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Der Detektiv wunderte sich nicht mehr, daß auch die schwere, sonst so gut versperrte Hauspforte sich unter einem kurzen Griff seines Begleiters öffnete.
Sie traten auf die Straße hinaus. Es war sehr dunkel. Nebel lag in der Luft, der dick war, als könne man ihn mit der Hand durchschneiden. Solches Wetter liebte der Detektiv eigentlich stets bei seinen nächtlichen Fahrten.
Kein Schritt war zu hören, kein Fußgänger kreuzte die Straße. Irgendwo, in wesenloser Ferne, schlug eine Uhr. Aber der Detektiv vergaß, die einzelnen Schläge zu zählen.
Er hörte einen kurzen Pfiff hinter sich. Der Mann, der ihn entführte, mußte ihn abgegeben haben. Sonderbar genug. Es war genau der Alarmpfiff der Polizei.
Im nächsten Augenblick mußte ein Nachtposten herbeieilen.
Aber es kam niemand. Dagegen begann im Dunkel mit einem Schlage ein kurzes Rattern. Irgendein dunkler Koloß schob sich aus dem Nebel vor.
Ein Auto.
Zwei Lichter flammten auf. Es war genau dasselbe bläuliche Kalklicht wie oben im Schlafzimmer. Den Chauffeur sah der Detektiv gar nicht. Aber irgendein Mensch mußte natürlich am Steuerrad sitzen.
»Steigen wir ein,« sagte wie früher sehr höflich der Wachtmeister Kubasch. Er hatte schon den Schlag geöffnet.
Der Detektiv sträubte sich nicht mehr. Er hatte das durchaus sichere Empfinden, daß ihm dies ja doch nichts helfen würde.
Die Neugierde überwog langsam, und der Drang, endlich zu erfahren, was ihm diese Nacht sonst noch bringen sollte. Daß es sich einzig um Senta Fredersdorf handelte, davon war er überzeugt.
Das Auto zog mit einem sanften Ruck an und glitt dann ohne Widerstand durch die Nacht.
Im Wageninnern war es dunkel. Trotzdem glaubte der Detektiv das Gesicht seines Begleiters zu erkennen. Nur das Gesicht mit der etwas klobigen Nase, auf der sogar eine Warze saß. Sonst nichts.
Er lehnte sich in dumpfer Ergebung in die Ecke zurück und schloß die Augen. Man würde ja sehen, was noch weiter kam.
Sonderbarerweise empfand er keine Furcht, obwohl er waffenlos war. Er dachte nicht einmal daran, daß ihn dieser rätselhafte Mensch, den er öfters im Polizeipräsidium traf, in irgendeine Falle führen könnte.
Und auch daran dachte er nicht, daß er beim Einsteigen doch laut um Hilfe hätte rufen können. Warum er das nicht tat, wußte er ebenfalls nicht.
Während der Fahrt wurde kein Wort zwischen den beiden Männern gesprochen. Wohin es ging, das blieb dem Detektiv vorläufig ein Rätsel. Es war ihm auch jetzt einerlei. Er sollte Senta Fredersdorf sehen und vielleicht auch den Baron von Leichsenring, der das Mädchen entführt haben sollte. Jedenfalls mußte ihm Aufklärung werden. Und das war jetzt die Hauptsache!
Wie lange die nächtliche Fahrt währte, dafür fehlte ihm einfach das Zeitmaß.
Plötzlich hielt das Auto. Es geschah wieder ganz sanft.
»Ich bitte, Herr Detektiv,« sagte sein Begleiter.
Der Schlag stand offen, draußen wartete der Mann mit der Knollennase und der dunklen Warze.
Der Detektiv stieg aus. Er sah sich um. Aber in dem dichten Nebel konnte er gerade so viel entdecken, daß das Auto vor dem hohen Gitter eines Vorparkes hielt. Der Motor war abgestellt. Nicht der kleinste Laut ließ sich in der Nacht vernehmen. Auch hier kein Fußgänger. Man war wohl weit draußen, vielleicht im Grunewald.
Gleich darauf glitt der dunkle, schwere Schatten des Autos lautlos davon, wurde vom Nebel verschlungen.
Das Gittertor wich zurück. Der Mann mit dem Wachtmeistergesicht hatte einfach auf einen Knopf gedrückt. Die Oeffnung des Tores erfolgte darauf vom Hause aus auf mechanische Weise. Das war nichts Neues.
»Kommen Sie,« lud der Mann ihn wieder ein.
Und abermals folgte ihm der Detektiv ohne den Versuch eines Widerstandes.
Sie schritten unter hohen Bäumen dahin. Sehen konnte der Detektiv die Kronen nicht, aber er hatte das bestimmte Bewußtsein, daß es alte, sehr schöne Parkbäume waren, die über dem Weg ein Blätterdach bildeten. Dieser Weg war weich. Der feine Sand knirschte nicht. Man trat auf wie auf Gummi.
Noch umgab tiefe Nacht die beiden Männer, aber dann fiel ein schwacher Lichtschein durch das Dunkel. Ein Haus stand da mit einer vornehmen Freitreppe. Ueber dem Portal brannte ein elektrisches Licht, rötlich angehaucht.
Sie stiegen die Stufen empor, und wieder tat sich die Eingangstür auf. Als sie in die große Halle eintraten, umgab sie ein gedämpftes, weiches Licht. Alles war sehr vornehm, ein ausgesuchter Luxus, wohin das Auge auch blickte.
Als sich der Detektiv, eine Frage auf den Lippen, nach seinem Begleiter umwandte, fand er, daß er allein war in der Halle. Der Wachtmeister hatte ihn verlassen, lautlos, ohne daß der Detektiv die geringste Ahnung davon hatte.
»Es ist schließlich auch einerlei,« sagte er sich achselzuckend. »Ich werde hier schon jemand finden, der mit mir spricht.«
Er sah sich noch einmal um. Die Halle hatte eine kuppelförmige Decke, die ein mattes, seltsam gefärbtes Licht einströmen ließ. Uebrigens wunderte er sich nicht mehr länger. Es waren ihm in dieser seltsamen Nacht schon so viel Rätsel untergekommen, daß es auf das eine oder andere gar nicht mehr ankam.
Die Wände waren mit Malereien bedeckt. Sonderbar geformte Rahmen mit verschnörkelten Schnitzereien liefen darum. Die Motive der Bilder verstand der Detektiv nicht. Dabei war er in Kunstdingen durchaus bewandert. Alles wirbelte hier gleichsam durcheinander, die älteste Kunst der italienischen Meister und der Niederländer mit den Orgien der Modernen. Das sonderbarste war nur, daß alle diese verzwickten Strömungen in der Malerei sich bei jedem Bilde zusammen feststellen ließen.
»So etwas Verrücktes ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen,« lachte der Detektiv unwillkürlich auf.
Eine Tür tat sich auf. Ein Diener stand vor ihm. Er trug eine dunkelviolette Livree mit mattgoldenen Knöpfen. Der Mann war alt, ein bartloses, blutleeres Gesicht, wie man es so häufig bei solch alten Dienern findet.
Der Detektiv entsann sich, ein ähnliches Gesicht vor längerer Zeit im Palast eines italienischen Nobile in Venedig gesehen zu haben, zu dem ihn ein besonderer Auftrag geführt hatte. Genau so sah jener alte italienische Diener aus.
Alle Bewegungen dieses Menschen waren automatenhaft, von einer seltsamen Regelmäßigkeit, gleichsam abgezirkelt gewesen. Keine Muskel hatte sich in dem blutleeren Gesicht verzogen.
Der Detektiv erinnerte sich genau, welch tiefen Eindruck jener Mann auf ihn damals gemacht hatte. Er konnte diesen Kopf lange nicht vergessen.
Aber jetzt? Hatte das Schicksal diesen italienischen Bedienten nach hier verschlagen? Man war doch in Berlin und nicht in Venedig!
Der Livrierte verneigte sich steif. »Sie werden erwartet, mein Herr,« sprach er.
»Wer erwartet mich eigentlich?« fragte der Detektiv neugierig.
»Darf ich Ihnen Hut und Mantel abnehmen?« gab statt aller Antwort der Diener zurück.
Schon lagen die beiden Gegenstände im Arm des Dieners.
Der Detektiv sah an sich herab und fand zu seinem nicht geringen Erstaunen, daß er sich im Frack hierherbegeben hatte. Er mußte sich daheim völlig gedankenlos angekleidet haben. Schließlich war auch das einerlei.
Er warf den Kopf zurück und sah fest den Diener an. »Wollen Sie mir nicht doch vorher erklären, wo ich mich hier eigentlich befinde? Ich wäre ungemein begierig, das zu erfahren!«
Der Mensch lächelte sonderbar. »Sie scherzen gewiß, mein Herr! Wie sollten Sie nicht wissen, daß Sie sich in der Villa des Herrn Polizeipräsidenten befinden!« sagte er darauf.
Der Detektiv fuhr zurück und nagte an der Unterlippe. »So – – so,« murmelte er und fand das Ganze ebenso verrückt wie alles übrige. »Also der Herr Polizeipräsident erwartet mich? Es handelt sich wohl um eine sehr wichtige Besprechung?«
Der Livrierte zuckte nur die eckigen Schultern und trat höflich zur Seite.
Der Detektiv entsann sich, gehört zu haben, daß der Polizeipräsident seit kurzem weit draußen im Grunewald eine vornehme Villa erworben hatte, die früher einem exotischen Grafen gehört hatte, der über Nacht aus Berlin verschwand und alles zurückließ. Man sprach von einer exzentrischen Einrichtung dieser Villa. Das könnte also stimmen. In der Villa selbst war der Detektiv vorher noch nie gewesen.
Er zupfte seinen Frack zurecht und fand, daß er doch ganz gut getan hatte, sich zu diesem Nachtbesuch elegant zu kleiden. Eine Besprechung wegen der verschwundenen Dame. Es mußte sich da etwas Außerordentliches ereignet haben, das der Polizeipräsident mit dem Detektiv gleich in der Nacht besprechen wollte. Darum schickte er den Wachtmeister Kubasch.
Ein bißchen seltsam immerhin. Es gab doch andere, geeignetere Boten, zum Beispiel irgendeinen Kommissar. Aber der Polizeipräsident mußte ja wissen, was er tat.
Und der Detektiv sollte Senta Fredersdorf sehen, sprechen? Das war noch ein Rätsel. Der Eisenmagnat wartete doch sehnsüchtig auf seine Tochter! Man hatte Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um das junge Mädchen ausfindig zu machen. Und nun wußte der Polizeipräsident bereits, wo die junge Dame steckte!
Dahinter lag wiederum etwas Außergewöhnliches!
Der Detektiv war mit dem Diener in ein erhelltes Gemach getreten. Auch hier vornehmste, doch gleich bizarre Ausstattung. Ein verrückter Kerl mußte dieser mexikanische oder südamerikanische Graf doch gewesen sein!
»Ich werde Sie melden, mein Herr,« sagte der Livrierte und verschwand durch irgendeine Tür.
Der Detektiv sah in einen Spiegel. Er kam sich seltsam fremd heute vor, so fremd, daß er über sein eigenes Gesicht lachen mußte. Seine Haare waren sonst doch länger und dunkelbraun.
Jetzt waren sie kurz gehalten und schimmerten rotblond. Ein blödsinniger Spiegel!
Dann horchte er auf. War das nicht Musik, was da aus den hinteren Räumen klang? Ein Flügel! Darauf verstand sich der Detektiv. Man musizierte in der Villa des Polizeipräsidenten heute nacht! Und es mußte doch sehr spät sein – wie spät, konnte der Detektiv gar nicht bestimmen, denn er stellte fest, daß er seine Uhr nicht mitgenommen hatte. Eine Zimmeruhr war scheinbar nicht vorhanden.
»Einerlei,« sagte er sich lakonisch wie schon früher. »Ich werde schon dahinter kommen, was dies alles bedeutet.«
Der Livrierte schlug den schweren Damastvorhang zur Seite. Dahinter lag grelle Helle, die gleichsam durch die Luft zuckte. Oder war es nur der von der Decke eines großen Raumes hängende, ebenso bizarr geformte Kronleuchter mit seinen tausend geschliffenen Prismen?
Entschlossen trat der Detektiv in den Saal …
Zuerst blendete ihn die Helle etwas. Aber dann konnte er mehr und mehr die Umrisse der schlanken, goldgeäderten Säulen unterscheiden und ebenso die Menschen, die sich hier bewegten.
Es war eine sehr elegante Gesellschaft. Im Hintergrund musizierte man. Ein paar Diener standen umher.
Eine junge Dame sang ein Lied. Herren und Damen lauschten, zwanglos gruppiert. Auch wieder der aufdringliche exotische Luxus in der Ausstattung des großen, erleuchteten Saales. Ueberall weiße, schimmernde Marmorbüsten hinter künstlichen Bosketts, prächtige Gemälde an den Wänden, die Tapete seidenschillernd. Es war, als liefen tausend Goldkäfer darüber. Oder waren es bewegliche Sterne?
Die Luft war schwül und von feinem Parfüm durchzogen. Alle diese Damen und Herren trugen Balltoilette. In den Haaren der Schönen blitzten funkelnde Diademe, kostbare Ringe ließen ihr Strahlenfeuer leuchten, und die Frisuren waren nach allerletzter Mode seltsam grotesk aufgebaut. Leise schwirrten die Fächer.
Der Detektiv stand eine Weile wie betäubt. Wo war er denn hingeraten? Was tat er hier in dieser auserwählten Nachtgesellschaft?
War es doch eine Falle? Auch das mit dem Polizeipräsidenten?
Konnte diese Villa irgendein Abenteurer für kurze Zeit gemietet haben und fand es nun aus mancherlei Gründen für gut, den gefürchteten Detektiv hier verschwinden zu lassen?
Aber wozu dann erst die Komödie dieser glänzenden Gesellschaft?
Ein Herr stand plötzlich vor dem Detektiv. »Ich heiße Sie willkommen bei uns, Herr Altaro,« sagte er mit leiser, höflicher Stimme.
Der Detektiv starrte den Herrn an. Er wollte lachen, aber er fand nicht recht den Mut dazu.
Der vor ihm stand, war tatsächlich der Polizeipräsident von Berlin! Aber warum redete ihn der Mann mit »Herr Altaro« an? Er kannte den Detektiv doch ganz genau.
Wer war dieser »Herr Altaro«? Richtig, der Detektiv entsann sich, daß er neulich eine Notiz gelesen hatte. Man berichtete über einen Sekretär der chilenischen Gesandtschaft, der bei einem nächtlichen Streifzuge durch Berlin allerlei seltsame und gefährliche Abenteuer erlebt hatte.
Aber hieß es nicht auch, der Sekretär Altaro wäre bald darauf in seine chilenische Heimat zurückgekehrt – versetzt worden, wie man hinzugefügt hatte? Der Mann hatte sich allerlei Blößen gegeben.
Was ging ihn dieser Altaro an?
Er verneigte sich höflich. »Ich bin gekommen, Exzellenz –« er sagte wirklich »Exzellenz« – »aber gestatten mir Exzellenz zu bemerken, daß ich nicht Altaro bin, sondern –«
Er stockte, denn der Polizeipräsident lächelte wohlwollend, wie einem Menschen gegenüber, der krank ist oder mindestens fiebert.
»Aber lieber Herr Altaro, wir kennen uns doch,« nickte der Polizeipräsident.
»Allerdings, Exzellenz – allerdings – aber wollen sich Exzellenz doch erinnern, daß ich der Detektiv bin, der –«
Die Exzellenz schüttelte kurz den stark ergrauten Kopf, den der Detektiv so genau kannte.
»Sie irren, Herr Altaro,« sagte er bestimmt. »Ich weiß es besser. Und ich kenne auch keinen Detektiv, der Ihnen gleicht. Also lassen Sie es gut sein, Herr Altaro. Ich möchte Sie meiner Gesellschaft vorstellen. Sie werden dabei eine kleine Ueberraschung erleben. Kommen Sie.«
Und so sonderbar es war, der Polizeipräsident schob gutgelaunt seinen Arm unter den des Detektivs und führte diesen nach dem Hintergrund des Saales, wo man noch immer musizierte und die junge Dame soeben ihr Lied beendet hatte.
Er hörte eine Menge Namen bei der Vorstellung, in die ihn der Polizeipräsident verwickelte, Namen, die er irgendwo, irgendwann schon einmal gehört hatte, und sah Gesichter, die ihm mehr oder weniger bekannt erschienen.
Aber er konnte sich durchaus nicht klar besinnen, wo er diese Züge gesehen hatte und bei welcher Gelegenheit. Mitunter blitzte es in seinem Hirn auf. Der oder die – er hatte wohl schon mit ihnen gesprochen. Aber wie dumm, dabei war es ihm, als hätten diese Herrschaften damals andere Kleider getragen. Einige der Köpfe, die grotesk frisiert und brillantengeschmückt ihm zunickten, saßen seiner Erinnerung nach auf den wiegenden Schultern käuflicher Dirnen, den Genossinnen schwerer Verbrecher.
Mit den Männern ging es ihm ebenso. Jener breit ausladende Schädel mit den vorstehenden Backenknochen – ganz genau so sah der Kopf des Massenmörders Sembler aus, den er der Gerechtigkeit ausgeliefert hatte. Jener andere elegante Kavalier mit dem goldgeränderten Monokel – er glich aufs Haar dem längst verschollenen Hochstapler Manolescu.
Man spielte ihm wohl absichtlich diese Komödie vor. Zu irgendeinem verborgenen Zweck, dessen Grund er nicht begreifen konnte. Und alle diese Augen, die ihn anlächelten, trugen dabei ganz leicht verschleiert den Ausdruck von Hohn und unterdrücktem Haß.
Oh, er ahnte, daß er hier auf der Hut sein mußte! Aber wie konnte sich der Polizeipräsident nur mit diesen Leuten umgeben?
Sie alle begegneten ihm äußerlich sehr höflich, überaus liebenswürdig, doch er fühlte gleichsam das Versteckte, Drohende hinter ihrer Maske.
Da schlug die Stimme des Polizeipräsidenten an sein Ohr: »Erlauben Sie, Herr Altaro, daß ich Ihnen vorstelle – Herrn Baron von Leichsenring …«
»Verdammt,« durchfuhr es den Detektiv. »Er ist also wirklich hier, der Mann, um den es sich bei dem Verschwinden des Fräulein Fredersdorf drehen soll! Da bin ich wirklich gespannt!«
Er wandte sich halb um.
Ein noch sehr junger, sehr eleganter Herr stand vor ihm und betrachtete ihn einen Augenblick, gleichsam neugierig. Dann lächelte auch er. »Ich bin der Baron von Leichsenring,« sprach er dabei.
Eine etwas absonderliche Vorstellung. Die Blicke der beiden Männer tauchten ineinander. Schweigen stand sekundenlang zwischen ihnen.
Es war ein schöner Mann, der Baron, kaum dreißig alt, von schlanker, biegsamer Gestalt, mit lebhaft bewegten Zügen und feurigen Augen. Der gutgeschnittene Mund zeigte weiße Zähne, die fest waren und ebenso wie das harte Kinn Unternehmungslust und Kraft bekundeten.
»Ich freue mich außerordentlich, Sie kennen zu lernen, Herr Altaro,« fügte der Baron liebenswürdig hinzu.
Der Detektiv warf ärgerlich den Kopf zurück. »Verzeihen Sie,« sagte er scharf, »ich erlaubte mir schon vorhin, den Herrn Polizeipräsidenten darauf hinzuweisen, daß ich nicht Altaro bin, sondern –«
Der Baron winkte lachend ab. »Wozu die Verstellung? Wir kennen Sie doch, lieber Freund – aus dem Munde des Herrn Polizeipräsidenten. Es hilft Ihnen gar nichts, hier etwa inkognito auftreten zu wollen.«
»Den Teufel will ich!« wollte der Detektiv wütend aufschreien. Aber es war ihm, als drücke ihm jemand unsichtbar eine weiche Hand vor den Mund, so daß gar kein lautes Wort hervorkam.
»Darf ich Sie meiner schönen Freundin vorstellen, Herr Altaro?« fuhr der Baron fort. »Das Lied ist ja aus …«
»Aha! Die Sängerin von vorhin,« dachte der Detektiv. »Immerzu. Vielleicht treffe ich da auch ein bekanntes Gesicht!«
Die Umstehenden waren zurückgewichen, ohne daß er dies eigentlich bemerkt hatte. Sie waren einfach nicht mehr da.
An der Seite des Baron Leichsenring schritt der Detektiv dem Flügel zu, der von einem prächtigen Palmenboskett umgeben war. Dort hatte sich die junge Sängerin niedergelassen. Einige Herren und Damen umgaben sie und sagten ihr wohl Höflichkeiten.
Eigentlich hätte das auch der Detektiv tun sollen, wie er sich sagte. Aber er fand es doch abgeschmackt, wenn er daran dachte, unter welchen Umständen er heute hierher gekommen war.
»Darf ich dich stören, liebe Senta?« erklang da die Stimme des Barons.
Die junge Dame erhob sich, schlank, schön, mit seidenschillerndem Blondhaar und tiefblauen Augen unter feingeschwungenen Brauen. Ein kleiner, voller Mund lächelte, und zwei niedliche Grübchen bildeten sich dabei auf ihren zarten Wangen. Die Gestalt selbst war schlank und zierlich gleich einer Libelle in der Feinheit der ganzen Modellierung. Der Detektiv starrte verblüfft die junge Dame an.
Keine andere war es als Senta Fredersdorf, die Tochter des Eisenmagnaten!
Also doch hier! Und bei dem Baron von Leichsenring! Und dieses Lächeln – war es denn eine Maske, und wagte es die junge Dame nur nicht, die eigentlichen Gefühle ihres Herzens zu zeigen? War sie freiwillig hier? Oder war sie nur einem unheimlichen Zwange gefolgt?
Und alle diese Herren und Damen – der Polizeipräsident mit inbegriffen – standen sie im Bunde mit dem Baron Leichsenring, der einem angstvoll sich verzehrenden Vater sein einziges Kind entführt hatte und nun verbarg?
»Herr Altaro – Sekretär der chilenischen Gesandtschaft …« stellte der Baron vor.
Der Detektiv verneigte sich weltmännisch, so dumm er das auch fand. Er tat es eben ganz mechanisch, wie unter einem Zwang. Aber er sagte sich dabei doch im stillen: ich werde nachher schon Gelegenheit finden, mit dieser jungen Dame ein ernstes Wort zu sprechen.
Er hatte ja doch sein Ziel erreicht und das verschwundene Mädchen gefunden. Und nun war er auch entschlossen, alles – auch das Ungeheuerlichste – aufzubieten, um Senta ihrem Vater wieder in die Arme zu führen.
Man verwickelte ihn – den Herrn Altaro – in eine rege, aber höchst oberflächliche Unterhaltung. Er gab Antworten, fragte, nahm einige Witze über das Treiben in der chilenischen Gesandtschaft – ebenso lächelnd hin wie sie gegeben wurden, und zerbrach sich dabei fortwährend den Kopf: was muß ich aus diesem schönen, jungen Geschöpf, dieser Senta Fredersdorf, und dem Baron Leichsenring machen? Liebt sie ihn so stark, daß sie ihm freiwillig gefolgt ist und sich dem Vater gegenüber verbirgt? Wie lange? Worauf warten dann die beiden?
Und der sonst so strenge Polizeipräsident? Was hat denn er mit der ganzen Geschichte zu tun? Noch weiter: wie ist es möglich, daß er dem Baron seine neue Villa überläßt? Liegt da eine heimliche Verwandtschaft vor, von der Berlin und die große Gesellschaft nichts ahnt? Auch dahinter wollte der Detektiv zu kommen suchen.
Vergeblich machte er den Versuch, Senta in ein ernstes Gespräch zu verwickeln. Sie wich geschickt aus und verbarg ihm etwas, das war sicher. Es war außerdem zumeist der Baron in ihrer Nähe. Und so konnte der Detektiv auch nicht geradezu nach Sentas Vater fragen – er durfte nicht einmal dessen Namen erwähnen.
Schließlich nahm ihn wieder der Polizeipräsident in Anspruch. »Wir wollen eine Zigarre rauchen, lieber Herr Altaro,« sagte er. Und er führte den Detektiv, der sich gar nicht zu sträuben vermochte, in ein kleines, offenes Nebengemach, das ebenso vornehm ausgestattet war.
Einer der Livrierten schob ein Rauchtischchen heran, das alles enthielt, was einen verwöhnten Raucher befriedigen konnte, rückte die indische Bronzeschale zurecht und zog sich dann schweigend zurück.
Merkwürdig, die Leute hier traten alle so lautlos auf. Man hörte kaum das Streifen ihrer Sohlen auf dem glatten Parkett.
Der Detektiv erwartete nichts anderes, als daß der Polizeipräsident nun endlich von Senta Fredersdorf und dem Baron Leichsenring sprechen würde, und war nicht wenig gespannt, zu hören, wie diese verwickelte Sache sich natürlich erklären ließ.
Die Zigarren brannten. Ein leichtes aromatisches Kraut, dessen bläuliche Wölkchen sanft zur Decke stiegen, um dort sonderbare Figuren zu bilden. Eine Weile verfolgte der Detektiv diese Gebilde. Es waren tanzende Mädchen, die einen Reigen aufführten.
Er schüttelte den Kopf über sich. War er denn betrunken? Aber nein! Man hatte ihm ja noch nicht einmal ein Glas Champagner gereicht. Das fiel ihm jetzt erst auf. Alle anderen hatten getrunken, hatten ihm zugenickt. Er aber stand trocken da.
Energisch drehte er den Kopf dem Polizeipräsidenten zu. »Wenn Exzellenz erlauben, möchte ich um eine offene Aussprache bitten,« sagte er.
Der Polizeipräsident nickte ihm zu. »Ich verstehe schon, lieber Altaro. Wir wollen uns hier in der köstlichen Stille ein bißchen über Schopenhauer unterhalten. Meine Lieblingsbeschäftigung, müssen Sie wissen.«
»Aber gestatten Exzellenz,« stotterte ganz verblüfft der Detektiv. »Ich dachte an etwas ganz anderes – eigentlich meinen Beruf betreffend – und eine ganz verwirrte Geschichte –«.
»Verwirrte Geschichte!« lachte die Exzellenz. »Auch mein Fall! Hat es etwas Neues in der Gesandtschaft gegeben?«
»Ich bitte Exzellenz um Gottes willen, mir doch zu glauben, daß ich durchaus nichts mit der chilenischen Gesandtschaft zu tun habe!« rief der Detektiv, ganz fassungslos geworden unter dieser unheimlichen Ruhe des ihm gegenübersitzenden Mannes.
Der Präsident wandte ihm langsam seine Augen zu. In diesem Augenblick war es dem Detektiv, als habe sich das Gesicht des hohen Herrn völlig verändert. Starr, kalt, abweisend, aber durchaus gemessen dabei, begegnete ihm dieser Blick.
»Wer wollen Sie denn dann sein?« fragte die Exzellenz.
Der Detektiv nannte seinen vollen, richtigen Namen. »Exzellenz kennen mich doch längst persönlich,« fügte er hinzu.
Der Polizeipräsident streifte langsam die Asche seiner Zigarre ab. Er schien dabei wieder zu lächeln, aber ganz anders als früher.
»Sie behaupten also …? Nun gut! Aus welchem Grunde sitzen Sie mir aber dann gegenüber?« fragte er darauf langsam.
»Verzeihung, Exzellenz – ich wurde mitten in der Nacht aus dem Bette geholt,« erwiderte der Detektiv. »Ich kam gar nicht aus freiem Willen. Nun ich aber einmal hier bin und die Personen gefunden habe, die ich wie eine Stecknadel seit Tagen suche, werde ich auch nicht eher wieder weichen, bevor nicht alles geregelt und geklärt ist.«
»Hm – glauben Sie das erreichen zu können?«
»Ich hoffe es bestimmt!«
»Und – Sie fürchten auch nicht, man könnte Sie in eine Falle gelockt haben?«
»Ich habe mich noch nie gefürchtet. Exzellenz, schließlich –«
»Was wollten Sie sagen?«
»Ich habe doch wohl in Exzellenz eine starke Hilfe!«
Der Polizeipräsident wiegte den Kopf hin und her. »Wie man's nehmen will, mein Bester. Sie können sich da auch verrannt haben, in eine Sache, die gerade Ihnen allein unerklärlich ist. Wir andern alle sehen da viel klarer.«
»Das kann ja sein, Exzellenz, dann begreife ich aber immer noch nicht, warum man Herrn Fredersdorf nicht benachrichtigt hat, daß seine Tochter hier ist?«
Ein kalter, fremder Blick traf den Detektiv. »Wer ist Herr Fredersdorf?« fragte der Polizeipräsident kühl.
Der Detektiv starrte die Exzellenz an. »Exzellenz wissen doch gewiß, daß Fräulein Senta Fredersdorf die – Geliebte des – nun, des Baron Leichsenring hier –«
Die Sprache verschlug ihm förmlich. Er saß wie auf Kohlen.
Der Polizeipräsident wiegte abermals den Kopf und lächelte. »Sie scheinen in lauter Irrtümer verfallen zu sein, mein bester Altaro. Reden wir doch lieber ein wenig von Ihrer Gesandtschaft. Was macht der famose Marquis Sagato?«
Der Detektiv vermochte sich nicht mehr zu halten. Er fuhr vom Stuhl in die Höhe, rang nach Atem. Warum nur immer wieder der Boden so seltsam schwankte, als gehe er auf Deckplanken?
»Exzellenz –« keuchte er und fühlte, daß es ihm dabei kalt und heiß im Innern aufstieg, »ich bitte dringend um eine Unterredung durchaus dienstlicher Art.«
Der Polizeipräsident sah ihn sekundenlang an. Seine Augen waren stahlgrau, was der Detektiv erst jetzt so recht bemerkte, und hatten etwas Stechendes, das beinahe lähmte. Jede Muskel im Gesicht der Exzellenz war nun erstarrt.
Dann erhob sich auch der Polizeipräsident. »Wie Sie wünschen,« sagte er und verneigte sich zustimmend. »Ich bitte, mir zu folgen.«
Er schritt voran, nahm aber nicht den Weg durch den Saal, sondern durch eine Seitentür. Es ging durch einen schmalen Gang, der ein magisches Dämmerlicht aufwies, aber nicht ein einziges Fenster besaß.
»Er wird mich in sein Arbeitszimmer führen, und dort werde ich endlich hören, was hier vorgeht,« sagte sich der Detektiv.
Der Gang, dessen Decke gewölbt war wie in einem alten Kreuzgang, bog zur Seite ab. Man befand sich vor einer schmalen, spitzbogenartigen Tür aus schwarzem Ebenholz. Die Beschläge waren aus Neusilber. Irgendein Zeichen, das der Detektiv vergeblich zu entziffern suchte, war auf die Tür gemalt, und zwar in roter und gelber Farbe.
Rot und Gelb in dieser Zusammenstellung konnte der Detektiv niemals leiden. Er bekam leise Nervenzuckungen, wenn er dieser Zusammenstellung irgendwo begegnete.
So wandte er auch leicht zusammenfröstelnd den Blick von der sonderbaren Tür ab.
Der Polizeipräsident war stehen geblieben und drehte ihm noch einmal den Kopf mit den stahlgrauen Augen zu. »Sie wünschen zu wissen, was hier in dieser Nacht vorgeht?« sagte er mit einer Stimme, die ganz blechern klang und gleichsam aus dem Leeren zu kommen schien.
Der Detektiv warf trotzig den Kopf zurück. »Jawohl,« erwiderte er ebenso fest.
»Dann treten Sie, bitte, hier ein –« versetzte die Exzellenz.
Die spitzbogengeformte Tür ging auf, lautlos. Es schien sogar, als habe sie die Hand des Polizeipräsidenten gar nicht einmal berührt.
Dahinter lag ein Raum, dessen Ausdehnung gar nicht festzustellen war, denn eine graue, schwere Dämmerung lag in der Luft.
»Ich bitte,« sagte der Polizeipräsident.
Er ließ den Detektiv vorantreten und dieser besann sich auch nicht lange. Alles in ihm war jetzt fieberhaft gespannt, zu erfahren, wie sich die Dinge, die ihm in dieser Nacht begegnet waten, aufklären würden.
Als er in den verdunkelten Raum eingetreten war, überfiel ihn das plötzliche Empfinden, allein zu sein. Er drehte sich schnell um.
»Exzellenz –« rief er.
Er bekam keine Antwort. Durch keinen Ton unterbrochen, umgab ihn völlige Stille, die etwas Würgendes hatte. Gleichzeitig war es auch völlig dunkel geworden.