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Alltag


1

Dann war der Abschied gekommen. Für alle diese zärtlichen Beziehungen in Badeorten kommt ja einmal der Tag des Abschieds. Er war heimgereist. Da war er nun wieder zu Hause … Anfangs war er wie verschüttet. Er ging umher, legte die Dinge vor sich hin, sah sie an, geistesabwesend, fremd, sprach mit den Menschen, denen er begegnete, über Alltäglichkeiten mit einer fernen, klanglosen Stimme. Stundenlang saß er über einem Buche, dessen Seiten er nicht umblätterte. Er hatte sein Jus wieder vorgenommen und wollte durch angestrengtes Lernen alle andern Gedanken verscheuchen. Aber ihm war, als ginge irgendwo etwas vor, das er unrettbar versäumte, und gequält rang er mit der Unaufmerksamkeit, den ängstlichen Gedanken. Er war in der letzten Zeit, der der leidenschaftlichsten Steigerung seiner Liebe zu Alice, wild und heftig gewesen, jetzt wurde er immer stiller, einsilbig, scheu. Alles ekelte ihn an, die gewohnten Gesichter, die er vergessen hatte, die regelmäßigen Tagesgeschehnisse: das Leben war ihm eine Last. Er war zu gar nichts fähig. Manchmal schrieb er Briefe, manchmal Verse. Und mit fieberhafter Ungeduld harrte er auf Nachricht – von ihr. Er erhielt sich in einem zitternden Erwarten des Wiedersehens, an das er doch wieder nicht glaubte, weinte oft, wenn er allein war …

Einmal fuhr er, wie er des öftern tat, auf seinem Rad ins Freie. Es war ein kühler Augustabend. Tagsüber hatte es mehrmals geregnet. Er glitt auf dem Kiesweg unter tropfenschweren Kastanienbäumen, an braunen Feldern vorüber. Sein gleichgültiges Fahrtziel war diesmal »die Abtei«. Sie lag eine Stunde vor der Stadt, hinter dem Villenviertel. Knapp vor der großen Brücke über den trägen gelben Fluß, unterhalb der Weinberge sprang er ab und richtete etwas an den Tritten. Da ging ein Mädchen an ihm vorbei. Er sah auf. Plötzlich besann er sich, daß er hätte grüßen sollen. Aber sie war schon weitergegangen. Er blickte ihr nach. Sie hatte ein moosbraunes dünnes Krägelchen um die Schultern und ein dunkles glattes Kleid an. In den Händen hielt sie nichts. Die Gestalt bewegte sich frei, selbstbewußt getragen. Sie hatte sich nicht umgesehen.

Zwei Tage darauf fuhr er wieder zur Abtei. Er hatte die Erscheinung längst vergessen. In der Nähe der Brücke fiel ihm das Mädchen ein. Er erinnerte sich, daß hinter der Brücke, vor dem kleinen Tannenwalde, das einfache Haus ihrer Eltern läge und daß er als Kind mit seiner Base unter den hohen Pappeln des Vorgartens mit Lili gespielt hätte. Sie war die einzige Tochter abseitiger Leute, unter drei Geschwistern das älteste, eine kleine fürsorgliche Hausmutter. Er entsann sich ihres widerspenstigen, mürrischen, oft rauhen Wesens, ihrer schnippischen Kinderworte, ihrer hochmütig-unartigen Gebärden. Er stieg vom Rad, und indem er es sorglich über die den Weg säumenden Steine hob und an der Lenkstange mit der Rechten weiterführte, schaute er über die Latten in den dunkeln Garten hinein. Er hegte die unbestimmte Hoffnung, das Mädchen wieder zu erblicken. Und jenseits der Wiese, unter dem hohen kleinen Eisenbalkon der einstöckigen Villa, sah er wirklich ein weißes Kleid. Sie war es. Sie hielt ein Buch und eine Rakettasche und bückte sich von Zeit zu Zeit geduldig zu einem kleinen Kinde, das einen großen zottigen Hund hinter sich her zog. Er blieb stehen und wartete, bis sie vorüberkäme. Sie kam mit ihren sicheren leichten Schritten, in einem weißen Blusenkleide, ohne Hut, das blonde feine Haar in spärlichen Kräuseln um die freie reine Stirn. Wie sie sich mit einer heiteren, nicht allzu hohen Stimme in sanfter Güte zu dem blassen freundlichen Kinde niederbog, bewunderte er die wohlgefälligen Wendungen ihres geschmeidigen, ungemein zarten Körpers und die ruhigen halbgeschlossenen Lider mit den langen Wimpern. Sie ging ganz nah am Lattenwerk und an ihm vorüber, und da er sie unverwandt anstarrte, mochte wohl sein Blick ihre Augen getroffen haben: sie sah zu ihm her, mit jenem hochmütig abweisenden Ausdrucke, den er an ihr, wenn sie kaum dankend an ihm vorbeischritt, schon vor Jahren bemerkt hatte. Er wurde verlegen und griff nach der Kappe. Sie wandte sich ab, als ob sie ihn nicht bemerkt hätte, beschleunigte aber ihren Schritt und bog um das Haus.

Unmutig bestieg er sein Rad und fuhr heim, als ob sein Ausflug nur Ihr gegolten hätte. – Als er wieder neben den Feldern dahinglitt, fiel ihm Alice ein, und nach Hause zurückgekehrt, schrieb er ihr einen vierzehn Seiten langen sehnsüchtig-klagenden Brief nach Ungarn, wo er sie seit kurzem bei einer Schwägerin wußte.

Das war an einem Freitag gewesen. Sonntagvormittag, als er im Garten mit Lina, der Base, saß, nachdenklich über einem Paragraphen des Privatrechts, zwischen den Zähnen in einem goldbeklebten Papierspitz eine Zigarre, sagte das Mädchen, plötzlich von seiner Stickerei aufblickend, beide Hände auf den Knien:

»Harry, möchtest du nicht einmal mit mir zu Arendts hinaus? Die Lili kennst du ja noch aus der Kinderzeit. Wir hätten dort eine hübsche Tennispartie. Wolf, der älteste von den Buben, soll gut spielen. Die Lili hat mich öfters aufgefordert; ich habe nie daran gedacht.«

Und so kamen sie Montag, einhalb fünf Uhr, an einem trüben Septembernachmittage – sie im Wagen, er auf dem Rade – bei Arendts an. Die Mama saß im geräumigen Gartenzimmer, die Türe zum Balkon stand offen. Ein Dienstmädchen in sauberer Schürze deckte einen großen Familientisch. Die Mutter empfing ihn herzlich. Sie rief nach Lili. Der kleine Otto sprang herein, wurde auf den Schoß genommen, zappelte aber bald ungeduldig und kletterte hinab, da er die Tenniskinder zu holen beauftragt war. Lili kam. Sie schien im Zimmer größer. Sie gab ihm ruhig die Hand. Ihre Augen waren blau. Die langen feinen Wimpern und die bogenförmigen Brauen unter der klaren, etwas gewölbten Stirne, der kleine, nicht zu rote Mund, die schmalen blassen Wangen, die gebrechliche Gestalt, alles war wie an einem schönen Kinde; aber man hatte das Gefühl, ein erwachsenes Mädchen vor sich zu haben, mit dem man nicht mehr tändeln konnte.

Als sie zusammen zum Tennisplatze gingen, der unter schattigen Buchen unweit eines glatten Teiches in zierlicher Sauberkeit lag, betrachtete er die still neben ihm Schreitende, indem er gleichgültige Worte an sie richtete, aufmerksam. Sie war von Mittelgröße und überaus schlank. Ihre langen schmalen Kinderarme hingen nicht ungefüg aus den Schultern heraus, sie waren leicht und folgten gefällig ihren Schritten. Sie hatte nichts von dem unnatürlichen Gang ihres Alters. Man merkte, daß sie über ihre Bewegungen nicht nachdachte. Die Lider senkte sie meist über die wunderbar blauen traurigen Augen, aber wenn sie sie rasch und ohne Scheu emporhob, verbreitete sich über ihr liebliches kleines Gesicht ein warmer Glanz. Sie hatte noch immer die abgebrochene unwillige Art zu antworten, sie war nicht freundlich, er empfand sich ihr gegenüber als einen Eindringling. Freilich hörte er aus ihren selbstbewußten, etwas eitlen Reden, wieviel sie sich in der »Welt« umgetan zu haben meinte, wie sehr sie sich seinen Jahren an Erfahrung überlegen glaubte.

Sie spielten zweimal in der Woche. Er kam regelmäßig. Er hatte sich an das angenehme ruhige Haus gewöhnt.

Manchmal unternahmen sie einen größeren Spaziergang, zu vieren, Lina mit Wolf, einem der Brüder, voran, er mit Lili hinterdrein. Er sagte ihr viel von seinen Ansichten, drängte ihr oft, unwillig über ihre Kälte, seine reifere Meinung auf. Allmählich ward sie ihm eine willige Zuhörerin, selten mit stillen Worten ihn unterbrechend, scheinbar geneigt, sich erzählen zu lassen. Er merkte, wie sie ihm bald unentbehrlich ward. Er hätte sie gern an der Hand genommen und wäre mit ihr durch das Feld geschritten, schweigend, nur von dieser sanften Berührung beglückt.

Seine Briefe an Alice nahmen darum nicht ab. Er lebte ein Doppelleben, halb in der Ferne, mit seinen Erinnerungen und Wünschen, halb in einer traumhaften kindlich-schönen Gegenwart. Auch an seinen Freunden, die wieder mit ihm verkehrten, fand er allmählich Gefallen. Er begann zu arbeiten, las die Werke der Dichter mit reiner Freude und dachte oft sorgfältig und mit einer ihm sonst ungewöhnlichen Gelassenheit über sich und seine Ziele nach.

Dabei kam er allmählich in eine zärtlich-keusche Liebe, die er in schüchternen Worten Lili entgegentrug. Sie nahm alles an, ihm gegenüber immer mehr von ihrem widerspruchsfreudigen Wesen lassend, gleichsam veredelt durch seine ritterlich-andächtige und doch herablassend-spielende Neigung. Er wußte selbst nicht, wie ihm zumute war. Er hatte ihr mehr gesagt, als man Mädchen zu sagen pflegt, mit denen man einen tändelnden Flirt anhebt; aber er glaubte selbst nicht recht an »diese Dummheiten«, mehr als je klammerte er sich an die Ferne, mehr als je warf er sich mit leidenschaftlichen Worten Alice hin, die seine standhafte Liebe mit zärtlich-tröstenden Briefen nährte.

Einmal fand er einen Gedanken in seiner Seele, der unter seiner Betrachtung schnell und stark heranwuchs, den Gedanken der Heirat. Wie schön mochte es sein, sich mit diesem reizenden Mädchen zu verloben! Er gefiel sich in der Vorstellung, ging dem Gedanken eifriger nach, ja, er säumte nicht, ihn Lili sorgfältig zu unterbreiten. Sie hatte für alles ein liebliches Lächeln und zarte anheimelnde Antworten. Und er nahm ernst, was wie ein Spiel gekommen war. Er überlegte und fand, daß es sein Glück werden könnte. Und da er mit solchen Plänen nicht allein bleiben konnte, vertraute er sie seiner Mutter. Sie hatte anfangs dafür auch nur ein Lächeln, das gutmütig duldende Lächeln einer Mutter; als sie aber in seiner Hartnäckigkeit eine tiefer wurzelnde Absicht merkte, fand sie gütig abweisende, ja ungläubige Worte. Das stachelte und kränkte ihn. Er sprach sich in eine Heftigkeit hinein, die dem Ganzen ferngelegen hatte. Und er suchte bei Lili Stützen seiner Wünsche. Die Briefe an Alice wurden seltener. Endlich, in einem jähen Entschlusse, ließ er packen und fuhr nach Wien, wo er ja der Studien halber schon längst hätte sein sollen.

2

Das war doch nicht das Leben, wie er es liebte. Die Mietwohnung mit ihrem verblaßten geschmacklosen Geräte, dem er nur notdürftig durch ein paar dicke Teppiche und zahlreiche Photographien nachhalf, die tägliche Besorgung der kleinen, nur allzu notwendigen Erfordernisse der Häuslichkeit; der Verkehr mit Leuten, die ihm nichts zu geben hatten als verwischte oder mühsam verrenkte Typen niedriger Menschenformen; das Unbehagliche eines nicht nach dem Zeiger geregelten Stundenplans; die Unbequemlichkeiten der Entfernungen; das geringe Auskommen, das ihm zugewiesen und das so wenig mit seinen Wünschen in Einklang zu bringen war: alle diese Umstände ließen ihm ein eigenes Heim doppelt erstrebenswert scheinen, und er fragte sich, ob ihm die Theater und die Museen, das geräuschvollere Leben, dem er zuweilen ja recht gerne nachging, die Sorglosigkeit, die warmen Einzelheiten einer unbekümmert nur den Studien lebenden häuslichen Existenz aufwiegen konnten. Wie er seine Haar- und Barttracht, unbefriedigt nach einem ausdrucksvollen Stil fahndend, in kurzen Zeitabschnitten änderte und sich selbst lächelnd dieser kindischen Unbeständigkeit wegen bemitleidete, ja verspottete, um kopfschüttelnden Bekannten den Tadel aus dem Munde zu nehmen, so trieb ihn seine Neuerungssucht auch in den Vorgängen, in die er sich brachte, von Station zu Station, und seine Ungeduld, die Verzweiflung über sich selbst und seine ungesicherte Lage, die trüben Zukunftsaussichten verwirrten ihn sogar in den Stunden reinen Sichfühlens, bei der angestrengten, freilich nur nach Tagen zählenden, stockenden Arbeit. Er war nicht mehr der Knabe, der die Literatur in allem suchte, sich selbst in künstliche Verhältnisse setzte und Gelesenes in die Erscheinungen trug, er sah mit geöffneten Augen um sich und geriet über die rücksichtslose Öde der Beziehungen und die Unerklärlichkeit der Geschehnisse in ein Fieber, wie es einen fröstelnden Schwimmer mitten im See packt und ans Land jagt. Aber wie der Schaudernde, mit heftigen Ruderbewegungen gegen die Macht der aufgeregten Wellen ankämpfend, in seiner frierenden Mutlosigkeit nur langsam sich dem Ufer nähert, so bebte seine hin und her geworfene Seele nach dem Gestade der Heimat in Entfernung schätzender und überschätzender Angst. – Seine Feierstunden waren die Genüsse an den Dichtern und Philosophen. Da kam er aus seiner Enge in die weiten Räume, in denen er Atem holen und seine Flügel ruhig und dankbar ausgebreitet halten konnte, wie ein Adler, der im Fluge rastet über den Wolken, einsam in der reinen Sonnennähe.

An Lili dachte er mit stiller Liebe, ohne eigentliche Inbrunst. Er gab sich nicht Rechenschaft über ihre Beziehungen. Er schrieb aus Stimmungen heraus und erhielt die Antworten in andre Stimmungen hinein. Das nahm dem Verkehr viel von der Wahrheit der Rede und Gegenrede. Denn er konnte sich nicht in einem Ton erhalten. Und er künstelte immer an der jeweiligen Phase. Sie freilich blieb sich gleich. Kindlich-scherzhaft, nie künstlich anders, als es um sie stand, aber immer launenhaft, zupfte sie an seinen Begriffen mit spielenden Fingern und schenkte ihm oft weniger die kräftigende Macht ihrer ursprünglichen Ideen, als sie ihn, ohne böse Absicht, mit den Deutlichkeiten kunstloser Worte auf nur mit Widerwillen von ihm begangene Fährten wies, die zu den alltäglichen Anlässen mancher mit Bedeutung vorgetragenen Mitteilungen und Bemerkungen führten.

3

Als er zum ersten Male wieder mit Lili zusammentraf, mußte er sich über die übertriebene Art ärgern, mit der sie ihren Abscheu über sein verändertes Aussehen, die allzu langen links gescheitelten Haare und den rasierten Schnurrbart zum Ausdruck brachte. Dieser Ärger gab dem Tage sein Gepräge. Er war unwillig und schied verstimmt. Trotzdem war er glücklich gewesen, als er ihr die Hand gegeben und sie ihn mit ihrer hellen, immer etwas zu kurz angeschlagenen spöttischen Stimme gefragt hatte: »Was wollen denn Sie wieder da?« Aber dann waren der Ärger und die bösen Gedanken gekommen, und alles war für heute ausgewesen. In seinem Unmut brachte er des Abends, als er mit der Mutter allein war, das unselige Thema vor, das beide immer zerbrochen entließ: die Elendigkeit und den Druck der mittelmäßigen Verhältnisse, das Nicht-sein-dürfen und Nicht-wollen-dürfen, dieses Herumkriechen unter kleinlichen Jochen, die ganze Erbärmlichkeit der beschnittenen Flügel und der Öde, die Zukunft heißt.

Erregt ging er hin und her. Das milde weiße Licht der Lampe lag über dem schweren Tisch, eine gesättigte Wärme füllte das dunkel tapezierte, bequem ausgestattete Zimmer, die Messingklinken an den altertümlichen Türen glänzten, und wenn ein einsamer Wagen vorbeifuhr, zitterten die Fensterscheiben. Die Mutter saß mit vorgebeugtem Nacken, beide Arme über den Knien müde hängen lassend, auf dem Stuhle neben dem grünen Kachelofen. Sie war etwas erhitzt, und das über den Schläfen ergrauende Haar stand ein wenig zerzaust über der blassen Stirn, die von denselben Falten durchzogen war wie seine breiter gewölbte. Beide Hände in den Hosentaschen, blieb er vor ihr stehen.

»Und das ist mein Leben!« rief er. »Wozu denn dieses Arbeiten, das mühevolle wochenlange Sitzen vor den Büchern, wenn das alles doch nur zur Öde führt! Was liegt denn vor mir? Der ›Beruf‹, Karrengaul zu sein, eingespannt mit den andern! Begreifst du meine Angst, die sich an das bissel Schöne im Leben klammert? Wenn ich frei wäre! Wenn ich hinaus könnte in die Welt! Aber da heißt es, und es ist ganz natürlich und gerechtfertigt: ›Du hast lange genug studiert, stell' dich auf eigene Füße! Erwirb!‹ Ja, erwerben! Aber was erwerb' ich denn? Was bringt mir das Amt? Eine Lappalie. Und wann? … Der Vater freilich, der kann es schon gar nicht mehr erwarten, bis ich etwas bin. Etwas bin! Wenn ich's heut nicht bin, werde ich's morgen? Und was bin ich schon, wenn ich einmal, was weiß ich, als Oberlandesgerichtsrat stolziere? Dann bin ich etwas! So meinen sie's ja alle … O, wenn ich nur studieren könnte, immer studieren, selbständig, ohne diesen hastenden Ruf hinter mir: Schluß! Wenn ich reisen könnte! Ich pfeife auf den Beruf! … Das sollten die Leute hören. ›Verdorben‹, würden sie sagen. Aber ich, ich will kein ›nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft‹ werden. Ich bin aus einem anderen Stoff. Aus dem macht man nicht die Gerichtsräte und die Notare. Ich bin ein Künstler! Ich bin das Überflüssigste, das auf der Welt herumläuft. Ich bin ein Sonnenlichtfänger, ein Träumer. Der Vater, der mich ›so genau‹ kennt, der sagt natürlich geringschätzig: ›Willst du vielleicht so ein Skribler werden und hinterm Busch verhungern?‹ Nein, ich will nicht verhungern! Ich bin nicht der Mensch dazu. Ich lebe nur in der Schönheit, nur in einem gewissen Überfluß. Ich weiß, was du sagen willst. Du willst mir sagen: ›Und du willst heiraten?! Du willst dich ins Elend hineinsetzen mit keiner andern Aussteuer als deiner Verwöhntheit? Du, der du dir keinen Wunsch versagen, du, der du nur im Reichtum gedeihen kannst, der du dir Teppiche über Teppiche legst und jedes Buch kaufst, dessen Einband dir gefällt, der du noch nie in deinem Leben mit deinem Monatgeld ausgekommen bist, der du, wenn du zu Hause lebst, Schulden machen mußt – du willst heiraten, willst dich mit einer ebenso verwöhnten Frau in zwei, drei kleine Zimmer zurückziehen, deine Frau vielleicht gar arbeiten sehen? Du, der du im Jahr mehr Kleider und Zigaretten brauchst als …‹ – Nicht wahr, das alles willst du sagen? Nicht wahr, Mama? Und schau, obwohl ich so ein Mensch bin, obwohl ich ein Verschwender, ein leichtsinniger, unpraktischer, verwöhnter, eigensüchtiger Mensch bin, obwohl ich keine Aussichten habe, obwohl ich weiß, daß ich mich durch einen solchen Schritt für mein Leben vielleicht an die Scholle fessle, obwohl ich so ungeschickt bin zum Entbehren, Entsagen, Verzichten, trotzdem, ja trotzdem will ich's! Ja, ich will die Lili heiraten, wenn es nur halbwegs möglich ist. Es ist meine Idee vom Glück. Ich kann mir nicht helfen … Du weißt, wie ganz anders ich gedacht, wie ich immer gesagt habe: ›Ich muß eine reiche, sehr reiche Frau bekommen, sonst kann ich nicht leben; denn ich selbst vermag mir nichts zu erwerben und werde es gewiß nie zu etwas bringen.‹ Und begreifst du denn nicht, was für ein großes Gefühl es sein muß, das das über den Haufen wirft und schreit: ›Nein, ich will etwas ganz anderes. Ich will eine kleine Frau haben und glücklich sein, einmal glücklich sein! …‹ Mir kommen sie ja selbst, diese gräßlichen ernüchternden heißen Gedanken: ›Werd' ich das können, wird das möglich sein?‹ O, du weißt ja gar nicht, was mich alles quält! Was mir alles im Kopf herumstürmt: Ob sie mich auch wirklich lieb hat. Ob sie nicht kühl denkt. Ob sie mich nicht nur so hinhält, wie kein Mädel einen Verehrer ausläßt. Ob sie nicht mit einemmal in die Vernunft hineinspringt. – Und könnt' ich ihr unrecht geben? Was sag' ich mir denn selbst? ›Unsinn!‹ sag' ich mir. ›Dein Leben ist unterbunden, wenn du dich verrennst  …‹ Aber was wird denn aus diesem Leben? Wenn ich nicht diese eine Hoffnung hätte und die Kunst, wo wär' ich denn!! … Jetzt erschieß' ich mich nicht, nein – jetzt noch nicht! Jetzt ist die Hoffnung trotz alledem noch zu gewaltig. Dieses ewige ›Vielleicht doch‹ wird mich noch lange narren … Aber laß mir dieses Ideal! Ich kratze und schabe ja selbst genug daran herum. Laß mich diesem Stern nachgehen, bis mir die Beine den Dienst versagen!«

Die Mutter sah ihn an, so schmerzlich, so innig, daß er innehielt.

»Du tust mir weh, Heinrich,« sagte sie mit ihrer weichen zärtlichen Stimme. »Was ich um dich leide, das kannst du dir nicht vorstellen.«

»Ich weiß, Mama, ich weiß. Aber verzeih mir. Ich kann nicht anders. Ich bin roh. Ich geb' es zu. Aber wozu in Selbsttrug leben?«

»Ich lebe nicht in Selbsttrug,« seufzte sie. »Ich kenne dich zu gut. Ich zermartere mir den Kopf, wie das werden soll.«

»Sei gescheit, Mama,« sagte er und blieb vor ihr stehen. »Wohin das führen soll? Denk' nicht daran. Freu' dich mit mir über den Augenblick.«

»Heinrich!«

»Ja, ja, ich weiß. Ich rede Unsinn. Ich – ach Gott, Mama, ich bin so unglücklich!«

4

Der Fasching war vorbei. Wenn er Lili besuchte, saß sie im weißen Hauskleid unter ihren in langen Reihen ausgestellten Photographien in dem schmalen lichten Zimmer, das er so lieb hatte. Über den Ständerpfosten kleiner leichter Tische hingen die Tanztrophäen, die Damenspenden und Kotillonfächer; aber auf dem kleinen Sekretär standen Veilchen und Hyazinthen, und auf den Dächern der einstöckigen Häuser gegenüber glänzte schon ein Gruß vom Frühling.

Nun war endlich die schreckliche Zeit vorbei, da er seine feine zierliche Lili in dem Gedränge erhitzter, geputzter, Nichtigkeiten plappernder Menschen fast haßte. Endlich war die hochmütige Maske gefallen. Sie saß bei ihren Arbeiten unter Büchern, und ihr stilles liebes Lächeln schimmerte in den treuen blauen Augen. Er sah sie an und fühlte seine Liebe mit großen weißen Schwingen in einem blendenden Meere sonnenzitternder Luftwellen atmen. Er hatte einen Drang in sich, diesem kleinen blonden schmalen Kinde sich an die Füße zu schmiegen und glückvergessen zu träumen. Wie Schatten gingen die Vorgänge des Lebens an seiner müden Seele vorüber. Er hatte die Luft dieses Zimmers in den Gliedern, sein Herz beugte sich in einem schauernden Entzücken, in keuscher Andacht, sehnender Hoffnungsfülle.

Wenn er dann zu Hause saß vor seinen Büchern und sein aufatmender Blick sich auf das sanfte schwermütige Bild senkte, unter dem in ungleichen Zügen »Lili Arendt« stand, dann kam die wilde Jagd der verdrängten eifersüchtigen peinigenden Zweifelgedanken wieder. Wie Heuschrecken schwärmten sie schattend über den bebenden Saaten seiner Wünsche. Lili hatte nie den rechten Mut zu ihrer Liebe gehabt. Und die Leute, die immer ihre Glossen machen und so zudringlich mit ihren Urteilen sind, hatten ihn »freundschaftlich« gewarnt vor dem »oberflächlichen, gefallsüchtigen Geschöpf«. Grob war er geworden, heftig, wütend hatte er ihnen das Wort zerbrochen, aber heimlich bohrten sich die giftigen Spitzen in sein argwöhnendes zermartertes Denken. Sie war ja wirklich seltsam, wenn sie unter den Menschen erschien. Sie lächelte so glücklich in den Armen ihrer tadellosen Tänzer, plauderte so übermütig mit »diesen Laffen«, sie war so scharf, so schnippisch mit ihm, ihrem allzu getreuen, unmutverbitterten Schatten. Freilich, wenn er sie in einem langsamen Walzerschritte fest umschlungen hielt, wenn sich ihr blondes blasses Köpfchen wie eine Blumenkrone über den schmalen Kinderhals senkte, wenn er in ihre himmelblauen zärtlichen Augen blickte und bei der schmeichelnd wiegenden Musik die lästigen Menschen vergaß, dann verzieh er ihr, dann bat er ihr ab mit bettelnden Knabenblicken, dann dankte er ihr mit selig-stummen Lippen oder mit weich-flüsternden Worten. Aber die Zweifel stiegen wieder aus der aufgewühlten Asche seiner bösen Gedanken wie dünne narkotische Rauchsäulen, in nebelnde Schichten vergleitend. Er rannte dann oft nachts verzweifelnd durch die leeren Straßen, oder er vergrub sich mit zitternden Nerven in seine Dichter, oder er ließ seine zuckenden Klagen in erregte, in zagende Verse gleiten … Dann sah er sie wieder und bat ihr den letzten langen bittern Brief ab.

5

Da ihm der Gedanke seiner Heirat mit dem über alles geliebten Mädchen bei der Aussichtslosigkeit der nächsten Jahre wie eine lodernde Fackel alles geordnete Überlegen andrer Dinge versengte, lief er in seiner Verzweiflung zu der Großmutter, mit der sich ein vernünftiges Wort sprechen ließ und bei der er sicher war, nicht unter dem wehmütig-zärtlichen Vertrösten seiner Mutter und den spöttisch-ungläubigen Witzen seiner beiden nächsten Freunde zu leiden. Die Großmutter empfing ihn herzlich und mit dem stillen Vorwurf, schon ganz übersehen und zurückgesetzt zu sein, den sie mit der Beharrlichkeit alter vergrämter Leute immer mitanklingen ließ. Er setzte ihr mit hastigen schüchternen Worten seine Lage auseinander. Wie er sich von den Frauen losgerungen habe, wie er, wenn er ganz aufrichtig sein solle, auch von Lili, durch die geänderten Umstände geleitet, in den neuen Wiener Verhältnissen gehofft hatte ablassen zu können, wie er aber, unruhig und unzufrieden, bei seinem bald verzagenden, alles verneinenden Charakter sich so unwohl gefühlt hätte in dem feindlichen, außer aller Beziehung zu seinen Neigungen unzugänglich verharrenden Wien, wie er geflohen sei und, zurückgekehrt, sich wieder in den kaum gelockerten süßen Banden gesehen, wie er in qualvollen Vernunftgedanken mit seinem ersehnten Ziele gerungen, und wie er sich endlich davon überzeugt habe, daß er wirklich ohne Lili nicht leben könne und daß er sie erringen müsse, allen Bedenken, allen Sorgen, allen Warnungen zum Trotz. Er hatte sich in eine Aufregung gesprochen, die auf den vom Stubensitzen und Lernen gebleichten und geschmälerten Wangen als fieberhafte glänzende Röte erschien. Hilfeflehend sah er zu den ruhigen Zügen dieses gütigen milden runden alten Gesichtes auf. Die Großmutter aber begann mit ihrer herzlichen Stimme, in den zerrissenen Fügungen ihrer aufrichtigen Sprechweise zu trösten und zu sänftigen. Er blickte ihr angstvoll demütig in die grauen lieben Augen, hoffend und ungeduldig, ehrfürchtig und ängstlich. Aber die weichen, fast schmeichelnden Worte sagten nur immer:

»Schau. Sei gescheit. Hab' sie lieb und lern' brav. Aber, Harry, denk' doch! Du bist ja so jung! Und ihr zwei seid so verwöhnt. Und du bist ja noch lang nichts. Und binden kannst du dich nicht, du bei deinem erregten, flüchtigen Temperament.«

Er ging davon wie im Traum. »Soll ich mich losmachen?« fragte er sich. »Soll ich dieses Jus, das zu nichts führt, hinwerfen, zu einer Zeitung gehen? Aber dann bin ich erst recht nichts. Und warten? Ich bin zweiundzwanzig, sie ist zwanzig. Wie lange soll ein Mädel mit zwanzig Jahren warten? Und wenn ich selbst annehme, sie hätte mich so lieb, annehme, daß sie es wagt und wartet, drei, vier Jahre wirklich treu und hoffend wartet: bin ich in drei, vier Jahren derselbe? Hab' ich nicht die Pflicht, mich jetzt zu erklären, bindend zu erklären? Aber wenn dann das Unmögliche doch geschieht, wenn ich wirklich nicht kann – soll ich durch die Trostlosigkeit einer Pflichtsache dieses reine, liebliche Geschöpf beleidigen? Und darf ich anderseits so gemein sein, roh zu brechen, zu verraten, Treue zu mißbrauchen?«

Er war so unglücklich. Er hätte am liebsten laut geweint. »Und das Gräßliche daran ist das,« sagte er sich, »daß der Gedanke so wunderschön ist und nicht gedacht werden soll. Warum nicht? Weil uns das ausreichende Geld fehlt? Ist denn Geld alles? Und kann ich mir denn wirklich nicht Geld verdienen?« Er mußte sich nein sagen. Er war ja doch nicht der Mensch dazu, sich zu verdingen. Er war doch der wohlgeborene Sohn geachteter Eltern. Den ward er nicht los. Da half kein Sträuben. Er war zu schwach. Und hätte das auch einen Sinn gehabt? Er mußte ihr doch eine Stellung bieten, er konnte sie doch nicht an ein ungewisses, schwankendes Dasein fesseln. Es mußte doch um Himmels willen etwas Sicheres sein … Er überlegte zum soundsovielten Male die Berufe. Advokat? Undenkbar. Dauert zehn Jahre mindestens. Gericht? Da mußte er fort von hier und kam doch auch nur bis zu einem kleinen Ziele, dann blieb er sitzen. Und vier Jahre dauerte es ja auch da, bis er als gewissermaßen ernstzunehmender Bewerber auftreten konnte. Verwaltungsbeamter? Es blieb ihm nichts andres übrig … Aber die Reisen? Er mußte doch endlich einmal die Welt sehen. Er mußte doch auf ein Jahr wenigstens hinaus … Durfte er diesen Wunsch überhaupt aufkommen lassen? Das hieß ja dieser endlosen Wartefrist ein Jahr zulegen … Er dachte an seinen Lieblingsplan, Philosophie zu studieren und sich zu habilitieren. »Zu spät. Ich darf nicht. Ich muß in den Beruf. Ich muß ehestens in den Beruf. Ich muß mich begraben. Alle Träume vom langen, langen, einsamen, beharrlichen, durch keinen Amtszwang gestörten Studieren müssen ausgetrieben, müssen zertreten werden, bis kein Funke mehr aufflackern kann … Wie aber kommen mir überhaupt diese Ideen? Ich sollte ja freudig allem entsagen, was mich von ihr entfernt! Ekelhafter Unbescheidener, der ich immer wie ein Kind alles zugleich packen will! Aber Bescheidenheit ist Stillstehen. Ich bin ein Künstler, ein wenig Unbescheidener. Ich hab' das Recht dazu …« Ja, Recht! Und nicht einmal aus der materiellen Hausabhängigkeit hatte er sich zu befreien gewußt trotz dem Titanentrotz und diesem zehrenden bösen Unmut über die Fessel, die er am Fuße mit sich schleppte … »Du bist ein Schwächling,« schrie es in ihm. »Gib dich auf, wie dich das Leben aufgibt! Erschieß dich! Mach' ein Ende!«

»Lili, Lili,« flehte er, »süße kleine blonde Lili, Schutzgeist, hilf mir!« Und so flüchtete er sich nach Hause, zu ihrem Bilde, schrieb ihr einen verzweifelten Brief und vergrub sich in seine Bücher, traurig, wie zerschnitten, mitten entzwei geschnitten, grenzenlos elend …

6

»Wie ist denn das möglich gewesen?« fragten die Leute. »So ein vielversprechender junger Mann,« meinte ein Gütiger. »Er war ein hübscher Bursch,« sagte die Baronin Nini, »wirklich ein hübscher Bursch …«

Seine Mutier aber saß bei ihm und hielt seine verkrampfte weiße Hand. Ihre Augen waren erloschen, stumpf. Und um sie herum stand dieses voll geräumte, behagliche Zimmer mit den vielen Bildern und den glänzenden Büchertiteln. Eine Lampe brannte auf dem Fensterbrett … Warum brennt diese Lampe? Und warum ticken die unermüdlichen Uhren? … Der Vater schlich herein mit gerunzelten Brauen, blaß und scheu. »Man muß ihm den Revolver aus den Fingern bringen,« flüsterte er dem Arzte zu … Dann fiel wieder die Stille herab wie ein dichter Schleier. An den Scheiben aber rüttelte der Frühlingswind …


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