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Traugott

We had no other thing to do,
Save to wait for the sign to come:
So, like things of stone in a valley lone,
Quiet we sat and dumb:
But each man's heart beat thick and quick,
Like a madman on a drum!

Oscar Wilde (The Ballad of Reading Gaol)

 

1

Mein lieber Josef!

Aus der Zeitung erfahre ich das Ableben des Regierungsrats R., das vorgestern früh erfolgte. Du weißt, was das für mich bedeutet. – Volle acht Jahre ist es her, daß ich Serena zum letztenmal sah, und mehr als sieben Jahre sind vergangen, ohne daß sie von mir oder ich von ihr das geringste erfahren hätte, außer der Tatsache unseres Am-Leben-Seins. Ich wollte es so.

Und nun ist das alles ausgelöscht. Nun weiß ich, daß ich all die Jahre nichts getan habe als gewartet. Auf nichts Bestimmtes; auf irgend etwas der Art aber wie das, was nun eintrat.

Und warten kann ich nun auch nicht einen Augenblick länger. Ich könnte ihr schreiben, fragen, auf Antwort warten? Nein. Unmöglich. Was weiß ich im Augenblick von ihr? Und der Augenblick könnte falsch sein, ein Brief ihr Falsches eingeben, meine Gegenwart ist unumgänglich. Kein Mensch läßt sich berechnen. Klara ist fünfzehn Jahre alt geworden inzwischen, wer weiß, welche Einbildungen das ergeben mag für die Mutter.

Aber genug hiervon. Wir sehn uns, denn ich reise noch morgen ab. Nun eine Bitte:

Ein Hotel ist unmöglich, Serena ist zu bekannt in der Stadt; zu ihr gehn kann ich nicht. Sei also so gut, ein möbliertes Zimmer für mich zu mieten, oder wenn Du nicht in die Stadt gehn magst, kann Li es tun, und zwar in einer Gegend, wo die Begegnung mit Bekannten Serenas möglichst ausgeschlossen scheint, also vielleicht das Viertel am Engelwerderdamm, Astern-, Nelkenstraße, es ist zwar öde und ärmlich, allein was tut das? Auf die Gegenwart kommt nichts an, alles die Zukunft! Josef! Mensch! daß es doch einmal sein sollte! Acht Jahre! Ich habe ein Weib genommen und wieder verloren, einen Jungen gehabt und wieder verloren, es ist alles wie nichts gewesen, damit das eine sein sollte. Ich habe gewartet, gewartet. Nein, nun nicht einen Augenblick länger!

Aber weiter! Ferner bist Du so gut, entweder zu ihr zu gehn und ihr alles zu sagen oder ihr durch Li diesen Brief von mir zu schicken, dazu ein paar Zeilen mit der Adresse der gemieteten Wohnung und der Stunde meiner Ankunft; der Zug kommt fünf Uhr achtzehn. Bitte sie, um jene Zeit dort zu sein. Dann ist es schon dämmrig, und vielleicht holst du selber sie ab und bringst sie hin, oder Li besorgt auch dies, er ist ja zu allem geschickt. Sollte sie nicht kommen können oder wollen, so wirst Du selber wissen, wie Du mir Nachricht zukommen lässest. Vor allem natürlich vergiß nicht, mir die Adresse der Wohnung zu telegraphieren! Mein Zug geht hier ab um zwei Uhr neunundvierzig.

Alles? Alles. Auf Wiedersehn! Wie stets

Dein Traugott.«

Diesen Brief seines nächsten Freundes erhielt mein gnädiger Herr eines Morgens, Ende April in A., nicht lange nach seiner Rückkehr aus Rußland; ich fand ihn im Tagebuch an der zugehörigen Stelle. Nun werden einige Erklärungen vonnöten sein.

Herr Baron hatte es für gut befunden, in das Haus seines Vaters – aus Gründen, die sich meiner Kenntnis entzogen haben – nicht zurückzukehren. Er lebte völlig unbekannt in der Stadt, in der er sich bei Tage niemals und auch nach Dunkelwerden nur in entlegenen Gegenden sehen ließ. Wohnung hatte er genommen bei einem Freunde, dem Maler Benvenuto B., in dessen Hause wir die Freundin von Herrn Baron, jene mehrfach von mir erwähnte Dame, fanden, und zwar scheint es, als habe sie während der Abwesenheit meines Herrn dem Haushalt des Herrn Malers vorgestanden.

Auch der Herr Maler, ein sehr stiller und ernster Mensch, der mir schon in den Vierzigerjahren zu sein schien – doch war er jünger –, lebte ganz zurückgezogen, und nur selten sah ich einen Besuch. Das Haus lag an einer einsamen Stelle am entlegensten Rande des Stadtwaldes, hatte nur zwei Geschosse, deren unteres ganz zu ebener Erde lag und in deren einem ein Schlafzimmer für meinen Herrn eingerichtet wurde; ein andrer Raum nahm meine eigene Wenigkeit auf. Die übrigen waren ganz leer und auch verwahrlost bis auf eines, welches nicht nur von meinem gnädigen Herrn bevorzugt wurde, um darin allein zu sein, sondern auch von dem Herrn Maler, und auch wenn einmal ein Gast da war, saßen sie zum Plaudern oder mehr, möchte ich sagen, zum Schweigen darin beisammen, zumal am Abend; seltsamerweise; denn nicht nur hingen hier wie in den andern Räumen die Tapeten zum Teil in Fetzen, und Käfer krochen daraus hervor und liefen über die Dielen: es bestand auch die ganze Einrichtung des – übrigens ziemlich kleinen, quadratischen und zweifenstrigen Raumes aus nichts als einem alten Diwan, an der Wand, gegenüber den Fenstern, einem halbzerbrochenen Liegestuhl, noch ein paar Stühlen, einem – wenn ich mir erlauben darf, ihn mitzurechnen – mittendurch gesprungenen Spucknapf im Winkel und am Boden in der Mitte einem ganz alten, abgeschabten und zerlöcherten Kelim, auf den zuweilen bei Dunkelheit ein Kerzenlicht gestellt wurde. Dies – richtig: den Fenstern fehlten die Scheiben! – nannten die Herren, glaube ich: geistig anregend, und ich erinnere mich, daß mir auf das genaueste eingeschärft wurde, ja den Spucknapf nicht zu entfernen, denn ohne ihn sei das Gemach nicht vollständig. Ebenso wie sein Inneres war die Aussicht vor den Fenstern dieses Zimmers: nichts als verödetes Feld, dann Bruch, Heide, baumlos, nur weit in der Ferne die schon im Dunst verschwimmende Baumreihe einer Landstraße und schließlich allerdings der ganze Himmel.

Im Obergeschoß des Hauses hatte das gnädige Fräulein drei schöne, wenn auch nicht eben große Zimmer nach dem Walde zu. Drei auf der anderen Seite gelegene, deren Zwischenwände herausgenommen und durch rohe Holzpfeiler ersetzt waren, bildeten das Atelier.

Und nun zu meinen Aufzeichnungen im Tagebuch.

 

2

Ach, mein armer gnädiger Herr, wie hat es ihn doch verstört! Nie im Leben sah ich ihn so furchtbar ernst! Nun ist es schon der fünfte Tag, und er hat noch nicht ein einziges Wort gesprochen. Ich schleiche so umher, mir bricht das Herz, wenn ich ihn sehe, und da fällt mir nun das Tagebuch in die Hände. Sicher ist zu befürchten, daß der gnädige Herr selber, wenn ihm wieder besser ist, nichts eintragen wird, aber noch später wird er es vielleicht doch vermissen, daß auf diesen Blättern keine Erinnerung des traurigen Tages festgehalten wurde, und so darf ich es, denke ich, wagen, ohne seinen Auftrag und Willen zu schreiben, wozu mein Herz mich drängt. Ja, ich wage es! ich beginne.

Heute vor fünf Tagen also, gegen neun Uhr des Morgens, rief mein gnädiger Herr mich zu sich, das heißt in ein Zimmer des gnädigen Fräuleins, wo er am Schreibtisch saß und eben einen Brief beendet hatte. Recht froh gelaunt, begrüßte er mich mit den Worten: »Kleiner Li, du darfst dich auch freuen, Herr Doktor Ruhn kommt heut nachmittag!« worauf er mir, den eigenen Brief mit einem andern, den früh die Post gebracht hatte, in einen Umschlag verschließend, den folgenden Auftrag erteilte:

»Diesen Brief steckst du zu dir. Du fährst in die Stadt und mit der Linie sechs zum Engelwerderdamm und mietest in einer der Nebenstraßen ein so hübsches Zimmer, wie du findest. Du kannst es in meinem Namen tun. Der Vermieterin gibst du Angeld und sagst, das Zimmer sei für Herrn Doktor Ruhn, und Herr Doktor käme am Nachmittag. Sodann telegraphierst du die Adresse an Herrn Doktor. Dann fährst du in die Stadt zurück und mit der Linie fünf oder siebzehn nach der Geibelstraße, wo du in Nummer neun nach Frau Regierungsrat R. fragst. Diesen Brief wirst du der Dame persönlich übergeben; ist sie nicht anwesend, so fragst du, wann sie es sein wird, und gehst dann wieder hin oder wartest vor dem Hause. Die Dame bittest du, auf Antwort warten zu dürfen, und wenn sie mit dir spricht, so antwortest du ganz so, als ob ich dasäße und spräche. Verstanden? Dann los! Es regnet, zieh den Gummimantel an!«

Es regnete in der Tat wahre Ströme vom grauen Himmel, und ich muß auch sagen, daß ich die frohe Laune meines Herrn gar nicht teilen konnte. Die tiefe seelische Beziehung, wenn ich so sagen darf, in die ich gleich zu Anfang meines Dienstes mit ihm trat, brachte es bald mit sich, daß mein Ahnungsvermögen für alle trüben oder schreckensvollen Dinge sich das Leben meines gnädigen Herrn zu eigen machte, und niemals hat es sich getäuscht, wenn ich auch oft erkennen mußte, daß das, was sich ereignete, schlimm nur in meinen Augen und erregend nur für mein furchtsames Herz war, ohne dem Herrn wirklichen Schaden zu tun. So hoffte ich auch diesmal, als ich durch den traurigen, nassen, noch fast ganz kahlen Wald zur Stadt ging. Auch das Stadtviertel, das ich nun erreichte, war nicht dazu angetan, ein bekümmertes Herz zu ermuntern. Lauter gleichförmige, vom Ruß der Fabriken geschwärzte Straßen mit grauen, roten oder gelben Häusern, und nun erst gar die Zimmer! Wohl zwei Stunden suchte ich umher, fühlte mich aber dann doch für mein Suchen ziemlich belohnt durch das Zimmer, das ich fand. Nur etwas heller hätte ich es gewünscht, aber diese Dunkelheit war wieder nur der Schatten eines Vorzugs, nämlich einer großen Veranda vor den Fenstern. Die Einrichtung war einfach und sehr sauber, und ich wußte auch, daß ein Möbelstück, nämlich ein alter Sekretär, das Wohlgefallen meines gnädigen Herrn erregt haben würde. Die Vermieterin war eine einfache Frau; wie sie mir gleich erzählte, in der Garderobe des Hoftheaters angestellt. Infolgedessen konnte sie, da es Sonntag war und im Theater eine Nachmittagsvorstellung, den Herrn Doktor nicht selber erwarten, vertraute mir aber auf den Namen des Herrn Barons die Schlüssel an. Die Straße hieß »Im Moore«, die Hausnummer war sieben, und ich fand bald ein Postamt, wo ich das Telegramm an Herrn Doktor Ruhn aufgab.

In der Geibelstraße erschrak ich ein wenig, das Haus voll von den Vorrichtungen eines Begräbnisses zu finden; doch war es schon vorüber, die Sachen wurden eben fortgeschafft, Kandelaber und italienische Bäume und Pflanzen hinausgetragen, von denen Blätter, mit andern, aus Kränzen gefallenen, und Blumen den Hausflur bedeckten. Ich wurde gleich vorgelassen und fand eine sehr schöne Dame in Trauer, deren reiches blondes Haar – ich habe, wenn ich mir die persönliche Bemerkung erlauben darf, eine große Zuneigung zu blondem Haar – mich besonders erfreute. In ihrem sehr zarten, nicht mehr sehr jungen, aber noch sehr lieblichen Gesicht fielen mir die überaus runden Augen auf, deshalb, weil sie mich an die des gnädigen Fräuleins und auch an meine eigenen erinnerten, obgleich die des Fräuleins sowohl wie die meinen braun sind, die der Dame dagegen graublau waren; für runde Augen haben Herr Baron ja eine Vorliebe.

Die Dame war nun überaus freundlich zu mir, befahl mir, mich zu setzen, und las dann den Brief meines gnädigen Herrn – nein, erst las sie gleich den andern. Danach saß sie eine Weile still, die Hände mit den Briefen im Schoß, die Augen nach dem Fenster gewandt, und atmete sehr tief und stark. Plötzlich stand sie auf, lief zum Schreibtisch, nahm hastig Papier und Feder und begann zu schreiben. Währenddessen öffnete sich leise die Tür, und ein sehr großes junges Mädchen, halb noch ein Kind, verweint und mit sehr schwarzen, traurigen Augen, trat ein, nickte mir zu, stand dann eine Weile, nach der Dame blickend, die wohl ihre Mutter war, obgleich sie fast zu jung dazu schien; aber die schien die Anwesenheit der Tochter gar nicht zu bemerken, und diese wandte sich still wieder um und ging leise hinaus.

Als die gnädige Frau sich dann wieder zu mir wandte, war sie ganz rot und heiß im Gesicht, ihre Augen glitzerten, es schien, sie wußte nicht, ob sie lächeln sollte oder weinen, doch faßte sie sich dann und begann leise mit mir zu plaudern, in einer ganz reizenden Weise, fragte mich vieles nach meinem gnädigen Herrn, und ich beantwortete ihre Fragen der Wahrheit gemäß. Ich mußte ihr die Adresse der von mir gemieteten Wohnung sagen, auch die Einrichtung haargenau beschreiben; sie schien ein wenig ängstlich, als sie davon sprach und mir zuhörte, wie denn überhaupt etwas leicht Hilfloses und Weiches an ihr war, ohne daß ich zu sagen wüßte, woher es kam. Beim Abschied – nachdem sie mir den Brief gegeben hatte, der an Herrn Baron adressiert war – kränkte sie mich leider sehr dadurch, daß sie mir etwas schenken wollte, wo mir doch das Glück, Herrn Baron zu dienen, einzige und ewige Entlohnung ist.

Nun fuhr ich mit dem Brief zu meinem gnädigen Herrn zurück, der ihn gleich las, sich von mir alles berichten ließ und mich dann beauftragte, nachmittags, um vier Uhr, an der Ecke der Geibelstraße zu warten, bis ich eine Kraftdroschke von Nummer neun kommen sehn würde. Frau Regierungsrat R. würde darin sein und mich mit sich nehmen zur Wohnung von Herrn Doktor Ruhn, die ich ihr öffnen sollte. – Und so geschah es auch am Nachmittag.

Den Brief der Frau Regierungsrat fand ich nachmals im Tagebuch, und hier ist er:

 

»Lieber Josef, lieber Freund!

 

Nein, ich habe Sie so wenig vergessen, wie ich Traugott selber vergaß, und, um Ihnen das gleich zu sagen: ich weiß heute wie damals jeden Ihrer Gründe, und für alles, zu ehren, ohne sie verstehen zu wollen. Also, bitte, beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht, und schicken Sie mir den Li.

Da ist es ja schon heraus. Ja, ich werde kommen! Sein ganzer Brief ist ja aus meiner Seele, aus meinem Leben geschrieben. Als ich mich damals fügen mußte, die Ehe um Klaras willen nicht zerbrach, glaubte ich selber bald zu zerbrechen – was mich zusammenhielt, war es die Erwartung, das Wissen um diesen Augenblick, die Zuversicht einer unglaublichen Zukunft? Lieber Freund, ich werde Sie auch zu sehen bekommen, nicht wahr? Ich nehme an, daß Traugott nur vergaß, Sie zum Abend zu uns zu bitten, und so hole ich es jetzt nach. Kommen Sie, wir werden bald, wir beiden, einen Dritten wünschen, um in seinen Augen zu sehn, wie wir wieder glänzen! Wir sprechen dann über alles, was sich nicht schreiben läßt, auch über den armen Hermann, der schwer und lange zu leiden hatte, ehe der Tod ihn erlöste –

– und mich, auch mich!

Von Herzen, wie damals, Ihre
Serena.

P.S. Li – welch ein lieber kleiner Mensch! – soll dann um vier Uhr hier sein. Das heißt, es wird das beste sein – ich habe ja noch Rücksichten zu nehmen – er erwartet mich an der Ecke. Ich werde ein Automobil nehmen und ihn zu mir einsteigen lassen.

Nicht wahr, Sie verzeihen die schlechte, zittrige Schrift! Nun das Letzte schon bevorsteht, kommt zu allem andern schon die Angst, es könnte doch – nicht sein. Aber nicht wahr, Josef, es wird? es wird!«

 

3

Die gnädige Frau war sehr weich und ernst am Nachmittag. Da es nach wie vor heftig regnete und auch stürmte, hatte sie die große Güte, mich zu ihr in den Wagen zu befehlen. Sie war zuinnerst tief erregt und atmete oft schwer, sprach aber kein Wort.

Daß die Wohnung verschlossen war und niemand sich zeigte, schien sie nicht eben angenehm zu berühren. Es war kaum erst ein Viertel vor fünf Uhr, und da also noch drei Viertelstunden bis zur Ankunft des Herrn Doktors verstreichen konnten, die sie allein in der leeren Wohnung hätte verbringen müssen, so bot ich ihr an, zu warten. Ganz erleichtert willigte sie ein, wünschte, daß ich im Zimmer verbliebe, und befahl mir, mich zu setzen. Dann begann sie, nachdem sie minutenlang hin und her gegangen war und alles in Augenschein genommen hatte, leise und liebreich mit mir zu plaudern und wieder nach Herrn Baron zu fragen. Ich erzählte dann, so gut ich konnte, von Reisen und fremden Ländern, auch von dem veränderten Aussehn des Herrn, was sie – mit tiefer Rührung hatte ich es zu bemerken – sehr erschreckte, und sie ließ nicht ab mit Fragen, bis ich das Ereignis selbst, das jetzige Aussehn des Herrn, auch die Maske auf das genaueste beschrieben hatte. Dazwischen wieder und wieder sprang sie vom Stuhl auf, trat an ein Fenster und blickte in die Öde der stillen Straße, des Regens und der schon beginnenden Dunkelheit. Im Zimmer selber stand schon tiefe Dämmerung. Da es Sonntag war, so herrschte die größte Stille; selten einmal ward das Rollen eines Wagens hörbar, vernehmlich nur dann und wann der Schritt eines Vorübergehenden und immer das gedämpfte Rauschen und das Trommeln des Regens auf der Veranda.

Ach, so leicht und ermunternd ich zu plaudern versuchte: es war mir so schwer um das Herz, die Welt schien mir so trostlos, ich sehnte mich nach der Nähe meines Herrn – doch hatte er mir befohlen, der gnädigen Frau zu Diensten zu sein, solange sie es wünschte, und für sie war es ja wohl eine Erleichterung, meine Stimme zu hören, anstatt nur die der Verlassenheit in dem fremden, dunklen Zimmer, des Regens und der schweigsamen Stunde. Weiß ich nicht auch zu gut, wieviel Angst und Unruhe immer in der Erwartung ist? Auch konnte ich mir ja, obgleich mir nichts Bestimmtes bekanntgemacht war, vielerlei denken und vorstellen, nach dem, was ich gesehn: den Briefen, dem Warten der gnädigen Frau und auch den Spuren der Beerdigung dort im Haus.

So fuhren sowohl sie wie ich erschrocken zusammen, als wir die Anfahrt eines Automobils hörten. Es blieb hinter der Veranda unsichtbar, bis auf das schwarze, regennasse Dach, aber die Uhr war erst ein Viertel nach fünf, Herr Doktor konnte es noch nicht sein. Trotzdem sah ich die arme gnädige Frau heftig zittern, als die Flurglocke ertönte. Ich ging, zu öffnen, und wie atmete ich auf, Herrn Baron vor mir zu sehn!

Auch die gnädige Frau freute sich nun sehr, zumal da er ihr, wie sie mir zu hohem Lobe betonte, unverändert erschien, denn er hatte die Maske angelegt, und wirklich machte die Dämmerung sie fast ganz unsichtbar, und er setzte sich dann so, daß sie nur die natürliche Hälfte, nicht die künstliche mit dem starren Glasauge sehen konnte. Er blieb nur ein paar Minuten, da er, wie er sagte, das Wiedersehn nicht stören und nur sehen wollte, ob das Zimmer leidlich und sie wirklich darin sei – aber wie immer wirkte die Magie seines überragenden Wesens in der Art, wie er selber es wollte, und jetzt so beruhigend, daß sie mir bei seinem Weggehn recht heiter und gefaßt erschien. Er mußte noch versprechen, am Abend gegen acht Uhr wiederzukommen.

Das Automobil des gnädigen Herrn wartete noch. Wir fuhren aber nicht durch die Stadt zurück, sondern der Wagen mußte wenden, und Herr Baron bezeichnete dem Fahrer genau die Straßen, die er wählen sollte.

Nun aber – noch keine dreißig Schritte vom Hause – ereignete sich leider – und doch – ach, zu meiner unaussprechlichen Erleichterung! – ein Unfall. Nur das also, dachte ich, ist es gewesen, was dich so ängstigte, ein Unfall, wie ich sie so häufig mit dem gnädigen Herrn erleben mußte, wenn er auch, glaube ich, nur ein- oder zweimal höchstens selber daran beteiligt war, so wie diesmal. Wir überfuhren einen Menschen.

Es ging so schnell, daß ich kaum etwas sah, zumal ich eben – vorne beim Fahrer sitzend – mich nach dem Wageninnern hinter mir zurückwandte, um nach dem Herrn zu sehn. So gewahrte ich nur durch die Glasscheibe vor mir, daß im Licht der Scheinwerfer dicht vor dem Wagen ein schräg gegen den Wind gehaltener, glänzend nasser Regenschirm erschien und darunter ein auseinanderflatternder heller Mantel. Im Nu wars verschwunden, ich wußte kaum, was geschehen, ja nicht einmal genau, ob es eine Frau oder ein Mann gewesen war, doch hörte ich einen Schrei, und nur daß etwas geschehen war, war mir mit Entsetzen bewußt. Dann hörte ich auch die Stimme meines gnädigen Herrn durch das Sprachrohr dem Lenker zu halten befehlen, allein der rohe Mensch raste trotz mehrmaligen Zurufs mit äußerster Geschwindigkeit davon. Wie schon gesagt, ich atmete auf, und als erst das Entsetzen sich legte, konnte ich zu meiner unsäglichen Freude bemerken, daß auch jenes Angstgefühl völlig verschwunden war. Meine Ahnung hatte ihre Erfüllung gefunden.

Nach dem Verlassen des Wagens in der Nähe unseres Hauses trat der gnädige Herr neben den Fahrer und fragte, mit jener Eiseskälte in der Stimme, die ich so gut kannte: »Wir haben jemand überfahren?«

Der Mensch gab es knurrend zu; es sei nicht seine Schuld gewesen.

»Warum haben Sie nicht gehalten?«

Der Mensch machte Ausflüchte; den Herren wäre es meist am liebsten, wenn sie so davonkämen ...

»Sie haben aber gehört, daß ich Ihnen zurief. Ich pflege jeden mit der Münze zu bezahlen, die ihm geläufig ist; für die Fahrt also erhalten Sie nichts. Noch ein einziges Widerwort, und ich schlage Sie zu Boden, wo Sie sitzen.«

Der Mensch schwieg. Beim Betreten des Hauses fragte der gnädige Herr mich noch, was es denn für ein Mensch gewesen sei; er habe nur einen Regenschirm gesehn, worauf ich erwiderte, daß ich selber kaum mehr wahrgenommen hätte, und es dann wagte, von meiner Ahnung zu sprechen und wie froh ich trotz allem sei, daß es nur dies gewesen war, was sie erfüllte.

 

4

Es war Besuch im Hause. Der Mensch war es, der einzige, der des öftern zu kommen pflegte – und ich weiß nicht einmal, zu wem er kam, zum Herrn Maler, zum gnädigen Fräulein oder zu meinem gnädigen Herrn –, den ich so von Herzen gern leiden mag, mit Namen Jason al Manach. Wie schön ist es nicht, ihn sprechen zu hören mit seiner immer freundlichen, melodischen Stimme! Er befand sich mit dem gnädigen Fräulein und dem Herrn Maler im »Gesellschaftszimmer«, und gleich, als ich aus seinem kleinen und ganz weißen und von der gewaltigen Stirn ganz beherrschten Gesicht die absonderlichen Augen von allerdenkbarstem Schwarz auf mich gerichtet sah, fühlte ich jenen Kitzel des Behagens, fast bis zum Lachreiz im Zwerchfell, den ich immer verspürte, noch ehe sein blasser kleiner Mund die freundlichen Begrüßungsworte zu mir gesprochen hatte. Auch pflegte er mir immer die Hand zu geben, was mich besonders beglückte, und so auch diesmal. Obgleich es nun schon fast dunkel war, hatten sie kein Licht. Ich sah den Maler auf dem Sofa liegen, Herr al Manach saß auf einem Stuhl an der Wand, das gnädige Fräulein befand sich im Liegestuhl nahe den Fenstern, und mein gnädiger Herr nahm einen Stuhl nicht weit davon.

Was mich angeht, so muß ich gestehn, daß ich – vielleicht aus Neugier, sie sprechen zu hören, vielleicht nur unter der Nachwirkung des Unfalls und der ganzen Beklommenheit des Tages – die Tür zum Nebenzimmer – dem Schlafzimmer des gnädigen Herrn – offenließ und unter dem Vorwande, es für die Nacht zurechtzumachen, mich darin aufhielt, zuerst wirklich mit Bett und Waschtisch beschäftigt, dann auf einem Stuhl in der Nähe der Tür.

Sie waren aber lange Zeit still drinnen. Dann hörte ich meinen gnädigen Herrn von dem Unfall berichten, von wo er jedoch bald zu seinem Freunde überging, den er dem Maler bald zu zeigen hoffte, oder vielmehr dem Freunde des Malers Bilder, denn er sei ein Dichter. Er machte auch einige Mitteilungen über den Grund seines Kommens. Endlich fragte er das gnädige Fräulein, ob er ihr jemals erzählt habe, auf welche Weise seine Freundschaft mit Herrn Doktor zustande gekommen sei, und da sie verneinte, begann er nach einer Weile:

»Ich möchte es euch erzählen. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde – jedoch es fiel mir schon heut am Morgen wieder ein. Sie wissen ja, Maler, und auch Sie, Jason, von meinem Magnetismus für außerordentliche Dinge oder für unheimliche, wie die Leute dergleichen Dinge nennen, die sich in ihren ›Heimen‹ nicht zuzutragen pflegen. Bei dem Vorfall, den ich Ihnen jetzt erzählen werde, war ich noch ein Knabe von zwölf Jahren, aber mein Magnetismus wirkte schon damals aufs Haar wie eine Wünschelrute. Was ich erzählen möchte, habe ich freilich selber gar nicht mit angesehn, doch kam ich später zu den Überresten, aus denen meine Einbildungskraft im Laufe der Jahre dann die folgenden Bilder gestaltete, die ich – damit der Topf einen Henkel habe – nennen will

 

Der Spinnenwald Diese Erzählung hat der gnädige Herr später auf die Bitte des gnädigen Fräuleins mir diktiert, und ich nahm eine Abschrift davon ins Tagebuch.

– und zwar wird Herr al Manach, wie ich ihn kenne, aus diesem Titel gleich so viel verstanden haben, um eine hübsche Einleitung zu sprechen.« – Das Fräulein lachte leise. Gleich darauf hörte ich die Stimme des Herrn al Manach.

»Drei Zeiten hat der deutsche Wald. Die der Blumen und Vögel, die der Beeren und Schmetterlinge, die der Pilze und Spinnen. Die vierte zählt nicht für mich, sie ist Schlaf. Sie ist die stillste, und bis zu ihr werden die übrigen eine nach der andern immer stiller. Was nun die Spinnen angeht, so liebe ich sie als die reichsten unter den Tieren. Wenn der Mensch sie als hinterlistig und grausam verleumdet hat, so weiß er wieder einmal nicht, welchen Uriasbrief er sich selber damit schrieb, denn was andres tut er denn selber, als Netze spinnen, andre hineinzulocken und ihnen das Blut auszusaugen, nur meistenteils auf nicht halb so kunstvolle Weise wie die königliche Spinne. Ich habe die kunstreichste unter ihnen, die gewaltige Waldspinne, groß wie eine Brombeere, auf dem Rücken das heilige Zeichen der Johanniter, das weiße Kreuz, durch Stunden beobachtet, wenn sie webte. Ich habe gesehn, wie sie die riesigen Haltetaue spannte, etwa von einem Zweig hoch über mir zu zwei starken Grashalmen am Boden; dann eines quer vom Stamme des Baums zu den beiden ersten in der Höhe meines Kopfes, und dann begann sie im Kreise um ihren vorgestellten Mittelpunkt zu gehn und den Faden wandern zu lassen. Ich habe der, an die ich jetzt denke, zweimal etwas am Netz zerstört, und sie gab kein Zeichen des Unwillens oder der Bestürzung, es war Abend, aber sie kannte keine Stunde, nicht Nacht oder Tag, sondern nur ihren Fleiß und ihr Werk, sie besserte aus, was zerstört war, und nahm ihre Wanderung wieder auf, erstaunlich und wundervoll zu sehn, wie sie mit den zarten und starken Krallen in die Seiten griff und aus unsichtbarer Stelle am Hinterleib den glänzenden, metallisch schimmernden und sich dehnenden Faden anklebte an die Fäden des Aufzugs, auf Haaresbreite parallel einen zum andern, mit immer dem gleich kleinen Ruck beim Andrücken, und ich verließ sie im Dunkel der Nacht über der Arbeit.

Spinnennester, die mächtigen Räder habe ich nirgend so schön und so zahlreich gesehn wie in den Wäldern der Ostsee. Im September hängen sie dort zu Tausenden und aber Tausenden ausgespannt zwischen den Stämmen der hohen Föhren; auf Schritt und Tritt sieht man sie schimmern, sieht die dunklen Beeren der Spinnenleiber darin hängen oder gerät auch in sie hinein, und so ging mirs einmal, daß ich plötzlich ein ganzes Rad meine Brust bedecken sah, und die Spinne selber saß redlich und wissend gerad in der Mitte auf meinem Herzen, denn in der Mitte der Brust hält das meine sich auf. Damals war ich noch ein halber Junge, aber ich schrie nicht auf vor Ekel, wie wohl jeder andre getan hätte, und –

Aber nun zur Geschichte.«

Herr Baron bedankte sich für die schöne Einleitung und hub an:

»Die Knaben der Ferienkolonie spielten Räuber und Gendarmen. Traugott Ruhn, der ›Räuber‹ war, ein dünner kränklicher Knabe von elf Jahren, lief auf das eiligste geradeaus in den Buchenwald hinein, denn er war den ganzen Nachmittag allzuviel gelaufen, war erhitzt und mußte fortwährend husten, indem er mit schmerzlichem Gesicht und gequälter Brust über einige nadelglatte Anhöhen und durch Täler hoher Farne hastete, auf der Suche nach einer schönen Stelle, um sich auszuruhn. Nach einiger Zeit blieb er stehn, klomm dann, obgleich er aus der Ferne nichts wahrnahm als das leise Geräusch der See, noch einmal die vor ihm liegende Böschung hinauf und bemerkte, daß der Wald sich verändert hatte. Nur einzelne gerade Föhren hoben ihre dunklen Häupter über lichten grünen Buchenbestand und dichtes Unterholz hinaus, an einer Stelle war der Wald unten ganz licht, seine Füße, die noch vor kurzem im dürren Laub geraschelt hatten, glitten nun über blankem, braunem Nadelboden. Zugleich machte sich die schon tiefstehende Sonne bemerkbar, die unendliche Streifen, selten und leuchtend golden durch das unbewegte Laubwerk schob. Die Stille war tief und rein und der Knabe froh der Einsamkeit, die ihm, wie er wußte, niemand stören würde, da er keinen Freund hatte, der ihn vermissen und unter den andern gerade ihm nachspüren würde. So ging er, ein wenig zur Ruhe gekommen, zögernd und feierlich in das bräunliche Schweigen hinein, sehnsüchtigen Auges nach dem fernen Leuchten an Stämmen und Gezweig, bis er plötzlich, den Atem anhaltend, stehenblieb; eine Rehzicke mit zwei Kälbern war in der Ferne aufgetaucht. Alle drei standen festgewurzelt wie er, die Köpfe ihm zugedreht, die Lauscher steif eingestellt, im Unterholz, und er wagte nicht zu atmen, noch sich zu regen, und blickte gierig hin, denn es war das erstemal, daß er wildes Getier im Freien sehn durfte. Minuten vergingen so in der vollkommenen Stille. Endlich schienen die Tiere sich versichert zu haben, daß keine Gefahr in der Nähe sei, begannen umherzulaufen und zu äsen. Da mußte der Versuch, näher heranzugelangen, dem Knaben mißlingen; er trat auf einen trockenen Zweig, der laut knackte, und in hastiger Flucht stob das Wild davon, waldein, rot und leuchtend.

Aber der Knabe hatte das erste Geheimnis des Waldes gekostet und ging immer andachtsvoller, zögernder und doch vorwärtsgezogen, dem Entschwundenen nach, im Herzen zugleich Angst und köstliche Freude. Nun tat sich ein Wald mächtiger Farne auf, aus denen ruhig und schön die braunen Säulen der Kiefern stiegen. Der Knabe erschrak.

Zwei Schritte vor ihm schwebte ein großes, funkelndes Rad in der Luft, im Abendgold schwimmend, ein Wunderwerk aus tausend Fäden und Maschen. Dahinter wölbte sich der Wald im Zwielicht, und groß und wunderbar hing die goldgesponnene Scheibe in der Luft. Traugott stand und staunte und atmete kaum. Doch das Wunder entzog sich langsam und als hätte es nur auf ihn gewartet, seinen Augen, verblaßte, erlosch, hing endlich als ein graues, riesiges Spinnennetz da, während ein Erschauern kühl der entschwundenen Sonne nachrieselte. Und jetzt sah der Knabe die Spinne.

Welch ein häßlicher Anblick! Da saß sie mitten im Netz, dick wie eine Haselnuß. Ihre starken Füße um sich gekrümmt, lauernd; schwarz und weiß war sie gezeichnet, wie der Knabe, der sich trotz seines Grauens einen Schritt näher wagte, nun erkannte, und ihr Leib war wie eine Eichel zum Rücken gespitzt. Da graute dem Knaben mehr; ohne die Augen fortzuwenden, schlug er einen weiten Bogen nach rechts um den Baum, an dem der eine Haltefaden des Netzes hing, und eilte besinnungslos weiter. Aber nun erschrak er heftiger als zuvor, denn da lief ja an langen, wie das erste Nest zwischen zwei Kiefern ausgespannten Fäden wieder eine Riesenspinne auf und ab, und wie er sich zur Rechten kehrte, war auch dort eine an der Arbeit, und wie er sich umblickte, da war er unter dem seitlichen Haltefaden eines halbfertigen Netzes hindurchgegangen, und eben dort, wo er, ohne es zu wissen, hindurchgelangt war, ließ sich jetzt ein ekelhaftes Tier herunter. Nun war nur noch der Weg zur Linken frei – nein! auch der nicht, auch dort war ein auf dem schon dämmerigen Grunde des Waldes fast verschwindendes graues Netz und die scheußliche Spinne zu sehen.

Dem Knaben strömte das Blut zum Kopf, und Schweiß brach aus seiner Stirn. Wie hatten ihn Spinnen nicht immer geängstigt und geekelt, diese langbeinigen Gespenster, denen seine Klassenkameraden die Gliedmaßen ausrissen und sie über die Platten der Klassentische klettern ließen – daß er nun von ihnen gefangen war! Er war es, er wagte nicht, sich zu regen, und nur seine Augen wanderten voll ohnmächtigen Abscheus von einer zur andern, indem er langsam und so unauffällig wie möglich sich auf die Knie ließ und, mit den Händen am Boden, neben sich nach einem Zweig oder Stück Borke tastete, mit dem er eines der Netze hätte zerstören können. Jedoch geschah ein neues Schrecknis. Eine große, starke Bremse flog gegen das Netz vor ihm, das sich wie Seide dehnte und spannte. Die Bremse klebte, zerrte und hätte sich fast noch befreit, als aber schon die Spinne herbeigestürzt war, sich über die Gefangene herwarf, in wütender Eile sie umklammerte und, mit etlichen Füßen sie festhaltend, um sie herumlief, während der Knabe zitterte und sich schüttelte, da er sah, wie ein weißer Faden nach dem andern sich um die zuckenden Flügel und Beine legte, ein Gespinst, das immer dichter und fester, ein Todeskampf, der immer schwächer und wehrloser wurde. Im Netz hing jetzt eine schwärzliche Beere, an der sich die Spinne festhängte und lange Zeit in Stille verharrte. Dann kroch sie langsam und gesättigt an ihren Platz inmitten des Netzes zurück.

Die Hand des Knaben suchte ohne Kraft noch Willen am Boden weiter, doch fand er nichts, vielmehr kroch ihm ein vielfüßiges Tier über die Hand, so daß er mit einem Aufschrei – in Gedanken, es sei eine Spinne – emporfuhr und in schütternden Husten ausbrach.

Da sah er, daß die Spinnen, obwohl sie mit Ausnahme der einen gänzlich in ihre Arbeit vertieft schienen, ihn bewachten. Denn im Augenblick stellten die beiden zur Linken und Rechten ihr Geschäft ein, liefen ein Stück an einem Faden empor und blieben dort unbeweglich, den Rücken nach unten, längere Zeit hängen, bis sie gleichmütig und geschäftig ihr Werk wieder aufnahmen, obgleich es mittlerweile immer dunkler wurde.

Ja, nun wurde es dunkel, und was dann? Wenn es ihm nicht gelang, vor der Nacht zu entkommen, was dann? Und es überlief ihn bei dem Gedanken, sie könnten ihn zwingen, zu bleiben – ach, er wußte schon, daß sie ihn ganz in ihrer Gewalt hatten –, und er würde todmüde werden und einschlafen auf dem von Tieren wimmelnden Boden, und die entsetzlichen Spinnen würden über ihn herfallen, oder wenigstens im Traum würde es geschehn, wo sie dann ungeheuer und blutgierig sein würden, wie die Dinge es waren in seinen Fieberträumen, die er kannte. Und abermals bog er seine Knie und suchte auf dem Erdreich und wandte doch kein Auge von den Spinnen, die schon größer und immer unheimlicher in der Dunkelheit ihr unermüdliches und grausames Werk verrichteten. Die Kühle der Nacht machte ihn schaudern, und er glühte, seine Augen bewegten sich mühsam und starr, aber die Spinnen zogen Faden um Faden, ohne Eile, aber grausam sicher, als müßten sie noch vor der Nacht sechs Fuß hohe Wände zwischen den Pfeilern errichten. Und als es ihm einmal gelang, die Blicke abzulösen, da schien es ihm in dem letzten Rest von Helle, als ob ringsum in allen Tiefen des Waldes ein Wimmeln sei von geschäftigen Scheusalen, als ob zwischen allen Stämmen die großen grauen Netze hingen, und er sah es deutlich, gepeinigt von dem plötzlichen Gedanken, er müsse in der Finsternis durch die zähen, widerlichen Gespinste hindurchgehen, und Hunderte von riesigen Spinnen würden von allen Seiten auf ihn losstürmen, und er würde ihre scheußlichen Leiber, ihre harten, hakigen Füße an seiner Haut fühlen.

Er fiel in völliger Verzweiflung mit dem Gesicht auf die Erde und lag, von Weinen und Hustenkrampf geschüttelt, in sinnloser Angst, während um ihn der Wald sich gänzlich verfinsterte, aufgeregte Dämonen riesig und behaart zwischen den Stämmen krochen und an Wipfeln rüttelten und auf den zuckenden Körper sich schwer und langsam der tödliche Nachttau senkte.

Später brachen Rufe und Lichter durch den Wald, der Knabe wurde aufgefunden und stammelnd und rasend fortgetragen. Das Netz einer Spinne hing zerrissen herab, die andern schwebten still da, und keiner hätte es für möglich gehalten, daß sie noch Tage hindurch das Blut aus dem eilig welkenden Knaben saugten.«

 

Es dauerte lange, bis ich wieder sprechen hörte im Zimmer der Herrschaften. Dann war es die Stimme des Fräuleins, welches fragte, was das denn aber bedeuten solle? ob der Knabe denn nicht am Leben geblieben sei?

»Da Traugott Ruhn mein Freund ist ...« versetzte der gnädige Herr ein wenig spöttisch.

Aber er habe doch gesagt, er sei gestorben, am Ende seiner Erzählung! – Das bestritt mein Herr, aber sie und auch der Herr Maler hielten ihm seine letzten Worte vor, aus denen jeder Unwissende entnommen haben würde, der Knabe sei gestorben. Nun ja, gab der Herr endlich zu, er sei ja auch gewissermaßen gestorben und als ein andrer und in einem andern Leben wieder auferstanden, und auch der Herr al Manach bekräftigte, es sei nichts so unwichtig wie der ganz richtige Tod. (Die Aussprüche des lieben Herrn al Manach sind manchmal ein wenig sonderbar!)

Und nun mußte der gnädige Herr noch mitteilen, was denn eigentlich er mit der Geschichte zu tun habe, und er begann zu erklären, daß er damals mit seinem Vater in jenem Ostseebade geweilt und sich zum Spiel der Kolonieschüler gesellt habe. Wie sie dann bei Dunkelwerden zusammengerufen seien und abgezählt wurden, da habe merkwürdigerweise keiner der andern Knaben, auch nicht einmal der Lehrer, das Fehlen des einen bemerkt, so wenig beliebt mußte der Junge sein, und auch als nun der junge Herr Josef, dem gerade dieser Knabe – warum, wußte er damals selber nicht – aufgefallen war, sein Fehlen mitteilte, hatte keiner Lust, zu suchen; sie riefen ein paarmal in den Wald hinein, dann fiel es einem Jungen ein, zu behaupten, Ruhn habe sich wieder einmal krank gefühlt und sei nach Hause gegangen. Der junge Herr Josef aber hat sich eine Laterne geholt und ist geradeswegs in den Wald hineingegangen, – und er beschrieb, wie prachtvoll das gewesen sei, das Aufleuchten der Baumstämme und Zweige vor den schwarzen Tiefen, vor allem aber die Erscheinungen der Spinnenräder, glänzend im Laternenlicht überall. Richtig hat er den Knaben gefunden, der dalag, sein kleines schmutziges Taschentuch unter der aufliegenden Wange, und hat ihn mühsam genug nach Hause und zu seinem, Herrn Josefs Vater geschleppt.

Traugott lag schwer krank durch lange Wochen. Danach nahm sich der Herr von Montfort seiner an. Er war Halbwaise; seine Mutter, die schwer lungenkrank war, starb bald darauf; er selber wurde geheilt, kam mit Herrn Josef, der bis dahin einen eigenen Lehrer gehabt hatte, in das Gymnasium, wenn auch in eine andere Klasse. So begann die Freundschaft. Herr von Montfort sorgte weiter für ihn, und er wurde ein Dichter.

Endlich sagte mein gnädiger Herr noch ein kleines Gedicht seines Freundes aus früheren Jahren, das er in der Erinnerung an seine einsame und traurige Kindheit gemacht hatte und das ich wohl behalten habe, wie folgt:

Kinder, die im Abend spielen
Auf den Straßen, weiß und lang,
Wo die ersten Äpfel fielen,
Drehen sich zum Zwiegesang.

Ihre Lieder werden leise,
Wie das Dunkel auf der Flur,
Und sie gehen sacht im Kreise,
Alle ahnen eines nur:

Daß sie bald in ihren Betten
Müde, still und einfach sind;
Engel, die das Kissen glätten,
Schreiten schon im Abendwind.

Aber eins entläuft den andern,
Steht im Zwielicht klein und fern,
Sieht die rosigen Wolken wandern
Und erkennt den Abendstern.

Und damit, sagte das gnädige Fräulein sich erhebend, um für das Abendessen zu sorgen, habe Herr Josef die gespenstische Spinnengeschichte wieder wettgemacht. – Bald darauf gingen die Herrschaften zum Speisen in den Oberstock, und kaum und in Eile fertig gegessen, verließ Herr Baron das Haus und fuhr mit einem bestellten Automobil in die Stadt zu seinem Freunde.

 

5

Es mochte bald elf Uhr sein, als ich den gnädigen Herrn zurückkommen hörte und die Haustür öffnete. Im Licht der Lampe auf dem kleinen Flur sah ich augenblicks, daß die natürliche Hälfte seines Gesichts so fahl war wie Asche, und fast rot glühte das sehende Auge darin. Und wie erschrak ich noch mehr, als er ganz langsam die drei Stufen erstiegen hatte und nun neben mir stehend auf mich herabsah und endlich die rechte Hand erhob und mir auf den Kopf legte. Ach, so voll Güte er immer war, das hatte er noch nie getan, und nun war es ja auch nicht meinetwegen, das fühlte ich wohl! – Lange Zeit ließ er seine Hand so, dann glitt sie zu meinem Nacken herunter, er umfaßte ihn, drehte mich langsam herum und schob mich vor sich her und durch die Türe zur Linken in das Zimmer, aus dem die Stimmen der wieder dort versammelten Herrschaften ertönten.

Alle drei sahen ihn an, als er eintrat und grüßte, das gnädige Fräulein sprang sofort auf und rief erschreckt seinen Namen. Er stand eine Weile, den Kopf schräg haltend, und blickte in die Nacht, die in den Fenstern stand. Die auf dem Teppich am Boden brennende Kerze machte den gleichmäßigen Strom des Regens im Dunkel leise erschimmern. Ich wagte es, nach seinem Mantel zu fassen, er zog ihn aus, und ich trug ihn ins Schlafzimmer, worauf ich zurückkehrte. Ich stellte mich dann in den Winkel des Zimmers, der gleich links vor der Flurtür liegt.

Der Maler, der wieder auf dem Diwan lag, hatte sich aufgestützt; er rauchte seine Pfeife und sah mich aufmerksam an aus seinem bartlosen und hagern Gesicht mit den tief in großen Höhlen liegenden Augen. An der Wand links von den Fenstern saß der Herr al Manach auf seinem Stuhl, nicht jedoch ins Zimmer gewandt, sondern parallel mit der Wand, und er schien seinen dicht neben und über ihm sitzenden großen Schatten zu betrachten. Zur Rechten an der Wand, auf demselben Stuhl wie vorher saß mein gnädiger Herr. Er hatte die Maske, die ihn auf die Länge leicht drückte, abgenommen und hielt sie nun, die Ellbogen auf den Schenkeln, in den Händen mit herabhängenden Bändern. Dem gnädigen Fräulein, die wieder im Liegestuhl nahe den Fenstern saß, war so der wunde Teil seines Gesichts verborgen, ich aber hatte den ganzen, schrecklichen und traurigen Anblick des Entstellten, die dünne und rote, straff gespannte Haut und das leere Auge, aber das war nicht einmal so unheimlich, wie daß er sein halbes Gesicht in der Hand hielt, dessen schwarzes Auge im Kerzenlicht glitzerte und ihn anzublicken schien, und ich sah wohl, wie das Fräulein ihren Blick nicht davon losmachen konnte.

Und noch etwas Beklemmendes gewahrte ich, als es mir endlich gelang, aufzusehn. Das Zimmer durfte ja niemals gesäubert, höchstens der Fußboden durfte gekehrt werden, und so konnte alles Getier sein Wesen darin treiben. Und nun sah ich im Winkel unter der Decke und schräg überm linken Fenster ein großes Spinnennetz schimmern, das mich gleich an die nachmittags vernommene Erzählung erinnerte – aber nicht nur das! Weiterblickend mußte ich auch im andern Fensterwinkel und in dem zu Häupten des Malers, in dem über mir am Ende, in allen vier Ecken des Zimmers solche Netze entdecken, von denen ich freilich nicht zu sagen wüßte, ob sie auch bewohnt waren, denn lange sah ich nicht hin. All das aber, die beleuchteten Menschen, das eine Licht, die vielen schwarzen, lebendigen Schatten von unser jedem, draußen die Nacht und der Regen, und mein Herr mit seinem halben Gesicht in der Hand – wie war es doch grausig!

Endlich, nach einer langen, langen Zeit, sagte er mit schrecklich ruhiger Stimme:

»Seht ihr wohl? Mein Leben hat immer aus zwei scharf voneinander getrennten Hälften bestanden, einer schwarzen und einer in Farben. Nicht jeder aber bringt es fertig, sich so zu teilen und die Hälften so sauber und kunstvoll auseinander zu nehmen und in Händen zu halten.«

Wieder schwieg er lange Zeit; dann begann er zu sprechen.

»Hört zu. Wohin ich fuhr am Abend und das übrige wißt ihr alles. Auf mein Klingeln dort ward die Tür aufgerissen, die Serena stand darin und starrte mich an mit Entsetzen. ›Sie sinds?‹ fragte sie ganz wild. Sie brach fast zusammen, weinte und zitterte noch minutenlang, als ich sie ins Zimmer geführt hatte. Es war halb neun Uhr. Von fünf bis halb neun hatte sie dort gesessen und gewartet, und er war nicht gekommen. Nicht einmal Licht hatte sie gehabt, außer dem bleichen Schein, den von draußen eine Laterne hereinwarf; die Vermieterin hatte vergessen, eine Lampe hereinzusetzen, war nun fort, alle Türen hatte sie abgeschlossen.

Unwissend, was Furcht ist«, fuhr der Herr mit einer eiskalten Heftigkeit fort, »hatte ich bisher kaum eine Ahnung von dem, was Warten sein kann. Bei einem Dichter las ich aber: ›Und nie soll Warten sein, dies Gift der Gifte‹, und wenn ich niemand je die Wahrheit dieses Wortes hätte bezeugen hören, so konnte ich sie heute von dieser Frau erfahren. Denn sie wälzte nun, für Minuten wenigstens, den Block von ihrer Brust vor mich hin.

Sie hatte gewartet. Im Anfang ist man frisch und guter Hoffnung und sagt sich gleich, man hat das Kommen zu früh berechnet, es dauert länger. Auf einmal ist es halb sechs durch, um achtzehn sollte der Zug dasein – sollte er doch kein Automobil genommen haben? keins gefunden? Aber am Bahnhof? Ach, der Zug – er hatte natürlich Verspätung.

Was für Einbildungen! Als ob er vielleicht nicht kommen könnte! Wozu denken? Aber Warten ist Denken. Man darf nicht warten, man darf nur – dasein.

Und überhaupt, sagt sie sich, was käme je so, wie man es hofft und berechnet? –

Und sie geht auf und ab, es wird schon dunkel, der Tag ist ohnehin trüb, die Laterne brennt, der Schein fällt ganz hell herein, all die fremden Dinge in dem unbekannten Raum sind so deutlich zu erkennen, aber im Schatten ist es unheimlich, im Schatten ist Seele, im Schatten sind Lippen, sind Augen. Sie wartet, sie verbietet sich, nach der Uhr zu sehn, lieber fängt sie an, ihre Schritte zu zählen und die Anzahl der Wege hin und her, und nach dreißig darf sie auf die Uhr sehn.

Ach, erst zehn Minuten vor sechs! Aber mußte er denn nicht längst dasein? Warum soll grad dieser Zug Verspätung haben, wo alle pünktlich kommen? Es ist Sonntag, am Sonntag wird mehr gereist, dann gibt es Verspätungen, und nun fängt sie an zu lauschen. Selten betritt jemand das Haus, öfter schon kommen Schritte die Treppe herab, und sie horcht wild, am Ende – er ist zu hoch gestiegen – das hat sie überhört – nun kommt er wieder herunter. Die Schritte zögern, jedesmal zögern sie vor der Tür. Dann sind sie plötzlich still, und sie wartet, wartet, es könnte noch immer jemand vor der Tür stehn. Nein, nichts mehr. Einmal hat sie dies gedacht, zweimal, da geht sie sogar auf den Flur und öffnet ganz leise die Tür – nichts. Wie konnte sie so dumm sein!

Und sie sitzt am Fenster. Und sie sitzt am Sekretär und nimmt alle Sachen in die Hand, die darauf stehn, Photographierahmen hält sie ins Licht und sieht die Gesichter fremder Familien, Nippes aus schlechtem Porzellan. Und sie sitzt im Stuhl. Sie steht wieder am Fenster und versucht über die Veranda nach der Straße zu spähn. Zuweilen kommt ein Mensch unter einem nassen Regenschirm. Sie sieht den Fall des Regens schimmern über den Laternen, sie sieht die verlassene, dunkle, regennasse Straße. Dort kommt jemand, das könnte er sein, ja, das ist er! Ob er ins Haus kommt? Nein, er ist es ja nicht, kanns nicht sein, es wäre ja zu schön, wenn ers ... Ihr Herz klopft wild, sie horcht, sie horcht. Da! Die Haustür. O Gott, er ist es wirklich! Jetzt, jetzt! Oh, sie wartet. Aber nun müßte es doch schon längst geklingelt haben? Sie zwingt sich, zu zählen; wenn es bis zwanzig nicht geklingelt hat, darf sie nachsehn. Vielleicht kann er im Dunkel das Namenschild nicht lesen, warum ist denn auch kein Licht im Treppenhaus! Er sucht nach Streichhölzern, sie sieht ihn ja stehn und suchen in den Taschen, sein Hut trieft von Regen, da geht sie zitternd hinaus, öffnet ganz vorsichtig die Tür, sie weiß, jetzt kommt der Erlösungsschrei – acht Jahre hat sie gewartet! – Kein Mensch im Treppenhaus. O Gott!

Ihre ganze Brust ist bitter von Enttäuschung und Gram. Die Uhr ist kurz vor halb sieben. Nun rast ihr Herz. Was ist geschehn? Er ist nicht gekommen. Aber – warum hat er nicht wieder telegraphiert? Oh – er hat Lis Telegramm nicht bekommen, mein Gott, alles ist ja so furchtbar unsicher, all diese Verbindungen ... Aber warum hat er nicht wieder telegraphiert? Ja, an wen denn? An Josef. O natürlich, Josef hatte ein Telegramm, er würde kommen, jeden Augenblick konnte er ... Und nun wartete sie auf Josef.

Er konnte ja den Zug versäumt haben und mit einem späteren kommen. So viel Züge fahren zwischen dort und hier. Wenn er telegraphiert hätte, konnte das Telegramm schon da sein? Warum wohnte Josef auch so weit draußen! Aber gut, so wartet sie auch auf das Telegramm. Es konnte ja auch hierher kommen. Und sie zählt auf: Traugott, Josef, Telegramm, um es nicht zu vergessen, daß sie auf drei gute Dinge warten darf. Alle sind gut, alle sind besser als Warten.

Es geht auf sieben, sie weiß, es ist längst sinnlos, daß sie wartet, aber sie muß warten. Und wie, wenn er – doch in ihre Wohnung telegraphiert hatte? Vielleicht sagte er sich, daß sie dorthin zurückkehrte, wenn er nicht kam, und so die Botschaft am ersten erhielte, denn Josef wohnte so weit. Es ist schon Abendbrotzeit, Klara wartet, sie hat gesagt, sie ist zum Essen wieder da, sie würde dann noch einmal fortgehn. Klara darf nicht allein sein in diesen Tagen. Schon vergißt sie das Kind über dem fremden Mann. Und sie macht sich Vorwürfe, da kommen tausend Gedanken, die Zukunft, die ganze Vergangenheit, eine Ewigkeit, während der sie den Augenblick vergessen kann, und sie sieht wieder auf die Uhr – drei Minuten sind vergangen.

Aber sie muß nach Hause telephonieren. Sie könnte ja heimgehn – aber –, wenn er doch noch kam? Sie muß warten. Aber sie darf gehn, wenigstens gehn und telephonieren, etwas tun. Aber wie? Wenn er inzwischen kommt? Sie weiß, er kommt sicher nicht inzwischen, aber es könnte doch sein, und sie ist nicht da. Sie möchte in Tränen ausbrechen, oh, warum hatte sie kein Papier und Bleistift, um einen Zettel in die Tür zu hängen! Aber vielleicht ist ein Telephon ganz nah, schräg gegenüber ist ein Restaurant, sie wird sich so beeilen! Er lief ja auch nicht gleich wieder fort, er klingelte erst dreimal und wartete, dann schrieb er einen Zettel. Ja, sie darf gehn. Hutaufsetzen, Schleierbinden, Mantelanziehen – mit all dem ließ sich noch zögern, noch Zeit verbringen, endlich verläßt sie das Zimmer, den Flur, das Haus, sie wartet noch unten, sieht lange nach der Seite, von der er kommen muß, Menschen kommen, noch diesen darf sie abwarten, noch diesen, und wen verdecken denn die zwei Damen dort mit ihren Schirmen? Endlich geht sie über die Straße, sie zögert noch lange auf der Schwelle, sieht sich bis zuletzt um, dann ist sie drinnen in dem rauchigen Kneipzimmer, alle Leute sehen sie an, endlich – das Telephon. Die Verbindung läßt endlos warten, sie lauert, sie weiß, jetzt gleich hört sie die Stimme des Hausmädchens: jawohl, ein Telegramm für gnä Frau! sie hört sie so deutlich, hört sie, obgleich sie weiß, daß sie sich durch diese Bestimmtheit alles verdirbt, und plötzlich ist die Verbindung da, sie kann kaum sprechen, sie fragt nach Klara, nach dem Essen, trägt dem Mädchen auf, zu sagen, sie komme ein wenig später, und hofft und hofft, doch endlich kommt noch das Wort vom Telegramm, aber nichts, und sie wagt es doch und fragt erlöschend: ›Ist nichts für mich gekommen, Erna? –‹ Nein. Nichts. Und sie schleicht ersterbend hinaus.

Aber nun – jetzt ist er dagewesen! So war es ja immer! Nun zittert sie vor Angst. Entweder er – oder ein Zettel. Sie läuft über die Straße, ins Treppenhaus – kein weißer Fleck an der Tür? Keiner. Sie schließt auf, er hat den Zettel sicher durchgesteckt, sie sucht am Boden, sucht überall, ganz im Winkel, er könnte ja doch hingeflogen sein. Nein, nichts. Und nun sitzt sie wieder im Zimmer, ihre Brust ist hart wie Stein, es ist ein Viertel nach sieben geworden. Und wenn er nun doch hier gewesen ist, während sie fort war? –

Warum wartet sie noch? Sie wartet nicht mehr, sie kann nur nicht fort. Und um acht Uhr wollte ja Josef kommen. Eine halbe Stunde vergeht schnell. Zwanzig nach sieben – bis acht – das ist eine gute halbe Stunde; halb acht – nun ists eine richtige halbe Stunde; fünfundzwanzig vor acht – das ist eine kleine halbe Stunde, oh, eine halbe Stunde ist ohne Ende! –

Josef aber dachte das Wiedersehn nicht zu früh zu stören und kam erst um halb neun. Und sie saß, zitterte und weinte vor Angst und Empörung, daß er sie auch im Stich ließ ...

Ja, das ist wohl das Warten. Ich glaube, nun weiß ich auch etwas davon.«

Er schwieg lange und starrte an die Erde. Plötzlich fuhr er fort:

»Wir schrieben einen Zettel, daß wir nach der Bahn gefahren wären und sofort zurückkämen, er möge im Restaurant drüben warten. Sie konnte mich ja nicht allein fahren lassen und wieder warten. Wir fuhren zur Bahn, wir nahmen beide keine Rücksicht mehr auf Gesehenwerden, sie hatte ihren Schleier, ich Hut und Mantelkragen. Wir lasen die Ankunfttafel. Um neun kam noch ein Zug. Wir warteten jeder an einem der Ausgänge, warteten, bis alle Menschen, Hunderte, den Tunnel herabgekommen waren, bis niemand mehr kam. Doch! immer noch ein Nachzügler, und dann kamen schon wieder neue, aus einem andern Zug, von denen wir uns einbildeten, sie gehörten noch zum ersten.

Dann fuhren wir nach dem Hause zurück und fanden unsern Zettel. Aber vielleicht hatte er etwas darauf geschrieben? Im Zimmer, im Laternenschein drehten wir ihn um und um. Er hatte nichts darauf geschrieben.

Es war kurz vor zehn Uhr, als sie ganz erschöpft mit Kopf und Armen über dem Tisch lag. Ich stand hinter ihrem Stuhl. Auch mir war sonderbar zumut.

Und da kam er.

Plötzlich hörten wir die Korridortür gehn; dann zögernde Schritte. Sie richtete sich hastig auf. Wie war er hereingekommen? Hatten wir die Tür offengelassen? In mir rieselte etwas.

Auf einmal wurde an die Tür gepocht.

Es dauerte eine Weile, bis sie rufen konnte: Herein – Alles blieb still.

Da! Es pochte wieder an die Tür. –

Diesmal rief ich: Herein! – Wiederum alles still.

Und zum dritten Male wurde geklopft.

Da wußte ich, was es war, das da klopfte, und ich nahm meinen berühmten Mut vor, legte der Frau, die vor mir saß, beide Hände auf die Schultern und sagte zum dritten Male: Herein!

Das Laternenlicht fiel durchs Fenster, schräg über die untere Hälfte der Tür, der wir gegenüber waren; der Fußboden war hell beschienen, oben das Dunkel. Und nun bewegte sich die Tür, sie war offen, ein Mensch stand darin, in einem langen Gummimantel, den Hut in die Stirn gerückt, die Hände in den Taschen. Er sprach kein Wort.

›Traugott!‹ flüsterte sie endlich. Ich konnte ihr Herz klopfen hören.

Er blieb still. Dann ging er zu einem Stuhl, setzte sich und sah nach dem Fenster.

Sie drehte das Gesicht zu mir empor. ›Wie seltsam!‹ sagte sie leise, ›was ist denn mit ihm?‹ – Dann sah sie ihn wieder an. Es vergingen Sekunden. Danach stand er wieder auf, ging zur Tür, zauderte davor, öffnete und war verschwunden. Wir hörten seine Schritte auf dem Flur. Dann Stille. Sie aber war –«

Er schwieg. Auch um uns alle stand das Schweigen, selbst der Regen hatte aufgehört zu rauschen. Und jetzt plötzlich – sonderbar deutlich in der Stille der Nacht – hörten wir draußen Schritte. Jemand ging um das Haus.

Mir gerann das Blut. Wer konnte da kommen? Vor mir saß der Herr und hatte das Gesicht nach den Fenstern gewandt. Wieder die Schritte ...

Und jetzt – von links her erschien im Fenster ein Mensch, derselbe, der ... erschien, den Hut in die Stirn gerückt, die Hände in den Manteltaschen. Stand draußen, vor der Schwärze der Nacht hell beleuchtet von der Kerze am Boden, und blickte zu uns herein – nein, auf keinen von uns, sondern auf das Licht an der Erde.

Mein Herr stand langsam auf. Gott im Himmel, diese fürchterliche Unerschrockenheit! »Traugott«, sagte er ruhig, »warum kommst du?«

Der Fremde schwieg. Nach einer Weile begann wieder mein Herr:

»Kannst du mir sagen, Traugott, was geschehn ist? Warum kommst du noch einmal zu mir?«

In diesem Augenblick merkte ich mit Entsetzen, daß die Augen unter der Hutkrempe sich bewegten und dann – auf mich gerichtet waren, ja, auf mich! Und auch mein Herr nahm es wahr und drehte sich um.

»Weiß es Li, Traugott?« fragte er schwer.

Und da nickte das Gespenst, nickte langsam mit dem Kopf; einmal; und noch einmal. Und ein drittes Mal. Wandte sich langsam um und verschwand in der Nacht.

Ich fiel auf die Knie. »Ich weiß nichts, o Herr! Ich weiß nichts!« schrie ich in wahnsinniger Angst und rang meine Hände.

Ganz ruhig sagte er nur: »Steh auf!« Ich stand auf.

»Komme her!«

Ich stand vor ihm.

Er legte die Hand unter mein Kinn, sah mich in Güte an und sagte: »Nicht fürchten, Li! Ganz ruhig sein. So! – Und nun besinnen. Ganz still besinnen. So! – So, kommt – es – jetzt?«

Und da auf einmal saß ich in einem Automobil, sah die Glasscheibe vor mir, die Scheinwerfer, und da – der Regenschirm, der – allmächtiger Gott, ich sah den Mantel, den die Erscheinung getragen hatte!

»Der Mantel!« schrie ich, »Herr, Herr, er war es, den wir überfahren haben!«

Die Hand meines gnädigen Herrn fiel herab. Mir schwindelte, alles drehte sich im Kreis – hundert Kerzenlichter zuckten, da stand das Fräulein und flog herum, da war der Maler, er saß, er zuckte auf und nieder, da flog der Schatten des Herrn al Manach riesig an der Wand empor ...

Eine furchtbare Stimme hörte ich sagen: »Bei meinem Dämon ...«

Und es ward wieder ruhig um mich her. Und jetzt sah ich, wie der Herr al Manach, der still wie zuvor den Fenstern gegenüber an der Wand saß, den rechten Arm erhob, gradaus deutete mit der Hand und sagte: »Da – seht!«

Wir alle blickten hin. Etwas hing in dem Fenster, dem, vor welchem die Erscheinung gewesen war. Eine schwärzliche Beere. An einem langen glänzenden Faden ließ sich von oben die Spinne herunter; fiel tiefer mit einem Ruck; wieder mit einem Ruck tiefer; und nun lief sie auf der Fensterbank bis zum Rahmen und dann daran empor. Sie war sehr beschäftigt. Sie fing ganz von vorn an, mitten in der Nacht. Ganz still machte sie sich ans Werk, unbekümmert um uns. Laut rauschte wieder der Regen durch das Dunkel.

»Angesichts dessen«, hörte ich des Herrn al Manach sanfte Stimme, »gibt es wohl für niemand unter uns mehr etwas zu sagen.«

 

Nachschrift, einige Zeit später, von meinem gnädigen Herrn:

Mein Li hat brav geschrieben. Ich bezweifle, daß ich es unter den waltenden Umständen besser ausgeführt haben würde.

Nichts zu sagen hätte es gegeben? Gewiß, nicht in jenem Augenblick. Doch will das schwarze Gesetz in mir seine Klarheit, und ich stelle fest:

Wenn ich nie gewußt hätte, daß ich kein Jettatore bin, so wüßte ich es nun, da ich es selber war, der sich den grausamsten Schaden zufügte.

Freilich, was mußtest du auch von der falschen Seite auf das Haus zukommen, Traugott? Ich fuhr doch nicht in der Richtung zum Bahnhof. Die Vermutung allerdings, daß, wäre nicht dein Regenschirm gewesen, Li vielleicht gesehen haben würde, daß du eingewickelte Blumen in der Hand trugst, daß du am Hause vorüber zu einem Blumenladen gefahren warst, den du kanntest von früher – diese Vermutung findet ihre Antwort in einer Frage, nämlich: Warum mußte ich mich verborgen halten in der Stadt und deshalb den andern Weg einschlagen?

Ja, wenn ich mich nicht verborgen gehalten hätte, würde ich nicht selber am Bahnhof gewesen sein? So rechnet der Pöbel, nicht ich. Und dennoch – es scheint mir ein Wink.

Von bewunderungswürdiger Ausführlichkeit aber scheint mir diesmal die Arbeit der großen Spinne. Zwei Menschen ließ sie im Warten leben acht Jahre lang. Dann ging die schöne Möglichkeit auf, dann schloß sich der Ring, dann war nur noch eine Straße, lagen nur noch zehn Häuser zwischen den beiden, und dann stürztest du dich in die letzte Lücke, und ein Augenblick war die Ewigkeit, dein schönes kunstreiches Netz hineinzuhängen. – Wieder einmal Gelegenheit, armer Lenau, nicht wahr, um zu klagen: »Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.«

Und wie, Spinne, verfuhrst du mit mir? Ich rettete ihm vor zwanzig Jahren das Leben, verhalf mir zum treuesten Freund, der mein letztes Geheimnis verwahrte wie heiliges Gebein. Und ich nahm ihn mir auch wieder mit eigener Hand.

Wohlan! Ich habe gehört, Traugott! Ich soll keinen Freund mehr brauchen, heißt es, nicht wahr? Ich kann zurück in das Haus, wo die Spinne im Netz sitzt und wartet.

Gut.

Christian Günther, die Fanfare!

Mein Ohr vernimmt das Zeichen,
So mir zu Schiffe ruft,
Laßt nun die Segel streichen,
Der Hafen meiner Gruft
Macht, daß ich nicht mehr strande;
Der Himmel wird mein Haus;
Wohlan! wir sind am Lande,
Steig, müder Geist, steig aus.


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