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Bild Theodor Herrmann

2. Von einem Blatte, welches eine Reise machte.

Mitten auf der Landstraße, da wo sie den letzten Knick macht, ehe sie zur Stadt kommt, holperte und polterte ein schwerer Torfwagen über das Kopfsteinpflaster. Lustig nickte das Pferd mit dem Kopfe; der Torfbauer, der lässig nebenher ging, hatte seine Pfeife frisch gestopft und qualmte wie ein Schornstein.

Die Torfstücke wurden von dem Humpeln und Pumpeln des Wagens hin- und hergestoßen. »Nein, diese ewige Stoßerei gefällt mir nicht!« sagte eines. »Ich wollte, ich wäre noch in unserem Moore. Da muß es schön sein heute morgen. Da leuchtet die Sonne vom blauen Himmel, da segeln die kleinen, rundlichen Wolken über das Moor, da weht der frische Herbstwind über die Gräser, daß alle Tautropfen blitzen und blinken, da schreien die wilden Gänse aus dem Schilf am Wasser, und das Laub der Birken und Erlen wird alle Tage leuchtender und bunter und krauser.

Ach ja, unser schönes Moor! Das werden wir wohl fürs erste nicht wieder zu sehen bekommen! – Aber was tuts? Jetzt wandern wir in die weite Welt, und das hat auch sein Gutes.«

»Jawohl! Ihr solltet nur sehen, was ich sehe,« sagte ein anderes Torfstück, welches ganz am hinteren Rande des Wagens obenauf lag, »bis in die fernste Ferne kann ich gucken, von Minute zu Minute wird die Luft klarer, und die Wiesen und Wälder werden schärfer und deutlicher. Jetzt fahren wir an endlos langen Feldern vorbei. Die Erde ist beinahe so schwarz wie in unserem Moore. Sieh da! Mitten auf dem Felde schwelt ein Feuer, langsam und schräg zieht der dicke, weiße Qualm über das kahle Feld. Da verbrennt das trockene Kartoffelkraut. Das Feuer haben wohl die Jungens angesteckt, die die Kartoffeln aus der Erde suchen und in die hohen Säcke füllen. – Ja, ja! Wenn man reist, lernt man die Welt kennen,« sagte das Torfstück, »mir gefällt das Reisen schon.« –

Die Landstraße war auf beiden Zeiten mit Eichen bepflanzt, die nun ihre schon halbkahlen Zweige und Äste einander entgegenreckten. Da fiel auf einmal lautlos und tanzend ein braunes Eichenblatt auf den Torfwagen hernieder, und es fiel in eins Lücke zwischen drei Torfen. Nun mußte es mit diesen mitreisen. »Was willst du denn hier?« fragten sie hochmütig. »Dich kann ja doch niemand gebrauchen! Kannst du etwa einen Ofen heizen, Essen kochen oder ein Zimmer wärmen?« – Verlegen sah das Blatt vor sich nieder, es wußte nicht, ob es das konnte. – »Flieg nur wieder davon! Hier bist du zu nichts nütze. Flieg nur wieder auf die Straße und da bleib liegen, bis du durch Regen und Kälte gestorben bist!« – »Nimm das Blatt doch wieder mit!« riefen die Torfstücke dem Winde zu, »es paßt gar nicht in unsere Gesellschaft!« –

Aber das war in eine so tiefe Lücke gefallen, daß es der Wind mit seinem Blasen gar nicht zu bewegen vermochte, und so blieb es liegen, und der Wagen rumpelte und pumpelte mit ihm und den Torfen weiter. Dann kam er in die Stadt und lenkte in die erste Straße ein.

Kinder, die auf der Straße spielten, sangen:

Komm geschwinde,
Rosalinde!
Komm geliebte Tänzerinne!

Als das Blatt das hörte, lächelte es und dachte an einen warmen Sommerabend, an welchem es noch lustig auf seinem Baume gesessen und sich im Winde geschaukelt hatte. Und dachte an eine Schar Kinder, die damals im Dunkelwerden mit Sing und Sang die Landstraße dahingezogen waren, sie hatten Kränze im Haar, und die Eltern gingen hinter ihnen. Auch damals hatten die Kinder gesungen:

Komm geschwinde,
Rosalinde!
Komm geliebte Tänzerinne!

Ob es wohl dieselben Kinder sind? dachte das Blatt und hätte gar zu gern einmal über den Rand des Torfwagens geblickt. Aber das konnte es ja nicht. Nur nach oben zum blauen Himmel konnte es hinaufsehen, nach oben, wo die kleinen weißen Wolken dahinsegelten, wo dann und wann ein Vogel vorüberflog, wo hin und wieder feine, schwarze Linien auf einen Augenblick zu sehen waren. »Das sind Drähte, durch welche die Menschen miteinander sprechen können,« sagte das Eichenblatt zu einem Torfstück. Das aber sah es groß an, lachte und sagte nichts darauf.

Plötzlich hielt der Wagen. »Na endlich!« sagten die Torfsoden zueinander, »endlich hat die Schüttelei ein Ende. Wir haben uns ja schon gegenseitig die Ecken abgestoßen. Was jetzt wohl kommt?« –

Der Wagen hielt vor einem großen Hause, aber das Blatt konnte nur den Dachrand sehen, so versteckt saß es. Aber es hörte sprechen. – »Ja, hier ist der Keller. Da schütten Sie man den Torf hinein. Unser Arbeitsmann kann ihn dann aufmauern.« – »Jawoll,« sagt der Torfbauer, »das wollen wir wohl besorgen!«

Im nächsten Augenblick nahm jemand die hintere Wagenwand fort, und eine Menge Torfstücke polterten, weil sie nun ihren Halt verloren hatten, auf das Pflaster, und mit ihnen das Blatt.

Da lag es und konnte beinahe die ganze Straße übersehen. Vornehme und arme Leute gingen auf dem Trottoir dahin. Es hörte in der Ferne eine elektrische Bahn klingeln. Eine Fabrikpfeife tutete. Ei, was für ein herrlicher Wagen kommt durch die Straße gefahren.« Zwei schwarze Pferde. Das Geschirr mit Silber beschlagen. Ein stolzer Mann mit einem blanken, hohen Hute auf dem Kopfe und in einen langen, gelben Mantel gehüllt, lenkte die Rosse und schwang die Peitsche und sah nicht rechts noch links. Ein kleiner Junge lief dem Wagen nach und hing sich an eine Stange und fuhr mit. »Ei, was für ein gescheiter Junge,« dachte das Blatt. »He! do sitt jemand achtern Waogen!« riefen ein paar Mädchen dem Kutscher zu. Der aber hörte nicht auf das, was die Mädchen riefen. »Oh, wie stolz er ist!« dachte das Blatt. Der kleine Junge aber mochte durch das Rufen der Mädchen ängstlich geworden sein. Er ließ die Stange los und stürzte mit dem Gesichte zur Erde. Eine Frau schrie laut auf, lief hin, nahm das stark blutende Kind auf die Arme und trug es in das erste beste Haus. Der Kutscher aber hatte sich nicht einmal umgedreht. »Er ist viel zu stolz dazu!« hatte das Blatt gerade noch Zeit zu denken, da wurde es zwischen zwei Torfstücke geklemmt, in einen großen Korb geworfen, und als der ganz gefüllt war, nahm ihn der Bauer auf den Rücken und schüttete den Inhalt nach ein paar Schritten in ein Kellerloch.

Oh je, wie dunkel war es da! Dem Blatte gefiel es gar nicht im Keller, nur die Torfstücke waren zufrieden. Die Dunkelheit mochte sie wohl an ihre schwarze Moorkuhle erinnern.

Zwei große, harte Hände griffen die braunen Gesellen und legten sie wie die Rotsteine in der Mauer reihenweise aufeinander. Immer mehr polterten durch das Kellerloch, immer mehr wurden aufeinander gelegt, immer höher und dicker wurde die Mauer. Nur das Blatt wurde nicht mit hineingemauert, es lag unbeachtet auf der Erde.

Endlich war der ganze Torf aufgeschichtet. Das Kellerloch wurde zugestopft, Staub und Brocken zusammengefegt und in eine Holzkiste geschüttet. Auch das Eichenblatt kam mit hinein. Nun hatte es Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Da lag es nun und sah zu dem großen Haufen Torf hinüber und sah zum erstenmal in seinem Leben eine Maus. Die turnte auf dem Torfhaufen herum, als es ganz still geworden war, und sprang mitten in die Kiste hinein und beschnupperte das trockene Eichenblatt und knabberte ein wenig an dem Stenglein, aber nur ein wenig, denn es war ihm zu trocken. »Siehst du,« sagte ein Brocken Torf, der dicht bei ihm lag, »nicht mal die Maus mag dich fressen! Du bist doch zu gar nichts zu gebrauchen!«

Da knarrte die Tür. Das Dienstmädchen kam mit dem Torfkasten, füllte ihn und trug ihn davon. Und dann kam die Nacht, und der ganze Keller schlief, und das Blatt auch, und es träumte von seinem Baume und von dem Winde, der es hin- und herwiegte.

Und langsam wurde es ein wenig hell im Keller. Die Sonne schien durch eine Türritze, und ein ganz schmaler, blendend heller Lichtfaden fiel gerade auf das Blatt in der Kiste. Und wieder kam das Dienstmädchen mit dem Torfkasten. Und ein kleines Mädchen kam mit hereingehüpft, das klatschte in die Hände und rief: »Oh, was für eine Menge Torf haben wir gekriegt! Oh, was für eine Menge!« Und es nahm sich einen roten Apfel von dem Bort, denn das durfte es. Aber der Apfel rollte ihm aus der Hand und fiel in die Kiste. Und als das Kind ihn wieder herausnahm, erfaßte es das Blatt auch mit und besah es und sagte: »Oh, das ist ein Eichenblatt. Das nehme ich mit.« – Und das kleine Mädchen nahm Blatt und Apfel und ging damit hinaus, und das Blatt konnte nicht einmal mehr den Torfstücken zunicken und ihnen Adjö sagen.

Ach, was war das für eine Pracht in der Stube? Mitten auf einen niedrigen Kindertisch wurde das Eichenblatt gelegt und konnte sich nun bequem umsehen. Da hingen Bilder in breitem Goldrahmen an der Wand. Da standen Vasen und Nippfiguren auf dem Spiegelschranke. Da lag über den Tisch eine rote Plüschdecke gebreitet. Da stand mitten in der Stube ein wunderschöner Kinderwagen, in welchem ein ganz kleines Kindchen schlief.

Und das kleine Mädchen hatte seinen Apfel aufgegessen und spielte mit dem Blatte. Nun mußte es die Decke für einen Puppenwagen sein, den das Kind aus einer Schwefelholzschachtel gemacht hatte. Dann war es ein Besen, mit welchem der Tisch abgefegt wurde, und dann sollte es ein kleiner Hund sein, der die unartige Puppe beißen mußte. Da erwachte das Brüderchen im Wagen und weinte. Das kleine Mädchen trat schnell heran und fuhr den Wagen hin und her und immer wieder hin und her; aber das Brüderchen hatte wohl lange genug geschlafen und ließ sich nicht beruhigen und weinte nur noch lauter. Da griff das Mädchen nach dem Blatte und hielt es dem Brüderchen hin und rief: »Brüderlein! Sieh nur, liebes Brüderlein! Ei, was hab ich hier für dich!« Da würde das Kindchen im Wagen still und griff mit seinen kleinen Patschhändchen nach dem trockenen Blatte und spielte damit. Und das Kindchen drehte es hin und her und nahm es zuletzt in den Mund, es mochte wohl denken, das sei Schokolade. Aber als dann die Mutter auf einen Augenblick hereintrat und das sah, nahm sie dem Baby das Blatt weg und warf es in den Torfkasten.

»Nanu! Da ist ja das Blatt auch!« sagten die Torfstücke verwundert zueinander. »Wo kommst du denn her?« – »Ach, ich habe mit einem kleinen Mädchen sehr schön in der Stube gespielt.« – »Ach, spiel dich man nicht auf!« erwiderten die Torsstücke hochmütig. – Da sagte das Blatt nichts mehr.

»Oh wo ist mein Blatt geblieben?« rief das Mädchen, als die Mutter wieder hinausgegangen war. Wie gerne hätte das Eichenblatt gerufen: »Hier bin ich, im dunklen Torfkasten! Nimm mich hinaus und spiele wieder mit mir.« Aber im Torfkasten sah das Kind nicht nach.

Da kam das Dienstmädchen, um nach dem Feuer zu sehen. Ein paar Torfstücke wurden in den Ofen geworfen und mit ihnen das Blatt, hell flammte es einen kurzen Augenblick auf, dann war es ein Häuflein Asche.


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