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Es verging einige Zeit, ehe ich mich in Kopenhagen wieder »einzuleben« begann. Schon die Luft erschien mir trocken und drückend im Gegensatze zu der bisher eingeatmeten frischen Wald- und Seeluft. Alles kam mir so beengt und klein vor; ich hatte mich an die freie, weite Aussicht über den Sund gewöhnt, über den Auge und Gedanken frei hinschweifen, und aus den flüchtigen Wolken allerlei Luftschlösser zu bauen, jetzt lagen mir Bäume, Häuser und Straßen unmittelbar vor der Nase, und dem umherschweifenden Blicke wurde bald von diesem, bald von jenem allzunahen Gegenstande Halt geboten. Selbst die Aussicht von unseren Fenstern über die schwankenden Wipfel hinweg auf das Frederiksberger Schloß und das Südfeld, die früher meiner Meinung nach sich recht gut mit der Aussicht von der Kuppel der Peterskirche in Rom hatte vergleichen lassen, sogar sie schien mir bedeutend eingeengter, und das Schloß schien mir während unserer Abwesenheit ein ganzes Ende näher gerückt zu sein. Hierzu kam auch noch die tägliche Arbeit, besonders die Schulstunden, die ich wieder auf mich nehmen mußte und die mir nach dem freien, ungebundenen Herrenleben, das ich in den Ferien geführt hatte, durchaus nicht schmecken wollte.
Es ist leicht möglich, daß es Estrid ebenso ging wie mir, dann aber beherrschte sie sich, um meine Unzufriedenheit nicht noch zu schüren. Ja, und dabei allein ließ sie es nicht bewenden, sondern versuchte sogar, mir alles in unserem Heim im schönsten Lichte darzustellen, lobte unsere gemütlichen Zimmer und rühmte die schönen Sonnenuntergänge, die wir von unseren Fenstern sehen konnten, und die hübschen Spazierwege, die wir in der Nähe hatten. Diese Lobreden waren vielleicht mehr gut gemeint als erfolgreich, sie weckten nicht selten meinen Widerspruchsgeist und riefen oft kleine Debatten hervor, in denen ich meinem Herzen in Klagen über die Kleinlichkeit des Lebens, das uns in ein Schneckenhaus sperrt und uns verbietet, ein reiches, großes Leben nach unseres Herzens Sehnen und Verlangen zu führen, Luft machte. Doch der Mensch gleicht der Pflanze; wo man ihn einsetzt, da schlägt er Wurzeln und wächst allmählich fest. Nach nur zwei Wochen war ich auch schon wieder mit den alten Verhältnissen verwachsen und hatte meinen ehemaligen Frohsinn wiedererlangt. Die Aussicht von unseren Fenstern erweiterte sich nach und nach und begann wieder die Dimensionen der Peterskirchenaussicht anzunehmen, – ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich diese in Wirklichkeit nie gesehen, aber so viele Beschreibungen davon gelesen habe, daß ich sie deutlich vor Augen sehen kann. Meine Studien fesselten wieder meine Aufmerksamkeit, im Thorwaldsenmuseum verlebte ich in stillem Verkehr mit der Größe der Kunst glückliche Stunden. Estrid hatte recht gehabt, daß ich wieder aufleben und heiter und zufrieden sein würde, wenn ich mich erst wieder in meiner gewohnten Tätigkeit befände. Ja, selbst die Schulstunden wurden mir lieb, weil ich in ihnen so recht den beruhigenden Einfluß strenger Pflichterfüllung auf mein Gemüt empfand.
Wenn nur auch meine Finanzen solch beruhigende Wirkung gehabt hätten! Doch sie zeigten nur zu deutliche Spuren von den Freuden der Sommerferien. Die Ersparnis, die ich anfangs vom Landleben erwartet, hatte sich bald wie eine täuschende Fata Morgana in Nebel aufgelöst. Doch nicht allein das, bei gründlicherem Nachrechnen entdeckte ich in meiner Hauptkasse ein Defizit von – die Hand zittert mir beim Niederschreiben – 90 Reichstalern, oder, was noch schlimmer klingt, 180 Kronen! Diese Entdeckung war wohl geeignet, die ernstesten Gedanken zu erwecken. Wäre dies Gamling passiert, so hätte ich es verstehen können, da er nie ordentlich anschreibt, sondern nur am Silvesterabend einen nicht spezifizierten Überschlag über all seine Einnahmen und Ausgaben während des verflossenen Jahres macht. So kann man sich das Entstehen eines solchen Defizits schon erklären, – doch daß dies mir passieren konnte, der ich mit der größten Gewissenhaftigkeit jeden ausgegebenen Pfennig buche, war mir unfaßlich, und ich leugne nicht, daß eine gewisse Bitterkeit mein Herz bei dem Gedanken erfüllte, daß ich trotz meiner Ordnung und Sorgfalt solchen Verdrießlichkeiten ausgesetzt sein mußte.
Ich sprach mit Estrid darüber; sie nahm die Sache sehr ernst und schlug kräftige Reformen vor. »Es ist notwendig, den Haushalt billiger einzurichten«, sagte sie.
»Darin hast du recht«, antwortete ich, »aber wie? Das ist die Frage, denn meiner Ansicht nach leben wir sehr einfach.«
»Andere Leute kommen mit noch weniger aus als wir«, meinte Estrid. »Könnten wir nicht nur jeden zweiten Tag zu Mittag essen?«
»Und den Zwischentag hungern?«
»Nein, mit Kaffee und Butterbrot vorlieb nehmen. Manch armer Student schlägt sich so durch.«
»Nein, das will mir doch nicht scheinen. So arm sind wir nicht, süßer Basilisk, daß wir wie Maurerhandlanger leben müßten.«
Mehrere andere von Estrid gemachte Vorschläge hatten bei mir kein besseres Glück. Vorläufig blieb es bei dem Beschlusse, daß wir uns einschränken müßten, und ich überließ es der Zukunft, zu entscheiden, worin diese Einschränkungen bestehen sollten.
Estrid aber war nicht gesonnen, es bei dem bloßen Beschlusse bewenden zu lassen, und da sie mich nicht zum Einschränken bewegen konnte, versuchte sie es für ihre Person. Zufällig bemerkte ich, daß sie entsetzlich wenig aß, und als ich dann mehr auf sie achtete, kam ich dahinter, daß mein süßer Basilisk sich einer vollständigen Hungerkur unterzog. Fleisch, Käse und Butter rührte sie überhaupt nicht an; mittags wußte sie sich hinter der Terrine oder den Schüsseln so zu verschanzen, daß es mir schwer wurde zu sehen, ob sie etwas auf dem Teller hatte oder nicht, auch klapperte sie sehr mit Messer und Gabel und redete ungewöhnlich viel, nur um zu verbergen, daß sie selbst beinahe nichts aß. Ein paar Tage hindurch beobachtete ich sie schweigend, um meiner Sache erst ganz sicher zu sein; dann stand ich eines Tages plötzlich vom Tisch auf, trat zu ihr, ergriff sie beim Arm und sagte: »Estrid!«
Sie fuhr erschreckt zusammen und wurde dunkelrot.
»Kannst du es wirklich übers Herz bringen, deinen Mann, der sich in aller Unbefangenheit satt ißt, während du nichts verzehrst, so zu betrügen?«
»Ich esse ja auch«, sagte sie bittend. »Sieh doch selbst!«
»Einige Bissen, die dich kaum am Leben erhalten können.«
»Ich brauche nicht soviel als du. Auf dir liegt alle Arbeit, und du sollst Geld verdienen, mußt also auch reichliche, kräftige Nahrung haben. Ich dagegen sitze ja immer zu Hause.«
»Deshalb kannst du noch nicht bloß von Luft leben. Hätte ich nicht aufgepaßt, so wärest du mir schließlich krank geworden. Du mußt mir versprechen, es nie wieder zu tun.«
Estrid versprach es und mußte es auch wohl oder übel halten, da ich bei den Mahlzeiten scharf aufpaßte und ihr erst dann Ruhe ließ, wenn sie versicherte, nun aber keinen Bissen mehr essen zu können. Dies hatte jedoch die unangenehme Folge, daß ich über meine erschütterten Finanzen mit ihr nicht mehr zu reden wagte, weil ich fürchtete, sie in zu große Angst zu versetzen und sie zum Versuchen neuer Ersparungen von vielleicht noch schlimmerer Art zu veranlassen. So behielt ich denn meine Geldsorgen für mich, fühlte mich aber oft schwer von ihnen gedrückt. –
– Eisbär hatte im Charlottenborger Schlosse eine gute Werkstatt gefunden und arbeitete mit großem Eifer an seinem Niels Ebbesen. Ich besuchte ihn oft und hatte meine große Freude an dem Fortschreiten der Arbeit. Im Thorwaldsenmuseum und anderen Kunstsammlungen sieht man die fertigen Kunstwerke und kann ihre Entstehung höchstens an der Hand etwa noch vorhandener Skizzen verfolgen, doch in des Künstlers eigener Werkstatt sieht man sie aus der dunklen Nacht des Nebelhaften entstehen, allmählich Festigkeit, Form und Gestalt gewinnen und das Feuer des Geistes dem toten Tone und dem kalten Marmor Leben einhauchen. Eisbär schien meine Besuche gern zu sehen, er hantierte fleißig mit dem Modellierholze, während ich sprach, und fand selber, daß seine Finger flinker arbeiteten, wenn ich ihre Tätigkeit mit hingeworfenen Bemerkungen und Gedankensplittern begleitete.
»Ein Bildhauer hat doch einen schönen Beruf«, sagte ich einmal, während ich Eisbär aufmerksam bei seiner Arbeit zuschaute. »Sein Werk überlebt die dahinrollenden Zeiten und bringt seine Gedanken den spätesten Geschlechtern, und aus fernen Landen kommen Reisende, um es zu bewundern.«
»Es ist der Vergänglichkeit ebenso unterworfen wie alles andere hier auf Erden, und sein Dasein kann manchmal flüchtig genug sein. Das Modell von Leonardos herrlichem Bronzepferde zerschossen die französischen Bogenschützen, und damit war das Kunstwerk zerstört, Michel Angelos Statue des Papstes Julius zertrümmerten die Bologneser drei Jahre nach der Errichtung, als sie das päpstliche Joch abschüttelten, und wie manche andere Kunstwerke haben das Schicksal dieser herrlichen Schöpfungen geteilt! – Nein, der Dichter hat es besser, seine Werke stehen über jedem Wechsel der Zeit – keine despotische Fürstenlaune, kein aufrührerischer Volkswille, keine eindringende Barbarenhorde, nichts vermag die Lieder des Dichters zu vernichten. Homer und Sophokles besitzen wir noch heute; doch wieviel ist uns von Phidias geblieben?«
Er hielt inne und betrachtete einen Augenblick stumm seine Arbeit, wie von Wehmut ergriffen bei dem Gedanken, daß dasjenige, welchem er jetzt seine beste Kraft widmete, vielleicht bald dem Untergange verfallen sein könnte. Nach einer Weile arbeitete er wieder weiter und fuhr zugleich fort: »Es gibt noch eines, um das ich den Dichter beneiden könnte, das beständige Leben und der ständige Fortschritt, worin seine Schöpfung sich befindet. Sieh diese Figur an, sie steht unverändert in derselben Stellung, wann ich auch zu ihr komme, und bewegt weder Hand noch Fuß. Die Figuren des Dichters dagegen haben sich mit jedem Male, daß er sich ihnen naht, verändert: die Handlung schreitet fort, die Situation ist eine andere geworden, die Charaktere entwickeln sich, alles das ist ein beständiges Leben, immerwährende Bewegung und steter Fortschritt.«
»Dafür hat der Bildhauer den großen Vorzug«, antwortete ich, »daß er sein Werk vor seinen Augen aufwachsen sieht, ja, es sogar mit den Händen fühlen und greifen kann, indes der Dichter sich in einer, wenn auch nicht unwirklichen, so doch unsichtbaren Welt bewegt.«
»Das läßt sich von jeder geistigen Tätigkeit sagen«, meinte Eisbär. »Der Mann der Wissenschaft, der Denker und der Philosoph sind denselben Bedingungen unterworfen, ja selbst der Geistliche und der Lehrer müssen sich damit begnügen, ihre Tätigkeit Frucht bringen zu sehen, und oft ist ihnen sogar dies nicht einmal vergönnt, weil sich ihr Wirken gegen das Verborgenste und Geheimnisvollste im Innern des Menschen richtet.«
Eine kleine Weile verging unter Schweigen, da wir beide uns unseren stillen Betrachtungen hingaben, dann ergriff Eisbär wieder das Wort: »Die Hauptsache bei all unserem Schaffen, sei es nun sichtbarer oder unsichtbarer Art, ist doch, daß es uns recht lebendig erfüllt, damit wir trotz aller Arbeit und Mühe und allen Verdrusses, mit denen es verknüpft ist, dennoch unsere Freude daran haben und Aufmunterung darin finden. Ehre und Ruhm, von denen so viel geredet wird, mögen recht gut sein, sind aber immer erst Nummer Zwei; Nummer Eins ist und bleibt doch stets, daß wir selber wahres, lebendiges Interesse für unsere Arbeit fühlen. Und das ist das Schöne und Herrliche am Menschenleben, daß auch die geringste, unbedeutendste Arbeit den Sinn mit Befriedigung erfüllen kann, wenn sie auf die rechte Weise, vor allem mit wirklicher Liebe, ausgeführt wird. Ich aber danke Gott dafür, daß er mich zum Bildhauer gemacht hat, denn keiner kommt der Welt der Ideale so nahe wie dieser.«
Mit Gesprächen dieser und ähnlicher Art unterhielten Eisbär und ich uns oft und befestigten dadurch das Freundschaftsband zwischen uns noch mehr. Leider gab es ein Thema, das ich nicht anzuschlagen wagte, und das war gerade dasjenige, worüber ich mich am liebsten mit ihm ausgesprochen hätte, nämlich – Valborg. Ich hatte fest erwartet, daß Eisbär die auf dem Lande gemachte Bekanntschaft fortsetzen würde, doch das geschah nicht. Ein paarmal hatte ich ihm vorgeschlagen, mit mir zu meiner Schwiegermutter zu gehen; er hatte mir zwar erfreut für die Aufforderung gedankt, es aber nicht getan. Seine Feinfühligkeit hielt ihn vielleicht davon zurück, so lange Schwiegervater noch abwesend war, mir aber erschien dies wirklich übertrieben. Ich hatte versucht, das Gespräch auf Valborg zu bringen, aber Eisbär fuhr dabei in seiner Arbeit fort, ohne zu antworten, – selbst als ich ihm erzählte, daß sie krank sei, sagte er nur: »Das ist ja bedauerlich!« und fing gleich darauf an zu flöten. Die Krankheit hatte nun allerdings nicht viel zu bedeuten, da sie aus Kopfschmerz, der schon am nächsten Tage besser war, bestand, aber das konnte Eisbär ja nicht wissen, und ich fand es sehr sonderbar, daß er nicht mehr Teilnahme zeigte.
Meinem Verdrusse über Eisbärs Gleichgültigkeit machte ich Estrid gegenüber Luft. »Ich finde es sonderbar von Eisbär, daß er seine Liebe erst so öffentlich zur Schau trägt und sich hinterher, sobald er merkt, daß er den gewünschten Eindruck gemacht hat, wieder zurückzieht.«
»Wer sagt dir, daß er den gewünschten Eindruck gemacht hat?« fragte Estrid.
»Das konnte doch jeder sehen, der Augen im Kopfe hatte.«
»Leute, die Augen im Kopfe haben, sehen auch oft verkehrt«, antwortete Estrid verschmitzt.
»Du mußt deine Ansicht von damals ganz geändert oder rein vergessen haben, wie eifrig du mich damals zu dem Glauben bekehren wolltest, daß Eisbär ernstlich in deine Schwester verliebt sei.«
»Das ist schon so lange her; das war damals im Sommer.«
»Ist denn etwas zwischen ihnen vorgefallen?« fragte ich eifrig. »Weißt du etwas?«
»Ich weiß nichts«, erwiderte Estrid mit einem ungeheuer schlauen Gesicht.
»Du hast also mit Valborg darüber gesprochen«, sagte ich.
»Nein«, antwortete sie bestimmt, »und ich weiß auch nicht, was das nützen sollte.«
Ich sah Estrid verdutzt an, versuchte aber vergeblich ihre jetzt gleichgültige Miene zu durchschauen. Hatte Eisbär sich Valborg wirklich erklärt, und wußte Estrid darum, wollte aber das Geheimnis der Schwester nicht verraten? Aber hatte Estrid denn das Recht, Geheimnisse vor ihrem Manne zu haben? Hatte sie mir gegenüber nicht heiligere Pflichten als gegen ihre Schwester? Besaß ich nicht ein unbedingtes Recht auf ihr rückhaltloses Vertrauen? – Glücklicherweise nahm mich meine Arbeit über Thorwaldsens Kunst in dieser Zeit derartig in Anspruch, daß ich über diese Fragen nicht weiter nachgrübeln konnte, aber mit ihnen wurde ein Samenkorn in meine Seele gelegt, das zu gegebener Zeit und Gelegenheit aufsprießen und unheilvolle Frucht bringen sollte. –
Der Herbst schritt rüstig vorwärts. Ein paar Wochen hindurch hatten wir starke Stürme und heftige Regenschauer, dann wurde das Wetter wieder schön und ruhig. Eines Nachmittags gingen Estrid und ich in den Frederiksberger Garten, den wir lange nicht besucht hatten. Alle Blätter waren gelb und rot und prangten in dem wunderbaren Farbenspiele des Herbstes, ein Goldmeer schien uns auf allen Seiten zu umgeben. Wir blieben auf einer der Brücken stehen und schauten über den Kanal hin, der rechts und links von der rotgoldenen Herbstpracht der Blätter eingehegt war. Darüber wölbte sich ein grauer Himmel, der all dem schimmernden Goldglanze einen eigentümlich ernsten Stempel aufdrückte. Es war dort still und geräuschlos, kein Vogelgesang ließ sich hören. Eine Weile standen wir selber stumm da, und ließen unsere Gedanken in der sanften Stille der Natur Ruhe finden, bis Estrid mit einem leichten Seufzer ausrief: »Wie anders war es doch im Sommer, wenn wir hier am frühen Morgen umherschlenderten und alles ringsumher Sonnenschein und Gesang war! Mir kommt es vor, als sei es erst gestern gewesen, – so schnell ist der Sommer vergangen!«
»Und so schnell vergeht auch unser Leben!« antwortete ich, zu dem stillen, grauen Himmel, der den Sinn ernst stimmte, emporblickend. »Nach einer Reihe von Jahren stehen wir vielleicht einmal wieder auf dieser Brücke und schauen uns den Kanal an. Du bist dann ein altes Mütterchen, ich stütze mich auf einen Stock, mein Rücken ist gebeugt und ich habe den Altershusten, und dann werden wir zueinander sagen: Es ist, als sei es gestern gewesen, daß wir noch jung und munter waren, – so schnell ist unser Leben vergangen!«
»Doch es wird wieder Frühling, und wir sprießen aufs neue«, sagte Estrid. »Alljährlich predigt uns die Natur mit derselben Kraft, daß der Geist, der mächtig genug ist, neues Leben in die verwelkten, dürren Äste zu blasen, auch die Macht haben wird, uns neues Leben einzuhauchen und uns zu größerer Herrlichkeit auferstehen zu lassen.«
Wir gingen über die Brücke und tiefer in den Garten hinein, – Hand in Hand, wie um die Gewißheit zu haben, daß wir in Leben und Tod aneinander festhalten würden.
»Ja«, sagte ich, nachdem ich eine Weile stumm nachgedacht, »ein starker Beweis für die Unsterblichkeit scheint mir darin zu liegen, daß die Natur sich stets selbst wiederholt, dieselben Bäume, Blätter und Tiere wiedererscheinen und wir sie genau so sehen, wie unsere Vorfahren sie vor tausend Jahren schon gesehen. Die Menschen dagegen kommen nicht wieder; Sokrates und Plato, Petrus und Paulus, Shakespeare und Thorwaldsen leben nur einmal, und dann sehen wir sie nie wieder.«
»Was meinst du eigentlich damit?« fragte Estrid.
»Ich meine, daß die Menschen, wenn sie nichts anderes wären als die einander ablösenden Blätter der Bäume, auch wie die Blätter der Bäume wiederkommen müßten. Dieselben Menschen müßten dann von neuem wieder auftreten. Doch darin sieht man die Natur und die Geschichte verschiedenartigen Gesetzen unterworfen, jene wiederholt sich stets selbst, diese bringt unausgesetzt Neues hervor.«
»Das verstehe ich nicht«, erklärte Estrid. »Meinst du, daß unsere Verstorbenen wiederkehren – etwa mein armer, lieber Bruder, der in der Fremde im Elend gestorben ist, in einem neuen Leben wieder auf die Erde käme?«
»Nein, ich meine gerade das Entgegengesetzte, nämlich, daß er nicht wieder kommt, und sehe einen Beweis seiner, wie unser aller Unsterblichkeit darin, daß keiner von uns wiederkommt, wenn er dahingegangen ist. Wenn eine Buche gefällt und verbrannt worden ist, wächst eine andere an ihrer Stelle auf und ist nicht von ihr zu unterscheiden, doch ein dahingegangener Mensch wiederholt sich nie, und das ist mir ein Beweis, daß er unter anderen, uns unbekannten Daseinsformen weiterleben muß.«
Wieder gingen wir stumm nebeneinander her, bis ich das Schweigen mit der Frage brach: »Du sprachst von deinem verstorbenen Bruder, wie kommt es, daß du mir nie von ihm erzählt hast?«
»Aus alter Gewohnheit«, entschuldigte sich Estrid. »Als das Unglück geschehen war, verbot Vater uns streng, je wieder von ihm sprechen; er wollte nichts mehr von ihm wissen, und Mutter hat es nie ertragen können, daß wir seinen Namen in ihrer Gegenwart nannten, sie weinte dann gleich.«
»Hast du denn nie von ihm gesprochen?« fragte ich verwundert.
»Doch, mit Valborg habe ich oft von ihm geredet.«
»Weshalb mit Valborg und nicht mit mir?« fragte ich, indem wieder eine leichte Eifersucht auf die Schwester in mir erwachte. »Kannst du mir nicht auch alles erzählen, was du mit Valborg besprechen kannst?«
»Aber du kennst ihn ja gar nicht und hast ihn nie gesehen«, erwiderte Estrid ruhig.
»So könntest du ihn mir beschreiben. Erinnerst du dich seiner noch deutlich?«
»Das kann ich allerdings, ich war beinahe erwachsen, als er fortging. Er war lebhaft, lustig und rasch in all seinen Bewegungen; uns Schwestern neckte er gern, aber wir sahen trotzdem mit großer Bewunderung zu ihm auf.«
Estrid fuhr fort, von ihrem Bruder zu erzählen, während wir durch die Allee nach Hause gingen. Es begann schon recht dunkel zu werden.
»Es will mir gar nicht gefallen, daß dein Vater nie offen mit mir darüber gesprochen hat«, sagte ich. »Es ist verkehrt, seinen Kummer so allein zu tragen; Gott hat uns vereint, damit wir Gutes und Böses miteinander tragen. Will dein Vater nicht davon anfangen, so werde ich das Eis brechen.«
»O, tu' es nicht«, bat Estrid. »Du weißt nicht, welche Wirkung das haben könnte; vielleicht würde es Vater und dich trennen. Laß Vater hierin seine eigenen Wege gehen.«
Es war beinahe ganz finster, als wir die Treppen unseres Hauses hinaufstiegen. Als wir in die Wohnstube traten, wurden wir mit einem lauten »Willkommen« empfangen. Es war Schwiegervater, der aus Jütland zurückgekommen war und uns beide jetzt herzlich umarmte.
»Licht her, damit ich euch ordentlich sehe!« rief er. »Ich habe mich sehr nach euren lieben Gesichtern gesehnt, – Nicolai, es kommt mir beinahe vor, als seiest du während meiner Abwesenheit noch gewachsen.«
»Im Dunkeln sehe ich vielleicht größer aus«, antwortete ich. »Sieh, da bringt Estrid die Lampe, und nun bin ich wieder nur so groß wie früher. Wie ist es dir denn in Jütlands Gefilden ergangen?«
»Ausgezeichnet! Ganz, wie ich es mir wünschte, nur daß ich Mutter, euch und die Kinder gern dort gehabt hätte. Denn die Kunst ist vortrefflich, aber die Menschen sind doch noch besser, jene könnte man zur Not entbehren, ohne diese aber kann man nicht fertig werden. O, wie schön ist es, deine strahlenden Augen wiederzusehen, Estrid, – komm, gib deinem alten Vater einen Kuß, er hat sich so sehr nach dir gesehnt.« – Und nun folgten neue Umarmungen und neue Händedrücke. »Ich glaube, ich bin dort zehn Jahre jünger geworden«, sagte Schwiegervater, sich vergnügt die Hände reibend. »Und euer Anblick macht mich auch um zehn Jahre jünger, das macht zwanzig auf einmal und kann einem alten Kavalier schon aufhelfen. Es war zu schön, wieder den Pinsel schwingen zu können und nach Herzenslust zeichnen, malen und komponieren zu dürfen, – fertig bin ich allerdings nicht geworden, aber, so Gott will, reise ich nächsten Sommer wieder dorthin.«
Schwiegervater begann uns allerlei zu erzählen, unterbrach sich aber gleich selbst wieder mit der Frage: »Und euch ist es auf dem Lande wohl wunderschön ergangen?«
»Wunderschön«, antwortete ich, »wenn nur nicht ...« und die dunkle Wolke meiner Finanzen stieg wieder auf, um den hellen Horizont der Erinnerung zu verfinstern.
»Wenn nur nicht ... was?« fragte Schwiegervater. »O, ich verstehe auch halbe Worte, – – die Groschen!« Und er verdeutlichte seine Gedanken durch eine bezeichnende Bewegung mit den Fingern.
»Es wurde teurer, als ich erwartet hatte«, erwiderte ich verlegen.
»Das wird so etwas immer!« erklärte Schwiegervater mit der sicheren Überzeugungskraft, welche Erfahrung verleiht. »Wie groß ist denn das zu stopfende Loch?«
»Gegen zweihundert Kronen«, seufzte ich.
»Welch ein merkwürdiges Zusammentreffen!« rief Schwiegervater aus. »Soviel habe ich gerade in meinem Skizzenbuche.« Damit zog er dieses aus der Tasche, legte zwei Hundertkronenscheine auf den Tisch und schob mit den Worten: »Akkurat einen für jeden!« den einen zu Estrid und den anderen zu mir herüber.
»Es ist doch wohl nicht deine Absicht, sie uns zu schenken«, sagte ich.
»Selbstverständlich. Oder glaubst du, ich wolle euch nur ein bißchen daran riechen lassen und sie dann wieder in meine Tasche stecken? Pfui, solch ein Geizhals bin ich doch nicht.«
»Ich kann sie wirklich nicht annehmen –«
»Dann kann Estrid es, sie ist meine Tochter, der ich geben kann, was ich will. Du wirst dich doch nicht schämen, dir von deinem Vater etwas schenken zu lassen, nicht wahr, mein Kind?«
»So war es nicht gemeint«, entgegnete ich. »Ich dachte nur daran, daß andere doch größeres Recht darauf hätten, als wir. Schwiegermutter – –«
»Hat schon ihren Anteil«, fiel Schwiegervater ein, »die Mädchen gleichfalls und selbst Onkel ist bedacht worden. Mutter flüsterte mir zu, ihr schienet ein bißchen in Verlegenheit zu sein und ich solle die Scheine nur mitnehmen, um euch damit zu helfen.«
»Ich danke dir für deine Güte«, sagte ich. »Wenn ich das Geld als eine Anleihe – –«
»Falls dir der Name besser gefällt, magst du es gern so nennen. Du kannst es mir zurückzahlen, wenn du erst Professor der Ästhetik oder Direktor aller Kopenhagener Museen bist.«
Ich dankte Schwiegervater noch einmal, er aber sagte: »Bitte, keine Ursache. Ich habe eher mir selber, als dir eine Wohltat damit erwiesen, denn ich fühle mich nie recht wohl, wenn ich Geld in der Tasche habe, es belästigt mich gewissermaßen. Hingegen, wenn ich jeden Schilling ausgegeben habe und meine Lieben wohl versorgt sehe, ist mir so frei und leicht zumute wie dem Vogel in der Luft.«
Wir wollten Schwiegervater überreden, mit uns Tee zu trinken, doch dazu ließ er sich nicht bewegen. »Ich habe Mutter fest versprochen, zum Tee wieder da zu sein«, erklärte er. »Aber kommt morgen zum Mittagessen zu uns, dann halte ich nach Tische einem dankbaren Hörerkreise einen Vortrag über meinen Aufenthalt in Jütland.« –
Schwiegervaters angenehmer Besuch hatte bei uns beiden große Freude erregt, und ich fühlte mich durch die Gewißheit, daß meine Finanzen wieder in das richtige Gleichgewicht gebracht waren, außerordentlich erleichtert. Daher sagte ich beim Abendessen zu Estrid: »Hör' einmal, ich habe eine Idee!«
»Was denn?« fragte Estrid, nicht ohne Angst vor der neuen Idee.
»Wir wollen eine kleine Gesellschaft geben. Wir haben unsere guten Freunde noch nie bei uns gehabt.«
Estrid meinte kopfschüttelnd, es sei, da wir uns eben erst in großer Verlegenheit befunden hätten und kaum daraus befreit seien, doch wohl das Beste, daß wir in Zukunft sparsamer wirtschafteten.
»Deshalb werden wir doch nicht wie Einsiedler leben!« antwortete ich. »In vierzehn Tagen ist dein Geburtstag; das wäre eine schöne Gelegenheit, unsere Freunde einzuladen.« Und als ich merkte, daß Estrid noch immer Bedenken trug, fügte ich noch hinzu: »Wir können es ja noch beschlafen, morgen denkst du vielleicht anders darüber.«
Estrid mußte notgedrungen ihre Ansicht ändern, denn ich fuhr in den folgenden Tagen fort, immer wieder in sie zu dringen, bis sie schließlich einwilligte, und als dies erst geschehen war, ging sie mit aufrichtigem Eifer auf meine Ideen ein, und es war uns ein großes Vergnügen, zu beraten, wer von unseren Freunden zu diesem Feste geladen werden solle. Nur über eine Person konnten wir uns nicht einigen, und das war – Eisbär. Mit großer Bestimmtheit erklärte ich, daß ich ihn mit Valborg zusammen nicht einladen wolle.
»Sie sind im Sommer übergenug in unserem Hause zusammen gewesen«, sagte ich, »jetzt muß es ein Ende haben. Ich will nicht die Ursache sein, daß Valborg durch seinen Leichtsinn mit gebrochenem Herzen durchs Leben gehen muß.«
»Aber, lieber Freund, von gebrochenem Herzen ist hier ja gar keine Rede«, wandte Estrid ein. »Ich glaube, Valborg wird sich freuen, mit Eisbär, den sie so lange nicht gesehen hat, zusammenzutreffen.«
»Ja, aber das gehört zu den gefährlichen Freuden, und ich will nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Willst du Eisbär durchaus einladen, so tu's, meinetwegen gern, doch dann sage ich dir, daß in diesem Falle Valborg wegbleiben muß, da ich beide zugleich nicht in meinem Hause haben will!«
Alle Vorstellungen und Bitten Estrids nützten nichts, ich blieb fest bei meinem gefaßten Entschlusse, und meine Frau mußte sich darein finden, daß Eisbär nicht eingeladen wurde. Als der Festtag sich näherte, suchte ich Estrid auf feine Weise danach auszuforschen, ob sie vielleicht besondere Wünsche habe, mit deren Erfüllung ich sie vielleicht überraschen könne. Da kam es heraus, daß sie einen Herzenswunsch hatte, nämlich ein an sie gerichtetes und von mir verfaßtes Gedichtchen.
»Ein Gedicht?« rief ich verdutzt aus. »Wie verfällst du darauf?«
»Wenn du mich wirklich lieb hast, könntest du es immer tun«, sagte sie schmeichelnd.
»Dann will ich dir nur sagen, daß viele gute Ehemänner nicht zwei Reime an ihre Frau zustande brächten, selbst wenn sie ihr Leben dadurch retten könnten.«
»Ja, wenn sie überhaupt keine Verse machen können, aber das kannst du ja. Du hast doch andere angedichtet, also müßtest du mich auch andichten können, wenn du nur wolltest?«
»Ich habe andere angedichtet?«
»Ja, im Nöddeboer Pfarrhause; hast du es ganz vergessen? Das Ballied von all den Rosen und den reizenden Blumen?«
»Aber das ist ja von Gamling und nicht von mir. Verwechselst du so die Klassiker? Dann wird es wohl das beste sein, daß ich dich einen Repetitionskursus in Literatur durchmachen lasse.«
Diese Verwechselung riß mich jedoch nicht heraus, denn Estrid fuhr fort, zu behaupten, wenn ich sie nur wirklich lieb hätte, würde ich schon ein Gedicht an sie verfassen können. –
Als ich am nächsten Nachmittag im Südfelde spazieren ging, fiel mir Estrids Bitte wieder ein.
»Man könnte es ja versuchen«, dachte ich, fing an, brachte ein paar Reihen zusammen, kam in Zug, ging weiter und dichtete weiter. Und als ich anderthalbmal rund um das Südfeld herumgegangen, war das Gedicht fertig. Ich sagte es mir mehrmals laut auf, um es nicht wieder zu vergessen, und kehrte dann, sehr befriedigt von dem Resultat dieses Spazierganges, nach Hause zurück.