiten bedrohlich emporgediehen. Und auf das schmerzlichste empfand er, daß er, wie es ihm alsbald lebhaft zu Bewußtsein gekommen war, seinem Sohn in nichts nütze sein konnte, wohl gar zur Last werden mochte. In seinem Unmut kam ihn die Lust zu rauchen an, deren Befriedigung er sich jedoch versagen mußte, da es unmöglich schien, die Hantierungen zu erledigen, die zu diesem Ziele führten. Auch die Zeitung war er gehalten ungelesen in der Tasche stecken zu lassen. Gegen das Ende der qualvollen Reise bot ihm ein Mädchen seinen Sitz an. Er errötete wie ein Kind über diese unbefangene Bestätigung seiner Hilfsbedürftigkeit und lehnte höflich ab. Als sie den Wagen verlassen und eine kurze Strecke gehastet hatten, bat Niki schüchtern, ihn vorauseilen zu lassen, da es schon auf acht Uhr ginge. Er gestattete es nach einem halbwegs erstaunten Zögern, ließ sich von dem ängstlich Fortdrängenden flüchtig die Backe küssen und sah dem Davonlaufenden traurig nach. Wozu hatte er ihn begleitet? Er hatte ihn bloß gehemmt. Solange die geliebte Gestalt ihm sichtbar blieb, verfolgte er jede ihrer Bewegungen und war einen Augenblick lang beglückt, da Niki sich, ehe ihn eine Ecke ihm entziehen mußte, freundlich grüßend nach ihm umwandte. Er hatte mit krankhafter Scheu, wie das ihm seit Jahrzehnten zur leidigen, aber unbezwinglichen Gewohnheit geworden war, ein »Orakel« daraus gemacht, ob sich der Knabe nach ihm umwenden würde: nun war er befriedigt … Da er nun einmal in der Stadt war, suchte er den Friseur auf.
Herr Binder begrüßte den geschätzten Stammgast mit Wärme. Wohl konnte er nicht umhin, »sein Beileid« auszusprechen (es war, als wäre Hubert ein teurer Verwandter, das rechte Bein, abgeschieden), und daran knüpfte sich der unvermeidliche Bericht von dem Unfall. Aber dann gab's doch dem Manne Näherliegendes zu berichten: auf ihm, dem Sechzigjährigen, und seiner Frau, die ihm an die Hand gehen mußte, lag die ganze Arbeit. Die Gehilfenschaft des Gewerbes hatte gleich den andern Angestellten die Gelegenheit zum Ausstand ergriffen. Man hatte, um den verschönerungsbedürftigen Mitmenschen den guten Willen zu erweisen, sogenannte »fliegende Rasierstuben« errichtet, wo die Besucher statt regelrechten Entgelts nach Belieben freiwillige Spenden leisteten; die Meister, die dem Begehren nach der Verdoppelung des Lohnes Widerstand leisteten, wurden von Rotten der Dienstweigerer an der Ausübung Ihres Berufes gehindert, ja bedroht. Der Zustand hielt bereits einige Tage an. Erst hatte Herr Binder gleich den meisten seiner Genossen seine Werkstatt geschlossen gehalten, endlich aber sich doch dazu entschlossen, dem Verdienst auf eigene Faust nachzugehen. Nun ergoß die Frau über den Gast den Schwall ihrer Beschwerden. Der Unfug sei heillos. Schmählich aber wäre das Benehmen der Behörden, die ihn duldeten. Seien das etwa Gewerbeberechtigte, die sich da zum Schaden der steuerzahlenden Inhaber des Handwerks seine Ausübung anmaßten? Und welche Gefahr für das Publikum! Da werde über Hygiene hin und her geschrieben und verordnet, aber den Freibeutern lasse man die sorglose Hantierung hingehen. Die Bartflechte verbreite sich bereits seuchenartig. Wo bleibe die Gewerbepolizei, wo überhaupt Gesetz und Sicherheit? Aber in diesem Jammerstaate sei ja nichts mehr zu erwarten, es müsse alles zugrunde gehen, wo vor der Frechheit und der Gewalttat ohnmächtige Gernegroße Schritt für Schritt zurückwichen. Herr Binder brachte nur hin und wieder eine seiner gelassenen Bemerkungen an. Er war einst Balletttänzer gewesen und trug seinen ergrauenden »Kaiserbart« mit Anmut und Würde. Er vermochte aus der ihm gewohnten gemessenen Art, den eingeseiften Kunden mit halblauter »Konversation« zu beschenken, nicht plötzlich zu aufwieglerischer Entrüstung überzugehen. Sein gelbes Weib ersetzte die ihm mangelnde Gabe reichlich durch ihre übersprudelnde Beredsamkeit. Hubert fiel mitten unter dem schrillen Geräusch ihrer atemlosen Stimme eine stille Frühlingsmondnacht ein, die er in Rußland auf der Wacht in lebhaften Vorstellungen von der fernen Heimat verbracht hatte, und unmerklich ging diese Erinnerung über in eine andre aus alten Tagen, da vorm Fenster seines stillen Gemachs in der »Villa« der traumhaft süße Schlag der Nachtigall sein schon versinkendes Bewußtsein noch eine Weile überm Rand des Schlafes erhielt … Er sah im dunkeln Spiegel sein Gesicht, darunter den weißen Mantel, ihm fielen die Augen zu … Plötzlich schwieg der zahme Kanarienvogel, der, von ihm unbemerkt, all die Zeit über hoch auf dem Simse der hölzernen Wandverkleidung aus voller Kehle gesungen hatte; er öffnete die Augen, ihm war, als hätte er ein andres Leben verbracht …
Aus dem Laden tretend, stieß Hubert geradezu mit einem dicken Manne zusammen, der sich kaum zu entschuldigen begonnen hatte, als sie gleichzeitig einander erkannten: es war Rudi Merz, seit kurzem als Sohn seines Vaters, des Großindustriellen und vormaligen Herrenhausmitgliedes, Freiherr von Merz, Schulfreund, Regimentskamerad und als Ministerialbeamter Kollege des Gleichaltrigen, ein seit je bedenkenloser Lebemann, dem Trunk und dem Spiel ergeben, als Spaßmacher hocharistokratischer Kreise einigermaßen anrüchig, aber in seiner Dickhäutigkeit unverwüstlich und mit ererbter Geschicklichkeit jeder Lage gewachsen, ja gebietend. Hubert hatte den Genossen mancher übermütiger Gelage in den letzten zehn Jahren selten gesprochen, im Kriege während eines Urlaubs an Kaisers Namenstag beim festlichen Gottesdienst im Dom mit einiger Bitterkeit festgestellt, daß der in bequemer Heimatbetrauung Geborgene dennoch gleich ihm zum Rittmeister war befördert worden und im Waffenrock des vornehmen Regiments, bei dem zu verbleiben ihm durch Gunst gelungen war, unter den Würdenträgern, die bei solcher Gelegenheit als friedliche Reserveoffiziere aufzutreten pflegten, sich mit einem ausländischen Halsorden breitmachte. Aber er konnte, wie damals, da er über den ihm großartig Zunickenden schließlich doch lächeln mußte, auch heute nicht umhin, festzustellen, daß er den ausgezeichneten Darsteller seiner selbst nicht ungern wieder einmal erblickte. Rudi gab mit der ihm eigenen komischen Haltung den Gerührten. »Alter Freund,« rief er mit dem Pathos eines Heldenvaters, »aber wie mich das freut, dich endlich einmal meiner ganz besondern Hochachtung versichern zu dürfen! Nein, Spaß beiseite« – obwohl es wirklich bloß dem allzeit Spaßhaften möglich war, dem Zusammentreffen mit dem verstümmelten Gefährten von einst irgend etwas Spaßhaftes abzumerken – »Spaß beiseite, alle Hochachtung!« Er fuhr mit der gepolsterten Hand gönnerhaft über die Brust des wirklich wie unter einer Gnadenbezeichnung Errötenden: »Alles voll da, natürlich!« (Er meinte die Auszeichnungen.) Dann mit einer Miene des wohlwollenden Vorwurfs und mit Kopfschütteln nach der Stelze deutend: »Schwere Verwundung, was?« Es war Hubert peinlich, ihn aufzuklären: »Ah, was!« rief der behagliche Schätzer tapfern Verhaltens vor dem Feinde: »Nicht im Krieg zugezogen? Schade, schade! Geradezu ein Pech … Aber, lieber Alter, nun kommst du mit mir auf ein Fläschchen … Mach' keine Umstände … Mir darfst du das nicht abschlagen … So ein seltenes Vergnügen! Und in den Sauzeilen … Na, was sagst du zu diesem … Staat? Wirklich eine Schand', daß man noch da ist!« Hubert war eigentlich froh darüber, daß sie sich endlich in Bewegung setzten, denn die unbekümmert, ja geflissentlich laute Art, zu sprechen, war ihm hier auf der Gasse peinlich: jeder Vorübergehende wendete nach der auffallenden Gruppe den Kopf. So ließ er sich denn von dem in heiterer Entrüstung Fortdeklamierenden in eine nahe Weinstube bringen, die zu dieser Vormittagsstunde nur noch von wenigen vereinzelten Gästen besucht war. Rudi, der hier in dem Ansehen stand, das ihm Bedürfnis war, bestellte sogleich als Einleitung zwei »Feingespritzte«, um mit dem Wiedergefundenen – er tat, als hätte er den ihm im Grunde Gleichgültigen seit geraumer Zeit eifrig gesucht – auf »bessere alte Zeiten« anzustoßen. Es folgte eine große Flasche eines schmackhaften Weißweins, zu dem Sardinen und Heringe aufgetischt wurden. »Habt ihr keine Butter?«, rief der Joviale dem in weißer Leinenjacke aufwartenden Kellner zu. Und auf das bedauernde Lächeln des über diesen guten Scherz Erfreuten: »Schämt's euch! Wozu gibt's denn ein'n Schleichhandel!« – »Weißt, das ist mein tägliches Frühstück,« wandte er sich an den mit einigen Gewissensbissen Zulangenden. »Was soll man machen in den grauslichen Umständen? Aber jetzt laß dir erzählen. Im Vertrauen: wir haben ja alle verloren, es ist eine Schmach, aber das Pech, das ich gehabt hab', ist geradezu himmelschreiend. Denk' dir, ich bin schon daran gewesen, aber nicht nur so, auf dem Papier, sondern wirklich auf Ehre, der Nachfolger des N. zu werden (er nannte einen bekannten Mann, der eine hohe Hofstellung bekleidet hatte). Und da muß die ganze Geschichte zusammenkrachen! Es ist zum Weinen.« Ein großer schlanker Mensch in enganliegender Kleidung, mit glatt gescheiteltem Haar und scharfen Zügen war eingetreten und hatte seinen zerstreuten Blick rundum wandern lassen. »Ah, da schau her!« rief der fast zur Exzellenz beförderte Anhänger des Alten. »Der Tontschi!« Major Graf Senckenberg, Hubert von früher aus dem Fechtklub flüchtig bekannt, trat an den Tisch, von dem sich Rudi schwerfällig erhoben hatte, um, eine Hand in der Hosentasche, die Unterlippe aufgeworfen, den Ankömmling auf das vertraulichste, aber ohne Gönnermiene zu begrüßen. Es war Hubert klar, daß die freundschaftliche Wärme des unverschämten Lebenskünstlers unter dem Eindrucke willkommenerer Gesellschaft merklich abnehmen müßte, und er wollte sich der Demütigung nicht aussetzen, die er sich, mochte sie in noch so verbindlichen Formen an ihm geschehen, zuzuziehen nicht ermangelte, wenn er länger bliebe, als dem Snob erwünscht wäre, damit er vor ihm mit der Herzlichkeit dieser Beziehung prunken könnte. Andererseits wollte er aber nicht etwa durch plötzlichen Aufbruch den Anschein erwecken, als scheute er eine Gemeinschaft, der er sich in irgendeiner Hinsicht nicht gewachsen fühlen würde. Graf Senckenberg, von Rudi mit einem Gemisch von angelernter Förmlichkeit, schlechtgespielter Laune und einiger im Blute sitzenden Verlegenheit dazu genötigt, nahm mit steifen Bewegungen an dem Tische Platz, musterte seine mageren gepflegten Hände und fragte dann, mit flüchtigem Blick die Flasche streifend: »Was trinken die Herren da?« Rudi erging sich sofort in abfälligen Benennungen des Weines, der ihm bis dahin nicht übel gemundet zu haben schien, und rief in kalt geblasenem Übermut über zwei Nachbartische hinweg, den roten feisten Kopf zurückgelehnt, dem Kellner zu: »Herbei, Karl, herbei! Das ist ja ein Mordsgesöff! Habt ihr denn nichts Anständiges zu trinken?« Es ergab sich, daß Rheinwein zu haben wäre, um einen fabelhaften Preis, wie Hubert aus der auf dem Tische liegenden Getränkekarte schon ersehen hatte. »Her damit!« Aber Graf Senckenberg hatte seinerseits sehr gemessen die Karte zur Hand genommen und eine kleine Flasche ungarischen Rotwein bestellt, die wohlfeilste Sorte. Hubert zog die Uhr und bemerkte, zu Rudi gewendet, daß er nur noch eine Weile zu bleiben in der Lage wäre. – »Du wirst mich doch nicht mit dem Nierensteiner sitzen lassen, Verräter?« – »Den wirst du schon allein bewältigen. Auch wär' er mir zu teuer.« Er sagte das mit wiedergewonnener Sicherheit. (Sein festsitzendes Einglas war ihm eine Stütze.) »Unser Freund Merz scheint unter die Kriegsgewinner gegangen zu sein,« schloß sich ihm der Major an. »Sag' lieber Friedensverlierer, das dürfte eher stimmen,« grolle der Joviale. Und da ihm soeben die Flasche gebracht wurde: »Aus purer Verzweiflung!« Und er wollte den beiden andern einschenken. Graf Senckenberg legte die Hand über sein Glas: »Danke, danke. Ich nehm' nicht.« Er goß sich von seinem Rotwein ein. Hubert hätte es Ziererei geschienen, sich, jenem nachahmend, zu sperren. Er trank das Glas leer, rief dann den Kellner, bezahlte sein Teil an dem vorher Genossenen, was Rudi, scheinbar ohne es zu bemerken, geschehen ließ, und erhob sich. Verbindlich machte ihm der Major Platz, mit keinem Worte seiner Beschädigung gedenkend …
Es blieb ihm noch mehr als eine Stunde Zeit, Niki abzuholen. Hubert war unschlüssig, was er beginnen sollte. Er entschied sich dafür, seinen Rechtsanwalt aufzusuchen, auch einen Schulfreund; er hatte sowieso mit ihm einiges zu besprechen. Das Haus, in dessen viertem Stockwerk dieser seine Kanzlei innehatte, gehörte einem unternehmenden Vetter von Huberts Frau. Es war in dem wüsten Zierstil errichtet, der als gemeiner Nachzügler der in den neunziger Jahren blühenden »Sezession« das Bild der alten einst so schönen Stadt vollends zerstört hatte. Im Käfig des Aufzuges fuhr er in dem schmalen, von Geschäftsräumen starrenden Gehäuse der »ersten Stiege« empor. Der Freund war nicht zugegen, aber sein Teilhaber kam ihm auf seine Anmeldung hin entgegen und lud ihn ein, näherzutreten. Da es Hubert darum zu tun war, die Frist bis zum Ende von Nikis Unterricht auszudauern, war ihm die Aufforderung willkommen. Dr. Berthold Eckstein, ein dürrer Mensch mit einem schlaffen Bäuchlein, räumte mit knochigen Händen Aktenstöße von den zwei türkisch gepolsterten Lehnstühlen, die sein sonst kahles Gemach zu verschönen sich mühten. Es ergab sich zunächst ein Gespräch über die politische Lage. »Was wollen Sie,« sagte Dr. Eckstein, »es war die höchste Zeit, daß das alte Regime beseitigt wurde. Ich bitt' Sie, was war das für ein Zustand, wo unsereiner nur mit Herzklopfen in einem Amt hat vorsprechen können!« Da Hubert sein Erstaunen äußerte und darauf hinwies, daß er doch selbst Beamter gewesen sei und nichts dergleichen weder bemerkt noch selbst je sich herausgenommen hätte, fuhr Jener mit schlenkernden Bewegungen seiner lang herabbaumelnden Arme fort: »Ich kann nur aus eigener Erfahrung sprechen. Aber andre können's Ihnen bestätigen, wie viele Sie wollen. Der Übermut der Herrn Beamten war einfach unerträglich geworden. Ich red' gar nicht vom Wartenlassen, als hätt' man seine Zeit gestohlen, während die Herren um halb elf daherspaziert gekommen sind. Aber die Behandlung, der Ton, und dabei die Ignoranz in all und Jedem! Es war der reine Vormärz.« In Huberts, durch langjährige Liebe genährter Vorstellung erstand ein traumhaft schimmerndes Bild des von Dr. Eckstein geschmähten »Vormärz«, für ihn einer der lieblichsten Ruhepunkte geschichtlicher Erinnerung, eine Seit stilvollen Gleichmaßes und Einklangs von Land und Gesellschaft, Bauten, Trachten und Sitten, eine begnadete Zeit des Friedens und aller friedlichen Künste … Dr. Eckstein, der eher zum Zynismus als zum Pathos neigte, ließ auch die Gegenwart nicht eben gelten; für die politischen Machthaber hatte er bloß ein verächtliches Achselzucken, wobei er die mit dicken rötlichen Lidern halb bedeckten Augen vollends schloß und mit den ebenso dicken blassen Lippen eine Art von Zischen hervorbrachte. Hubert beklagte es, nicht sogleich nach dem Umsturz die Stadt verlassen zu haben, die täglich ungemütlicher werde. Dr. Eckstein bekannte, daß er Frau und Kind längst auf dem Lande bei Milch, Butter und Eiern geborgen hätte. Hubert sagte seufzend, daß seine Kinder derlei Lebensmittel seit Monaten nicht zu Gesicht bekommen hätten. Es fiel ihm ein, und er sprach es aus, daß Dorl sich nicht mehr an einen »Gugelhupf« erinnern könnte, und daß Niki, der als kleiner Kerl mit allgemein belächelter Leistungsfähigkeit ein großes »Wiener Schnitzel« habe verzehren können, sich das Stückchen Schokolade, das die Kinder abends ins Bett erhielten, auf »festliche Gelegenheiten« spare und davon nicht abzubringen wäre. Man kam auf die Verkäufe zu sprechen, die Hubert wie die meisten seinesgleichen von Zeit zu Zeit vorzunehmen sich genötigt sah, um seinen Bankschulden abzuhelfen. Dr. Eckstein mißbilligte die Verkäufe höchlich. Für die Schulden hatte er bloß ein verächtliches Achselzucken. Er war für ausländische Auftraggeber als Aufkäufer wertvoller Besitztümer tätig und bekannte, es wäre ein Jammer, wie die Stadt geplündert würde. Als Kenner sowohl des Kunstgewerbes wie von Bildern, Schmuck und Büchern sammelte er selbst und rühmte sich einiger vortrefflicher Erwerbungen. Auch Dr. Anton Klimesch, sein Teilhaber, Huberts Schulfreund, kaufe allerlei. Dr. Eckstein gab nebenbei zu verstehen, daß Klimesch an der Börse spiele. »Ich bitt' Sie, wer tut das heute nicht!« erläuterte er. Hubert erinnerte sich daran, daß Anton Klimesch schon als junger Mensch das Einkommen aller Bekannten, die Mitgift aller heiratsfähigen Mädchen gewußt hatte. Ihm fiel Rudi Merz ein, dem jener als einziger im Tarock standzuhalten gewußt hatte.
Anton erschien. Er war blond, untersetzt und bleich. Seine Gesichtszüge hatten etwas Starres, Gleichgültig-Maskenhaftes. Erregt fuhr er sich durch das schüttere Haar. Er hatte mit einer Bankvereinigung über die einer jungen Erwerbsgesellschaft zu erteilende Geldhilfe verhandelt und nichts erzielt. Ein ehrliches Geschäft sei nicht mehr durchzusetzen. Alles sei auf Schieberei aus. Hubert fragte nach Zustand und Aussichten einer kleinen Unternehmung, an der er sich durch Vermittlung Antons mit dem Erlös aus einem voreilig abgeschlossenen Hausverkauf beteiligt hatte. Klimesch setzte eine schmerzliche Miene auf, die eine Zeitlang in seinem Antlitz stehenblieb, und verhieß Trübes. Dr. Eckstein empfahl sich, da er ans Telephon gerufen worden war. Im Abgehen erzählte er noch rasch einen jüdischen Witz, der ihm als Gleichnis angebracht schien. Hubert empfand die geistige Luft dieser niedrigen Stuben – man hatte daraus eine schwermütige Aussicht über lauter Dächer hinweg auf den Himmel – als drückend und leer zugleich. Der Freund hatte sich noch mit einiger Teilnahme zu seinem Unfall geäußert, dann aber von eigenen Sorgen zu sprechen begonnen. Er sah wieder einmal den Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft unmittelbar bevorstehen.
Hubert stolperte verstimmt und mühsam die vier Stockwerke – mit dem Zwischen- und dem Erdgeschoß waren es ihrer sechs – hinab und langsam zur Schule. Im engen Hof war es still wie in alten Zeiten. Die Sperlinge – wie zierlich und anmutig doch so ein Vogel war! – hüpften auf dem kleinen Grasrund. Der dicke Punkt hinter den weißen Buchstaben »Gymnasium« stand so ehrsam-drollig da, als gäbe es nur die ehrwürdige Lateinschule auf der Welt. Wenn man's den Kindern erhalten könnte! dachte Hubert bekümmert. Eine Last lag auf seiner Brust.
Es war also – davon hatte ihn das erste Mal überzeugt – nichts mit Nikis Morgenbegleitung. Von der Schule konnte er ihn immerhin abholen, aber das geschah sozusagen bloß zu seinem Vergnügen, denn wenn das Kind früh allein zur Stadt fahren durfte, mochte es ebenso auch zurückkehren. Und so gern seine Fürsorglichkeit jegliche Mühsal überwunden hätte, so wenig lag ihm an solchen gelegentlichen Gastrollen. Er überließ es daher Grete, den Knaben heimzuholen, und da ihn nun nicht nur nichts zur Stadt zog, sondern die Vorstellung mit Grauen erfüllte, allmählich allen mehr oder weniger lästigen Bekannten wieder zu begegnen, blieb er überhaupt zu Hause und trachtete eine regelmäßige Tätigkeit einzuhalten. Der Frühling gestattete auch allmählich das Verlassen der beheizbaren Räume, er saß stundenlang in seinem Bücherzimmer, las und schrieb. Aber er brachte nicht mehr die Geduld auf, ein größeres Werk durchzulesen, und was er aus seinen Kriegserinnerungen darzustellen versuchte, schien ihm hinterher nichtig. Erst wenn Niki daheim war, empfand er sich halbwegs nützlich, wenn auch nicht notwendig: er lernte mit dem Knaben. Das ergab jedoch bald Unannehmlichkeiten, da das aufgeweckte, aber ebenso erregbare Kind seinem eindringlichen Lehrgang durch Zerstreutheit sich immer wieder unwillkürlich entzog, ihn zur Ungeduld reizte und, hart angelassen, in Tränen ausbrach. Wenn ihn dann Grete in Schutz nahm, versteifte sich Huberts Unwillen zu hartnäckiger Strenge, und Niki begann die sonst so gemütlichen Stunden an seinem weißen Pult allmählich zu fürchten, was ihn dem Vater entfremdete. Dorl war scheue Zeugin der oft nur zu heftigen Auftritte; bloß einmal hatte sie sich, dem Beispiel der Mutter folgend, des bedrängten Bruders fast stürmisch angenommen und war, mit dem Gescholtenen zugleich verwiesen, stolz in unfügsamer Märtyrerschaft verharrt. Als nun gar Mama, deren Kommen allem Lernen ein Ende machte, die ihr stets froh entgegenflüchtenden Kinder auf das unbefangenste mehr und mehr mit Beschlag belegte, spann sich Hubert in eine stille Verdrossenheit ein, aus der er nur selten höflichkeitshalber sich emporzuraffen imstande war.
Eine neue Schwägerin war aufgetaucht, die Gretes jüngster Bruder, kaum daß er seine durch den Krieg unterbrochenen juridischen Studien beendigt hatte, zu einigem Befremden der Verwandten nach kürzestem Brautstand und ohne noch eine Anstellung erhalten zu haben, so kühn gewesen war unberaten zu heiraten. Es war eine von ihrem ältlichen Gatten geschiedene junge Frau, an der man, nicht ohne abfällige Urteile, als die nebst einer auffallenden Erscheinung bemerkenswerteste Eigenschaft große Lebenslust hervorzuheben hatte. Das Paar, das bis auf weiteres bei Gretes kranker verwitweter Mutter wohnen sollte, war in der Besuchsrundfahrt begriffen und auf einen der nächsten Tage bei Hubert und Grete angesagt. Sich Poldi, den sie, eh' er als Einjährig-Freiwilliger ins Feld ging, noch als Knaben in Erinnerung hatte, als Ehemann vorzustellen, fiel Grete schwer. Auch ward sie bei der ganzen Sache ein unangenehmes Gefühl nicht los, wozu Hubert mit manchem boshaften Worte beitrug. Poldi war ein hübscher, unbedeutender, ja einfältiger Junge gewesen; der Schritt, den er da, vom gefürchteten Vater nicht mehr gehindert, unternommen hatte, schien ein mehr als bedenklicher Streich. Nichts weniger als gelegen kam auch der angekündigte Besuch der Neuvermählten, denen man, im Besitz einer geräumigen halbländlichen Wohnung, nicht umhin konnte Gastfreundschaft anzubieten: das seit Jahren nicht mehr benutzte, im Zeichen der Wohnungsnot zur Rumpelkammer vollgestellte Fremdenzimmer mußte für jeden Fall instand gesetzt werden. Die Verköstigung ergab Schwierigkeiten; es waren Vorräte an Nahrungsmitteln anzuschaffen, wie man sie sich längst nicht mehr verstattet hatte. Auch sonst ward, was Hubert mit Befriedigung und mit Ärger zugleich feststellte, da er es sonst nicht erreichte, die Wohnung, so gut es anging, auf den Glanz gebracht: im Kinderzimmer, das noch immer auch Hubert zur Schlafstätte diente, wurden die Vorhänge, die als schmierige schlaffe Schläuche herabhingen, durch frisch gewaschene ersetzt, alle zerrissenen Rohrstühle wurden auf den Boden verwiesen, das zerbrochene Waschbecken machte einem neuen Platz, auf den alten runden Tisch, der mit Seife abgebürstet worden war, gelangte eine mit blauen Vöglein bedruckte Decke. Auch einiges Silbergerät, das Hubert gern sah, aber lange hatte entbehren müssen, ward aus seinem Versteck hervorgeholt und im verlassenen Speisezimmer ausgestellt. Die Kinder erhielten statt der geflickten Kleider und gestopften schlottrigen Strümpfe bessere Gewandstücke.
Endlich erschienen die Erwarteten. Die Schwägerin Ida erwies sich als so hübsch, daß sie Hubert geradezu berückte. Es ging von ihr ein duftiger Hauch begnadeten Körpers, ein flutender Schimmer von Weltlichkeit aus, die dem an seine versponnene Enge Gewöhnten den Atem benahmen. Poldi trat neben der anmutigen und gewandten Person in langweiliger Altklugheit einher, die seine beschränkte Natur in ihrer ganzen Ödnis zum Ausdruck brachte. Aber Grete umfing den harmlos Törichten mit der unbeirrten Liebe ihres starkwurzelnden Familiensinns und betonte sie unbewußtermaßen um so mehr, als sie sogleich in der ihm in jedem Betracht überlegenen Schwägerin sein Unheil und also ihren Feind erkannt hatte. Daß Hubert der Gefallsüchtigen mit Eifer und Befangenheit zugleich sich widmete, konnte ihre Abneigung gegen die Liebenswürdige nur steigern. Niki und Dorl sahen sich noch am selben Abend um die gewohnte Märchenlesestunde betrogen, durften zwar länger aufbleiben, wurden dann aber um so rascher abgefertigt und sannen in ihren Betten auf ihre Weise dem Abenteuer dieses Tages nach. Erst als es schon längst finster in ihrem so schön hergerichteten Zimmer war, erklang Papas vertrautes Krückengestampfe an der Türe, er humpelte hastig herein und beugte sich über die mit sinkenden Lidern Träumenden. Dorl ließ sich still von ihm küssen, Niki aber erhob sich auf seine Knie und schlang heftig seine mageren Ärmchen um den kräftigen Nacken, den steifen Hemdkragen des wie nur zu Weihnachten und am Silvestertag in Abendtracht Gekleideten. Es war Hubert, als wollte der Kleine ihn gegen etwas schützen, ihn an sich bergen: er verließ in seltsamer Verwirrung das heimliche Gemach, in das er heute wie ein Gast getreten war.
Es ging auf Mitternacht, als Hubert in das stille Zimmer heimkehrte. Er war, nachdem Grete, der noch allerlei zu ordnen oblag, sich von den jungen Gästen empfohlen hatte, in dem auf das bequemste ausgestatteten Gastraum, wohin beide Hausleute sie geleitet hatten, länger geblieben, als es ihm hinterher schicklich scheinen wollte. Es waren schwüle Vorstellungen in ihm aufgestiegen, da er die schlanke Gestalt der Fremden vor dem großen Spiegel des Ankleidetisches einen Augenblick sich in lässiger Weichheit hatte dehnen sehen. Daneben standen, aneinandergeschoben, die in ihrer unberührten Weiße einladenden Betten, auf hohen silbernen Leuchtern brannten Kerzen, durch das in den schweigenden dunkeln Garten geöffnete Fenster kam süßer Fliedergeruch … Und dieses zauberhafte Geschöpf gehörte dem dummen Poldi, der eben gähnend auf die Marmorplatte des Nachtkästchens die Taschen seines Anzuges entleerte … Endlich hatte er sich aus dem grünsamtenen streifigen Lehnsessel erhoben, in dem er gesessen hatte, während Ida, vor ihm halb auf dem Tische sitzend, noch eine Zigarette rauchte. Sie war herabgeglitten, wobei ihr leichtes Kleid ihn streifte. »Du wirst müde sein, du Armer,« sagte sie. »Wir machen euch Ungelegenheiten. Du wirst uns verfluchen.« Und dabei hielt sie seine Hand mit der Rechten fest, während sie mit der Linken die leichte Krücke – er behalf sich zu Hause mit einer einzigen aus hellgelbem Bambusrohr gefertigten – wie ein zierliches Gerät schaukelte. »Ja, ja,« war Poldi mit der an dem Knabenhaften komisch auffallenden tiefen Stimme eingefallen, »wir hätten uns nicht sollen verleiten lassen, bei euch abzusteigen, sondern ins Hotel gehen müssen.« – »Freilich ist es bei euch auch wirklich zu gemütlich,« sagte Ida. Sich im Zimmer umblickend, hatte sie zögernd, wie's ihm schien, Huberts Hand fahren lassen. Darauf hatte er erwidert, daß sie ihnen die größte Freude bereiteten, wenn sie so lange hier blieben, als es ihnen paßte, und sie hatte ihn mit einem seltsamen Blick »Wirklich?« gefragt … Alles das ging in Hubert um, als er sich vor dem glaseingedeckten Tisch entkleidete, der an seinem großen alten Bette stand. Und mehr ging in ihm um – er scheute sich fast, den Kindern, die ruhig schliefen, wie sonst die reinen Stirnen zu küssen, tat's aber dennoch, mit Trotz. Als ob es eine Sünde wäre, ein schönes Weib mit beifälligem Blick zu betrachten! Er war doch schließlich auch noch ein Mann und kein Mönch! … Freilich ein halber. Und er sah sie vor sich, wie sie seine Krücke schaukelte … Dann trat er bei Grete ein, die schon im Bette lag. »Schläfst du?« Er stand im Nachthemd in der Tür. »Nein. Was willst du?« – »Nichts. Gute Nacht!« Es war wieder Trotz, mit dem er die Türe schloß. Im Bette zündete er noch eine Zigarette an und versuchte zu lesen. Mommsens Römische Geschichte, an der er sich schon einige Abende erquickt hatte. Aber seine Aufmerksamkeit haftete nicht an den lateinisch enggedruckten Zeilen. Als er umblättern wollte, gestand er sich, daß er nicht wußte, was er gelesen hatte … Niki seufzte im Schlaf und warf sich unruhig auf die andere Seite. Er löschte das Licht aus … Ob sie drüben auch schon im Finstern lagen? Oder ob sie die Kerzen brennen ließen? … Der armselige Poldi und dieses Weib! … Lange lag er wach.
Am andern Morgen nach dem späten Frühstück, bei dem Hubert sich verwundert daran erinnerte, daß die schönen weißen Porzellantassen und das feine Glas- und Silbergerät ihnen gehörten, sogar einst täglich ihren Tisch geschmückt hatten, ward ein Spaziergang ins Grüne unternommen. Der in diesen Breiten hastige Frühling hatte die Bäume über und über mit weißen und rosenroten Blüten beladen, die keusche Herbe der lieblichen Landschaft war üppiger Bräutlichkeit gewichen. Grete, die ihn sonst, wenn sie, was selten der Fall war, gemeinsam einen Weg gingen, immer voran ließ, hatte diesmal, Poldi zur Seite, einen rascheren Schritt eingeschlagen; so kam es, daß Hubert am seichten Gerinne des schmalen Baches unter den blühenden Obstbäumen sich mit Ida allein fand: es war ihm plötzlich atembeklemmend zu Bewußtsein gekommen. Sie bewegte sich mit einer, wie es ihn dünkte, zärtlichen Schonung neben ihm, der, um seine Erregung zu meistern, eifrig Gleichgültiges redete. Er wagte es nicht, sie anzublicken, hatte bloß den schattenhaften Eindruck ihrer leichten Erscheinung und genoß ihren zarten Duft, der auf dem engen Pfad ihn überhauchte. Da eben ein kleiner Vogel vor ihnen im Gezweig eines breit über den Weg sich senkenden, noch kaum belaubten Baumes zwitscherte, blieb sie aufschauend stehen. Seine Rechte, die, während er links auf einen Stock sich stützte, an der Krücke entlang griff, rührte an ihre Linke, und das Gefühl dieser Berührung hielt an. Ihn durchflutete ein heißer Blutrausch, der ihn schwindeln machte. Sie schwiegen. Aber die aneinanderruhenden Hände schwiegen nicht. Um ihn stand die Welt wie ein Gehäuse … Der Vogel entschwang sich dem Zweig. Es war nur ein Augenblick gewesen, doch er empfand mit Wonne und Grauen seine Bedeutung … Aber wie war ihm denn? Wie eine Erscheinung war der alte Schulhof in ihm aufgegangen, Niki nahte schwankend … Ein krampfiger Schmerz durchzuckte ihn. Und da kam fremd Idas Stimme herüber: »Es ist fast sommerlich warm.« Er sah sie an. Sie hatte ihre Jacke mit beiden Händen von der seidenen Bluse zurückgeschlagen, die schönen Augen suchten seinen Blick. Er hielt ihn mutig aus. Aber er empfand sie nicht. Es war keine Verbindung zwischen ihm und ihr. Sie war wie in einem Spiegel … Da sie gelassen weiterschritt, wandte er sich und besah mit leichter unmerklicher Drehung der Linken die Armbanduhr; sie zeigte einige Minuten nach elf: jetzt eben mußte Niki unter der beschaulichen Tafel aus dem Tor der Anstalt treten … Sie waren auf ihrem sich aufwärts windenden Weg an eine freiere Stelle gelangt. Jenseits lagen Hang und Mauer, die den Niki und Dorl heimlichen Park begrenzten, etwas weiter vorn erhob sich aus den Rebenstöcken das »gelbe Haus«. Glashell, sonnendufterfüllt breitete sich dahinter der Himmel aus.
Hubert rief Grete, die mit ihrem Bruder eben an einer Biegung des Pfades sich seinen Blicken zu entziehen im Begriffe stand. Da sie ihrer halb zurückgewandt warteten, fragte er noch im Hinanschreiten: »Wird Niki heute nicht abgeholt?« – »Aufrichtig gesagt,« antwortete Grete in ihrer gelassenen Weise, »hab' ich vergessen, es ihm ausdrücklich aufzutragen, daß er nicht warten solle. Er wird schon von selbst kommen.« In Hubert entstand der sich alsbald zur Sehnsucht steigernde Wunsch, seinem Buben entgegenzueilen, aber er mußte sich vernünftigerweise gestehen, daß es dazu zu spät wäre. Er empfand es wie eine Schuld. Poldi sagte: »So ein großer Bub wie der Niki wird wohl allein nach Hause treffen.« – »Er fährt ja sonst auch allein hinein, berichtigte Grete. »Nur die Kinder nicht verwöhnen!« predigte Poldi altklug. Hubert versagte sich's, auf die alltägliche Wendung zu antworten. Auch war ihm, als wenn er das Recht verwirkt hätte, seiner väterlichen Zärtlichkeit zu gedenken. So setzte man den Spaziergang fort. Hubert hielt sich eng an die Gruppe vor ihm geschlossen. Ida brach Blütenzweige und sammelte sie zu einem großen Strauß, hinter dem ihr Antlitz fast verschwand.
Mittag war vorüber, als sie heimkamen. Huberts erste Frage, da sie durch den Garten am offenen Küchenfenster vorbeigingen, war nach Niki. Er war noch nicht zurückgekehrt. Dorl saß über ihren Büchern am runden Tisch und erhob sich errötend, als die ganze Gesellschaft bei ihr eintrat. Grete entschuldigte sich bei den übrigen; sie entfernte sich, nach der versäumten Wirtschaft zu sehen. Mißmutig geleitete Hubert die beiden andern in das kleine Sitzzimmer hinter seiner Bücherei. Die Sonne lag in dem mit schweren Möbeln überfüllten winkligen Gemach, spiegelte sich in vielen Glasrahmen, glänzte an Aschenschalen und silbernem Gerät, die auf dem niedrigen Tische standen. Trotzdem schien ihm der heimliche Raum, der ihnen in den Jahren vor dem Kriege Tag für Tag das behaglichste Beisammensein gewährt hatte, ungemütlich, fast fremd. Ida hatte sich in seinem breiten grünen Lederlehnstuhl niedergelassen, sie hielt noch immer den Blütenstrauß in den Händen; jetzt ließ sie ihn langsam auf ihren Schoß sinken und sah, das feine Haupt in die Hand gestützt, an Hubert vorbei durch das Fenster zu dem großen alten Kastanienbaum hinüber. Sie hatte lässig Bein über Bein gelegt, und das eine zeigte, aus schmalem, spitzem und hochgestöckeltem Halbschuh in dünnem schwarzen Strumpfe mit schlankem Ansatz voll aufsteigend, die Wade. Huberts Blick blieb daran haften, und wieder fühlte er es heiß in ihm emporwallen. Der Rausch seines Blutes nahm ihm die Besinnung … Da sagte Poldi, der abgewendet vor einem großen mit Lichtbildern erfüllten Mahagonirahmen stand: »Wie alt ist der Niki damals gewesen?« … Niki! Eine entsetzliche Angst packte Hubert. Wo blieb Niki? Ohne zu antworten, mit einer halben Entschuldigung stolperte er hinweg. Ida ließ das übergelegte Bein sinken. Dann sprang sie auf und schüttelte die Blütenzweige auf den Tisch. Einige fielen zu Boden. Poldi sagte am Fenster: »Ich möchte heute noch zu Tante Olga.« …
Hubert war durch die Wohnung gehinkt, nach Grete rufend. Vor der weißen Türe des Kinderzimmers hielt er an; es war ihm, als hätte er Nikis Stimme gehört. Aber er mußte sich sogleich auch die Täuschung gestehen. Er stieß die Klinke auf. Das Zimmer war leer. Dorl hatte Grete zur Küche begleitet. Er war entschlossen. »Grete,« rief er, noch kaum im Vorraum, »ich fahre in die Stadt.« Grete sah ihn an, der verstört vor ihr hielt. Dorl stand in ihrer roten Schürze am Herde neben der Köchin. »Dorl, willst du mit mir fahren?« … Blitzschnell wandte sich das Kind um. Aber fragend blickte es allsogleich die Mutter an. »Bitte, Mama, erlaub es!« – »Wenn der Papa dich mitnimmt, hab' ich nichts zu erlauben. Aber du bist ja gar nicht recht gekleidet …« – »Ach was,« rief Hubert, »sie soll die Schürze ablegen und ihren blauen Mantel nehmen. Aber nur rasch …!« Eilfertig huschte Dorl in die »Galerie«, den langen Gang, wo die Kleiderschränke standen. In einem Nu hatte sie, schon während dem Laufen die Schürze abstreifend, den Mantel angelegt, ihren kleinen Filzhut, auf die Zehen sich erhebend, vom oberen Fach herabgelangt und wandte sich nun noch ängstlich zu Grete, die ihr schweigend gefolgt war: »Muß ich Handschuhe nehmen?« – »Du weißt, daß der Papa das haben will.« Grete rückte ihr Mantel und Hut zurecht, gab ihr die Handschuhe und beugte sich zu ihr hinab. Mit einem zärtlichen Kusse, der um Verzeihung dafür zu bitten schien, daß sie sie verließe, hängte sich das Kind ihr an den Hals. »Nun, geh nur, Dorl, geh, und bringt mir den Niki.« Hubert, der ungeduldig vorangehumpelt war, kehrte sich um. Ihm war die Brust mit Qual beladen. Dennoch sagte er: »Und schau nach … deinen Gästen.« Es tat ihm fast wohl, daß ihm das so geraten war.
Die Fahrt ging ohne Schwierigkeit vonstatten, da der Wagen fast leer war. Aber sie dauerte eine Ewigkeit. Qual malte ihm Bild auf Bild der Vernichtung. Dennoch war ihr zitternder Hintergrund Hoffnung. So oft ein herauffahrender Zug ihnen begegnete, strengte er sich angstvoll an, die Insassen zu mustern, was die schnelle Bewegung ihm nie gelingen ließ. Endlich, endlich war man am Ziel, und Dorls Hand ergreifend, hastete Hubert den vertrauten Weg … Der Hof des Gymnasiums lag still in einsamer Sonne, und an einem Pfosten der kniehohen Einfassung, die um den eirunden Grasfleck lief, lehnte Niki. Er hatte ihnen den Rücken zugekehrt, hielt getreu sein schweres Bücherbündel an der Handhabe und betrachtete sinnend den dicken Punkt auf der Tafel überm Schultor. Hubert stand das Herz still vor Glück. Er drückte Dorls Hand und flüsterte ihr zu: »Leise! Wir wollen ihn überraschen …« Aber als hätte in dem verschwiegenen Raum zwischen den hohen Häuserwänden ein Hauch fortwallend sie schon vereinigt, zuckte der Knabe mit den hohen Schultern zusammen und wendete den Kopf. »Papa!« … Wo war die Welt, wo war die Zeit! … Hubert hielt seinen Buben, dem stumme Tränen über die Wangen liefen, und Dorl hatte die Krücke aufgefangen, die dem Seligen entglitten war, ohne daß er es merkte. Da er sich zu ihr wandte, die ihm mit schüchternem Eifer die unentbehrliche Stütze unterzuschieben sich bemühte, sagte er mit einem Herzen, das ihm geflügelt schien, so hob sich's ihm aus der Brust: »Kinder, mir scheint, ich werde doch wieder reiten!« Ehe sie sich langsam zum Gehen anschickten, umfing er mit einem Blick unsäglichen Dankes den kleinen Platz. »Grüß Gott, du lieber guter Punkt,« sagte er und hieß Niki, den das zugleich rührte und belustigte, seine Mütze ziehen. »Grüß den braven Dicken.« (In Niki wird das bleiben. Es gibt Erinnerungen, deren Wurzeln die Engel der Kindheit hüten.)
»Ja, aber sag' mir einmal, Niki,« fragt der rüstige Mann, von dessen verklärten Zügen ein Schimmer auf alle fällt, die gleichgültig vorübergehen. »Und du bist da geblieben und hast gewartet? Was hast du dir eigentlich gedacht?« – »Daß du heut kommen mußt, Papa.«