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Vor Jahren hat in einem der einsamsten Dörfer im Teufelsmoor einmal ein Mädchen gedient, so sanft und gut, daß jeder es gern in seinen Dienst genommen hätte. Aber der Kröger, der es eines Tages – er sagte nie, von woher – in sein Haus geholt hatte, hat viel zu gut gewußt, daß er so leicht keine Magd wiedergefunden hätte wie sie, und sie darum gehütet wie einen Schatz, auch nie gelitten, daß jemals einer der Gäste, wenn in der Wirtsstube einmal ein Glas über den Durst getrunken worden war, ein unziemliches Wort über sie gesagt hätte. Ja, als gegen den Herbst hin seine junge Frau bei ihrem ersten Kinde im Wochenbett gestorben ist und er jeden Tag von neuem gesehen hat, wie die Magd, so jung sie auch noch gewesen ist, sich seines Kindes angenommen hat, hat er geglaubt, keine bessere finden zu können und sie eines Tages gefragt, ob sie, nun sie schon so lange Mutterstelle an seinem Kinde vertreten habe, nicht seine Frau werden wolle, er wolle es ihr an nichts fehlen lassen.
Aber da ist über das Mädchen ein so jähes Erschrecken gekommen, daß ihr die Abendbrotschüssel, die es eben hat auf den Tisch setzen wollen, aus den Händen geglitten ist, und als es die Scherben verwirrt und hastig wieder aufgelesen, ist es ohne ein Wort hinausgegangen, hat Speise und Trank verschmäht und sich in seine Kammer eingeschlossen, so daß dem Kröger der gutgemeinte Trost, an der Schüssel sei nicht viel gelegen und Scherben brächten ja Glück, im Halse steckengeblieben ist. 62
Ein paar Wochen danach aber hat sie ihm auf sein immer erneutes Drängen zuletzt doch mit einem scheuen Händedruck ihr Jawort gegeben. Aber die Schwermut, die gleich von den ersten Tagen an auf ihr gelegen, ist darüber nicht geringer geworden. Ja, alle Versuche des Krögers, sie aufzuheitern, und alle seine Bitten, ihm zu sagen, ob ihr vielleicht etwas fehle und warum sie nur immer so still und versonnen sei, haben die dunklen Schatten über ihrem Wesen nicht aufhellen können.
Kopfschüttelnd und mit leisem Seufzen hat ihr der Kröger von da ab zuweilen bei ihrer Arbeit zugesehen, sich zuletzt aber damit getröstet, daß es wohl nur ihre Jugend und die Schwermut sei, die früher oder später jeden einmal zu überfallen pflege, der in einer freundlicheren Gegend aufgewachsen sei und ins Moor hinausziehe. Eines Tages werde sie diesen Zustand, den alle Moorbewohner kennen und der noch heute in der Gegend die »Moorkrankheit« genannt wird, ganz von selber überwunden haben und so heiter und aufgeschlossen werden, wie er es sich für sie gewünscht hat. Vielleicht hat er im stillen auch gemeint, daß schon die Hochzeit ihr einen Schritt dabei weiterhelfen werde, und darum nicht länger mehr gezögert, das Aufgebot zu bestellen.
Am Abend vor der Hochzeit aber, nach einem unruhigen und geschäftigen Tage – es ist eine Nebelnacht im Frühjahr und schon so spät gewesen, daß das letzte Viertel des Mondes wie ein gekenterter Kahn in der blauen Flut des Himmels aufgekommen ist – sitzt das Mädchen noch in seiner Kammer und flicht ihr langes weißblondes Haar für die 63 Nacht ein, und ihr ist so sterbensmüde und schwer zu Sinn, daß sie einmal über das andere und so recht aus Herzensgrund aufseufzen muß. Da hört sie plötzlich ein dumpfes Pochen an ihrem Fenster, und als sie, noch im ersten Schreck, dasteht und kein Glied rühren kann, dringt von draußen eine Stimme herein, so dumpf und klagend und doch so mahnend und drohend, daß ihr die Augen darüber weit werden und die Blässe auf ihrem Gesicht noch um einen Schatten tiefer wird.
»Margret, Margret – wat wullt du doon?
Wo bleev din Woort, un wo blifft min Loon?«
Da weiß sie, daß es der Waterkerl ist, der damals noch in der alten Moorkuhle drüben hinter den Geestkämpen im Sumpfmoor gehaust hat und nun unter ihr Fenster gekommen ist und sie an das Versprechen mahnen will, das sie ihm gegeben.
Am ersten Tage nämlich, als der Kröger sie damals in sein Haus geholt hat, ist sie am anderen Morgen, noch vor Tag und Tag, zum Melken hinausgegangen und in dem Nebel, der über dem Moor gelegen, vom Wege ab und ins Sumpfmoor geraten und darin beinahe versunken, wenn ihr der Waterkerl nicht noch im letzten Augenblick zu Hilfe gekommen und sie ihm in der Todesangst ihres jungen Herzens nicht dafür versprochen hätte, daß sie niemals einem Manne, dafür aber schon zu ihren Lebzeiten und zu jeder Stunde nur ihm allein gehören wolle, und ihm auch gelobt hat, niemand ein Sterbenswörtchen von ihrem Versprechen zu verraten. Scheu und in dumpfem Gehorsam hat sie ihr 64 Geheimnis mit sich herumgetragen als eine unsichtbare und schwere Last. Seitdem sie aber dem Kröger nachgegeben gehabt hat, ist es erst recht schlimm damit geworden.
Wie sie noch steht und daran zurückdenkt und das Gesicht des Waterkerls und seine Augen wieder vor sich sieht, hört sie ihn zum zweitenmal mahnen:
»Margret, Margret – wat wullt du doon?
Wo bleev din Woort, un wo blifft min Loon?«
Da geht ein Erbeben durch ihre jungen Glieder, und das Herz will ihr versagen, so schmerzhaft hart und langsam pocht es in ihrer Brust, daß es sie bis in die Schläfen hinauf schmerzt. Und als sie noch immer steht und nicht weiß, was sie tun oder sagen soll, hört sie dieselbe Stimme zum drittenmal . . . Da weiß sie, daß es kein Entrinnen für sie gibt und etwas Unabwendbares sich erfüllen will, und zieht die Gardine vom Fenster zurück, stößt es auf und beugt sich in die Nacht hinaus. Aber wenn da auch niemand zu sehen ist und nur das Moor vor ihren Augen liegt, von Bodennebeln zugedeckt und vom Mondlicht überglänzt, als hätte eine überirdische Hand die dunkle Erde in Traum und stille Verklärung gehoben, so ist nun doch in ihr kein Halten mehr, und was sie tun will, ist in ihr schon geschehen.
Leise und mit abgewendeten Sinnen steigt sie aus dem Fenster, zieht ihr Brusttuch fester um die jungen Schultern und geht den Weg, den sie damals als ersten gegangen, nun als ihren letzten und wie in einem tiefen Traum und lächelt in der Befreiung, 65 die in ihr ist, als wäre alles Schwere, das solange auf ihr gelegen, nun mit einem Male und für immer von ihr genommen.
Erst zwei Tage später, nachdem man sie schon in der ganzen Gegend gesucht, hat der verzweifelte Kröger sie in dem Wasser der alten Moorkuhle jenseits der Geestkämpe gefunden.
Die Leute sagen freilich, daß sie wohl nur eine heimliche und hoffnungslose Liebe gehabt und es darum zuletzt nicht über sich gebracht habe, dem Kröger seinen Willen zu tun.
Aber die Leute reden ja viel.
In alter Zeit lebte einmal ein Anbauer im Teufelsmoor, der arm wie eine Kirchenmaus in die Gegend gekommen war, es aber mit den Jahren zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatte. Als ihn ein paar Neugierige einmal darum fragten, wie er es eigentlich angefangen habe, so gut voranzukommen, antwortete er:
»Das haben drei Fragen gemacht, die mir ein Kind gestellt hat. Es ist eine seltsame Geschichte damit, und es hat eigentlich keinen Zweck, daß ich sie euch erzähle, denn ihr werdet sie mir doch nicht glauben. Aber der Tag ist bunt und die Welt ist weit, seht ihr, und ein rechter Irrgarten für den, der seinen Weg nicht weiß. Aber auch ein solcher findet sich zuweilen noch zurecht, wenn es mitunter auch mal etwas länger damit dauert, und so ist es mir ergangen. Ich hatte nämlich früh meine Eltern 66 verloren, in meiner Jugend darum nirgends einen rechten Halt gefunden und mich daran gewöhnt, dem lieben Gott den Tag zu stehlen, so daß ich darüber zuletzt zum Landstreicher geworden war. Jahrelang war ich schon unterwegs, da führte mich meine Straße eines Tages hierher in den Norden und ins Teufelsmoor. Ich erinnere den Tag noch gut, als ich, müde vom Laufen, in der Einsamkeit der dunklen Landschaft, in der wir hier leben, von einer so quälenden Reue über mein zielloses und armseliges Leben ergriffen wurde, daß ich nahe daran war, mich an einer der nächsten Kiefern aufzuknüpfen. Zu allem Unglück war ich bei dem dichten Nebel, der über der Gegend lag, auch noch vom Wege abgekommen und hatte mich schließlich so hoffnungslos verirrt, daß ich voraussah, die Nacht auf dem nassen Erdboden zubringen zu müssen. Der Abend dunkelte schon, als ich noch immer ratlos, verzweifelt und hoffnungslos in den Nebel starrte, der so dicht geworden war, daß er wie eine große Mauer um mich stand. Als ich bereits jede Hoffnung, mich noch zurecht zu finden, aufgegeben hatte, sah ich plötzlich gar nicht weit von mir etwas Helles herüberschimmern, und ihr könnt euch mein Erstaunen denken, als ich im Näherkommen unter einer alten Kiefer und in einem lichten Kleide ein Kind sitzen sah, das in sich verloren mit drei goldenen Bällen spielte. Ich weiß wohl, das sieht wie ein Märchen aus, und am Ende ist es auch wohl eins. Aber mir war nach allem anderen als nach einem Märchen zumute, könnt ihr euch denken. Immerhin freute ich mich, endlich wieder einer menschlichen Seele zu begegnen, und fragte 67 das Kind, wie ich in das nächste Dorf oder wenigstens nach dem nächsten Hause komme?
Da sah mich das Kind so merkwürdig an, daß mir ganz seltsam darüber zu Sinne wurde.
›Den Weg zum nächsten Hause?‹ fragte es mit einer leisen, merkwürdig eindringlichen Stimme. ›Ja, aber was nützt er dich, wenn du schon morgen wieder nicht wissen wirst, wie du gehen sollst?‹
Die Antwort drang wie ein scharfer, kühler Stachel in meine Seele und machte mich so verwirrt, daß ich nichts darauf zu sagen wußte und betroffen auf das Kind starrte, das mir eine so seltsame Antwort gegeben hatte.
›Kannst du erraten, wer ich bin?‹ fragte es da leise in mein Schweigen hinein und lächelte.
›Nun‹, antwortete ich in einem dumpfen Trotz, ›wenn du hier im grauen Nebel und bei sinkender Nacht so einsam und verloren sitzen und mit deinen Bällen spielen kannst, kannst du wohl nur das Kind Sorgenlos sein.‹
Da lächelte es von neuem und sagte: ›Ich habe allerdings noch einen anderen Namen, aber der ist wohl zu schwierig zu erraten. Dafür habe ich aber noch eine andere Frage für dich:
Ich kenn einen Stecken,
tät viele schon schrecken,
macht lahm und macht alt,
macht elend und kalt.‹
›Damit wirst du wohl den Bettelstab meinen‹, antwortete ich, und meine Stimme erbebte dabei.
›Das hast du richtig geraten‹, lächelte das Kind. 68 ›Darum möchte ich noch eine dritte Frage an dich richten. Sie ist ein wenig schwieriger als die vorige, aber wenn du ein wenig nachdenkst, wirst du die Antwort schon finden, und dann wird es dir in Zukunft auch kaum mehr so schlecht gehen wie bisher.‹
›Das wäre zu wünschen‹, sagte ich.
›Schwermut und Trägheit zogen über Land,
War eines nur, das sie zu bannen verstand.
Wer hat sie vertrieben,
Wo sind sie geblieben?‹
›Das kann wohl nur das Selbstvertrauen gewesen sein‹, antwortete ich. ›Kein anderes birgt soviel Mut und Kraft in sich.‹
›Nun‹, antwortete das Kind da, ›wenn du das weißt, begreifst du gewiß selber nicht mehr, wie du als ein gesunder und starker junger Mensch seit deiner Jugend über Land ziehen und betteln gehen konntest.‹ Und wie es das gesagt hatte, war es verschwunden, und ich stand wieder allein im Nebel und in grauer Stille, die so tief war, daß ich die Wassertropfen hätte zählen können, die von den nassen Zweigen der Birken ins Heidekraut fielen. Dann aber gab ich mir einen Ruck, und wenn es euch auch lächerlich vorkommen wird, stammelte ich dem Kinde ein ›Gott vergelt's!‹ in die leere Luft nach und ging mit neuem Vertrauen weiter. Wirklich kam ich schon nach kurzer Zeit und noch vor der letzten Finsternis der Nacht hier in unser Dorf und sprach am anderen Morgen zum erstenmal um Arbeit an, wurde auch angenommen und begann zu werken, als könnte ich alle Tage und Stunden wieder einholen, die ich in 69 meinem Leben versäumt hatte. Wie es mir dann hier weiter gegangen ist, wißt ihr. Nach Jahr und Tag konnte ich die kleine Stelle pachten, auf der ich heute noch sitze, und wenn einem hier im Moor auch die gebratenen Tauben nicht in den Mund fliegen, Schwarzbrot und Buchweizengrütze sind auch eine gute Sache.«
»Na«, sagten die, die ihm zugehört hatten, »da hast du uns ja einen schönen Bären aufgebunden. Aber du mußt uns nicht für dümmer halten als wir sind! Denn das Kind, von dem du uns erzählt hast, hast du sicher erfunden, und wahr ist wohl nur, daß du als ein gottverlassener Fechtbruder hier zugewandert bist. Stimmt es nicht?«
»Das letzte ist schon richtig«, antwortete der Gefragte und lächelte. »Aber was das andere betrifft, so habe ich euch ja gleich gesagt, daß ihr mir nicht glauben würdet. Aber wollt ihr mir nun einmal sagen, ob ich ohne das Kind und seine drei Fragen vielleicht nicht längst hinter einem Zaune verdorben und gestorben wäre?«
Über dem Moor steht ein Nebel, so dicht wie ein Brett, und Feuchtigkeit und Winterstille ringsum sind so groß, daß man das leise Aufklatschen der Tropfen hört, wenn sie von den Zweigen der Moorkiefern herab auf die Erde fallen. Dabei ist es am Tage vor Weihnachten. Es will so recht kein Winter werden diesmal, so unnatürlich warm wie die Luft ist . . .
In der kleinen Kate am Eingang des Dorfes, in 70 der Schlafkoje an der Diele, die eigentlich für eine Magd gedacht ist, liegt Annkathrin, die junge Frau des Moorbauern, unter rotgewürfeltem Federbett. Sie hat vor ein paar Stunden ihr erstes Kind geboren, es jetzt zum erstenmal an die Brust gelegt und liegt da, erschöpft noch und ein wenig benommen, aber gelassen und still, während der blaue Qualm des offenen Feuers vom niedrigen Herde aus an ihr vorbei und über die abenddunkle Diele zieht.
Gewiß, es ist noch ein Bett drüben in der kleinen Dönze da. Aber darin schläft Oma, die Mutter ihres Mannes, und Oma hat trotz ihrer Jahre immer noch das Regiment im Hause. Das verknitterte braune Gesicht unter schwarzem Kopftuch, schlurft sie eben jetzt in ihren Holzschuhen an der Bettstatt der jungen Frau vorüber, geht in den Stall und beginnt die Kuh zu melken, langsam und bedächtig, wie sie alles angreift, was es zu tun gibt. Mit leisem Sirren hört man den Milchstrahl im hölzernen Eimer, so still ist es. Nur die Hühner auf ihrer Stange sind noch nicht ganz zur Ruhe.
Da fällt von fern der dumpfe Schlag einer Pauke in die Stille. Klarinette und Dudelsack erheben sich.
Für einen Augenblick hält die Alte mit Melken inne. Wat's dat? Dann weiß sie: Wandernde Marktbezieher, wie sie zuweilen durch die Dörfer kommen. Nun klingt auch ein Triangel in das Genäsel des Dudelsacks. Näher und näher kommen sie. Kinderstimmen mischen sich in den Lärm . . . Da sind sie vor dem Hause. Ohne einen Blick zur Tür hinauszuwerfen, steht Oma vom Melken auf und trägt den Eimer zum Herd, um die Milch durchzuseihen. 71 Aber da bricht die Musik plötzlich ab. Jawohl, der Gendarm ist es. Er verlangt Ausweis und Genehmigung . . . Naja, die Papiere sind ja in Ordnung. Aber heute ist Heiliger Abend, zum Kuckuck, und sie sollen aufhören für heute.
Ja, das wollen sie auch. Sie sind müde genug. Aber wohin? Zum nächsten Krug ist es noch eine gehörige Ecke, und Menschen und Tiere wollen ihre Ruhe.
Da tritt einer von ihnen in die Kate, fragt, ob sie nicht hier bleiben können über Nacht? Das Kamel kann auf der Diele liegen, und die Affen können sie drüben im leeren Schweinekoben unterbringen . . . Es braucht durchaus nicht umsonst zu sein, sie wollen gern bezahlen. Wenn sie nur etwas Heu und Stroh für das Kamel haben können und ein paar Äpfel und etwas Brot für die Affen. Da! Wenn Großmutter will – – fünf Mark wollen sie geben.
Oma macht mißtrauische Augen, aber das Geld lockt sie doch mächtig. Wenn nur ihr Hinnerk wieder zurück wäre! Drei fremde Mannsleute im Hause und das Getier dazu? Das ist keine Kleinigkeit.
Aber da kommt Hinnerk gerade zur rechten Zeit. Er ist vorgestern mit dem Torfboot zur Stadt gefahren und stakt nun soeben wieder den schmalen Graben am Hause herauf.
Was los ist!? Ja, er soll Einquartierung bekommen: Drei Mann! Und Kamel und ein paar Affen dazu.
Hinnerk ist genau so mißtrauisch wie die Alte. Aber das ausgelobte Geld, das sogar im voraus bezahlt werden soll, besiegt allen Widerstand. 72
Da wird auch schon der Riegel der hohen Tür aufgestoßen, und das Kamel braucht nur ein wenig den Kopf zu senken, so ist es schon unter Dach, und die Affen bringt man in den leeren Schweinekoben. Das Schwein, das man über Sommer darin groß gezogen hat, hängt ja schon seit Wochen unter den Balken im Rauch.
An die junge Frau denkt niemand. Sie liegt da in ihrem Bett, blaß und müde, aber halb aufgerichtet hat sie sich doch. Die fremden Menschen und das Kamel dort! Aufgeregt brüllt die Kuh von ihrem Stand herüber.
Erst als Tiere und Menschen versorgt sind und auf einer Strohschütte auf der Diele liegen, winkt sie verstohlen ihrem Mann.
Ja, richtig, das Kleine ist ja gekommen! Verlegen geht Hinnerk auf seinen schweren Holzschuhen zu ihr, hebt die Laterne hoch und betrachtet das Kind.
Annkathrin lächelt. Ihre Augen stehen hell im Schein des Lichts . . .
Ein paar Stunden später kommt die Hebamme noch einmal, um nach der Mutter zu sehen, und stellt draußen ihr Rad ab.
Ja, was für eine Unvernunft! Ob Hinnerk denn ganz von Gott verlassen ist, daß er die fremden Leute ins Haus genommen hat!
Aber Hinnerk weiß sich zu entschuldigen. »Oma«, sagt er kurz.
Na, dann soll er aber aufpassen, daß Annkathrin nicht erschrickt, wenn sie in der Nacht aufwacht und mit einmal das Kamel vor ihrem Bett sieht. Hinnerk muß bei ihr wachen, unbedingt! 73
Hinnerk nickt nur stumm. Ja, das will er wohl machen, hängt die Laterne unter die rauchgeschwärzten Deckenbalken, rückt einen Binsenstuhl vor das Bett und beginnt Besen zu binden, damit er nicht einschläft.
Als die Hebamme weg ist, wickeln sich die Fremden wieder in ihre Mäntel, decken ihre Gesichter mit den Hüten zu, und es wird still im Hause. Nur zuweilen, wenn das wiederkäuende Kamel den Kopf hebt, klingeln die Glöckchen an seinem Halfter in die webende Stille, schimmert das Zaumzeug des Tieres rot und golden im Schein der Laterne auf.
Um Mitternacht beginnt das Kind zu schreien, leise hebt es Annkathrin aus den Kissen, aber Hinnerk nimmt es ihr ab, und während er hilflos und ungeschickt mit ihm dasitzt, beginnt er zuletzt mit dem Stuhl zu wippen und summt leise durch die Zähne:
»Beester, Käuh und Schap,
Musik un ok 'n Aap,
Kamel keem ut dat Morgenland
bit int Dübelsmoor gerannt –
slap, Kindken, slap!«
Und draußen steht die Nacht, und die braune Erde des Moores atmet schweigend im Licht der Sterne wie eine schlafende Mutter, ruhig und voll Zuversicht.
Vor vielen Jahren wohnte in einer einsamen alten Hütte im Teufelsmoor ein armer Häusler, der die beiden Ziegen, die er besessen, über Sommer an einer Seuche verloren hatte und nun kein Stück Vieh mehr 74 hatte als einen jungen Widder, den er über Winter so herauszufüttern dachte, daß er ihn im nächsten Frühjahr für ein paar junge Ziegen einzutauschen hoffen durfte. Zu allem Unglück aber erkrankte im Herbst auch noch seine Frau und ließ ihn ein paar Tage später mit den beiden Kindern, die er von ihr hatte, allein.
Die beiden Knaben waren Zwillinge und so zart und versonnen in ihrer Art, als wären sie nicht von dieser Welt und nur von ungefähr in das dunkle Moor verschlagen.
Als es nun Winter wurde und er eines Tages nicht so viel hatte, um die Kinder satt zu machen, entschloß er sich, so schwer ihm auch das Herz darüber wurde, den Widder in die Stadt zu treiben und zu Gelde zu machen. Seine Sorge, woher er dann im Frühjahr ein paar neue Ziegen nehmen sollte, war darüber freilich noch größer geworden, aber er dachte: Kommt Zeit, kommt Rat! und irgendeine Hilfe werde sich für ihn schon auftun. Er machte sich darum schon am nächsten Abend fertig, versorgte die Kinder, so gut es gehen wollte, sagte ihnen, daß sie bis zum andern Abend allein bleiben müßten, holte den Bock aus dem Stall und machte sich auf den Weg, um am andern Morgen zur rechten Zeit in der Stadt zu sein.
Es war aber eine stockdunkle Nacht, und er kam auf dem verschneiten Felde mit seinem Tiere so langsam vorwärts, daß er darüber nicht wenig ermüdete. Das Schlimmste aber war, daß er, so oft er den Weg auch schon gemacht hatte, sich nach einigen Stunden bei dem starken Schneetreiben, das von neuem eingesetzt hatte, hoffnungslos verirrte. 75
Ratlos, wohin er sich wenden sollte, blieb er zuletzt stehen und blickte in die Dunkelheit hinaus, ob er nicht irgendwo ein Haus gewahrte, wo er anklopfen und nach dem Wege fragen könne. Aber da war nichts um ihn als Nacht und leise rieselnder Schnee, und die Stille war so groß, daß er sein eigenes Herz darüber in der Brust hören konnte. Wie er aber noch stand und überlegte und zugleich an die beiden Kinder denken mußte, die er mutterseelenallein zu Hause gelassen hatte, hörte er plötzlich dicht bei sich ein paar Kinderstimmen aus dem Dunkel rufen:
»Wat steihst Du dor in Wind un Snee?
Dat Moor is wit, und Hunger deit weh!«
Darüber erschrak er bis ins tiefste Herz und fragte:
»Sind ji dat, de ji min eegen sind,
Or is dat de Snee, uu bruust blot de Wind?«
Da antwortete es wieder aus dem Dunkel:
»Us Moder liggt in den deepen Grund,
Upp'n Harten een Steen, wuggt dusend Pund!«
Da wußte er, daß es die Zwillinge waren, seine eigenen Kinder, die ihm nachgelaufen waren, und so sehr er darüber erschrak, freute er sich doch, weinte und lachte zugleich und rief:
»Komt her, Druwappel an eenen Holt,
Ji sind mi mehr as Sülber un Gold!«
Sogleich liefen die Kinder auf ihn zu, und er hob sie aus dem Schnee auf seine Schultern, und so 76 müde er vorhin auch gewesen war, so kräftig fühlte er sich jetzt wieder, und die beiden Kleinen dünkten ihn so leicht, als wären sie nichts.
Als er nun weiterging und noch immer nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, riefen die Kinder:
»Kiek, Vadder, wat lücht us dor van feern?
Is dat 'n Hus – or is dat 'n Steern?«
Wirklich sah er in einiger Entfernung ein Haus vor sich liegen und so schimmernd hell erleuchtet, als feiere man eine große Hochzeit darin. Der Weg dahin aber ging steil aufwärts, daß er sich nicht wenig verwunderte, denn außer dem Weiherberge gab es in der ganzen Gegend weder Hügel noch Berg. Zugleich dünkte ihn der Schnee unter seinen Füßen jetzt eine feine, silberblanke Straße, über die er so leicht hinwegschritt, daß er meinte, er wäre in seinem Leben noch nie so leicht gegangen.
Näher gekommen, sah er, daß er unvermutet an ein Gasthaus gelangt war und ein goldener Löwe als Wahrzeichen des Hauses über der Haustür hing. Gar zu gern wäre er mit seinen Kleinen eingekehrt, als ihm im letzten Augenblick einfiel, daß er nur noch drei Groschen in der Tasche hatte, und wie er darüber nicht an die Tür klopfen mochte und betreten in dem hellen Schein aus den Fenstern des Hauses stehenblieb, fiel sein Auge zufällig auf den Bock, den er vor sich hertrieb, und verwundert rief er aus:
»Van Nacht is woll allens verdreiht un verkehrt?
Wat is blot mit usen Buck passeert?«
Da antworteten die Kinder: 77
»Sin Fell un Höörn sind geel as Gold,
Und Ogen hett he as Füer in 't Holt!«
Wie er noch stand und verwundert den Widder betrachtete, wurde im Hause ein Fenster aufgestoßen und eine Magd guckte heraus, so schön von Angesicht, wie der Bauer in seinem Leben noch keine gesehen hatte. Sie winkte ihm mit der Hand, daß er eintreten sollte, und ging hin und öffnete ihm die Tür. Der Bauer aber blieb stehen, drehte verlegen seine Mütze in den Händen und sagte:
»Ick hew blot dree Groschen mehr to verteern,
Könt wi mit dreen dor satt van weern?«
Da lachte das Mädchen und antwortete:
»Dat geiht hier nich na Geld un Got,
Un de Löw vor de Dör, de bitt jo nich dot!«
Da faßte sich der Bauer ein Herz, band den Widder am Hause fest und ging mit den beiden Kindern in die hellerleuchtete Stube, und die Magd trug ihnen auf, wie ihnen in ihrem ganzen Leben der Tisch noch nicht gedeckt worden war.
Darüber kam nach einer Weile ein Mann von der Straße herein, der war wie ein Fuhrmann gekleidet und mit einem gewaltigen Stier unterwegs, hatte das Tier neben den Widder des Bauern vor das Haus gebunden und begann im Hereintreten sogleich wegen des Bockes zu handeln. Aber kaum, daß er den Preis gehört hatte, schlug er schon ein und sagte:
»De Widder is min, un min is de Stier,
Wen hört aber de beiden Twillinge hier?« 78
Der Bauer war nicht wenig froh, daß er einen so guten Preis für den Widder bekommen hatte, und entgegnete, daß es seine Kinder wären und daß sie ihm ohne Erlaubnis nachgelaufen seien.
Der Fuhrmann lachte, tätschelte den beiden die Köpfe, fragte sie, ob ihnen der Weg herauf nicht zu lang geworden sei, und meinte dann, die Jungen kämen ihm gerade recht, da er ein paar zum Nachtreiben haben müsse. Er wolle dem Bauer eine besondere Belohnung geben, wenn er ihm die beiden Kinder dafür überlasse, langte in die Tasche und zählte sieben blanke Goldstücke auf den Tisch.
Aber von einem solchen Handel wollte der gute Moorbauer nichts wissen. Die Kinder wären ihm für alles Gold in der Welt nicht feil, und wenn er zu Hause mitunter auch kaum etwas für sie zu essen habe, würde er sich doch niemals von ihnen trennen.
Darüber steckte der Fuhrmann ein verkniffenes Lächeln auf und meinte, ein Stück Wegs könnten die beiden doch wohl mit ihm gehen? Eine Viertelstunde weiter führe die Straße nämlich über eine Brücke, und es sei ihm jedesmal, so oft er schon des Weges gekommen sei, nicht ganz leicht gewesen, den Stier hinüberzubringen. Dabei schob er auch jedem der beiden Kleinen ein Goldstück zur Belohnung hin und versicherte, in einer halben Stunde könnten die beiden schon wieder zurück sein.
Da war der Bauer zuletzt einverstanden, und die Kinder bekamen jedes einen Stecken in die Hand, riefen: »Hü, Bulle!« wie sie es in ihrem Dorfe gelernt hatten, und halfen, den Stier hinter dem 79 Widder herzutreiben, daß ihre Stimmen lustig über die stille Straße schallten.
Kaum aber war der Fuhrmann mit den beiden Tieren und den Zwillingen davon, trat die Magd wieder zu dem Bauer in die Stube, räumte den Tisch ab und fragte ihn, wo er denn seine beiden Kinder gelassen habe? Als sie nun hörte, daß sie für eine kurze Weile mit dem Fuhrmann davon seien, schlug sie entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und rief:
»Wer schall jo de beiden nu wedder holen?
De Fohrmann löpt sneller as Peer un Fohlen!«
Der Bauer erschrak auf den Tod, sprang vom Tische auf und lief auf die Straße hinaus, sah aber keine Spur mehr von den Kindern und schrie in seinem Schrecken:
»Min Kinner, min alles, min Hinnerk un Harm!
Erst de Moder, nu de Kinner – dat Gott sick erbarm!«
und warf das Geld, das er für den Widder bekommen hatte, in seiner Verzweiflung von sich auf die Straße. Aber kaum, daß die goldenen Münzen auf das Pflaster klirrten, verwandelten sie sich in die Glieder und Zangen eines Krebses, der mit schimmernden Gelenken davon und den Zwillingen nachzog.
Da aber kam die Magd auf die Straße gelaufen und rief:
»Wat schall dat helpen, un wat nützt di din Ropen?
Een Kreft kann blot kniepen un kann nich lopen!«
reckte sich in die Höhe, nahm den Löwen von seiner Stange und sprach mit beschwörender Stimme: 80
»Lebendig bis du, wie allens in'n Hewen,
Den Fohrmann biit dot, de Twillinge lat leben!«
Da wurde der Löwe lebendig, reckte die goldenen Glieder im Sprunge, bleckte die Zähne und jagte dem Fuhrmann nach. Der Bauer aber war so erschrocken, daß er ohnmächtig darüber auf die Straße stürzte. Als er erwachte, sah er, daß auch die Jungfrau davongegangen und in ihrem Hause alle Lichter erloschen waren.
Verwirrt stand er nun allein in der Dunkelheit, wollte den Kindern nach, verwechselte aber die Richtung und ließ das Haus links statt rechts liegen. Kaum aber, daß er ein paar Minuten gegangen war, sah er eine steinalte Frau am Wege sitzen, die hielt eine Waage empor und murmelte mit zitternden Lippen:
»De Wacht geiht up, de Wacht geiht dal,
Wat wiggt de Lust, wat wiggt de Qual?«
Da meinte der Bauer, sie säße wohl da und wiege ihre Butter ab, und fragte sie:
»Och Moder, vergiff mi, up min Bost liggt 'n Steen,
Hest du mine Kinner wol lopen sehn?«
Aber die Frau antwortete ihm nicht, sah nur den leise schwankenden Schalen ihrer Waage zu und fuhr fort zu murmeln:
»Un witt is swart un swart is witt,
Allens is recht, un allens is quitt!«
Da ergriff den Bauer Furcht vor der Alten und ihren Worten, und er lief weiter, aber das Herz war 81 ihm nun doppelt beklommen in dem tiefen Schweigen der unendlichen Straße, und er wünschte nichts sehnlicher, als daß ihm jemand begegnete, den er nach seinen Kindern und dem Wege fragen könne.
Wirklich sah er nach einiger Zeit einen Fremden auf sich zukommen, der aber in einer so merkwürdigen Kleidung einherging, daß er wie ein Jahrmarktsgaukler anzusehen war. Leib und Glieder steckten in einem flimmernden Gewand, und um seinen Hals hatte er eine Schlange hängen, ein Tier von wahrhaft gleißender Schönheit und mit sternfunkelnden Augen. Zu den Füßen des Schlangenträgers aber sah er ein merkwürdiges Tier kriechen, anzusehen beinahe wie ein Drache, halb Spinne und halb Krebs, den Schwanz mit einem Stachel versehen und über den Rücken erhoben, dabei groß und gewaltig und mit glänzenden Schuppen auf dem Leibe, alle Glieder in einem düsteren Feuer erglühend. Entsetzt über den merkwürdigen Anblick fragte er sich:
»Wat kruppt dor öber Stock un Steen,
Mit'n Mul as Füer un dusend Been?«
Da antwortete der Schlangenträger, als hätte er seine Frage gehört:
»Ick bin de Kummer, ick bin de Qual,
Bin Gift di im Blot, im Fleesch di 'n Pahl!«
und wirklich sank dem Bauern über dem Anblick das Leid seines elenden Lebens mit solcher Gewalt ins Herz, daß ihm der Atem darüber vergehen wollte. Zugleich stieg alles, was er jemals an Unrecht getan hatte – daß er die Mutter seiner Kinder in der 82 Trunkenheit geschlagen und in seiner Jugend seinem eigenen Bruder auf der Tanzmusik einen Stich mit dem Messer versetzt hatte – so quälend wieder in ihm auf, als wäre es eben erst geschehen. Erst die Erinnerung an seine Kinder und seine Angst um sie schreckte ihn aus seinem Dahinbrüten wieder auf, als ihm nach einer längeren Wegstrecke ein doppelt merkwürdiges Wesen begegnete, halb Mensch und halb Pferd, wie er es in seinem Leben noch nicht gesehen hatte. In wildem Galopp und mit den silbernen Hufen die Straße klopfend, in den sehnigen Armen einen Bogen und einen schußbereiten Pfeil darauf, zog es an ihm vorbei.
»Ick bin dat Leben, ick bin de Mot!
Wie lockt mi de Feern, wi schümt mi dat Blot!«
Da war der merkwürdige Schütze auch schon vorüber, und verwundert sah ihm der Bauer nach. Aber nach der Zerknirschung, die der Schlangenträger mit dem Skorpion in ihm hervorgerufen hatte, hatte ihn der Anblick des Schützen mit neuem Mut und neuer Hoffnungsfreude erfüllt.
Die Straße führte ihn jetzt zwischen Bergen hin. Hängende Felsen, schimmernd wie Erz, säumten den Weg ein, rauschende Wasser ergossen sich zwischen ihnen zu Tal, und dampfende Nebel hoben sich über ihm in die nächtliche Luft, leuchtend wie zerstäubendes Silber. Oben auf den höchsten Klippen aber stand ein Steinbock, das mächtige Gehörn in den Nacken gelegt, die sehnigen Glieder zum Sprunge gestreckt. Herrlich, wie er dort oben von Klippe zu Klippe sprang, nun tiefer herabkam und dicht an 83 dem erstaunten Bergedorfer vorbei in derselben Richtung wie der Schütze davonstürmte.
»Keen Barg is to steil, keene Kluft mi to breet,
Ick bin de Wille, und nix is mi leed!«
schien jeder Sprung von ihm zu sagen.
Unser guter Moorbauer war nicht wenig froh, als das Gebirge bei seinem Weiterwandern allmählich zurücktrat und er wieder in die Ebene hinauskam. Vom diamantenen Licht der Sterne überglänzt, sah er nunmehr einen See vor sich liegen, und dahinter eine Landschaft von schimmernden Flüssen und Gräben durchzogen, die ihn an seine Heimat und das Teufelsmoor erinnerten. Am Ende war er nun nicht mehr weit von der Stadt, zu der er gewollt hatte? Wenn ihm nur endlich jemand begegnet wäre, der ihm Auskunft über seine Kinder hätte geben können! Hatte nicht der Fuhrmann vorhin von einer Brücke gesprochen? Vielleicht, daß er doch auf dem richtigen Wege war und die Straße ihn nun bald an eine Stelle führte, wo der Fuhrmann die Zwillinge wieder umzuschicken versprochen hatte? Von neuer Hoffnung erfüllt, stieg er zu dem nachtdunklen Wasser des Sees herab. Hier mußte er doch irgendwo ein Haus finden?
Wirklich sah er im Umherspähen dicht am Wasser eine Hütte liegen, und als er näher kam, gewahrte er am Ufer einen Mann, der ein silbernes Netz ausgeworfen hatte und sich soeben anschickte, es wieder herauszuziehen. Aber gefangen hatte er nichts, und so ließ er es gerade von neuem ins Wasser, als der Bauer herankam, bescheiden seine blaue 84 Schirmmütze zog und nach seinen Kindern fragte. Aber der Wassermann hatte die Kinder nicht gesehen, wußte auch nicht, ob ein Fuhrmann mit einem Widder und einem Stier vorübergekommen sei und hatte nur Sorge, endlich die beiden goldenen Fische zu fangen, die von Ewigkeiten her in dem tiefen Grund des Sees schwammen.
Verzweifelt und müde, von neuem enttäuscht zu sein, verließ der Bauer den Wassermann und den See mit den goldenen Fischen und ging weiter. Unsicher, ob er auch die rechte Richtung eingeschlagen habe, kam er zu allem Unglück zuletzt und wider Erwarten an eine tiefe Schlucht, deren Wände so steil vor ihm abstürzten, daß es unmöglich war, sie zu durchqueren.
Da brach der arme Bergedorfer verzweifelt und niedergeschmettert in die Knie und schrie:
»Wo finn ick de Kinner, wo finn ick de Brugg?
Ick kann nich mehr vorwarts un nich mehr torugg!«
Als er aber seine Augen noch einmal aufhob, ob ihm denn keine Hilfe komme, sah er zu seinem Erstaunen auf der anderen Seite der Schlucht den Widder wieder auftauchen, und sein goldenes Gehörn funkelte in den Strahlen der Sterne. Da merkte er, daß er, statt den Kindern nachzugehen, vom Gasthaus zum Löwen aus die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und den Fuhrmann darum auf dem ganzen Wege nicht eingeholt hatte. Denn nun sah er hinter dem Widder auch den Stier emporsteigen und hinter den beiden – wahrhaftig! erblickte er nun auch die Zwillinge. Noch immer 85 hielten sie ihre Stecken erhoben, um den Stier anzutreiben, und über ihren Sternenaugen schimmerten ihre blonden Locken wie eitel Gold.
Mit den Armen winkend, wollte er sich erheben und ihnen zurufen, aber Stimme und Glieder versagten ihm, und so wie er stand, ist er stehengeblieben bis auf diesen Tag und wird so stehen bis in alle Ewigkeit. Zu seinem Trost aber erschien neben ihm zu seiner Rechten das Sternbild seiner verstorbenen Frau, die Arme in Sehnsucht nach ihm und den Zwillingen erhoben. Denn die Ewigkeit geht ebensogut durch das Teufelsmoor wie durch das Land der Griechen, und es ist gleich, ob die beiden auf den Sternkarten mit griechischen Namen als Perseus und Andromeda verzeichnet stehen oder als Klaus und Geschmagret Tietjen aus dem Teufelsmoor, und auch Kastor und Pollux sind nicht mehr als ein paar arme Zwillingskinder aus dem Teufelsmoor, denn im Urgrunde aller Dinge – ist alles eins, seht ihr wohl!
Lange vor Großvaters Zeiten hat da mal ein Dorf gelegen – den Namen habe ich vergessen, und das ist am Ende ganz gut – dahin ist in jedem Jahre einmal eine alte Frau gekommen, die mit Nähgarn, Band und Knöpfen von Haus zu Haus gegangen und von den Leuten die Zwirnjule genannt worden ist.
Einmal – es ist gerade recht rauhes Wetter gewesen – kommt sie wieder ins Dorf, klopft bei dem ersten Bauern an, der dort wohnt, und sagt: »Ich 86 bin doch so müde, ich kann mir gar nicht helfen!« setzt sich auf die Schwelle der Tür und bleibt dort vor Erschöpfung sitzen.
Die Bauersfrau merkt ja nun, daß es mit der Zwirnjule nicht zum besten steht, und sagt darum: »Geht mal ein Haus weiter, da wohnt der Küster, der wird Euch schon pflegen!«
Als sie zum Küster kommt – er hat neun lebende Kinder gehabt – sagt er: »Ach, liebe Frau, meine Kinder lassen mir selber keine Ruhe. Geht zum Pastor hinüber. Der hat kein Kind und kein Kücken und nimmt Euch schon auf.«
Da sieht sie denn wohl, daß sie beim Küster nicht bleiben kann, rappelt sich unter Stöhnen wieder auf und klopft bei dem Pastor an.
Der schickt sie aber auch wieder fort. Leid genug hat es ihm wohl getan, aber seine Haushälterin hat nicht wollen, daß die Zwirnjule bei ihr hat zum Sterben kommen sollen.
Da geht sie denn das ganze Dorf durch, und immer heißt es, sie soll nur ein Haus weiter gehen, bis zum letzten, darin wohnt eine Häuslingsfrau, die hat ihren Mann im Kriege verloren und sitzt beim Feuer und wiegt ihr Kind. Die nimmt sie auf.
Richtig – am andern Morgen, noch vor Tau und Tag, tut sie in aller Stille ihren letzten Seufzer.
Als sie nun durch das dunkle Tor hindurch ist und auf die große Landstraße kommt, die uns allen noch bevorsteht, setzt sie sich auf den ersten Meilenstein am Wege und denkt: Ruh dich mal erst 'n Stremel aus.
Wie sie wieder aufsieht, stehn da zwei 87 halberwachsene Jungen in hellen Kleidern, gucken sie aus klaren Augen an und sagen: »Zwirnjule, sollst zum Himmel heraufkommen, Petrus hat uns hergeschickt, er wartet schon auf dich.«
Sie will aber nicht. Petrus hat ihr so manchen Kübel Regen über den Buckel gegossen, Hagel ins Gesicht geschmissen und sie wintertags im Schnee umgedreht, daß sie ihm das nicht vergessen kann, und so sagt sie bitter: »Lieber will ich ja in die Hölle, als in eurem alten Himmel in der Ecke sitzen!«
Da gehen die beiden hin und berichten Petrus, was die Zwirnjule ihm zur Antwort gegeben hat.
Sie dagegen wandert in ihrem Trotz zur Hölle hinab.
Weil aber die Teufel, die da unten am Höllentor sitzen, keine arme Seele einlassen dürfen, sie wäre denn zuvor durch das Gericht gegangen, schlagen sie ihr die Tür vor der Nase zu und lassen die Zwirnjule draußen warten, so viel und so lange sie Lust hat.
Da muß sie zuletzt wieder umkehren, setzt sich, eine Strecke entfernt, wieder am Straßenrand nieder und denkt: Was ist das doch einmal für eine wunderliche Welt! und muß den Kopf schütteln.
Da kommen wieder ein paar Jungen zu ihr, größer noch und mit noch klareren Augen als die beiden vorigen, und sagen wieder: »Zwirnjule, sollst zum Himmel heraufkommen. Wir haben da oben keinen Zwirn mehr und uns das Zeug entzweigerissen«, und sehen sie so recht freundlich dabei an.
Antwortet die Zwirnjule und guckt tückisch von 88 der Seite, ihr Zwirn wäre wohl zu grob für die Kleider da oben.
Sie wollen ihr das aber nicht gelten lassen und sagen: »Dein Zwirn ist fein genug, komm du man.«
Sie will aber durchaus nicht.
Nun hat Petrus den beiden den Auftrag gegeben: »Holt mir die Zwirnjule 'rauf, das mag gehen, wie es will. Sie soll nicht da unten an der Straße liegenbleiben. Wenn der Herr da vorbeikommt und sieht das –!«
Sie wissen aber nicht, wie sie es fertigbringen sollen, kommen also zurück wie die beiden vorigen und zucken die Schultern.
Da hört das einer von den Kleinen, wie sie Petrus berichten, und sagt zu ihm: »Laß mich mal hingehen. Ich krieg sie schon 'rauf.«
»Wie willst du das anfangen?« fragt Petrus.
»Oh, das find't sich«, sagt er und geht.
»Tag, Zwirnjule«, sagt er, als er vor ihr steht.
»N'Tag!« sagt sie, »was willst du Nackedei?« und meint, es ist auch so einer, der es darauf abgesehen hat, sie zu foppen und zum Narren zu halten.
»Bloß'n bißchen bei dir sein!«
Das hat ihr noch niemand gesagt, und sie blickt schon ein wenig freundlicher.
»Das ist ein Aufstand da oben im Himmel«, fährt der Kleine fort. »Die Kleider fallen einem schier vom Leibe, so alt wie sie schon sind«, und schielt zu ihr hinüber, ob sie nicht sagt, daß sie hinauf will und Zwirn verkaufen.
Aber so haben es die beiden vorigen auch schon versucht, und sie antwortet nicht ein einziges Wort. 89
»Und mit Petrus ist es schon gar nicht mehr auszuhalten«, fängt der Kleine wieder an. »Er schilt und knurrt den ganzen Tag. Wie ein alter Kettenhund ist er.«
Das ist eine angenehme Musik für ihre Ohren, denn sie gönnt Petrus nun mal jeden Ärger, sagt aber immer noch nichts.
»Seit gestern will er auch das Wetter nicht mehr machen, der alte Knasterbart, und da ist sonst keiner, der Lust dazu hat.«
»Wa–as?« fragt sie und wird mächtig hellhörig. Ja, wenn sie das nun soll, dann will sie wohl mit hinauf. Die Hausierer, denkt sie bei sich, sollen es nun aber mal gut kriegen! Jeden Tag soll die Sonne scheinen!
»Komm!« sagt sie, »wir gehen!«
Als das ungleiche Paar nun durch das Himmelstor tritt, freut Petrus sich nicht wenig und sagt: »Sieh da, Zwirnjule! Gut, daß du endlich herauf bist. Nur – die Stiefel kannst du draußen lassen!«
Der Kleine aber zieht hinter ihr schnell die Tür ins Schloß.
»Kann ich nun das Wetter machen?« sagt sie und ist so kurz angebunden wie ein störrisches Pferd.
»Das Wetter machen?« verwundert sich Petrus und macht mächtig runde Augen. »Wer hat dir denn das aufgebunden?«
»De Krup dor«, antwortet sie. »He sä, du wullst dat nich mehr.«
»Ja«, flüsterte der Kleine da Petrus zu und plinkt mit den Augen: »Ick kunn se anners nich herupkriegen.« 90
Weil nun kein Engel lügen darf und ein Engelswort gelten muß, war guter Rat teuer, und Petrus ein wenig schwül zumute.
»Was wolltest du denn für Wetter machen?« fragt der himmlische Pförtner und kratzt sich verlegen hinter den Ohren.
Da legt sie ja nun los und schilt ihn, wie er sie geärgert hat, wenn sie die langen Dämme da unten entlang gelaufen ist mit ihrer Trage auf dem Rücken, und sagt zuletzt: »Nu sall dat aber jeden Dag 'n Wär sin as Speck, dorfor will ich woll instahn, und all' armen Hannelslüt dar unnen up de Landstraten schüllt dat von nu an beter hebben!«
»Es ist doch rein zu toll«, ärgert sich Petrus. »Mit dem Wetter ist doch noch niemand zufrieden gewesen.«
»Ick lat jeden Dag de Sunn' schienen«, sagt sie und trumpft auf.
»Gut denn«, sagt Petrus, nur damit er mit ihr auseinander kommt. »Du sollst jeden Tag der Sonne die Morgenrotstür aufmachen. Aber das andere muß ich doch selber in der Hand behalten.«
Seitdem öffnet die Zwirnjule der Sonne jeden Morgen das Tor des Himmels, aber Petrus verdirbt ihr zuweilen doch noch das Wetter mit Wolken, Wind, Regen, Hagel und Schnee.