Wilhelm Scharrelmann
Katen im Teufelsmoor
Wilhelm Scharrelmann

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Zum Eingang

Eine Landstraße kenne ich, oben im deutschen Norden, von Birken und Vogelbeeren bestanden, die sich wie ein Wanderlied über die Heide schwingt. Stundenweit geht sie an keinem Hause vorbei. Es ist, als ob man sie vor Jahrzehnten einmal baute, mit Bäumen bepflanzte und dann vergaß.

Immer, wenn ich »Einsamkeit« denke, fällt mir diese Landstraße ein . . .

Es war in einer jener sanften Nachmittagsstunden, in denen der Tag seine erste leise Müdigkeit spürt. Die Sonne ist da, aber ihr Schein ist matt und der Himmel vom Gespinst der Wolken zart verschleiert. Nur, daß sein Blau ein wenig blasser ist. Denn jede Stunde des Tages hat ihr Gesicht, ihren eigenen Klang, ihre besondere Melodie, und von Minute zu Minute wandelt sich der Tag.

Die Straße schien bis an den Horizont zu gehen. Ihr Ende, oder war es ihr Ende immer noch nicht, verschwand in einem leichten, silbergrauen Dunst. Nur die Birken standen festlich heiter mit hängenden, leise schwankenden Zweigen, als hätten sie sich selbst mit Kränzen geschmückt und wollten sich nun die Hände reichen.

Für ein paar Sekunden lebt der Wind in ihnen auf. Aber es ist noch nicht seine Stunde. Ein leichtes Atemholen nur, dann geht er hinter den 6 Ginsterbüschen der alten Sandkuhle wieder schlafen. Erst wenn der Abend kommt, wird er sich wieder erheben. Der Abend ist seine Stunde.

Da streicht ein Vogel über die Straße, bäumt ein paar Birken weiter wieder auf. Leuchtend gelb ist sein Gefieder, als würde ein Strauß von Ginsterbüschen von Baum zu Baum geworfen.

Nun klingt auch sein Ruf, hell wie ein Flötenton. Vogel Bülow!

Heide, Heide, Heide . . .

Kein Mensch im Himmel und auf Erden. Urzeiten stehen auf . . . Die Heide liegt wie ein Meer, Sanddünen schimmern wie Wogenkämme. Tiefer landeinwärts stehen Machangeln wie eingerammte Pfähle.

Stundenlang gehe ich so.

Heide, Heide, Heide . . .

»Ich bin älter als eure ältesten Städte«, singt die Heide, »älter als der Wald, als Baum und Strauch. Aus Gletschernacht und Gletscherkühle stieg ich ans Licht. Das Meer hat mich geboren, und niemand weiß, wie alt ich bin.«

»Ich weiß es«, sagt der Abendwind. »Denn ich bin älter als du, älter als alle Dinge dieser Erde.«

»Nein!« flammt das Licht und bricht in vollem Strahle durch die Wolken . . . »Ich bin älter als ihr beide. War ich nicht das erste, das Gott schuf?«

»Du?« braust der Wind und wühlt die Birken auf . . . »Ich ging von seinem Munde, ehe er dich erschuf. Sein Odem war ich, der die Worte trug: Es werde Licht!«

Heide, Heide, Heide . . . 7

Die Straße wendet sich jetzt in weitem Bogen, ein Reif aus Silber, grün besteckt, der Heide um die braune Stirn geschlungen.

Ein Bauernwagen kommt. Verloren taucht er aus dem Abend auf. Doch eh' ich ihn erreiche, den Bauer nach dem nächsten Dorfe fragen kann, biegt er von der Straße ab, mahlt langsam einen Seitenweg hinauf, verschwindet hinter düstern Kiefern.

Heide, Heide, Heide . . .

Die Sonne sinkt. Wie hingezaubert, bleich und still, glänzt schon der Mond am Himmel auf, den ersten Sternen Mut zu machen.

Da endlich taucht die erste Kate am Rand der Straße auf. Ein Hund schlägt an, wie Wodans Hunde bellten. Hoch reckt der Brunnenarm sich in den nächtig stillen Himmel.

Durch die niedere Seitentür trete ich unters Strohdach. Vom Schein des Flackerfeuers auf dem offenen Herde gelb und rot beschienen, steht der Heidjer. Die Diele schwimmt in blauem Rauch.

Im Traum der Nacht hör' ich die alte Straße sprechen: »Nun bist du mich gegangen vom Morgen bis zum Abend, hast mit der Heide und dem Wind geredet und mich nicht gehört . . . Ich bin dein Leben, du . . . Von Wolken überschauert, vom Sturm bewegt, von Regengüssen überspült, von Sommertagen eingewiegt, vom Frost gehärtet und vom Schnee verweht . . .«

Es ist lange her, daß ich die alte Landstraße ging. Aber ich habe sie nicht vergessen. Ich brauche nur »Einsamkeit« zu denken. 8

 

Das Denkmal

Hast du noch mal den Damm hinuntergesehen, Mutter?« rief Klas über die Diele seines kleinen Hauses und gab der Kuh, der einzigen, die er besaß, die Strohschütte vor, die sie an jedem Abend nach dem Füttern bekam.

Ol-Trin, die vom Kohlhof wieder auf die Diele getreten war und nun an den Herd zurückkehrte, nickte verdrossen.

»Ja, ja«, sagte sie und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Du hättest ja sonst doch keine Ruhe gegeben.«

»Na, und?« fragte der Alte, wenn er auch wohl wußte, daß es überflüssig war.

»Nichts. Wie immer«, antwortete Ol-Trin.

Nachdenklich schüttelte Klas den Kopf. »Und dabei hatte ich heute den ganzen Tag so ein Vorgefühl, als wenn er nun heute abend wirklich kommen müßte . . .«

Ol-Trin antwortete nicht darauf. Sie kannte das schon. Klas hing nun mal an seiner Einbildung, da war nichts zu machen. Er wurde wohl langsam wieder zum Kinde. Nun ihm doch alle, bis zum Pastor hinauf, versichert hatten, daß es völlig ausgeschlossen sei und er sich nicht länger unnütze Hoffnungen machen solle, daß sein Lür noch einmal wieder zurückkehren werde . . . Aber der Alte war nicht zu überzeugen. Mochten sie alle sagen, was sie Lust hatten! Wie war es denn mit Krügers Hermann gegangen, he? War er nicht auch erst Jahre nach dem Friedensschluß zurückgekommen, als niemand 9 mehr geglaubt hatte, daß er noch lebte? Ebenso ruhig und selbstverständlich würde auch Lür eines Tages wieder da sein und den Damm heraufkommen, an dem die kleine Kate lag, ganz wie an dem Tage, als er von ihnen Abschied genommen hatte.

»Na«, hatte Klas zu ihm gesagt, »dann vergiß auch das Wiederkommen nicht, hörst du?«

Kein Wort sonst. Und Lür hatte dazu gelächelt, wie es sich gehörte, wenn sein Vater einen Scherz machte, ein stilles, ruhiges Lächeln . . .

Jahre waren nun darüber hin. Aber was wollte das besagen? Ein Jahr – was war das viel? Ihrer fünf oder zehn Jahre waren am Ende noch nicht so viel wie ein Atemholen des lieben Gottes, und wenn Lür heute nicht kam, kam er eben morgen . . . Vielleicht hatte er Grund, sich Zeit zu lassen, wer konnte darüber etwas wissen? Der Pastor und der Superintendent wußten auch nicht mehr, als sie gelernt hatten, seht ihr.

Aber Lür kam auch am nächsten Tage nicht und auch an keinem der folgenden. Dafür brachte der Postbote ein paar Wochen später einen Brief. Klas traute seinen Augen nicht. Er wußte die Zeit nicht mehr, daß jemand an ihn geschrieben hatte.

»Siehst du, Mutter«, sagte er zu Ol-Trin, »nun hat er geschrieben! Aber er hätte sich nicht erst groß anzumelden brauchen . . .«

Als der Alte endlich die Brille gefunden hatte – sie benutzten sie beide, wie es gerade kam, und Ol-Trin hatte sie mal wieder, weiß der Deibel! in ihrem Strickkorb vertüdert – las er den Brief, und 10 es ging schneller damit, als er erwartet hatte. Der Inhalt war kurz und bündig. Klas alte Schwester Aleid, die bei ihren Kindern in der Stadt wohnte, war gestorben, und der Mann ihrer Tochter zeigte es Klas und Ol-Trin an. Die Beerdigung sollte am nächsten Tage sein.

Klas ließ den Brief sinken und seufzte.

Sie hätte wohl noch etwas leben können, achtundsechzig Jahre waren eigentlich noch kein Alter. Aber sie hatte ja schon lange gekränkelt. Nun war es vorbei mit ihr. Gott hab sie selig. Wir müssen alle einmal sterben.

Er hatte ja zuerst gemeint, daß der Brief von Lür sei. Nun war es anders damit. Na ja.

Am folgenden Tage in aller Frühe nahm Klas seinen Abendmahlsrock aus dem Spind, setzte seinen ebenso alten Zylinder auf und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Es war ein anstrengender Marsch, aber der Alte ließ sich Zeit, und dazu gab es auf den Feldern so viel zu sehen, daß ihm der Weg nicht lang wurde. Hier stand der Roggen schlecht, und dort wurde es für die Kartoffeln auch Zeit, daß sie angehäufelt wurden . . .

Als die Beerdigung vorüber war und die gute Aleid ihren letzten Weg hinter sich hatte, nötigte ihr Schwiegersohn den Alten vom Kirchhof wieder in sein Haus und bewirtete ihn dort, wie es Sitte war. Sie wollten sich nicht lumpen lassen, hatten sie zueinander gesagt, seine Frau und er, so wenig sie es auch dazu hatten. Darum gehörte es nur dazu, daß man dem Alten auch ein Glas von dem Wein 11 vorsetzte, den man für die Beerdigung angeschafft hatte. Ein Gläschen Kümmel hätte es am Ende auch getan, aber Klas und Ol-Trin und die Nachbarn sollten hinterher nicht sagen, daß sie es an etwas hätten fehlen lassen.

Trotzdem stand der Alte früher wieder auf, als man angenommen hatte.

»Wollt Ihr schon wieder gehen?« fragte seine Nichte, die sich eine Küchenschürze vor ihr Trauerkleid gebunden hatte und in der Küche stand und Schüsseln spülte.

Ja, das wollte er. Er murmelte, daß er ja zu rechter Zeit wieder zu Hause sein müsse, da Lür vielleicht gerade heute – – Hm. Er meine nur so . . .

Niemand verstand, was er damit sagen wollte, aber schließlich war der Weg ja auch weit. Zwei bis drei Stunden müsse er wohl dafür rechnen, he?

O, meinte Klas, es könnten wohl vier werden, und nun es schon über Mittag sei, werde es – weiß der Deibel! – wirklich Zeit für ihn . . . Und dann könne er ja auch sowieso die Stadt nicht leiden. Man möge es ihm nicht übelnehmen, aber daß Aleid es hier so lange ausgehalten habe, sei gewiß kein leichtes Stück für sie gewesen . . .

Auf dem Heimwege muß er einen Platz überqueren, auf dem sich eine große Menschenmenge staut, am dichtesten vor der Tür zu einer Kirche, die sich düster und ernst in die lichte Bläue des Frühlingshimmels hebt. Musik erschüttert mit ernsten Akkorden die Luft, und alle, die vor ihm und um ihn stehen, recken die Köpfe.

Was denn da los sei? erkundigt sich der Alte. 12

Leise verständigt man ihn, daß da drüben in der Kapelle im Eingang der Kirche ein Denkmal für die Kriegsgefallenen errichtet werde.

»So, so!« nickt Klas und will schon weiter, als die Musik verstummt und eine schallende Stimme von der Kirche her zu der Menge zu sprechen beginnt.

Befangen bleibt der Alte an seinem Platze stehen, kann aber bei aller Mühe nichts Rechtes verstehen, und nur hin und wieder erreichen ein paar abgerissene Worte sein Ohr.

Nein, es hat wohl keinen Zweck, noch länger zu warten. Wer weiß, wie lange das da drüben noch dauert . . . Aber da dröhnt plötzlich dumpfer Trommelwirbel zu ihm herüber, und nun setzt auch die Musik wieder ein und geht leise in die Melodie zu »Ich hatt' einen Kameraden« über.

Ergriffen hört der Alte zu. Ja, das Lied kennt er, und das ist eine Sprache, die auch er versteht.

Aber als das Lied verklungen und die Feier zu Ende ist, ist es erst recht unmöglich für ihn geworden, seinen Weg wieder aufzunehmen. Auch hinter ihm stehen jetzt Hunderte von Menschen, die nach ihm noch hinzuströmten, und alles um ihn bewegt sich nun langsam auf die Kirche zu, wo das Denkmal jetzt zur Betrachtung freigegeben ist.

Ein Schauer überrinnt den Alten, als ihm in der sonnenwarmen Mittagsstille des Tages plötzlich der kühle Atem der Kirche entgegenschlägt. Mit zittrigen Händen entblößt er seinen greisen Kopf und tritt, von der schweigenden Menge weitergedrängt, über die Schwelle. 13

Im selben Augenblick verschlägt es ihm den Atem. Mit weiten Augen starrt er einem in hellen Stein gehauenen Krieger in das eherne Antlitz.

Ja, irrt er sich nun oder trügen ihn seine Augen wirklich nicht? Der da in unbeweglicher Ruhe ausgestreckt liegt, die Augen geschlossen, die Lippen wie in ewigem Schweigen aufeinandergepreßt – ist ja niemand anders als sein Lür! – Nein, da ist überhaupt kein Zweifel möglich, das ist Lür, niemand anders als er, und ganz so, wie er leibte und lebte. So, genau so, sah er aus, als er damals Abschied nahm und ins Feld ging. – – –

Leise dringen aus der Tiefe der Kirche die Klänge der Orgel zu dem Alten herüber.

»Lür!« stammelte der Alte mit bebender Stimme. »Lür! mein Lür!«

Der Duft der Blumen und Lorbeerkränze, die in verschwenderischer Fülle den steinernen Fußboden der Kapelle bedecken, benimmt dem Alten fast die Sinne. Er weiß kaum mehr, was um ihn herum vorgeht, will stehenbleiben, sträubt sich gegen den Druck der Nachdrängenden. Aber es ist unmöglich, und unwiderstehlich wird er von der Menge weitergeschoben, die in ehrfürchtigem Schweigen an dem Denkmal und der aufgestellten Ehrenwache vorbeizieht und sich dann langsam in das Dämmerdunkel der Kirche verliert . . .

Durch einen der Seitenausgänge der Kirche gelangt der Alte endlich wieder ins Freie.

Als er am Abend, sehr viel später als er gerechnet hat, wieder nach Hause kommt, steht Ol-Trin besorgt auf dem Damm und blickt nach ihm 14 aus. Es ist so ganz gegen seine Weise, länger als nötig auszubleiben, und die Sonne ist schon im Untergehen. Schließlich ist Klas ein alter Mann . . .

»Nein«, sagt er, »nun stehst du schon wieder da und guckst den Damm hinunter. Aber das hat nun keinen Zweck mehr, siehst du. Denn jetzt weiß ich, er kommt nicht mehr wieder, und der Pastor hat ganz recht damit gehabt . . . Aber dafür hat man ihm nun in der Stadt ein Denkmal gesetzt, Ol-Trin, was sagst du? Ich hätte es ja in meinem Leben nicht für möglich gehalten, aber es ist so, wie ich sage.«

Ol-Trin meint, daß es nun wohl ganz aus ist mit seinem Verstande. Vielleicht, daß ihm die Beerdigung seiner einzigen Schwester so nahe gegangen ist und ihn nun ganz aus dem Geleise gebracht hat?

»Du sprichst doch wohl nicht von Lür?« fragt sie.

Doch. Natürlich spricht er von Lür. Von wem sollte er sonst wohl sprechen? Und das Wunderbarste sei die Ähnlichkeit, so daß jeder, der Lür gekannt habe, ihn auf den ersten Blick erkennen müsse. Gleich morgen wolle er wieder hin, und Ol-Trin müsse auch mit, da helfe nun alles nichts.

Verzweifelt und unglücklich schüttelt Ol-Trin den Kopf.

»Vielleicht, daß es ja noch mal wieder vorübergeht mit ihm«, denkt sie, »wenn er nach der Aufregung, die ihm der Tag gebracht hat, erst wieder richtig zur Ruhe gekommen ist.«

Sonst muß sie morgen unbedingt nach Diemenbusch hinüber. Vielleicht, daß ihr Harm Klüth ein 15 Sympathiemittel gibt für Klas? Keiner versteht sich so darauf wie er.

 

Der Zinnteller

Einmal, es ist in einem Hungerjahr gewesen zur Winterszeit und hat so scharf gefroren gehabt, daß alle Gräben bis in den schwarzen Moorgrund hinein zugefroren gewesen sind, sitzt die junge Frau eines armen Holzschuhmachers abends noch spät und mutterseelenallein auf der Diele an ihrem Herde und wartet auf ihren Mann. Der ist im Nachbardorf auf Arbeit gewesen. Aber die Stunden vergehen, und er kommt nicht und kommt nicht. Zuletzt gibt sie es auf und denkt, er ist vielleicht bei seinen Verwandten über Nacht geblieben, stellt ihr Spinnrad und die Wolle an die Seite, nimmt die Pfanne vom Nagel und will sich ein paar Bratkartoffeln zum Abendbrot machen.

Da es aber in der Zeit gewesen ist, daß sie ihr erstes Kind erwartet hat und sie seit langem, Abend für Abend, immer nur Bratkartoffeln gehabt hat, ist plötzlich ein so großes Verlangen nach etwas anderem über sie gekommen, daß sie sich gar nicht hat lassen können und alles darum gegeben hätte, wenn sie sich einmal wieder an einem Pfannkuchen hätte satt essen können. Sie hat aber nichts von dem, was dazu gehört, im Hause gehabt, nicht einmal ein Lot Mehl und nur ein einziges Ei, das eins ihrer wenigen Hühner trotz der Kälte und wohl nur aus Versehen gelegt gehabt hat.

Wie sie aber noch sitzt und in den blauen Rauch 16 des Feuers blickt und mit sich kämpft, ob sie nicht wenigstens das Ei zu ihren Kartoffeln in die Pfanne schlagen soll, hört sie plötzlich Schritte beim Hause, meint, daß ihr Mann doch noch gekommen ist, und geht hin und stößt den Riegel von der Tür.

Als sie aber hinausguckt, sieht sie einen Fremden draußen stehen, der trägt einen Sack auf dem Rücken und steht da so weiß wie ein Müllerknecht, der eben aus der Mühle kommt.

Da meint sie, daß es ein Handelsmann ist, der bei dem Schnee vom Wege abgekommen ist, wundert sich freilich, daß so einer noch zu so später Stunde unterwegs ist, mag aber nicht weiter fragen und sagt nur:

»Kumm rin un warm Di.«

Das hat der Mond – denn er ist es gewesen – bei der bitterkalten Nacht nicht ungern gehört, ist doch ein Ostwind über das Moor gegangen, so rauh und scharf wie eine Zweimännersäge.

Sie rückt also draußen die Kartoffeln vom Feuer, setzt die Pfanne auf den Tisch im Unterschlag, legt ein paar Gabeln auf und nötigt den Fremden, mit zu essen. Er läßt sich auch nicht lange nötigen und langt zu, bescheiden und still und ganz in der Weise, wie er die Leute im Moor von jeher hat essen sehen.

Die Frau aber muß bei jedem Bissen an den Pfannkuchen denken, den sie so gern gegessen hätte und seufzt über ihrem heimlichen Verlangen so laut auf, daß der Fremde sie fragt, ob ihr etwas fehle und er ihr helfen könne. Da erschrickt sie ein wenig, daß sie sich verraten hat, will aber nicht sagen, was sie bedrückt, und steht lieber vom Tisch auf, damit der Fremde aufhören soll, mit Fragen in sie zu 17 dringen. Als er aber immer noch nicht nachläßt, stößt sie zuletzt doch heraus, daß sie für ihr Leben gern einmal wieder Pfannkuchen äße, aber kein Mehl und nur ein einziges Ei im Hause habe, und muß sich darüber heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.

Der Mond nun, kaum, daß er ihren Wunsch vernommen hat, antwortet ihr, wenn sie weiter keinen Kummer habe, so solle ihr bald geholfen sein. Er wolle ihr einen Pfannkuchen backen, wie sie in ihrem Leben noch keinen gegessen habe.

Sie meint aber, daß es Spaß ist, und sagt:

»Kannst Du ok backen van wat un van nicks,
denn tühn man nich lang un back em man fix!«

hat aber nicht wenig erstaunt aufgesehen, als der Mond alles, was zu einem Pfannkuchen gehört, aus seinem Sack genommen, Wasser aus dem Eimer beim Herde geschöpft und in einer Schüssel aus dem Tellerrack an der Wand einen so herrlichen Teig bereitet hat, daß der Frau die Augen groß darüber geworden sind. Wie er dann den Kuchen in der Pfanne aufs Feuer gestellt und ihn auf beiden Seiten schön braun gebacken hat, ist der jungen Frau schon von dem Duft das Wasser im Munde zusammengelaufen, daß sie die Zeit nicht hat abwarten können, bis er fertig geworden ist und sie sich hat dahinter setzen können.

Wie sie noch ißt und gar nicht satt werden kann wie ein überhungriges Kind, sieht sie, wie der Fremde, ein zufriedenes Lächeln auf seinem breiten runden Gesicht, seinen Sack wieder zuschnürt und sich anschickt weiter zu wandern. Da will sie sich 18 gern dankbar erzeigen und ihm etwas schenken für seine Mühe und die herrlichen Zutaten zu dem Pfannkuchen und beginnt herumzukramen, was sie ihm denn wohl geben könne, und findet nichts Rechtes. Ohne Dank aber, mit einem bloßen Wort, soll der Fremde nicht gehen. Da fällt ihr zuletzt das Halstuch ein, das sie einmal von ihrer Mutter bekommen und immer sorgsam geschont hat. Das ist aus himmelblauer Wolle gewesen und mit Silberfäden durchwirkt. Wie sie es nun dem Fremden schenken und es ihm bei der Kälte draußen selber gleich um den Hals legen will und dabei ganz dicht vor ihn hintritt und der helle Schein aus seinem Gesicht in das ihre fällt, wird ihr so wunderlich zu Sinn, daß sie meint, es sei ihr in ihrem Leben noch nicht so gewesen. Der Fremde will aber ihr Tuch nicht nehmen, schüttelt nur den Kopf und geht so still zur Tür, wie er hereingekommen ist. Da wird sie traurig, daß er nun doch ohne Dank bleiben soll, und will ihm wenigstens den Weg zeigen, damit er sich nicht von neuem verirrt. Darüber hat der Mond lächeln müssen, so still und gut, wie nur er lächeln kann, hebt die Hand zum Gruß und ist schon sacht davon. Sie aber geht ihm nach und fühlt die Kälte nicht, kann ihn jedoch draußen nicht erreichen, soviel Mühe sie sich auch darum gibt. Da ruft sie zuletzt, er solle umkehren und einen anderen Weg nehmen, denn so laufe er in das tiefste Moor. Wirklich glaubt sie auch, daß er sie gehört hat und sich umwendet und wieder auf sie zukommt. Als er aber näher kommt, erkennt sie, daß es ihr Mann ist und nicht der Fremde, der vor sie hintritt. Der wundert sich nun 19 nicht wenig, daß sie bei ihrem Zustand in Nacht und Schnee im Moore herumirrt, und meint, daß sie ihm hat entgegengehen wollen. Sie ist aber wie verstört und weiß nichts zu sagen und sieht ihren Mann nur immer groß an, daß ihm ganz fremd dabei wird.

Erst als er sie wieder ins Haus geführt hat, kommt sie zu sich und nötigt ihn an den Tisch, damit er den Rest von dem Pfannkuchen esse, den ihr der Fremde gebacken hat. Aber da ist kein Pfannkuchen gewesen und nur der leere Zinnteller steht da und gleißt im Mondschein wie Silber.

Da hat es dem Mann keine Ruhe gelassen, und er ist noch in derselben Nacht auf die Nachbarschaft gegangen, ein wenig Mehl und Zucker zu dem Ei zu borgen, das seine Frau für ihn geschont gehabt hat, und hat ihr einen Pfannkuchen gebacken, so schön, daß sie still und mehr als satt davon geworden ist. Der Mond aber hat auf diese Weise doch noch seinen Willen bekommen.

 

Wunder im Schnee

Zu der Zeit, als die Städte noch eng und verwinkelt hinter festen Mauern und Toren lagen, ist eine arme Magd aus der Gegend am Teufelsmoor in der Stadt Bremen bedienstet gewesen, hat aber eines Tages so das Heimweh gekriegt, daß sie es zuletzt gar nicht mehr hat verwinden können und eines Nachts, ohne von sich selber zu wissen, aus ihrem Bette aufgestanden ist und sich auf den Weg nach Hause gemacht hat.

Als sie nun durch die verschneiten Gassen an das 20 Stadttor kommt, erschrickt sie, weil sie keinen Torpfennig hat, fürchtet sich auch, die Wächter zu rufen und sie zu bitten, sie um Christi willen hinauszulassen, und weiß nicht, was sie tun soll. Wie sie noch steht und im stillen hofft, daß ein anderer kommen und man das Tor aufschließen und sie mit hinausschlüpfen werde, kommt der Mond die Treppe an der Stadtmauer herab, hebt auf den verwitterten alten Stufen seine Laterne in die Höhe und blickt ihr im Vorübergehen in das schmale Gesicht, das ihm so bleich entgegenleuchtet wie der frischgefallene Schnee. Sie meint aber, daß es einer der Torwächter ist, der einen Gang auf der Stadtmauer gemacht hat, und eine Angst überkommt sie, daß er sie ergreifen und in den Turm sperren werde, bringt darum kein einziges Wort über die Lippen und hebt nur flehend die Hände.

Der Mond aber, freundlich wie er zu allen verlassenen und kummervollen Seelen ist, versteht auch ohne Worte, was sie sagen will, nickt nur, legt den Finger auf den Mund und winkt ihr, ihm zu folgen. Da faßt sie sich ein Herz, mag aber ihren Augen nicht trauen, als sich das Tor, ohne daß der Alte Schloß und Riegel berührte, so gehorsam und lautlos vor ihr öffnet, als würde es von einem Zauber bewegt. Kaum aber, daß sie hinausgegangen ist und sich nun wenden und ihren Dank sagen will, hat der Fremde seine Laterne unter den Mantel genommen und ist in der Dunkelheit schon wieder davon, unhörbar wie er gekommen, und das Tor hinter ihr ist wieder verschlossen, als hätte es sich überhaupt nicht aufgetan. 21

Da steht sie nun draußen in Nacht und Schnee und sucht den gütigen Helfer mit den Augen, kann aber keine Spur von ihm entdecken. Wie sie nun zuletzt ihres Weges weiterwandert und in dem traumtiefen Geschehen der Stunde keine Müdigkeit über sie kommt und sie dahingeht, als berührten ihre Füße die Erde kaum, sieht sie sich nach einer Weile vor dem Fluß stehen, der das Gelände der Stadt von ihrer Heimat trennt, und erschrickt von neuem, daß sie ja auch dem Fährmann die Überfahrt nicht zahlen kann, hebt aber doch die Hand an den Mund und ruft mit einer Stimme, die viel zu hart und windverloren ist, als daß der Fährmann sie drüben in seinem Schlafe hätte vernehmen können, ein Halöver! über das nachtdunkle Wasser.

Aber siehe da, kaum ist ihr Ruf verhallt, löst sich drüben bereits ein Boot vom Lande und gleitet so leise zu ihr herüber, daß sie nicht einmal ein Plätschern des Wassers, geschweige denn ein Klirren der Kette oder ein Geräusch der Ruderstange hört. Weil sie aber den Fährmann seit ihren Kindertagen kennt, meint sie, daß er wohl gerade am Wasser zu tun gehabt habe und darum so schnell komme. Sie erstaunt aber nicht wenig, als sie sieht, daß statt des Fährmannes derselbe Fremde im Schiffe steht, der ihr vorhin aus der Stadt geholfen, so daß er ihr vielleicht doch vorausgegangen ist, und sie hat es nur nicht bemerkt, und eine kleine Freude steht in ihr auf, daß sie ihm nun doch noch ihren Dank sagen kann. Der Fremde aber lächelt nur zu den Worten, die sie sagt, bringt sie über das Wasser und ist wiederum verschwunden, als hätte ihn die Nacht verschluckt. 22

Da wandert sie ja wieder weiter durch Nacht und Schnee, wundert sich auch nicht, daß ihr nicht eine einzige Seele auf ihrem langen Wege begegnet, ist aber doch wie erlöst, als sie endlich vor dem Hause ihrer Mutter steht. Im Näherkommen will ihr freilich alles merkwürdig verändert und fremd erscheinen, und eine Ahnung überkommt sie, daß ihre Mutter vielleicht gar nicht zu Hause und zu Verwandten gegangen ist. Klopft darum auch weder an Tür noch Fenster, sondern bückt sich gleich vor der Schwelle, findet den Schlüssel auch an der gewohnten Stelle, wie sie es von ihren Kindertagen her kennt, wenn ihre Mutter einmal fortgegangen war. Auf der Diele aber weht ihr wieder ein so merkwürdiger Hauch entgegen, daß es sie durchschauert, so daß sie kaum die Tür zur Stube öffnen mag. Drinnen im Alkoven liegt denn auch das Bett unberührt und strömt eine Kühle aus, als hätte schon seit Jahr und Tag kein Mensch mehr darin gelegen.

Wie sie noch steht und sich kaum zu rühren wagt in der tiefen Stille, die um sie ist, dringt nun plötzlich ein dumpfes Pochen an ihr Ohr, und sie meint, daß es der Schritt ihrer Mutter ist, die die Warf am Hause herauf und wohl gerade heimkommt, und steht in der Spannung des Augenblicks wie gelähmt – bis sie merkt, daß es ihr eigenes Herz ist, das so laut schlägt. Da weiß sie mit einem Male, daß ihre Mutter gestorben und vielleicht schon begraben ist, und niemand aus ihrem Dorfe hat in Sturm und Schnee den weiten Weg darum machen mögen, um es ihr anzusagen. Aber es kommt kein Laut aus ihrem Munde, bis sie in die Knie bricht 23 und sich der Schmerz in ihr in einem Weinen löst, als hätte man sie geschlagen.

Wie sie noch liegt und das Gesicht in die kühlen Leinen des Bettes drückt, kommt der Fremde von vorhin zum drittenmal, guckt durch das Fenster in die Stube und ruft ihr zu:

»Du büst jung und se wör olt,
Du büst warm und ehr wör kolt,
Hör up, hör up to weenen!«

Sie weiß aber nicht, wer mit ihr spricht, meint, daß es einer der Nachbarn ist, der sie hat kommen hören, und antwortet:

»Ick keem alleen över Feller und Straaten,
Segg is, wo hewt ji min Moder laten?«

Antwortete der Fremde von draußen:

»Stah up un drög de Thranen din,
Se kunn nich tiedlebens bi din sin.«

Nun weiß sie für gewiß, was geschehen ist, und antwortet in ihrem Schmerz:

»Un slöppt min Moder in ehr Graff,
so drögt kene Hand mi de Thranen mehr af!«

Da hält es den Mond nicht mehr, und er tritt zu ihr in die Stube, hüllt sie, die ohne Willen daliegt, in seinen Mantel und trägt sie still an den Ort zurück, von dem sie gekommen ist, legt sie dort wieder in ihr Bett und läßt sie sich ausweinen.

Als sie nach einer Weile dann doch über ihren Tränen erwacht und sich aufrichtet, weiß sie zuerst 24 nicht, wo sie ist, bis sie merkt, daß es nur ein Traum war, den sie erlebte, und erkennt in ihrem jungen Herzen alles in einem, das Schicksal alles Lebens auf dieser Erde und den Abschied aller von allem, den Wandel der Sterne und den Tag und die Nacht, und daß alles so sein muß und darum im tiefsten richtig ist, und auch ihr Schicksal, klein und unbedeutend in den Augen der Welt, verbunden ist mit allem Geschehen auf dieser Erde und sie in ihrem Traum ein Leid erlebte, das an keinem vorübergehen kann, der in dieses Leben trat. Und wenn sie auch zugleich den Gedanken nicht hat loswerden können, daß es Wahrheit sei, was ihr der Traum angezeigt habe, steht sie doch gefaßt und ruhig auf und bittet die Frau noch in der Frühe: »Laßt mich nach Hause, meine Mutter ist gestorben, und niemand hat es mir angesagt!« hat sich auch durch nichts davon abbringen lassen und sich trotz des tiefen Schnees sogleich auf den Weg gemacht.

In ihrem Dorfe aber hat man sich nicht wenig gewundert, wie still und gefaßt sie alles auf sich genommen hat, als man ihr sagen mußte, daß ihre Mutter in der Tat unverhofft gestorben und am Tage vorher bereits zu Grabe getragen worden sei.

 

Hille Vendts Geheimnis

Waren die Sieben etwa vergessen? Nein, vergessen waren sie durchaus nicht, das konnte man nicht sagen, so geschwind lief die Zeit denn nun doch nicht, wenn der Efeu ihre Namen auch allmählich schon überwuchert hatte, der über die Findlinge kroch, die 25 man ihnen gewidmet und draußen vor dem Dorfe errichtet hatte, auf dem Sandhügel bei Hemsoths Fuhrenkamp. Im Gegenteil, alles war damit in Ordnung: das Grundstück war von der Gemeinde geschenkt worden, der Ausschuß hatte den Entwurf in langen Beratungen überlegt, und dann war es, wie alle Zeugen der großen und erschütternden Zeit, in einer Feier eingeweiht worden, wie sie schöner und ergreifender nicht hätte gestaltet werden können. Sieben Findlinge hatte man für das Denkmal zusammengetragen, und jeder Gefallene hatte einen Stein bekommen. Darin waren die Anfangsbuchstaben seines Namens eingehauen worden, und darunter stand »Fr. 13. 5. 15« oder »R. 17. 11. 16«. Fr. bedeutete Frankreich und R. hieß Rußland. Nur einer war in Kleinasien gefallen. Hinter seinem Namen stand ein T. Das T. bedeutete Türkei.

Nach der Einweihung des Denkmals nahmen sich Saat und Ernte wieder ihr Recht, und der Tag hatte tausend Pflichten. Wer hatte noch viel Zeit, an die Toten zu denken?

Nur eine im Dorfe dachte Tag und Nacht an sie, wenn sie auch nicht von ihnen sprach. Das war die alte Hille Vendt. Sie war eine Zugewanderte und früher als Wehemutter von Haus zu Haus gegangen. Nun hatte man es vergessen, daß sie keine Eingesessene war, so alt war sie geworden. Alt und wunderlich, um es nicht härter zu sagen. Aber sie kannte sie alle, die sie früher einmal »geholt« hatte, die sieben Gefallenen wie die Lebenden, wußte um jedes Geheimnis in den Häusern, und es gab nichts, das sie nicht in ihre Gedanken gesponnen 26 hätte. Wie hätte sie da die Gefallenen auslassen können?

Jedesmal, wenn die dunkle Zeit des Jahres kam und Weihnachten näherrückte, band sie in ihrem Hause, das verloren und einsam am Rande der Heide stand, sieben Kränze aus Stechpalmengrün und trug sie ihnen hinaus, damit sie dort drüben sähen, daß man sie nicht etwa vergessen habe, und sie so ihre Weihnachtsfreude hätten, wenn sie in der Nacht vor dem Fest unsichtbar durch das Dorf gingen.

Aber nun es mit jedem Jahre mit ihr weiter und weiter bergab ging, war es gerade kein Wunder, wenn sie allmählich immer kindischer wurde. Es war dabei nur gut, daß sie niemand zur Last fiel und so still und gelassen in ihren vier Wänden für sich dahinlebte, als gäbe es überhaupt keine Sorge für sie. Aber sie hatte doch eine, eine Sorge, die zugleich auch eine Hoffnung war, eine kleine, ängstliche Hoffnung allerdings nur, die wie ein kleines zuckendes Flämmchen in ihr brannte, die aber doch da war, wenn sie auch mit niemand darüber sprach. Es war die Sorge um ihren Sohn, ihren Arend, der damals, ebenso wie die sieben anderen, deren Namen da draußen die Steine festhielten, hinausgezogen und nicht wiedergekommen war. Aber er war nur als vermißt gemeldet worden, und nun wollte und wollte die Hoffnung nicht in ihr sterben, daß er doch noch eines Tages wiederkommen werde. Nur sagen durfte sie nichts davon, sie niemals gegen irgend jemand äußern – sonst würde sie sich niemals erfüllen . . .

Am Weihnachtsabend im vorigen Jahr war es, als 27 sie in der Dämmerung wieder nach dem Denkmal der Gefallenen hinausging. Die Kränze, die sie auch diesmal wieder gebunden hatte, hatte sie schon vor einigen Tagen hingetragen – aber jetzt sollten die Toten auch ihren Baum kriegen. Sie sollten da drüben sehen, daß sie nicht vergessen waren . . . und wenn dann vielleicht einer von ihnen auf seinem unsichtbaren stillen Gang durchs Dorf dort vorbeikam – Aber das durfte kaum gedacht, geschweige denn ausgesprochen werden.

Der Himmel war klar und wolkenlos, und die Äcker lagen, noch ohne Schnee, dunkel und verlassen in der winterlichen Stille. Das Bäumchen, das Hille Vendt im Arm trug, war nicht schwer und ließ sich ganz gut tragen. Die Lichter wollte sie erst aufsetzen, wenn sie am Ziel war. Sie würde sich schon damit helfen.

Gut, daß der Wind, der am Morgen noch hart über das Feld gegangen war, sich jetzt gelegt hatte. Da würden ihr nachher die Kerzen nicht so leicht in der freien Luft verlöschen.

Am Denkmal rückte sie die Kränze ein wenig zurecht, die der Wind verschoben hatte, steckte das Bäumchen in den sandigen Erdgrund, befestigte die Kerzen in den Haltern und zündete sie mit unruhigen Händen und pochendem Herzen an.

Leise, als hätte sie Sorge, jemand zu stören, hockte sie sich dann auf die hölzerne Bank, die man neben das Denkmal gestellt hatte, und wartete. Denn jetzt mußten sie kommen, alle sieben, nun sie sie in Gedanken mit ihrem Namen gerufen hatte. Bei jeder Kerze hatte sie einen genannt: Johann Meinken, 28 Hermann Onken, Karl Lindenlaub, Lür Hemsoth, Otto Brockhus, Karsten Krüll, Heinrich Löhnhorst.

Johann Meinken war der erste. Er kam nicht, er stand plötzlich da, als hätte er dort schon lange gestanden, und sagte: »Sieh an, Hille Vendt, daß du heute abend an uns gedacht hast!« Dazu lächelte er so still und versonnen, wie sie ihn von früher her kannte. Denn es war nichts an ihm, daß ihr Angst oder Grauen hätte machen können.

Und dann kamen auch die anderen nach und nach. Lür Hemsoth und Otto Brockhus sogar auf einmal. Sie waren immer gute Freunde gewesen und vor Verdun an einem Tage gefallen. Alle aber sagten dasselbe: »Sieh an, Hille Vendt, daß du heute abend an uns gedacht hast!« Und dann lächelten sie.

Aber nun sie da waren, kam der Augenblick für Hille Vendt, daß sie sich ein Herz fassen und mit ihrem Anliegen herauskommen mußte. Denn wenn sie es auch gegen niemand aussprechen durfte – die Toten hier waren ja schon in einer anderen Welt, und da galt es wohl nicht als ein Versehen, wenn sie mit ihnen darüber sprach? Sie mußte allerdings zweimal ansetzen, ehe sie es herausbrachte. Aber es war gut und tröstend, daß sie alle sieben lächelten und ihr dadurch so viel Mut machten. Sonst hätte sie es wohl doch nicht gewagt.

»Ja, da seid ihr«, murmelte sie, »alle sieben, so wie ihr gewachsen wart. Ich kenne euch ja alle, und ihr dürft nicht ungehalten darum werden, wenn ich euch jetzt etwas frage. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich es tun dürfte, aber nun seid ihr alle so still und gelassen, daß ich keine Angst habe, es zu 29 tun, gar keine Angst . . . Weiß wohl einer von euch – ihr müßt euch vielleicht erst ein wenig darauf besinnen –, ob mein Arend noch lebt?«

So, nun ist es gesagt, und Hille Vendt zwingt sich, ganz still zu bleiben und sich auch ja nicht zu bewegen, damit sie keinen von ihnen erschreckt.

»Arend?« antworten sie. »Dein Arend?« Und es klingt eine so tiefe Versunkenheit aus ihren Fragen, daß es Hille Vendt durchschauert. »Ist er nicht damals nach dem Osten gekommen?«

»Ja«, haucht Hille Vendt. »Nach dem Osten. Einmal hat er mir noch geschrieben. Aber es ist jetzt lange her seitdem –«

»Nein«, sagen die sieben da still und versonnen und senken die Gesichter zur Erde, als könnten sie so besser nachdenken. »Nein, wir erinnern uns nicht und wissen nichts von ihm.«

Hille Vendts Mund zuckt in der Erregung, die in ihr ist, und eine Freude steht in ihr auf, daß sie sich beinahe darüber vergißt. Denn wenn sie alle sieben nichts von ihm wissen, dann ist es doch gewiß, daß er noch lebt und eines Tages kommt.

Der Baum steht wie ein strahlendes kleines Wunder, Sterne schimmern über ihr, und es ist so still und feierlich um sie, daß sie ihre Freude nicht mehr halten kann und den Kopf beugen und ihr Gesicht in den Händen verbergen muß . . .

Als sie wieder aufblickt, sind die sieben nicht mehr da, und zugleich streicht ein Windhauch über den Hügel und verlöscht die Kerzen nun auch.

Aber was hat das nun noch viel zu bedeuten? Hat sie nicht recht getan, daß sie es damals nicht gelitten 30 hat, als man ihrem Arend auch gleich einen Stein hier draußen mit setzen wollte, wie man es zuerst durchaus vorhatte? Aber der Pastor hatte damals dafür gesorgt, daß es unterblieb . . .

Selig in ihrer Freude geht sie heim und vergißt heute abend erst recht nicht, den Schlüssel unter die Türsohle zu legen, falls ihr Arend gerade in dieser Nacht heimkommen wird. Er soll dann nicht erst stehen und klopfen etwa . . .

Im Frühjahr ist sie dann mit ihren dreiundachtzig Jahren gestorben. Sie ist so ruhig hinübergegangen, daß sie es wohl selber nicht gemerkt hat. Und sonst hätte sie ja Bescheid gewußt, nicht wahr, und sich über nichts groß gewundert. Und recht gewesen wäre es ihr wohl auch, nun sie ja sicher wußte, daß ihr Arend noch lebte . . . Nur reden durfte sie nicht darüber – und so schweigt sie nun erst recht davon und für immer.

 


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