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Erstes Kapitel

Der Detektiv war gegen elf in seine Wohnung zurückgekehrt. Zur Heimfahrt hatte er eine Taxe benutzt. Als er ausstieg und den ihm fremden Chauffeur bezahlte, streifte sein forschender Blick gewohnheitsgemäß das Gesicht dieses Mannes.

Er glaubte ein verstecktes, hämisches Lächeln um dessen glatte, nichtssagende Miene zu bemerken. Es war eigentlich dumm, daß er in der gereizten Stimmung, die ihn ganz gegen seinen Willen befallen hatte, überall Gespenster erblickte.

Der Chauffeur nickte höchst harmlos und sagte sehr höflich: »Danke, Herr!«

Keine Spur von Verlegenheit, nichts von Spott oder Hohn. Langsam stieg der Detektiv nach oben.

Harte Arbeit lag hinter ihm, ein Hinundherhetzen während des ganzen Tages. Todmüde war er und verstimmt dazu. In dieser Geschichte, deren Lösung er sich zur Aufgabe gestellt hatte, wollte es keinen Schritt vorwärts gehen.

Die einzige Tochter des millionenreichen Eisenmagnaten Fredersdorf war seit acht Tagen verschwunden. Spurlos. Ein paar Dutzend Privatdetektive bemühten sich neben der Polizei, die junge Dame aufzufinden, die keine Zeile zurückgelassen hatte, als sie zur Nachtzeit die prächtige Villa ihres Vaters verließ …

Freiwillig verließ? Doch nicht so ganz. Zumindest glaubte daran am wenigsten der Vater. Man hatte das Mädchen ganz einfach entführt. Zu irgendeinem Zwecke. Man bereitete vielleicht eine Erpressung vor. Aber bis jetzt zeigte sich nichts, was diese Annahme bestätigte.

Senta Fredersdorf war neunzehn Jahre alt, eine rassige und verwöhnte Schönheit, das Schoßkind des reichen Vaters.

Man munkelte von einer etwas unklaren Liebschaft, über die der Eisenmagnat nicht recht sprechen wollte. Man nannte dabei den Namen eines Baron von Leichsenring.

Stand dieser Mann mit Sentas Entführung in Verbindung? Aber auch nach dieser Richtung hin hatte sich ernsthaft nichts von Bedeutung feststellen lassen. Der Baron hatte ohnedies Berlin verlassen.

Als Senta Fredersdorf heimlich die väterliche Villa verließ oder verschleppt wurde, hatte sie nichts an Wertsachen mitgenommen. Dies mußte auffallen, denn sie besaß sehr wertvolle Schmuckgegenstände …

Ihr Vater hatte sich, als die Polizei versagte, an den bekannten Detektiv gewandt und setzte seine Hoffnung auf diesen Mann und dessen erprobten Scharfsinn.

Der Fall verwickelte sich indessen mehr und mehr, ein besonderer Ansporn für den Detektiv, gerade hier zum Ziele zu gelangen.

Dem Detektiv ging der Ruf voran, daß er, sobald er sich einem Falle mit Eifer zuwandte, gewissermaßen suggestiv die einzelnen Fäden aufspürte, eine seltsame Begabung, die bis dahin noch keine Erklärung gefunden, aber schon ganz bedeutende Erfolge gezeitigt hatte.

An diesem Abend hatte er dem dunkelsten Berlin in einer geschickten Verkleidung einen Besuch abgestattet, hatte eine Kaschemme nach der andern durchstöbert, mancherlei interessante Wahrnehmungen dabei gemacht, aber doch nicht das gefunden, was er eigentlich suchte.

Der Detektiv war nun vor seiner Wohnung angelangt und sein Diener öffnete. Er betrat den matterhellten Korridor, reichte schweigend, wie es seine Art war, dem Diener Hut und Mantel und wandte sich darauf seinem Arbeitszimmer zu.

»Ich werde morgen noch einmal bei dem Eisenmagnaten vorsprechen, um bis aufs kleinste zu hören, was dem Verschwinden seiner schönen Tochter vorausging,« murmelte er.

Schweigend servierte bald darauf der Diener den Tee.

Aber der Trank mundete heute dem Detektiv nicht sonderlich. Er goß sich ein zweites Glas Rum dazu. Aber es wurde nicht besser. Seine Nerven machten heute nicht mehr mit.

Es war ganz still um ihn. Nichts regte sich. Auch der Lärm der Straße unten erstarb mehr und mehr.

Und immer weiter spannen sich die Gedanken des Detektivs, arbeitete sein Gehirn. Die Umwelt versank oft für Minuten. Er wußte, daß er Senta Fredersdorf finden mußte, und in seinem Unterbewußtsein stiegen sonderbare und unerklärliche Bilder auf.

Stets aber trafen die Schlußfolgerungen seltsamerweise zu, die sich ihm in diesem Zustande aufdrängten. Niemand wußte darum, am wenigsten die Polizei, und der Detektiv hütete sich wohlweislich, etwas von dieser, seiner verborgenen Gabe, jemand wissen zu lassen.

Er hatte Senta Fredersdorf persönlich kennengelernt, früher, bei Gelegenheit einiger gleichgültigen Gesellschaften, denen er beiwohnte. Sie selbst wußte natürlich nicht, daß er der schon ziemlich berühmte Detektiv war, mit dem sie zusammentraf.

Er stand auf und näherte sich dem großen Schreibtisch mit dem etwas altmodischen Aufbau.

Er stutzte. Hatte er eines dieser Fächer am Vormittag, als er ging, offen gelassen? Das erschien ihm ganz undenkbar. Er barg gerade hier eine Anzahl Notizen über den Fall Fredersdorf, die er sorgfältig aufbewahrte.

Er zog ein kleines Bündel Papiere heraus und glaubte zu bemerken, daß das Band, das er darum geschlungen hatte, gelöst worden war. Was war das? Sollte jemand während seiner Abwesenheit Einblick in diese Notizen genommen haben?

Der Detektiv drückte auf den elektrischen Klingelknopf. Im Flur klingelte es schwach.

Der Diener trat ein, ganz ruhig wie immer, bescheiden in jeder Bewegung.

Der Detektiv wandte ihm das Gesicht zu und beobachtete die Züge des Menschen eine Sekunde aufmerksam.

»Ich will schlafen gehen. Helfen Sie mir bitte beim Ausziehen,« sprach er dann.

»Ich habe alles vorbereitet, Herr,« versetzte der Diener. Dabei warf er seinen Blick auf ein kleines Tischchen neben dem Fenster.

Der Detektiv folgte der Richtung seiner Blicke. Auf dem Tischchen lag ein Brief. Erst jetzt sah er das.

»Verzeihen Sie, Herr, es wurde ein Brief abgegeben,« sagte da der Diener. »Ich habe ihn dort gleich zur Hand gelegt.«

Der Detektiv nahm den Brief, während sein Diener in das anstoßende Schlafzimmer ging. Er schnitt die Klappe auf und zog ein Blatt Papier heraus, das er entfaltete.

Gleich darauf schob er es wieder langsam und ohne daß sich seine Miene veränderte, in den Umschlag hinein.

Der Diener kam zurück. Wieder beobachtete ihn der Detektiv scharf.

»Wer hat diesen Brief gebracht?« fragte er den jungen Mann.

»Es war ein jüngerer Diener des Herrn Fredersdorf.«

»Also wirklich?« sagte der Detektiv mit einem schwachen Lächeln. »Und wann war das?«

»Etwa eine halbe Stunde, nachdem Sie von hier fortgegangen waren, Herr.«

Wieder nickte der Detektiv lächelnd. Er wußte es nun: der Mensch, der den Brief brachte, hatte unten auf der Straße gewartet, bis er ihn, den Detektiv, das Haus verlassen sah. Dann erst war er nach oben gestiegen.

»Was sagte der Diener, als er den Brief abgab?« fragte der Detektiv nun kurz.

»Er bestand darauf, den Brief seines Herrn persönlich dem Empfänger zu übergeben. Aber Sie waren nun doch bereits fort, Herr.«

»Und dann …? Hat der junge Mann das Zimmer hier betreten?«

»Allerdings: der Mensch war etwas zudringlich und wollte mit mir eine Unterhaltung über seinen Herrn und die verschwundene junge Dame anfangen. Ich lenkte aber energisch ab.«

»Was weiter? Ich muß genau wissen, wie der Diener sich weiter verhielt,« forderte der Detektiv.

»Der Mann wurde darauf überaus liebenswürdig und meinte, er müsse dann wohl oder übel seinen Brief, den Herr Fredersdorf dem Herrn Detektiv sende, auf den Schreibtisch legen. Antwort wäre ja nicht nötig. In diesem Augenblick klingelte es stark und wiederholt am Telephon.«

»Hier am Tischapparat?«

»Nein, ich wunderte mich noch darüber. Draußen im Korridor. Es muß am Tischtelephon etwas nicht in Ordnung sein.«

»Weiter!«

»Ich lief, da es immerfort weiterklingelte, rasch auf den Korridor und meldete mich. Der Anruf kam von einem Polizeirevier im Westen. Der Polizeileutnant fragte nach Ihnen, Herr, und wollte Sie persönlich sprechen. Ich konnte ihm nur sagen, daß Sie abwesend wären. Er stellte noch eine ganze Anzahl Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Es war eigentlich ganz wirres Zeug. Schließlich hing ich ab, denn ich wollte den Diener des Herrn Fredersdorf nicht allein im Arbeitszimmer lassen.«

»Warum haben Sie das überhaupt getan?«

»Verzeihung, Herr, aber da es sich doch um einen Diener des bekannten Eisenmagnaten handelte, mit einem Brief an Sie …«

Der Detektiv winkte ab.

»Es ist gut,« sagte er. »Ich werde dort noch einmal anklingeln. Kleide mich später selber aus.«

»Gute Nacht, Herr,« sagte der Diener ruhig.

Der Diener war draußen. Es wurde still. Nach einer Weile stieg irgendwo ein unbestimmbares Geräusch auf. Und abermals fiel Stille ein.

Der Detektiv wußte, daß der Diener, der den Brief von Fredersdorf gebracht hatte, gar kein Diener war, sondern der Mann, der in seinen Schreibtischnotizen herumgekramt hatte.

Also wußten die Leute, die Senta Fredersdorf verschwinden ließen, bereits, daß ihm, dem bekannten Detektiv, die Sache übertragen worden war!

Der Detektiv zog den geöffneten Briefumschlag noch einmal aus der Tasche, holte das inliegende Blatt hervor und ließ das Licht hindurchscheinen.

Das Blatt war völlig weiß, war überhaupt nicht beschrieben. Nur der Umschlag trug in starken Zügen die genaue Adresse des Detektivs. Es war die Handschrift von Fredersdorf. Der Detektiv kannte sie.

Nach langem Nachdenken setzte er sich an den Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Aber der Apparat funktionierte nicht. Richtig! Sein Diener hatte das ja bereits erwähnt!

Aber der Detektiv hatte rasch die Ursache der Störung entdeckt. Ein schmales Stückchen Stahldraht war an einer wenig sichtbaren Stelle sehr geschickt eingeschoben worden. Dadurch wurde der Strom unterbrochen. Der Mann, der dies ausgeführt hatte, mußte sehr genau Bescheid wissen.

Nach Entfernung des Hindernisses funktionierte das Telephon wieder tadellos.

Der Detektiv rief trotz der späten Nachtstunde den Eisenmagnaten Fredersdorf in dessen Villa an. Er hatte Glück. Fredersdorf war daheim und noch auf.

Fredersdorf war nach wie vor in höchster Besorgnis um sein Kind und hoffte, von dem Detektiv etwas Günstiges zu hören. Aber dieser konnte den erregten Mann nur vertrösten. Er erbat sich dagegen Auskunft, ob Herr Fredersdorf an diesem Tage etwa seinen Diener geschickt habe. Mit einem Briefe.

»Ich habe zurzeit gar keinen Diener,« kam die Antwort zurück. »Mein letzter ist vor acht Tagen in seiner Heimat verstorben und ein Ersatz hat sich noch nicht gefunden.«

Der Detektiv sah sinnend vor sich nieder. Er hatte eigentlich gar keine andere Antwort erwartet.

»Ich danke Ihnen, Herr Fredersdorf. Morgen hoffe ich, Ihnen einen ausführlicheren Bericht geben zu können. Gute Nacht.«

Langsam ging er in sein Schlafzimmer, das Licht hinter sich abdrehend. Wer war dieser angebliche Diener, der seinen Schreibtisch durchstöbert hatte? Fredersdorf wußte nichts von ihm.

Morgen wollte der Detektiv sich eine genaue Beschreibung geben lassen. Viel würde dabei aber gewiß nicht herauskommen. Es handelte sich offenbar um eine ganz raffiniert vorgehende Bande.

Der Detektiv hatte sich auf sein Lager geworfen. Er fühlte sich in der Tat wie gerädert. Das Licht an der Decke wurde ihm lästig, er suchte mit der Hand den Schalter und drehte es aus. Tiefe Nacht umgab ihn.

Er schloß die Augen, und noch einmal zogen in wirrem Tanz allerlei Gestalten durch seinen Sinn. Sie trugen Gesichter, die ihm irgendwo schon begegnet waren, die er fassen wollte und die ihm dabei jedesmal wieder entschlüpften.

»Senta Fredersdorf …!« murmelte er. »Ich muß sie finden. Ganz bestimmt! Es wäre die erste Abfuhr, die ich mir holen würde. Ich werde sie finden … ganz gewiß. Aber wo zum Teufel steckt sie? Und wie hat sich diese sonderbare Entführung eigentlich zugetragen?«

Wie lange der Detektiv eigentlich schon geschlafen hatte, wußte er nicht zu sagen, als er plötzlich erwachte. Vielleicht hatte irgendein Geräusch sein scharfes Ohr getroffen.

Er glaubte in der Ferne das Schlagen einer Uhr zu hören. Der Ton klang blechern und ganz anders, als ihn der Detektiv sonst gewöhnt war. Er warf den Kopf auf die Seite und richtete sich dann mit einem Ruck halb empor.

Teufel?! Was war das? Sein Schlafzimmer war grell erleuchtet!

Er wunderte sich eigentlich, daß er nicht sofort auf beide Füße sprang. Aber er blieb erstarrt sitzen und riß nur die Augen weit auf.

Auf einem Stuhle, drei Schritte vom Bette entfernt – saß ein Mensch. Wie kam der Fremde hier herein?

Er sah nach der Deckenlampe. Aber von dort kam keine Helle. Trotzdem war der Raum ganz durchleuchtet. Es war ein stechendes, bläuliches Licht.

»Das alles ist Unsinn,« sagte er sich. »Ich träume!«

Er rieb sich die Augen. Aber das grelle Licht blieb. Und auch der Mann auf dem Stuhle.

Mit einer seltsamen Neugierde und Spannung betrachtete er den Eindringling. Eine breitschultrige Gestalt, ein kantiger Schädel, kurzes, militärisch geschnittenes Haar, die Arme herabhängend, die Hände auf den gespreizten Knien ruhend.

Langsam drehte ihm der Mann das Gesicht zu.

Und ein hartes, für eine Sekunde die Züge verzerrendes Lachen zuckte um die breiten Lippen.

Der Detektiv riß die Augen auf. Dieses Gesicht kannte er doch! Aber was denn …? Job Wilzeck war doch in regelrechtem Gerichtsverfahren verurteilt worden. Hatte seine Verbrechen eingestanden, die man ihm zur Last legte. Der Detektiv hatte der letzten Schwurgerichtsverhandlung beigewohnt und entsann sich genau des drohenden, haßerfüllten Blickes, den ihm dieser Mörder zuwarf, als man ihn abführte.

Aber war denn Job Wilzeck nicht hingerichtet worden? Um diesen Kopf kürzer gemacht, der trotzig und frech zwischen den beiden klobigen Schultern saß?

Wie konnte da der Mensch eine Rolle in der Entführungssache der Senta Fredersdorf spielen? Unbegreiflich!

»Na, alter Freund, auch wieder mal hier?« fragte er plötzlich und starrte Job Wilzeck an.

Der nickte kurz und lächelte grausam. »Stehen Sie auf. Sofort!« sagte er.

Der Detektiv fand den Ton des Menschen reichlich frech. Er wollte der Sache ein Ende machen und griff nach dem dicht neben seinem Bette an der Wand befindlichen Klingelknopfe.

Gleich mußte die Alarmglocke draußen ertönen.

Aber nichts rührte sich. Eine unheimliche Stille lastete ringsum.

»Aha,« sagte sich der Detektiv. »Der Bursche hat die Leitungsdrähte durchgeschnitten. Daß ich auch nicht gleich daran dachte!«

Das sollte dem Menschen aber nichts nützen! Unterm Kopfkissen lag ein Revolver. Sogar entsichert.

»Hände hoch!« befahl der Detektiv plötzlich und richtete die Waffe auf den Mann, der vor ihm saß.

Und als dieser eine Bewegung machte, als wollte er sich auf den Detektiv stürzen, drückte dieser ab. Einmal – zweimal – dann wiederholt. –

Die Waffe versagte. Er warf sie ärgerlich von sich. Man hatte ihm den Revolver gelassen, aber die Patronen daraus entfernt. Das hätte er sich eigentlich vorher denken können.

»Stehen Sie auf, sofort!« wiederholte der Mann befehlend.

»Zu welchem Zwecke soll ich denn aufstehen?« versetzte der Detektiv und wunderte sich über die eisige Ruhe, mit der er sprechen konnte.

»Sie werden mit mir das Haus verlassen. Jetzt gleich.«

»Ich werde …? Den Teufel werde ich, Mann! Was wollen Sie eigentlich von mir?«

Im gleichen Augenblick wußte er, daß er sich vorhin doch getäuscht haben mußte. Das war ja gar nicht jener Job Wilzeck, der da vor ihm saß; eine sonderbare Täuschung nur – es war kein anderer, als der Kriminalwachtmeister Kubasch.

Den Mann mochte er nie recht leiden. Weshalb, wußte er freilich selber nicht. Es war ganz einfach eine bestimmte Abneigung.

»Wenn Sie vorher wissen wollen, was mich zu Ihnen führt, Herr Detektiv – – dann kann ich es Ihnen auch sagen,« lächelte der Mensch.

»Ich wäre wirklich neugierig,« versetzte der Detektiv.

»Also hören Sie –« fuhr der Mann auf dem Stuhle fort. »Sie suchen Senta Fredersdorf? Seit Tagen rackern Sie sich schon mit der Geschichte ab. Ich möchte Ihnen den Beweis erbringen, daß Sie auf ganzer falscher Fährte sind. Sie laufen da beständig im Kreis herum.«

»Wissen Sie etwa, Wachtmeister Kubasch, wo die junge Dame verborgen gehalten wird?« warf der Detektiv ein.

Wachtmeister Kubasch nickte. »Natürlich weiß ich das. Glauben Sie, wir andern sind mitunter ebenso klug wie Sie, Herr Detektiv.«

»Also, wieso gehe ich irre, Mann?« meinte er. »Reden Sie endlich mal frei von der Leber weg. Dann können wir uns auch verständigen.«

»Das hoffe ich – Herr Detektiv,« sagte der Mann auf dem Stuhle. »Sie halten die Senta Fredersdorf für entführt?«

»Jawohl, so lange, bis Sie mir nicht den Gegenbeweis liefern.«

»Das werde ich. Noch in dieser Nacht!«

»Heute Nacht?«

»Ja, ich will Ihnen die junge Dame zeigen.«

»Zeigen?«

»Jawohl. Und auch ihren Geliebten, dem sie freiwillig gefolgt ist.«

»Wer wäre das – ihr Geliebter?«

»Ich denke, das haben Sie schon ausgeklügelt? Der Baron von Leichsenring, der vor vierzehn Tagen bei ihrem Vater, dem Millionär, um Fräulein Sentas Hand angehalten hat und schroff abgewiesen wurde.«

»Ah – also der –?« murmelte der Detektiv.

Ganz klar stand vor ihm, was ihm der Eisenmagnat vor einigen Tagen, bei der ersten Konferenz zwischen dem Detektiv und dem Vater der Verschwundenen, mitgeteilt hatte. Aber er hatte gerade diesen Baron Leichsenring sonderbarerweise nicht verdächtigt.

Der Baron war einer der elegantesten Kavaliere von Berlin. Lebemann, dem Sport und Spiel ergeben und total verschuldet. Wie er Senta Fredersdorf kennengelernt hatte, war schließlich einerlei. Aber zwischen ihm und Senta schienen sich dann doch innige Bande geknüpft zu haben.

Ohne daß Senta sich vorher ihrem in solchen Dingen etwas strengen Vater erst anvertraut hatte, hielt der Baron eines Tages um die Hand der Millionärstochter an.

Aber Fredersdorf, ein Mann, der sich aus kleinsten Verhältnissen emporgearbeitet hatte, roch den Braten.

Fredersdorf wies den Baron kurz und entschieden ab, und auch das Flehen seiner Tochter konnte ihn nicht umstimmen.

Daraufhin hatte der Baron totenbleich die Villa des Millionärs verlassen, hatte Senta Fredersdorf noch einige Zeilen des Abschiedes geschickt und war aus Berlin verschwunden. Er wollte nach Südamerika gehen.

Daß er tatsächlich abgereist war und keine weitere Verbindung mehr mit Senta gesucht hatte, davon war der Millionär fest überzeugt. Und zu allem Ueberfluß hatte er sich sogar in Hamburg Gewißheit verschafft, daß Baron Leichsenring für sich einen Platz auf dem Dampfer »Santa Margherita« belegt hatte, der dann auch fahrplanmäßig in See gegangen war.

Und der sollte? Unsinn! Was der Mensch da vor ihm zusammenredete!

Oder wäre der Baron am Ende doch wieder nach Berlin zurückgekehrt? War seine Abreise fingiert? Hatte er einen andern unter seinem Namen fortgeschickt? Vielleicht seinen Diener?

Merkwürdig, daß der Detektiv diese Möglichkeit noch gar nicht erwogen hatte! Eines stand jedoch fest: mitgenommen konnte der Passagier der »Santa Margherita« Senta bei der Abfahrt des Dampfers nicht haben, denn um diese Zeit weilte das junge Mädchen noch tagelang und scheinbar beruhigt in der Villa ihres Vaters.

Der Mann auf dem Stuhle fuhr indessen fort: »Herr Detektiv – Sie durchkreuzen wieder einmal alle Maßnahmen meiner Freunde. Und wir haben eingesehen, daß wir Sie unschädlich machen müssen. Aber es bereitet uns Spaß, Sie erst noch ein bißchen zappeln zu lassen. Ich bin daher beauftragt, Sie abzuholen und dorthin zu führen, wo Sie die junge Dame am wenigsten vermuten. Was Sie dabei erleben, soll Ihnen eine heilsame Lehre sein – das heißt, Sie werden von dieser Lehre kaum noch rechten Gebrauch machen können, denn bevor der Morgen tagt, sind Sie ein toter Mann.«

Der Detektiv kannte niemals Furcht und am wenigsten solchen Drohungen gegenüber. Er fühlte sich auch nicht im geringsten bewegt.

»Sehr schön gesagt,« versetzte er. »Daß ich viel gehaßt bin und auch gefürchtet, das weiß ich selber seit langem. Aber ich mache mir gar nichts daraus. Nur interessiert es mich wirklich, zu erfahren, wohin man die junge Dame geschleppt hat.«

»Ich sagte Ihnen schon, daß sie freiwillig gegangen ist.«

»Das glaube ich einfach nicht. Hinter dieser Flucht steckt ein Verbrechen, eine Schurkerei!«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen,« warf der Mann hin und richtete sich langsam in die Höhe.

Deutlich sah der Detektiv, wie ihn der bläuliche Schein umflutete, von dem er nicht feststellen konnte, woher er kam.

»Meine Zeit ist um,« fuhr der Mann fort. »Also kommen Sie!«

Der Detektiv lachte herzlich. »Sie waren beim Militär, Wachtmeister –?«

Sofort stand der Mann stramm und versetzte knapp und militärisch: »Zu Befehl! Bei der dritten Eskadron –!«

»Man merkt es noch,« scherzte der Detektiv. »Aber wenn ich nun keine Lust hätte, Ihnen zu folgen, ohne daß Sie mir vorher gesagt haben, wohin es geht?«

Der Mann rieb sich die klobigen Hände und hatte ein überlegenes Lachen. »Sie denken ja gar nicht daran, mir Widerstand zu leisten,« sagte er.

»Wie? Ich denke nicht –?« entfuhr es dem Detektiv.

»Nein. Sie sind viel zu neugierig. Und übrigens – versuchen Sie es doch einmal, zu widerstreben!«

»Das werde ich – unbedingt – sofort he – Franz –!« schrie der Detektiv wütend.

Aber es erfolgte keine Antwort. Und seine eigene Stimme kam ihm dabei ganz unnatürlich hohl vor, gänzlich ohne Klang. Sie zerflatterte gleichsam in der Luft.

Der Mann mit dem Wachtmeistergesicht lachte vergnügt. »Da sehen Sie es ja! Also machen Sie keine Umstände. Stehen Sie auf und kleiden Sie sich an. Vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren. Wir sind ja unter uns.«

»Aber ich könnte doch wenigstens meinen Diener –« stieß der Detektiv hervor.

Das Licht in seinem Schlafzimmer erschien ihm jetzt wie weißer Kalk. –

»Der schläft und hört Sie nicht,« sagte der sonderbare Besucher. »Sie müssen sich schon selber behelfen.«

Der Detektiv fühlte den festen, sonderbar stechenden Blick des Mannes auf sich ruhen. Er merkte, daß seine anfängliche Widerstandskraft rasch erlahmte und wie frischer Schnee in der Sonne zerfloß.

»Ich bin scheinbar etwas verrückt,« sagte er sich. »Vielleicht habe ich auch nur Fieber und weiß überhaupt nicht, was ich tue.«

Er versuchte es, sich in den Arm zu kneifen, um sich zu ermuntern. Es tat auch weh, ganz wie sonst. Also wachte er. »Es ist rein blödsinnig,« wütete er innerlich.

Aber der Mann hatte doch recht. Im nächsten Augenblick sprang der Detektiv aus dem Bett, fühlte den etwas schwankenden Boden unter sich – genau so, wie auf dem Deck eines leise rollenden Schiffes – und sagte, dem Menschen gerade in das Gesicht blickend: »Also gut! Sie mögen recht haben. Ich bin wirklich neugierig.«

Der Mann nickte nur zufrieden. Dann wich er gegen die Tür zurück und blieb dort unbeweglich stehen. Seine Gestalt verschwamm undeutlich in einem Schatten, der sich darüber legte.

Und nun kleidete sich der Detektiv ruhig zum Ausgehen an. Was er dabei wählte, wußte er selber nicht. Es geschah alles mechanisch, wie unter einem bestimmten Zwange.

Er war rasch fertig und wandte sich um.

Der Mann stand hinter ihm und reichte ihm Mantel und Hut. »Das hätten Sie beinahe vergessen,« sagte er ruhig und sogar mit einem freundlichen Kopfnicken.

»Danke,« erwiderte der Detektiv und fühlte, daß ihm der Mantel um die Schultern hing und der Hut auf dem Kopfe saß.

»Wollen Sie eine Waffe mitnehmen?« fragte halblaut, ganz zuvorkommend, der Mann.

Das ärgerte den Detektiv. Er kannte seine körperliche Gewandtheit zu gut. Nicht umsonst hatte er einen Kursus im Jiu-Jitsu genommen.

»Ich brauche das nicht,« sagte er kurz und schroff.

Es kam ihm plötzlich der Gedanke, sich auf den Menschen zu stürzen. Er konnte ihm den gefährlichen Stoß gegen die Knie geben, ihm die Halsschlagader zuschnüren oder auch durch einen Kunstgriff beide Arme halb brechen.

Aber er tat es doch nicht. Irgend etwas stemmte sich in seinem Innern dagegen, so daß er alle Willenskraft in sich zusammensinken fühlte.

Der Mann öffnete höflich die Tür zu dem Arbeitszimmer des Detektivs. »Bitte,« sagte er weich. Der Detektiv überschritt rasch die Schwelle. Im gleichen Augenblick fühlte er, wie hinter ihm das seltsam weißbläuliche Kalklicht erlosch.

Dafür lag sein Arbeitsraum in fahler Beleuchtung. Aber hier war es eine geisterhaft grünschillernde Färbung. Der Detektiv sah deutlich die Umrisse seines Schreibtisches und die paar Stühle.

Die Vorhänge am Fenster waren zugezogen. Draußen mußte eine schweigende, dunkle Nacht liegen.

Ueber dem Schreibtisch stand die Büste Schopenhauers und sah ihn mit toten Augen an, während ein schwaches, weltverachtendes Lächeln um den kalten Mund des Philosophen glitt.

»Wir wollen uns doch nicht mehr länger aufhalten,« meinte höflich der Mann, dessen Züge dem Wachtmeister Kubasch glichen.

Er öffnete dabei die Tür nach dem Korridor. Das ging nicht einmal ohne Geräusch ab. Davon hätte doch eigentlich der Diener erwachen müssen. Und noch einmal erfaßte den Detektiv eine gelinde Wut darüber, daß der Bursche heute nacht nicht besser aufgepaßt hatte.

Sie gingen in den Korridor hinaus. Auch der war erleuchtet, aber ganz schlecht. Das elektrische Licht brannte erbärmlich.

Plötzlich stutzte der Detektiv.

Er bemerkte seinen Diener …!

Der Bursche war vollkommen angekleidet, genau so wie immer.

Aber er lehnte regungslos an der Wand, dort, wo diese hinter einem Pfeiler einen kleinen Zwischenraum bildete.

Ganz aufrecht, gespensterhaft regungslos, und das Gesicht unbeweglich, stand er da. Aber er hatte die Augen weit offen.

Der Detektiv blieb dicht vor ihm stehen und starrte ihn an. »Was soll das?« rief er erzürnt.

Er bekam keine Antwort. Schweigen lag dumpf und schwer in dem Gange.

»Warum schlage ich dem Kerl nicht die Faust ins Gesicht?« wunderte sich der Detektiv.

»Lassen Sie den Mann,« sagte sein Besucher freundlich. »Wir haben wirklich keine Zeit mehr.«

Da wandte sich der Detektiv um, zuckte die Schultern und folgte dem Menschen mit dem Wachtmeistergesicht. »Ich bin total verrückt,« sagte er sich dabei.

Aber er dachte nicht mehr daran, Widerstand zu leisten.

Die Sperrkette an der Tür hing lose herab. So ließ sich die Tür selber von innen leicht öffnen. Lautlos tat sie sich auf und fiel hinter den beiden Männern wieder ins Schloß.

Sie stiegen in einem ganz matten Dämmerschein die Treppe hinab.


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