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Apotheker: Tut dies in welche Flüssigkeit Ihr wollt
Und trinkt es aus: und hättet Ihr die Stärke
Von Zwanzigen, es hülf Euch gleich davon.
Shakespeare (Romeo und Julia)
Vorbemerkungen (von mir, Li)
Dies war in Rußland, in der Ukraine, in Kiew. Damals neigte sich die bewegteste Zeit im Leben meines gnädigen Herrn zu Ende, gewiß um ein Vielfaches bewegter und vor allem aufreibender, als das Leben in Amerika, wo wir zuletzt gewesen waren. Dies Land hatten wir vom Osten bis zum äußersten Westen durchzogen, denn da mein gnädiger Herr beschlossen hatte, es – oder besser: sein Volk, »diese Erfindung des Antichrist«, wie er sagte, aus dem Grunde kennenzulernen, so gefiel es ihm, nicht zu reisen wie früher in Europa als großer Herr, sondern er benutzte seine zahllosen Fähigkeiten, darunter vor allem die, in jeder Lage sich zurechtzufinden, ihrer jeder Herr werden, überhaupt alles zu können, was der Augenblick nur verlangen mochte, um in allen möglichen Berufen für eine Weile unterzutauchen, was in diesem Lande ja leichter möglich ist als in jedem andern, und vornehmlich war er Agent. Agenturen gibt es ja dortselbst für alles, den Mord nicht ausgeschlossen. Doch ist hiervon zu reden nicht der Ort; erwähnen muß ich jedoch etwas andres, das nötig zu erwähnen ist, um den hochgeehrten Herrn Leser über eine Veränderung in der äußeren Erscheinung meines gnädigen Herrn nicht im unklaren zu lassen, so schmerzlich es auch heute noch für mich ist, nur daran zu denken. Ich meine den gräßlichen »Unfall« (sein Wort) in Alaska, der die untadlige Schönheit des Herrn Barons für immer entstellte, indem er ihm die ganze linke Hälfte seines Gesichts raubte. Die Schuld hieran trug leider die unwiderstehliche Anziehungskraft, die er, ob mit, ob ohne seinen Willen, auf das weibliche Geschlecht von jeher ausübte, die sich auch durch keine Kälte seinerseits verringern ließ, ja – wie diese Weiber nun einmal sind! – eher noch gesteigert wurde, und gar erst nun unter jenem all und jedem Triebe zügellos nachgebenden Gesindel des amerikanischen Westens. Eine, von Eifersucht – wie ich versichern kann, ganz unbegründeter Weise! – rasende Mänade ließ sich hinreißen, eine dünne Glasflasche voll fressender Säure im Antlitz meines gnädigen Herrn zu zerschmettern.
Ich mag nicht reden von meinem grenzenlosen Jammer. Der Mond, die Sonne selber hätten sich spalten und eine Hälfte fallen lassen können, ohne mein ganzes Wesen in einen solchen Aufruhr aller liebenden Gefühle zu versetzen. Mein Herr Baron freilich nahm, abgesehen von den Schmerzen am Anfang, auch dies Geschehnis mit der bewunderungswürdigen Leichtheit seiner göttlichen Natur, die ihn alsbald sogar einen Trost und Vorzug in der Entstellung erblicken oder hoffen ließ, nämlich den, daß nunmehr die seit ewig ihm greulich zu Last gewesene, besagte Anziehungskraft vernichtet oder jedenfalls um ein Erkleckliches vermindert sein werde. Hierin allerdings sollte er sich bald getäuscht sehn. Die Zerstörung, wie gesagt, betraf die volle Hälfte seiner Züge; dort war alles verbrannt und obendrein zerschnitten, das unsterbliche Auge, ach, ausgelaufen, der Mundwinkel verzerrt, der so lieblich lächeln gekonnt! Die ganze andre Hälfte jedoch, in gerader Linie über die Mitte der Stirn und des Kinns mitsamt der Nase, war heil und schön geblieben, fast wunderbar zu sehn. Nun aber war der Anblick der zerfressenen, unter dünner Haut rot bleibenden Hälfte so grauenhaft, daß mein gnädiger Herr sie mit einem schwarzen Tuch, einer Art Kappe, die des Haltes wegen über den Kopf gezogen wurde, verhüllen mußte. Um so feuriger glühte das nur ein wenig starrer blickende gerettete Auge, um so geheimnisvollere Glut enthauchte dem Ganzen, um so mitleiderregender erschien es jedem und jeder, die um das Verborgene wußten oder durch Zufall erblickten, kurz: der Magnetismus schien sich verdoppelt zu haben, anstatt verringert zu sein durch die Halbierung. Nicht unerwähnt darf ich noch lassen, daß ich in China, wohin wir über Japan gelangten, meine angeborene Fertigkeit in kunstvoller Handarbeit benutzte, um zu retten, was zu retten war, und mit Hilfe eines großen Meisters im Elfenbeinschnitt eine Ergänzung, eine Art Halbmaske von fast vollendeter Ähnlichkeit anfertigte, in die auch ein künstliches Auge aus Glas eingefügt wurde. Sie ließ sich vermittels einer einfachen Spange am Hals und einiger in dem dichten Haar des gnädigen Herrn verschwindender schwarzer Schnüre so befestigen, daß – nicht eben bei vollem Tageslicht – aber doch in der Dämmerung und nicht gar zu heller künstlicher Beleuchtung die Ergänzung vollkommen schien, das heißt kaum sichtbar.
In Amerika sind wir im ganzen nicht viel über drei Monate gewesen; fast dieselbe Zeit brauchten wir für den Weg nach Rußland, den wir über Japan durch die Mandschurei, Tibet und Persien unter unzähligen Mühsalen und Gefahren zurücklegten. Auf Rußland freute der gnädige Herr sich überaus. Er hoffte dort, wie ich ihn mehr als einmal sagen hörte, Idealisten, echte, zu finden, und ich glaube auch, daß er sie gefunden hat. Er führte dort sofort seinen Plan aus, mit den Kreisen der – Sozialisten, Anarchisten, Nihilisten, Revolutionäre und wie sie nun alle heißen mochten – mein gnädiger Herr hielt es für richtig, meine Wenigkeit hierüber in weiter Unkenntnis zu lassen (denn meine Dienste brauchte er im Dienst der Sache mehr als je, und dient es sich nicht leichter, wenn man nicht weiß, wem man dient?) in Verbindung zu treten. Und nicht nur dies: er nahm auch in Bälde, wie es die Kühnheit seines Charakters, die Größe und Tatkraft seiner Persönlichkeit erwarten ließen, eine führende Stellung ein, deren erste Folge freilich eine Arbeitslast war, unter der jeder zweite zusammengebrochen wäre.
Aber, obgleich es niemals seine Sache wurde, obgleich es ihm immer nur Gelegenheit blieb, das in ihm hausende Feuer zur glorreichen Flamme anzufachen, in höchster Freiwilligkeit jedoch als ein ernstes und erlauchtes Spiel: die ganze Flamme setzte er ein so lange, bis – nicht die Flamme erlosch, sondern Gefangenschaft und Kerker ihn zwangen, nach glücklich bewerkstelligtem Ausbrechen, das Land zu verlassen.
Diese Fingerzeige mögen genügen, um ein Bild von den damaligen Lebensumständen des Herrn Barons zu geben und auf das folgende, mit den politischen Vorgängen freilich nur durch einen äußerlichen Faden zusammenhängende Erlebnis vorzubereiten.
Denn – dies noch zu betonen, ergreife ich die Gelegenheit – der schildernswerten Vorfälle aller Art fände sich eine Unzahl in seinem Leben; dergleichen war mein Herr so gewohnt und achtete ihrer so wenig, daß ich seinem Gedächtnis den allergeringsten Dienst erweisen würde, indem ich sie mitteilte. Sondern, was einzig seine Teilnahme zu erregen vermochte, immer wieder erregte und deshalb dieses Treibens nie müde werden ließ, das war, was ich ihn den einzigen, wirklichen Abgrund nennen hörte: der Mensch. Der Mensch und sein Schicksal – als welches nach dem Dafürhalten meines gnädigen Herrn allein abhinge von ihm selber.
Das Ereignis an sich, wie ich schon sagte, so grauenerregend, so schicksalwirkend es sein mochte, galt ihm nichts gegen den erhabenen Zauber, den es wirkte am Menschen, den es traf.
Dann konnte der Vorgang in andern Augen so dürftig scheinen, wie sie ihn zu sehen vermochten: mein Herr besaß das magische, das Mikroskopauge, das ihn in erstaunlicher Vergrößerung jeden Zug, jeden Schatten, jede Falte, jeden Blick, jede Linie und jede Bewegung erkennen ließ. Dann sah ich ihn wieder und wieder aus der verhaltenen, andern leicht schläfrig erscheinenden, für ihn aber Sparsamkeit, Schonung der eignen Kräfte in leerer Zeit für die volle, bedeutenden Ruhe aufschnellen, weniger merklich wohl für andre als eben mich. Dann wurde der magische Kristall im Dunkel seines Auges geheimnisvoll sichtbar, eingespannt in das unendlich geistvolle Werk seiner Züge; dann lebte er und genoß das würmige, ihm drachenhaft riesig erscheinende Schicksal oder Leben wie das gewaltigste aller Opiate, die er sonst – sei es welches es sei – samt und sonders allezeit verschmähte.
Der Zug von Jelisawetgrad im Gouvernement Cherson nach Kiew, mit dem wir fuhren, braucht für gewöhnlich ungefähr zwanzig Stunden; wir gerieten – es war Mitte Februar und in der Ukraine noch tiefer Winter – in eine Schneewehe – ich habe vergessen wo, es war mitten in der Nacht – und langten daher mit fünf Stunden Verspätung und erst am Frühnachmittag statt morgens gegen neun Uhr in Kiew an. Die Heizung im Zuge war nicht im Stand, wir litten erbarmungswürdig unter der Kälte, mein Herr Baron hatte in den letzten vier Tagen an Schlaf kaum einen Bissen zu sich genommen und verbrachte gleichwohl die halbe Zeit der Fahrt damit, mir gewisse Briefe und Schriften zu diktieren, von denen ich zu wenig begriff, um ein Wort darüber sagen zu können. Ich konnte sie naturgemäß infolge des höllischen Schüttelns durch die Fahrt nicht gleich ins reine schreiben, sondern mußte das später am festen Tisch in Kiew tun, wo mein gnädiger Herr kaum minder erschöpft als ich – so klein ich bin, bin ich doch zäh wie ein Kuli – anlangte. Daselbst sollten wir bei einem Geheimbundsfreund, einem russischen Apotheker namens Pjotr Kyrillowitsch Slaby Wohnung nehmen.
Kiew hatten wir schon einmal, damals in eisigkalten, aber stillen Dezembertagen gesehn; jetzt herrschte Schneesturm, der es unsichtbar machte. Todesmatt, mein Herr, den der hochgeehrte Herr Leser sich nun mit halbem Gesicht und dem schwarzen Tuch vorstellen muß, und ich, wir konnten uns kaum auf den Füßen halten, schwankten wie Trunkene und mußten im schneidenden Wind und sandfeinen Gestöber lange umhertappen, bis wir den großen Schatten eines Ryssak (so heißen dort die Pferde, die winters den Schlitten, sommers einen kleinen Wagen ziehn, eine Art Orloff im Bau, sehr groß, meist schwarz, langschweifig und von einer haarsträubenden Geschwindigkeit) entdeckten, den winzigen Schlitten dahinter und den vermummten Kutscher. So klein sind diese Schlitten, daß, wenn zwei Menschen drin sitzen, sie sich hinter dem Rücken mit Armen umschlingen müssen, um sich vor dem Hinausfallen zu bewahren, und mein gnädiger Herr nahm mich kurzerhand auf den Schoß. Trotz des Schneesturms entschlief er dann wohl augenblicks wie jedenfalls ich, beruhigt und geschläfert von der glatten Fahrt nach dem Rütteln des Zuges und dem eintönigen Klingeln der kleinen Schellen. Ich hörte sie noch im Traum lange Zeit; als ich erwachte, stellte mein Herr Baron mich gerade vor ein düster erhelltes Schaufenster, in dem große Flaschen und Büchsen mit Zetteln und andre Dinge die Apotheke erkennen ließen.
Ich folge nunmehr meinen eigenen Aufzeichnungen im Tagebuch.
Im Laden sah es trostlos aus. Irgendwo brannte eine Petroleumlampe – denn der Schneesturm machte die Stunde schon zur Dämmerung. Es mußte eine Feuersbrunst im Hause gegeben haben und erst vor kurzem gelöscht worden sein, denn die Wände hatten noch große nasse Placken und Streifen von heruntergeflossenem Wasser, die Dielen waren verquollen, und das ganze Apothekergerät lag teilweise in Scherben umher, teils bildete es einen traurigen Wirrwarr auf den Ladentischen. Unser Atem dampfte, es war nicht geheizt. Und nun vergebens Räuspern, Fußstampfen, selbst Rufen meines gnädigen Herrn. Er ging endlich – und ich folgte – zu einer Tür im Hintergrund, wir betraten durch sie einen stockfinstern Flur, in dessen ein wenig geringerer Kälte sich der Geruch von alten Speisen in den der Medikamente mischte, mein Herr ertastete eine Tür, pochte an und öffnete.
Eine Hängelampe, von hoch einen traurigen Schein nach unten werfend, brannte düster und qualmig über einem großen Tisch, dessen schmutzfleckiges Tafeltuch noch Teller und Schüsseln mit getrockneten Resten vom Mittag her bedeckten, und hier strömte uns mit der übergroßen Hitze ein schreckliches Gemisch von Gerüchen entgegen, von Speisen, Lampenruß, Petroleum, kleinen Kindern und der menschlichen Atemdünstung. Die Einrichtung, die sich von der eines Speisezimmers in Deutschland wenig unterschied – mit Büfett, einem Kredenztisch voller Geschirr, kleinen Ziertischen, an den Wänden einigen schlechten Öldrucken und Photographien –, zumal der Ikon fehlte (denn der Apotheker war nicht gläubig und seine Frau Polin und also des römisch-katholischen Bekenntnisses), die Einrichtung war um eine Menge Gegenstände aus andern Zimmern vermehrt, die den gar nicht eben großen Raum bis zum Rande füllten, mehreren Sesseln, einem Nähtisch, einer Kommode und einem leeren Kinderwagen, aus dem Kissen und Decken hingen. Im Anfang wars zum Ersticken. Auch hier zeigten Zimmerdecke und Wände die Spuren des Wassers, und so ließ sich denken, daß die überflüssigen Möbel aus verbrannten Zimmern hereingeschafft waren. Wir standen – oder richtiger, mein gnädiger Herr saß, denn er fiel sogleich in einen der Sessel – noch eine halbe Minute. Dann wurde das Rauschen einer Klosettleitung hörbar, nach aber einer Minute kamen langsam schlürfige Schritte, und in der Tür erschien ein Mann, noch an seiner Kleidung ordnend, der mich trübe und scheinbar so mit sich selber beschäftigt anblickte, daß er sich nicht zu wundern vermochte.
Er war in Hemdärmeln – gelblich wollenen – und einer braunen, gestrickten Weste. Auf dem kaum mittelgroßen, gedrungenen Leib saß vorgeduckt ein Kopf mit dichtem und wirrem, fahlblondem Haar, einem ebenso fahlen Spitzbart und jenen, von dicken Lidern wie von kleinen Wülsten halbverschlossenen Augen, die klein und farblos waren und mich so trübe und mit einem Schein von Verblödung anblickten.
Der gnädige Herr war eingeschlafen, erwachte aber auf meine leise Berührung, erhob sich und nannte seinen Namen, auch mich als seinen Diener. Pjotr Kyrillowitsch Slaby – denn er war es – erwachte gleichfalls; sein Gesicht, besonders die kleinen Augen zogen sich mit einem überaus freundlichen Lächeln der Freude zusammen, während er die Hände ausstreckte und mit sonderbar leiser Stimme sagte: »Ach, Jossip Awgustowitsch, nun verstehe ich alles! Seien Sie mir von Herzen willkommen!« Und er schüttelte erst ihm, dann auch mir, dann wieder ihm beide Hände lange, jetzt verkleinert durch die mächtige Höhe und Breite des Herrn Barons, zu dem er mit einer fast zärtlichen Herzlichkeit aufblickte, nun teilnehmend mit Fragen, was denn mit ihm sei, ob er einen Unfall erlitten habe, er meine – wegen der schwarzen Hülle – und nun wiederholend, welch große Ehre ihm da widerfahre – über welchen Beteuerungen er sich ganz zu vergessen schien. Eine Antwort schien er ebensowenig zu hören, hielt nun zwar andächtig lauschend den Kopf schief, die Augen in ernstem Einverständnis auf mich geheftet, während mein Herr einiges von der Fahrt sagte, seiner und meiner Erschöpftheit – schwieg aber danach, und ich merkte – fast mit einem Bangen –, daß jenes Einverständnis sich schon längst nur noch in seiner Kopfhaltung ausdrückte, daß die Augen krampfhaft angespannt auf mich eingestellt waren, als koste es ihn schwere Mühe, die Bedeutung meiner Gegenwart zu erraten.
»Sieh mal an«, sagte er endlich leise, »und der Diener – ja, der Diener ist ja wohl ein Chinese. Ein Chinese aus China, ja. Ein Chinese aus China ...«
»Ach, Jossip Awgustowitsch«, wandte er sich plötzlich mit tiefer Traurigkeit zu ihm herum, »in welches Haus sind Sie da gekommen! Blicken Sie doch nur nicht umher! – Nur munter!« schloß er erlöschend; und kaum hörbar: »Munter ...«
So seltsam er schien – wir wußten ja nicht, war es seine Art so, oder war es die Stunde? – bat mein Herr doch nun um Tee und eine Gelegenheit zum Schlafen. Sogleich, beim Worte Tee, geriet er zusammenfahrend in eine fieberische und wirre Geschäftigkeit und zugleich in hastiges Reden. Er nahm von den um den Samowar auf dem Büfett stehenden Gläsern eins nach dem andern und hielt sie gegen das Licht, um zu erkennen, ob sie rein seien, doch genügten ihm erst das vierte und fünfte, schraubte dazwischen plötzlich den Lampendocht tiefer, suchte in Schiebladen nach Löffeln, stellte sie in die Gläser und diese fort, worauf er sie wieder holte und auf den Tisch stellte, dann die groß dastehende Teebüchse lange suchte, endlich fand und sie auf den Tisch setzte, und nun dasselbe mit der Zuckerdose. Und unterweil quoll er über von geflüsterten Bitten um Entschuldigung.
»Ein zerstörtes Haus«, ich höre ihn noch, »ein ganz zerstörtes Haus, sehen Sie, da kommen Sie nun herein. Aber Sie sollen schlafen, gewiß, ja, natürlich, der Mensch muß schlafen, der Mensch braucht den Schlaf. O Gott, Jossip Awgustowitsch, ich will Sie nicht belästigen, aber Sie sehen ja: vom Himmel fiel Feuer auf mein verfluchtes – ich meine, ich will sagen, – es war natürlich dieser Kolja, der Bengel, mein Lehrling, wissen Sie, Jossip – ja. Also – und die Prämie ... Ja, mein Gott, wüßte ich nur, ist die Prämie nun eigentlich bezahlt oder nicht? Bitte tausendmal um Vergebung, Jossip Awgustowitsch, es ist natürlich scheußlich, ganz scheußlich! Sofia Kasimirowna ist außer sich, Sofia, sie sagte – ja, also – natürlich meine Frau, sie ist leider nicht zugegen, sie ist mit dem Kleinen, Jegoruschka, unserm Jegor – ah, Jossip Awgustowitsch, unsern Jegor – ja, den sollten Sie kennen!«
Verklärt, die Hände mit der Zuckerdose vor Herzlichkeit mehrmals vor sich niederstoßend, blickte er auf Herrn Baron und wieder auf mich, gleichsam uns zum Beifall auffordernd.
»Ja, also, was ich sagen wollte«, fuhr er wieder fort, »wie? Ja – so, Sofia, meine Frau, sie hat ihn zu einer Freundin gebracht, es ging ja nicht des Nachts, er schrie so sehr, und wir haben ja nur mehr zwei heizbare Zimmer im Augenblick und – ja, das eine muß natürlich für Sie bleiben, Jossip Aw– für Sie und Ihren Herrn Diener. Und heut abend –, ja, da werden Sie sie auch nicht sehen können, sie bittet durch mich tausendmal um Vergebung, denn heut abend ...« Er verlor Sprache und Blick. »Heut abend ...« und starrte entseelt in eine Ecke.
»Der Samowar kocht!« flüsterte er plötzlich, drehte sich um und begann, das Anerbieten meines Dienstes gar nicht bemerkend, die Gläser zu füllen. Er brachte jedem von uns das seine mit der Zuckerdose auf einem Teller, auf das liebevollste lächelnd dabei und mit einem Segenswunsch.
Während dann mein gnädiger Herr und ich langsam unsern glühend heißen und süßen Tee schlürften, stand er mit dem Rücken an das Büfett gelehnt und schien völlig abwesend. Erst das Klirren des Glases, das mein gnädiger Herr auf den Teller zurücksetzte, weckte ihn, er sprang gleich auflächelnd zu, aber mein Herr drehte es der Sitte gemäß um und bat um eine Gelegenheit zum Schlafen, indem er bedauerte, ihm wider seinen Willen zur Last fallen zu müssen.
»Jossip, ach Jossip Awgustowitsch, was sagen Sie?« flüsterte er fast weinerlich. »Ach, wenn Sie doch nur vorliebnehmen möchten! Wie sehr schmerzlich für mich, wie sehr kränkend! Und wir haben ja so viel zu besprechen! Und außerdem – ja – es ist – wie soll man da sagen ...« Er errötete tief – »ich bedarf – das heißt, ich meine, es gibt Lagen ...« Er verstummte, sammelte sich mühsam, lächelte, alle Bedenken zerstreuend, und lud den Herrn Baron auf das Sofa ein, der denn auch seinen Pelz ablegte, sich ausstreckte und augenscheinlich sofort entschlief.
»Ja, und der Diener –, der Herr Diener ...« Dem Ärmsten schien im Diener so sehr das ganze Ansehn des Herrn sich zu verkörpern, daß er vor ihm mehr Ehrfurcht empfand als vor dem Herrn. »Was macht man mit ihm?« Er lächelte mir aufmunternd zu, und ich sagte, ich fühlte mich bei aller Müdigkeit außerstande zu schlafen, auch seien einige Schriften auszufertigen, und ich bat um Tinte.
Sogleich setzte er sich wieder in eifrige Bewegung, brachte nach langem Suchen aus der Fensterbank eine alte Schreibunterlage, eine Tintenflasche und einen Federhalter zum Vorschein, die er vor mir ausbreitete, und ich setzte mich an das Tischende. Er selber nahm einen Stuhl in meiner Nähe, erhob sich aber nach ein paar Augenblicken, um das Eßgeschirr leise zusammenzulegen und ganz behutsam hinauszutragen.
Eine Weile später sah ich ihn mir gegenüber am andern Ende des Tisches sitzen in tiefem Brüten über zwei Briefbogen, die er vor sich gelegt hatte.
Aber ich fand mich unfähig, zu schreiben, hin und her schwankend zwischen Schlummer und Wachsein, ohne dies zu erreichen oder jenem anheimzufallen. Es stach in meinen Schläfen, in den Ohren brauste noch das Tosen der Fahrt, mir fielen die Augen zu und sank der Kopf beim mühsamen Malen der Buchstaben auf das Papier, ich verging vor qualvollem Schlafverlangen – und seltsam: trotzdem ist, tiefer als manche der schreckenvollsten, wildesten Stunden, diese Stille in mein Gedächtnis eingebrannt, während mein Herr fest schlief, das Schweigen sang in der Lampe, im Ofen selten es knallte und ich im halben Traumzustand dasaß und doch alles umher verschleiert und fern und doch so deutlich wahrnahm: das Lampenlicht auf dem Tisch, die Flecken im schmutzig weißen Damast, ringsum die stille Dämmerung, die bronzenen Arme und Ketten der Lampe, die dunklen Wasserflecken der Tapete, die Bilder, die dichtgedrängten Möbel, im Hintergrund das Sofa mit dem, was von meinem Herrn sichtbar darauf war, und gegenüber der sonderbare kleine Mensch. Einmal, fast am Einnicken, sah ich ihn mit größter Behutsamkeit aufstehn, hörte wie von weither das leise Geräusch, mit dem er einen Stuhl, einen Sessel ein wenig verrückte, um hindurchzukommen, dann – unendliche Zeit schien mirs – das Knistern von Papier, und endlich sah ich ihn wieder am Tisch, emporgereckt zu der Lampenkuppel, bemüht, ein zusammengeknifftes Zeitungsblatt unter die Kuppel zu klemmen, und dann fiel ein heller Strahl über sein Gesicht in die aufglitzernden Augen, die er zusammenkniff, indem er den Kopf dorthin wandte, wo mein gnädiger Herr schlief. Endlich, nachdem er die Stelle gefunden, wo er abblenden wollte, legte er die Kuppel fest, seufzte tief auf und setzte sich leise wieder hin.
Und wieder brütete er über seinen Briefen, die Stirn jetzt in beiden Fäusten, jetzt die Augen empor ins Licht gerichtet, als ob er bete, die Hände flach mit aufgelegten Unterarmen auf der Tischplatte gefaltet. Einmal noch bemerkte ich, daß er mich ansah, unbestimmt und traurig fragend, als ob er mich gern um etwas gebeten hätte, es aber nicht wagte.
Und die ganze Zeit wehrte er mit immer demselben Gleichmut, mit einer Handbewegung oder einem Kopfschütteln eine einzelne Fliege ab, die mit Beharrlichkeit wieder und wieder gegen sein Gesicht vorstieß. Plötzlich schlief ich, oder noch nicht ganz, doch wußte ich nicht mehr, ob ich wirklich sah oder nur im Traum – einen Kopf, der flach mit der einen Wange auf dem Tisch lag, weit davor zwei armselige, runde und schlaff offene Hände, und daß Kopf und Hände und noch etwas Unsichtbares im Schatten von Zeit zu Zeit zuckte wie vom Weinen. Ich schlief.
Ich erwachte davon, daß mein Herr erwachte; ich hörte ihn gähnen und sich aufrichten, öffnete die Augen und fühlte mich vom Schlaf erleichtert und ein wenig frischer. Pjotr Kyrillowitsch saß wie vor meinem Einschlafen, hantierte aber ganz seltsam mit seinen Briefen, sie so und anders und wieder anders herumlegend und dabei den Oberkörper auf und nieder biegend, als litte er innere Schmerzen oder wäre nicht bei Verstand, und ich wagte es, meinem gnädigen Herrn, der nun aufrecht hinter Slaby mitten im Sofa saß, mit den Augen zu winken, worauf er nach Augenblicken sich erhob, neben ihn trat und ihm eine Weile zusah, ohne daß der ihn bemerkte. Endlich legte er eine Hand auf die beiden Briefe und sagte:
»Nun, Pjotr Kyrillowitsch, nun wollen wir uns mit Ihnen beschäftigen. Ich hoffe, Sie erlauben es mir.«
Da sah er angstvoll auf, bewegte die Lippen, zog einen der Briefe unter der Hand hervor, glättete ihn und legte plötzlich beide vor meinen gnädigen Herrn, der sich nun hinsetzte.
»Da sehen Sie alles, Jossip Awgustowitsch«, sagte er leise. »Sehen Sie – ja – sehen Sie –, ich möchte, daß Sie – ja, ja, ich möchte nicht den Anschein erwecken ... nämlich – es ist ja wahrscheinlich alles dummes Zeug, lauter Einbildungen ...« er lächelte kindlich, »und dann, ja, dann möchte man natürlich nichts gesagt haben, Sie verstehen, aber – ja –, wenn Sie diese Briefe vielleicht einmal einer Begutachtung unterziehen möchten ... Sie sind, ja, nicht wahr, es sind doch beide Briefe von Eufemia Pawlowna?«
Ohne die Unverständlichkeit der letzten Worte zu bemerken, blickte er mit größter Spannung Herrn Baron an, stand aber dann mit einem Ruck auf und ging nach rechts um den Tisch bis zu mir, wo er ganz in meiner Nähe stehenblieb.
Mein gnädiger Herr las und betrachtete die Briefe einen nach dem andern.
»Ach, Jossip Awgustowitsch«, fing Slaby wieder an, »wenn Sie mich doch verstehen möchten, Jossip Awgustowitsch! Auf einmal bricht alles zusammen. Das Feuer – und die Versicherung – und – das Leben ist ja schon so gräßlich schwer! und – dann kommt man denn auf solche – solche Ideen, nicht wahr? Und – dann habe ich noch mein Darmleiden. Und deshalb – Sie entschuldigen gütigst ...« Er ging hinaus.
Mein Herr winkte mich zu sich. »Was meinst du, Li«, fragte er, »was will er mit diesen Briefen?« Und er lehnte sich im Stuhl zurück, so daß ich neben ihm stehend sie lesen konnte, und ich las die wenigen Zeilen des einen und des andern. Im ersten hieß es ungefähr: »Liebste Sofia! anbei das versprochene Billett für morgen abend, es tut mir schrecklich leid, daß es nur eines wurde, aber die Vorstellung soll so besucht sein. Komme nicht zu spät, grüße Deinen Mann und so weiter. Deine Eufemia.« – Im andern: »Liebste Sofia! Hier das Billett für morgen abend, auch diesmal leider nur eins, sosehr ich mich um ein zweites bemühte. Wir treffen uns im Parkett. Dir und Deinem Mann viele Grüße und so weiter.« – Die Handschrift schien auf den ersten Blick in beiden Briefen die gleiche, etwas schülerhafte Frauenschrift, aber ich sah doch gleich – und sagte es Herrn Baron –, daß die eine nachgemacht war, vermutlich nach der andern. Herr Baron nickte nur, und ich setzte mich wieder.
Wir warteten. Wieder ertönte das Wasserrauschen, eine Tür ging, aber es dauerte noch eine Minute, ehe Slaby zurückkehrte. Er hatte einen Rock angezogen, einen alten Uniformrock, der zu eng geworden war, so daß die Arme wie Würste aussahn; hinten aus dem Kragen stand das Aufhängebändchen empor und vermehrte eigentümlich sein unglückseliges Aussehn. Er trat wieder dicht neben mich, verlegen lächelnd und die Handflächen aneinanderreibend, nichts hervorbringend als ein leises: »Nun?« Mehr bekam er nicht heraus, öffnete nur einige Male den Mund und machte ihn wieder zu. Es war sichtlich: er fürchtete sich schrecklich. Mich selber ergriff etwas von seiner Angst; ich fühlte so gut, was er ausstand, wie er wartete, wie er brennend hoffte, das käme nicht, was – dann kam. Der gnädige Herr räusperte sich.
»Ich beklage es unendlich, Pjotr Kyrillowitsch«, sagte er nun, »daß ich Ihnen vielleicht Dinge sagen muß, die Sie quälen werden.« Slaby bewegte, angstvoll offenen Mundes, den Kopf, drehte das Kinn nach oben, legte dann den Kopf schief und tat, als ob er aufmerksam zuhörte. »Mir scheint«, fuhr mein Herr fort, »nur dieser Brief hier ist von der Dame.«
Slaby starrte steif auf mich herunter. Eine Weile schiens, als wollte er sich einbilden, er hätte nichts gehört.
»Von der Dame ...« wiederholte er endlich kaum hörbar. Dann seufzte er furchtbar auf. »Ja, aber von wem denn?« fragte er, den gnädigen Herrn anblickend, als ob der es wisse.
»Haben Sie keinen Verdacht?« fragte der. Er zuckte zusammen.
»Verdacht?« wiederholte er. »Oh, welch ein Wort, Jossip Awgustowitsch! Ob ich Verdacht habe? Ach, Jossip Awgustowitsch, eine Frau haben, ein so schönes, kostbares Geschöpf, und – und ein Mensch sein wie ich, ein so – ein so – oh, man – ja, nicht wahr? man hat immer Verdacht, sein ganzes Leben lang hat man Verdacht, ja, sein ganzes Leben lang – heiliger ... Verdacht, sagen Sie? Ein – o Gott, o Gott, das kann nur dieser furchtbare Taddeusz Wladyslawowitcz sein!«
Er zitterte am ganzen Leib. Er tat mir so leid! Er war, glaube ich, noch viel furchtsamer als ich selbst. Und nun brach er zusammen, fiel auf einen Stuhl, warf die Arme über den Tisch und weinte.
Als er wieder ruhiger wurde, begann mein Herr ihm zuzureden: es sei ja nichts gewiß, aber natürlich müsse er sich Gewißheit schaffen, das sei ja leicht, die Oper ganz nah, er brauche nur hinzugehn, – und wer denn dieser Taddeusz sei? Sein Gesicht war ganz weiß, als er aufsah, seine Augen flackerten. Er krampfte die Finger beider Hände durcheinander, öffnete und preßte mehrmals in hilfloser Verzweiflung die Handballen zusammen und flüsterte endlich: »Ich werde sie töten müssen. Oh, mein Gott, ich werde es tun müssen, so ist es. Dahin ist es endlich gekommen. Ich werde sie töten, und dann – dann werde ich bereuen. O Gott, o Gott«, schluchzte er, »wie werde ich bereuen!«
Mein Herr griff über den Tisch nach seiner Schulter und rüttelte ihn daran. »Mensch«, sagte er, »wenn Sie schon wen umbringen wollen, so schlagen Sie doch die Kanaille von Taddeusz tot!«
Er hob den Kopf wieder. »Was hilft mir das?« sagte er gequält, »dann nimmt sie ja einen andern.«
Ach, wie gräßlich das war! Welch tiefer Schnitt in die Seele einer Frau! Und auch, welch tieferer in seine eigene Armseligkeit!
Außerdem, meinte mein gnädiger Herr, sei es ja noch längst nicht soweit, und warum denn in den Abgrund stürzen ohne Geheiß? – Und dies schien ihn sehr zu erleichtern.
»Es ist wahr! Natürlich!« sagte er, »Sie haben ja recht, Jossip Awgustowitsch, wir müssen in die Oper. Das heißt, natürlich nur ich, ich muß in die Oper. Es sind immer Billetts zur Oper. Eufemia Pawlowna, wissen Sie, war bei der Oper, daher bekommt sie noch hier und da ein paar Billetts. Ihr Mann ist – aber das – entschuldigen Sie nur gütigst! Wenn ich nur den Mut habe«, schloß er absterbend, »wenn ich nur ...«
Mein gnädiger Herr bat um die Erlaubnis, ihn begleiten zu dürfen, was ihn heftig erschreckte. »Sie sind gar zu gütig, Jossip Awgustowitsch!« brach er flüsternd aus, »gar viel zu gütig! Ich verdiene so viel Güte ja nicht! Ein kleiner, bescheidener Mensch ...« schloß er lächelnd und mit Demut und wiederholte, während das Lächeln erlosch, versonnen, ohne es zu wissen, »ein kleiner, bescheidener Mensch ...« als ob es ihm wohltuend klinge oder rührend.
»Ja, wie spät ist es denn?« fragte er emporfahrend. Ich blickte auf die Uhr und sagte, es sei kurz vor sechs Uhr. Er atmete auf. »Erst sechs! Die Oper beginnt um sieben. Noch eine Stunde, viel Zeit zum Überlegen. Dann können Sie auch überlegen, ob Sie mitfahren, Jossip Awgustowitsch. Ach, nein, wie ist es doch furchtbar, daß Sie an solch einem Tage ... Wenn ich Ihnen nur etwas anbieten könnte! Möchten Sie nicht, bitte, vielleicht noch ein Glas Tee?«
Hier war es wohl, daß die Schlaftrunkenheit sich meiner wieder bemächtigte. Ich weiß noch, daß ich aufstand und taumelte. Plötzlich war nichts mehr.
Erwachend fand ich mich auf dem Sofa, in der Richtung zu den Fenstern liegend, und dort im Schatten suchte Slaby etwas, indem er diesen und jenen Gegenstand aufhob und wieder hinlegte. Auf meine bescheiden geäußerte Frage erwiderte er leise: »Die Zeitung ... ja, wo ist denn nur die Zeitung?« Auch ich wußte es nicht, sah sie aber nun, ins Zimmer blickend, an der Lampe hängen, nahm sie herab und reichte sie ihm. Er faltete sie gleich auseinander, setzte sich an den Tisch und begann zu lesen. Ich aber hatte zu meiner Beschämung sehen müssen, daß mein gnädiger Herr sich an meine Arbeit gemacht hatte und darüber eingeschlafen war, den Kopf auf den Armen. Leider, der Versuch, die Papiere unter ihm wegzuziehn, mißlang, er erwachte und fragte gleich nach der Zeit. Auf meinen Bescheid, es sei fünf Minuten vor sieben Uhr, stand er auf, ging zu Slaby und legte ihm eine Hand auf die Schulter, worauf der zusammenzuckte und zu ihm aufsah.
»Ja, es ist Zeit«, stammelte er, »nicht wahr, das wollen Sie sagen, Jossip Awgustowitsch. Aber sehen Sie nur, was ich da in der Zeitung finde, das heißt – heute morgen fand ich es schon, und ich muß sagen, den ganzen Tag hat es mich – so bewegt. Nein, hören Sie, hören Sie doch nur, wir kommen noch immer in die Oper, hören Sie nur dies – da hat nämlich ein Bauer, ein Knecht bei einem Bauern in – wie hieß noch das Dorf?« er suchte die Stelle in der Zeitung. »Richtig, da stehts ja: Budy heißt das Dorf, es liegt in der Nähe von Tultsin, einen halben Tag von hier – ja, also – er hat vierzehn Menschen umgebracht. Vierzehn! denken Sie bloß! Und denken Sie nicht, daß er ein Mörder war! das heißt – natürlich, ein Mörder, aber – wie soll man das sagen? – nicht aus Bosheit, aus – aus Wollust, aus niedriger Gier. Nein, sehen Sie, es steht alles in der Zeitung. Er wollte nur einen Rubel haben. Er ging zum Bauern am Abend und bat um einen Rubel. Der Bauer sagte, er habe kein Kleingeld. Da sagte der Knecht: Wie? Du willst mir keinen Rubel geben? – Der Bauer hatte wirklich kein Kleingeld, obgleich er sehr reich war, das kommt vor, aber konnte der Knecht das verstehn? Wie? sagte er – hinterher, als er gefangen war, hat er es immer wiederholt, daher weiß man, wie es war – wie? sagte er, du willst mir keinen Rubel geben? Drei Jahre habe ich dir so treu gedient, und nicht einmal einen Rubel? Und – sehen Sie! – da mußten sie alle sterben. Er verstand es ja nicht! In der Nacht ging er hin und hat sie alle erschlagen mit der Axt, Vater und Mutter, zwei Söhne und ihre Frauen, eine Tochter und ihren Mann, und noch sechs Enkelkinder. Oh, es hat geschwommen von Blut, das ganze Haus hat von Blut geschwommen, ja, denken Sie! Er verstand es nicht!«
Mein Herr, der noch sehr schlafmüde schien und am Büfett lehnte, einen Ellbogen aufgestützt, fragte, wie das habe zugehen können.
Pjotr Kyrillowitsch hob das Gesicht wieder von der Zeitung, den Zeigefinger an eine Stelle setzend. »Mit der Axt hat er sie alle erschlagen«, wiederholte er murmelnd. »Wie das hat –? Ja, sehen Sie, das ist so beim russischen Bauern, falls Sie es nicht ... Sie wohnen alle beim alten Vater, und sie schlafen alle in einem Zimmer, zwei, drei in einem Bett, die Kinder zu den Füßen. Da steht auch der große Ofen, auf dem schlafen die ganz Alten und auch noch Kinder. Oh, wissen Sie, was ein russischer Bauer für einen Schlaf hat? Der erwacht nicht, und wenn Sie ihn mit Wasser begießen, bevor – ehe, ich meine – – also –, wenn es nicht die Stunde ist, wo er zu erwachen pflegt. So konnte er sie alle erschlagen. Und zuletzt, sehen Sie –«
»Pjotr Kyrillowitsch«, mahnte mein Herr, »es ist Zeit!«
»Ja, erlauben Sie doch nur! erlauben Sie mir doch gütigst, ich wollte Ihnen ja nur ... sehen Sie, zuletzt, heißt es, wachte ein kleines Kind auf, das in einem Korb schlief, der von der Decke hing, wacht auf und sagt: Waska? was machst du denn hier? – Und das ganze Zimmer schwamm von dem Blut, und er sagte: Jegor! – ja, wie ist es denn«? er bückte die kurzsichtigen Augen auf das Zeitungsblatt – »ach Gott ja, Jegor hieß der kleine Knabe, ganz wie unser kleiner Jegoruschka, sehen Sie mal!« und er las unter strömenden Tränen: »Jegor, sagte er, hast du mich erkannt? Dann mußt du auch sterben ... Oh, Jegoruschka, mein Söhnchen ...«
»Pjotr Kyrillowitsch ...«
Er raffte sich aus seiner Versunkenheit auf. »Ja, aber sehen Sie nur, Jossip Awgustowitsch, Sie verstehen ja noch nicht, nein, wie könnten Sie denn verstehen, warum ich Ihnen ... sehen Sie, dieser Knecht! Er geht –« Der Apotheker bog sich über den Tisch, kroch fast darüber und bewegte, den Unterarm hochstützend, die Hand zum Nachdruck seiner Worte hin und her gegen meinen Herrn, aufblickend zu ihm unter der Hängelampe aus seinen verquollenen Augen: »Er geht zum Bauern und will einen Rubel. Drei Jahre, sagt er. Drei Jahre hat er ihm – so – treu – gedient! Er hat sich nie betrunken, außer am Sonntag. Wie soll er ihn verstehn?« Er senkte den Kopf und schluchzte wieder. »Ach, Sie wissen ja nichts, Jossip Awgustowitsch, aber wie soll ich das verstehn? Drei – nein, elf Jahre! elf lange süße Jahre habe ich sie auf Händen getragen, ich habe – nun, das heißt ja freilich nichts, so arm und niedrig, wie ich bin, so wenig Geld ... aber – das ist es ja nicht, das ist doch nicht die Seele, Herr, die Seele! Und ich habe – elf Jahre habe ich auf den Knien gelegen mit meiner ganzen Seele ...«
Hier war es, daß mein gnädiger Herr mir befahl, zum Kreszczatik zu gehn und einen Schlitten zu holen, so daß ich weiter nichts mehr hörte.
Die Straße war dunkel bis auf das bläuliche Scheinen des Schnees, der sie hochauf bedeckte, aber nicht weit rechts an ihrem Ende sah ich den Schein von Laternen und Schaufenstern einer breiten Straße. Der Sturm hatte sich gelegt, doch war die Luft noch voller Schneestaub. Die breite Straße war zwar der Kreszczatik, und Schlitten genug flogen hin und her, allein kein leerer, und auch alle an den Spuren erkennbaren Halteplätze waren leer, ich mußte lange einherwaten, und erst aus der Funduklejewskaja – dort liegt die Oper – kam mir ein leerer entgegen, mit dem ich zurückfuhr.
Die Herren warteten schon in ihren Pelzen im Laden. Herr Slaby ging, einen steifen Hut auf dem Kopf, den Kragen hochgeschlagen, still und geduckt an mir vorüber. Ich half beim Einsteigen, und noch sehe ich den Apotheker, wie er den Arm um den breiten Rücken meines Herrn legte. Das große und glänzende schwarze Roß im hochstehenden Jochbogen – von dessen Rücken ein schönes, dichtmaschiges und ganz blaues Netz zum Schlitten gespannt war – legte sich vornüber, stampfte, daß es stäubte, trabte an und flog mit ihnen davon.
Mir war trotz meiner Müdigkeit schwer und ängstlich um das Herz, doch dankte ich immerhin Gott, daß mein banges Ahnen, wie ich deutlich spürte, nicht meinen gnädigen Herrn betraf. Die Kälte hatte mich aber ein wenig erfrischt, ich fürchtete mich vor dem öden Haus, ging noch ein paar Schritte weit und erinnere mich, noch lange Minuten vor einem kleinen Fenster gestanden zu haben, in das ich hineinsehen konnte. Es war ein sehr ärmliches Haus, eine Hütte, langgestreckt und ganz niedrig. Die Bank im Fensterinnern war, wie es dort Sitte ist, mit ganz grüner Watte gepolstert, die ich leuchten sah beim Lichtschein im Innern, ebenfalls die künstlichen kleinen Blümchen und bunten Immortellenköpfe, mit denen sie bestreut war. Drinnen brannte ein Licht im blechernen Leuchter auf einem langen Tisch, vor dessen Ende ein kleiner Mensch im Pelz saß, ein Teeglas, aus dem es dampfte, in beiden Händen an den Mund haltend. An der Langseite des Tisches saß eine alte Frau und nähte. Neben und hinter ihr konnte ich Kleider an der Wand hängen sehn und die Kommode mit dem Samowar und Gläsern. Durch ein andres Fenster gewahrte ich ganz hinten in der Ecke den roten Punkt der heiligen Lampe und darüber den großen, bunten Ikon vor einer schönen Draperie von weißen, mit Rot gestickten Tüchern. Ach, wie war das friedlich und schön! Ich sah lange hin. Konnte es nicht der Apotheker sein, der mit seiner Mutter dort saß in einem ruhigen Leben? Und ich bekreuzte mich andächtig vor dem heiligen Bild, wiewohl es nicht meines Glaubens war, allein der Heilige mochte auch in meinem Kalender stehn.
Endlich ging ich wieder in das leere Haus. Im Zimmer stach die Hitze nach meinen Augen – o wie armselig und entblößt es aussah! Ich wollte schreiben, aber wieder kam die Müdigkeit bei der Wärme, und wieder schlief ich ein in meinem Stuhl.
In meinen Traum muß sich etwas gemischt haben vom Zurückkommen des Herrn Slaby und rauschendem Wasser; jedenfalls war ich erwachend erstaunt, ihn im Zimmer zu sehn: er saß in der Mitte des Sofas vornüber, die Ellbogen auf den Knien, die Hände gefaltet. Meine Schreibsachen waren zu Seite geräumt, vor mir stand ein Teller mit Messer und Gabel, und vor mir und links und rechts waren Schüsseln und Teller mit Brot, Butter, Käse und kaltem Aufschnitt. Unter dem Samowar brannte die Flamme; meine Uhr war halb zehn. Gleich darauf betrat auch mein gnädiger Herr das Zimmer. Aus der Art, wie er Herrn Slaby zum Essen ermunterte, auch mich, sich selber setzte und zulangte, glaubte ich entnehmen zu können, daß die Eßwaren von ihm herrührten. Herr Slaby indessen schien nicht gehört zu haben.
Fertig gegessen, und nachdem er seine Zigarre in Brand gesetzt, begann mein gnädiger Herr halblaut in deutscher Sprache zu reden. Das nachfolgende Selbstgespräch mit mir – wie ich es nennen möchte; es war ja nicht das erste – habe ich wohlverwahrt in meinem Gedächtnis gefunden. Während er in der ihm eigenen, reizend verbindlichen Weise mit mir zu plaudern geruhte, versank mein Herr Baron langsam tiefer im Stuhl, die Arme auf der Platte, und an kleinen Rucken des gegenüber an den Tisch geschobenen Stuhls konnte ich merken, daß er die Beine behaglich bis dort hinüber ausgestreckt hatte, und dies schien mir irgendwie tröstlich und beruhigend, ebenso wie seine Art, hin und wieder zur Lampe hinaufzublinzeln.
»Kleiner Li«, fing er an, »was denken wir nun von dieser Sache? Du hast zwar die Frau noch nicht zu sehen bekommen, aber auch ohne das: Gehören wir zu den Leuten, die stets eine scharfkantige und fertige Meinung bei der Hand haben?«
Ich wußte, daß mein Herr keine Antwort erwartete, schwieg demgemäß und hörte ihn bald darauf fortfahren:
»Nein. Wir gehören nicht dazu. Wir sehen nur wieder einmal, wie so kümmerlich vieles ist. Dieser Mann wird schamlos betrogen. Wie kommt er dazu? Er hat – elf Jahre – so treu gedient. Welche Bestie, nicht wahr? die ihm keinen Rubel geben wollte.«
Ich wagte zu äußern, daß ich ihn für einen guten Menschen hielte.
»Sehr wahr, kleiner Li, außerordentlich wahr! Ein sehr guter Mensch. Ja, da ist nun das Gutsein. Li und alle andern meinen, damit sei alles gesagt und getan. Ich fürchte, kleiner Li, es ist damit furchtbar wenig getan. Glaubst du, die Frau hingegen – sie sei schlecht? Wer betrügt, der ist schlecht, das ist so einfach wie: so treu gedient – und keinen Rubel. Aber wie ist das nun? Hat sie betrogen – und ist sie deshalb schlecht? Oder war sie zuerst schlecht und hat infolgedessen betrogen? Ist sie allgemein schlecht oder in diesem Falle allein? Ja, was ist dann schlecht? Nun, kleiner Li, da wir mit Gut und Schlecht nicht so recht weiterkommen, so fällt uns ein Wiener Fiakerkutscher ein. Nämlich, als wir unlängst mit dem wilden Sozialisten Herrn Stepan Tschujew in Wien waren und ich mit ihm in einem Fiaker dieselbe Strecke zurückfuhr, die er allein bis zu mir gefahren war, so verlangte der Fiaker mir fast das Doppelte mehr ab als ihm, und er schalt heftig und fragte: Wissen Sie denn nicht, daß alle Menschen gleich sind? – Und was sagte der Fiaker? – Das sans woll, Euer Gnaden, sagte er, bloß – die Ausdünstung is verschieden.
Die Ausdünstung, kleiner Li, siehst du, von der hängt es ab. Da haben sie elf Jahre lang zwischen diesen Sachen gehockt, die danach schon so zermürbt und zeraltert sind, als hätten sie Jahrhunderte hinter sich. Sollten die Menschen aus anderm, aus härterm, besserm Stoff sein und weniger hurtig sich abgenützt haben? Wäre da irgendeiner von uns aus anderm Stoff als seine Umgebung, so dürfte es weder Rokoko gegeben haben noch Gotik. Gut und schlecht aber war die Menschheit allzeit. Sieh doch diese Sachen an, kleiner Li, was klebt daran? Siehst du all diese Fingerspuren, das Abgesplitterte, das Blinde, das Zerbrochene, und all das Abgeschabte darangestrichen, an die Wände, an dies Büfett und diese Stühle, abgeschabtes Gezänk, abgeschabte Reden, abgeschabte Sorgen, abgeschabte Speisen? – alles kannst du dran kleben sehn und riechen. Elf Jahre saßen sie drin zusammen, schwitzten ihr Leben aus und strichen es, wie die Menschen tun, mit den Händen aus den Haaren an die Kleider, und da sieht mans nun, und da sitzen sie drin. Aber der Mann ist gut. Aber diese wollenen Hemdärmel, aber diese Weste und die fleckige Uniform, die ausgefranste Hose, die ewigen Augen und das Nierenleiden. Es ist nicht das Böse und das Gute, es ist das Leben, und es ist der Dunstkreis, kleiner Li, der so übel macht wie das Seefahren, ist das Schiff auch wacker und der Steuermann ein Held. Freilich: in dem Dunstkreis des Weibes hat er auch gesessen, aber der war doch vielleicht – verschieden, und wie ists mit der Seekrankheit, kleiner Li? Der eine übersteht sie niemals. Dann muß eines Tages der Dunstkreis durchbrochen werden, und das ist nun trübe eingerichtet mit all den Dunstkreisen, daß so wenig leerer Raum zwischen ihnen ist. Einer fließt in den andern, und es ist viel leichter, aus dem einen in einen andern als ins Leere zu gelangen, und es läßt sich eigentlich keiner völlig anders durchstoßen, als indem man in einen andern hineinstößt. Da ist nun dieser Pole. Ich habe ihn gesehn, und als ich nur ein Wort sagte von unserm Pjotr, verschwand er und war nicht mehr zu sehn, bis ich ging. Ob er besser oder schlechter als Pjotr ist, vermag ich nicht zu unterscheiden, aber da er lang und mager, schwarzhaarig ist und einen Kneifer trägt, so war er verschieden, verschieden auch sein Dunstkreis, zum Durchbrechen heißt das auf einige Zeit, und auf die Dauer wäre es derselbe gewesen und alles wie zuvor beim Pjotr. Die Frau – nun, sie muß jeden Augenblick kommen, ich habe ...«
Schon eine Weile zuvor mußte ich bemerken, daß das Augenlid meines gnädigen Herrn begann, ihm den Dienst zu versagen und mehr als einmal zufiel. Trotzdem hatte er die Güte, mir noch einige Mitteilungen zukommen zu lassen, über das, was sich inzwischen zugetragen hatte. Und zwar hatten die Herren Frau Slaby nicht im Theater gefunden und waren daraufhin nach der Wohnung des Herrn Krawtczik, des Polen, hinausgefahren, die vor der Stadt fast in der Nähe des Klosters, bei der Infanteriekaserne lag. Allein Herrn Slabys Mut hatte versagt. Er war zweimal ins Haus und bis vor die Tür hinaufgegangen und war wieder umgekehrt. Endlich schlug mein Herr vor, an seiner Statt hinaufzugehn, und er willigte ein. Richtig traf mein gnädiger Herr die beiden an, hat aber die Frau nicht – unnötig vielleicht – erschrecken wollen und ihr nach dem Verschwinden des Herrn Galans nur gesagt, ihr Mann habe zwar Verdacht geschöpft aus den Briefen, doch habe er, Jossip Awgustowitsch, diesen Verdacht wieder ziemlich beseitigt. Dem wartenden Pjotr Kyrillowitsch unten hat er die Wahrheit gesagt, worauf der stillschweigend den Schlitten bestiegen hat und mit ihm davongefahren ist.
Herr Baron schien eingeschlafen. Ich saß, in rechter Beängstigung muß ich sagen, nicht lange, bis die Flurtür zum Laden aufgemacht wurde und gleich darauf Frau Slaby eintrat.
Sie war groß, hatte krauses blondes Haar, und ihr flaches Gesicht mit den langgeschlitzten Augen und hervorstehenden Backenknochen erschien mir recht häßlich, aber ich verstehe davon nichts, und wie mein gnädiger Herr mir später sagte, ist in ihrem Gesicht etwas gewesen, was die Männer zu reizen pflegt. Ich habe sie auch kaum angesehn, und nur weil ihr Kleid, als es unter dem Pelzmantel, den ich ihr abnahm, zum Vorschein kam, so rot und glänzend war, weiß ich, wie sie gekleidet und daß sie ausgeschnitten war. Sie hatte auch so abstoßende Bewegungen, und wie sprach sie eintönig und nachlässig! Viel sagte sie nicht, mein gnädiger Herr war aufgestanden, auch Pjotr Kyrillowitsch erhob sich, trat an den Tisch, umspannte die Stuhllehne vor ihm mit den Händen und lächelte fortwährend, während sie ein paar Bemerkungen über die Vorstellung machte und ihre große Müdigkeit.
Plötzlich – ich erschrak fast – veränderte sich alles vor meinen Augen. Es wurde ganz dämmrig, es war so seltsam, als würde alles verwandelt und sollte verschwinden. Am Geruch aber merkte ich dann, daß es nur die Lampe war, die versiegen wollte. Auch die Frau bemerkte es nun und sagte etwas von Petroleum zu ihrem Mann, was dieser jedoch nicht zu hören schien, so daß ich mich zur Tür wandte, um vielleicht etwas zu finden. Noch im Weggehn sah ich, wie sie ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr und etwas murmelte von »mein Kraftwein« und »unterdessen das Haar machen«, worauf ich den Flur hinunterging, auch die Küche fand und in der Küche eine Petroleumkanne mit einem kleinen Rest Öl.
Als ich wiederkam, war es noch dunkler geworden. Am Tisch, ganz steif, saß mein gnädiger Herr; ob er wirklich schlief, wie es mir vorkam, konnte ich nicht erkennen, da mir nur die schwarz verhüllte Seite seines Gesichts zugewandt war, doch weiß ich noch, daß sie mir nie so unheimlich erschienen ist wie in diesem Augenblick. Und da sah ich Herrn Slaby etwas tun.
Er stand vor dem Büfett, hatte eine Tür darin geöffnet, eine Weinflasche hervorgenommen und sie, halb sich umwendend, schräg gegen das Licht gehalten, um zu sehn, was drin war. Und nun füllte er ein Weinglas aus ihr, und dann hatte er auf einmal eine kleine Flasche in der Hand und ließ Tropfen daraus in den Wein fallen.
Ich konnte mich nicht bewegen, so zog mein Herz sich zusammen vor Schreck. Herr Slaby drehte sich langsam um und setzte, ohne mich wahrzunehmen, das Glas auf den Tisch, wobei er anstieß und etwas verschüttete. Ich bekam es fertig, mich zu räuspern, aber auch das bemerkte er nicht. Und mein gnädiger Herr, schlief er denn wirklich? Ich setzte die Kanne nieder, ging leise um den Tisch und sah: sein Auge war geschlossen. Da rührte ich ihn an, er schlug das Auge auf, und ich flüsterte deutsch, auf das Glas deutend: »Er hat etwas hineingetan!« – Da nickte mein gnädiger Herr unmerklich, und ich atmete auf.
Jetzt konnte ich im Nebenzimmer die Frau hören. Sie ging hin und her, ich vernahm das Rauschen von Kleidern, dann daß ein Stuhl gerückt wurde, dann das leise Klirren von Nadeln, die in eine Schale gelegt wurden.
Plötzlich machte Herr Slaby, der am Büfett lehnte, eine Bewegung und streckte die Hand nach dem Glase aus, zog sie aber zurück und lächelte einfältig. Dann schlug er die Hände zusammen und fing an, in dem kleinen Raum, der von Möbeln frei war, hin und her zu gehn. Oh, wie wußte ich da, was in ihm vorging! Wie sie schon in ihm siedete, die Angst, die Angst vor dem Augenblick, wo sie trinken würde! Ich sah seine Augen, deren Blicke hin und her fuhren ohne Halt, und wieder reckte er die Hand nach dem Glase. Im Nebenzimmer ertönte das Scharren eines zurückgeschobenen Stuhls. Da setzte er sich am Tischende, starrte auf das Glas, legte die Hände flach auf das Tischtuch, und zog sie darüber hin, als wollte er sie trocknen. Drinnen gingen Schritte, kamen näher, mein Herz klopfte ganz rasend, sie entfernten sich wieder, ich konnte ihn nicht ansehn, ich starrte blind meinen gnädigen Herrn an, der immer noch dasaß mit geschlossenem Auge, und nun war es so dunkel geworden, daß alles verschwamm. Zitternd, beruhigte mich doch nun wieder der Gedanke, daß es ja nicht geschehen würde, daß ja mein Herr alles wußte ...
Und plötzlich kamen wieder die Schritte, die Tür ging auf, sie stand darin, ganz weiß aussehend in, ich weiß nicht was für einem Kleid.
Ich glaubte, sie lachte ein wenig und sagte etwas von der Dunkelheit. Und dann fragte sie nach ihrem Wein. Ich sah, daß er jetzt die Hand daran gelegt hatte.
»Da steht es ja«, sagte sie, »willst du mirs nicht geben?«
Seine Worte waren nicht zu verstehn. Auch mein gnädiger Herr sah ihn nun an, wie er den Kopf ganz tief senkte, und ich fühlte, er verging vor Angst, aber – Gott sei Dank, ich war ruhig, mein Herr sah ja alles und wußte!
»Wie gelungen du bist«, sagte sie, »gib doch mein Glas her.« Da stand er ungeschickt auf, so daß fast der Stuhl hinter ihm fiel, und fing an zu sprechen.
»Nein – nein!« sagte er. »Ich will dir vielleicht zutrinken. Ich muß sehen, wie der Wein schmeckt, den du trinkst. Es könnte etwas in dem Wein sein ...« Er lächelte, während seine Hand so zitterte, daß der Wein überfloß und tropfte. Er machte eine Bewegung vor, als wollte er ihn auf den Tisch setzen, aber gleich darauf hatte er das Glas an den Lippen und trank es aus.
»Ja – so ...« sagte er erschrocken, »nun habe ich deinen Wein ausgetrunken.«
Ich mußte mich am Tisch halten. Ich starrte nur die Frau an, die den Kopf schüttelte und etwas murmelte, das ich nicht verstand. Ganz laut aber hörte ich die Stimme ihres Mannes, als er sagte:
»Aber warte, ich will dir dafür ein Glas Wasser holen.«
Unser aller Augen – was fesselte auch die ihren? – folgten seiner so seltsam steifen Gestalt, als sie sich umdrehte, die Tür öffnete und hinter der wieder zufallenden verschwand. Wir hörten seine Schritte auf dem Flur sich entfernen. Dann ging die Küchentür, und gleich darauf begann dort die Wasserleitung zu sprudeln.
Sie hob die Hände zu ihrem Haar und nestelte daran, wie ich andre Frauen habe tun sehn, wenn sie unschlüssig waren oder warteten, doch ganz fragend und scheu waren ihre Augen dabei auf das eine Auge meines Herrn gerichtet, das unverwandt gegen die ihren eingestellt war.
Ganz finster war es nun; nur noch die Lampenkuppel schwebte in der Höhe über uns, bleich scheinend.
Er kam nicht wieder. Die Wasserleitung rauschte immerfort.