Agnes Sapper
Die Familie Pfäffling
Agnes Sapper

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10. Kapitel

Ein Künstlerkonzert.

Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausübte.

Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten. Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.

Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich.

»Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen,« sagte der General, »um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!«

Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig anredete. »Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit mir hier herein zu kommen?« fragte er, die Türe eines Zimmers aufmachend. »Ich wohl,« sagte Herr Pfäffling, »aber Sie sind heute wieder vollauf in Anspruch genommen?«

»Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation.«

»Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen habe. Was schreibt Ihr Sohn?«

»Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern schildert.« Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.

»Ich will Sie nicht länger aufhalten,« sagte Herr Pfäffling. »Ihre Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das Telephon.«

»Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich im Konzertsaal abspielt.«

Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: »Nur Zimmerbestellungen,« sagte er, »es ist aber schon alles bei mir besetzt oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling.«

Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte. Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen. Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre Kinder sorgten sie sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.

Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die Stunden beilegen wollten.

Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch dazu zu überreden. »Nein,« sagte er, »ich säße nur mit schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man nicht bitter werden!«

»Bitter?« wiederholte Frau Pfäffling, »du und bitter? Das ist gar nicht zusammen zu denken.«

Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.

Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen, aber er sagte vor sich hin: »Das gibt eine öde Zeit, wenn sie für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden.«

Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen.

Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. »Ich bin in Verzweiflung,« sagte sie, »unser Edmund ist heute gar nicht in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!«

»Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau,« versicherte Herr Meier, und verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also auch dieser Wunsch. »Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?« fragte er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder dieses Mannes sicherlich sein. Er ging zum Portier: »Schicken Sie sofort eine Droschke zu Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber rasch!«

So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, und der Kutscher richtete aus: »Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider sei.«

Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. »Wie kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er kreuzfidel würde!«

»Gut,« sagte Herr Pfäffling, »wenn es dir so leicht erscheint, wirst du es auch zustande bringen. Und Frieder?«

»Der ist zu still,« sagte die Mutter, »eher würde ich zu Elschen raten. Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem niedlichen Gestältchen.«

»Meinst du?« sagte Herr Pfäffling zweifelnd, »ist sie nicht zu schüchtern? Wir wollen sie fragen.«

Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte bittend: »Leise, leise, mein Kind ist krank!« Sie war herzig anzusehen. Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: »Ein wirkliches, lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?«

»Freilich,« sagte Elschen mitleidig, »mein Kind schläft jetzt, da kann ich schon fort.«

Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.

Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: »Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden.« Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. »Ganz wie sein Vater, langbeinig, hager und flink,« dachte er und sagte befriedigt: »Nun kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch.«

Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das »Herein«, statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. »Aber Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?« »Was soll ich denn sonst tun?« hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: »Der muß freilich arg Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein kommen.« Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte, aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das »herein« war erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte und sagte: »Wie macht man denn das?«

Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte, ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu der jungen Frau: »Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen herein, bloß heute, weil er lustig sein will.«

»Ein süßes Kind,« sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. »nun ist Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden.« Das Fräulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen.

Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die ihn viel älter erscheinen ließen.

Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. »Mit dir möchte ich gerne tanzen,« sagte er, »kannst du tanzen?«

»Ja,« sagte die Kleine zuversichtlich.

»Was willst du tanzen?«

»Was du willst,« antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte.

»Also Walzer,« entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum Tanz führen.

»Warte ein wenig,« sagte Elschen, »Wilhelm muß mir das erst vormachen.«

Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu machen.

»Bei Walzer zählt man drei,« sagte er zur Schwester, »ich will dir einen Walzer vorpfeifen.«

Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter die Türe, sie sahen belustigt zu. »Eine solche Nummer sollten wir in unserem Programm heute Abend einschalten,« sagte er scherzend zu seiner Frau, »das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?« fragte er das Fräulein. Sie wußte es nicht.

»Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide.«

Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle. Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der Mutter hatten nur Tränen zur Folge.

Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. »Du mußt doch vorspielen,« sagte er, »viele Hunderte von Menschen hier freuen sich schon so lange auf das Konzert!«

»Geht ihr auch hin?« fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, sagte er eifrig zu seiner Mutter: »Die Beiden sollen zu mir in das Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so langweilig, während du singst und Papa spielt.«

Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. »Wir können nicht kommen,« sagte er. »Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele Aufgaben für morgen.« Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: »Wenn er nicht kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut.« Es sah auch tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief den Vater zu Hilfe. »Sieh doch nur,« sagte sie, »wie Edmund verweint und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, heute abend.«

Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: »Wir wären sehr froh,« sagte er, »wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst.«

Bei dem Wort »Freibillet« hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! »Ja,« rief er, »ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch arbeiten!« Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen zum Lachen überging, sagte er zu diesem: »Könntest du nur dabei sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du so!« und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: »Nun führen Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist,« und dem Kinde redete sie gütig zu: »Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute abend Wilhelm zu dir.« Darauf hin folgte der Knabe willig dem Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. »Das Konzert ist in der Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer fragen.«

»O, ich weiß es gut,« sagte Wilhelm, »neben dem Garderobezimmer liegt es.«

Der Künstler wunderte sich. »Du bist ja zu allem zu brauchen,« sagte er, »woher weißt du das Zimmer?«

»Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort abgeholt.«

»Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser Konzert?«

»Nein,« sagte Wilhelm, »aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich mehr darüber freuen, als mein Vater!«

Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen »ja, ja!« und dabei schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder entlassen.

Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; »Jetzt nur schnell, schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!«

So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die Freitreppe vor dem Hotel.

»Halt,« rief er, »wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren.« Wilhelm wollte nicht. »Nein, nein,« sagte er, »wir springen schnell und kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten.« Aber die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des Knaben und hielt ihn zurück. »Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen holen.« Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.

»Das sind große Koffer, nicht?« sagte der Portier zu ihr, »die reisen bis nach Rußland.«

»Dann gehören sie dem General,« sagte Elschen, »der in der nächsten Woche nach Berlin reist.«

»Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen.«

»Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben.« Der Portier sah erstaunt auf die Kleine. »Das wäre das neueste, wer hat denn das gesagt?«

»Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren.«

»Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke.«

Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen, dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die Frühlingsstraße ein. »Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle auslaufen und ihn suchen,« sagte Wilhelm, »Karl und Otto, Marianne und Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu rechter Zeit bekommen!«

In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: »Sie kommen!« Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: »Das können die Kinder sein, ob sie wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie, singen, Klavier oder Violine?« Das mußte er doch gleich fragen, also: die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: »Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit kommt ein Zug an.« Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen seiner Kinder: »Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler selbst!« Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte, enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf »Cäcilie!« der durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.

Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. »Da hat es wieder so pressiert,« sagte sie vor sich hin, »daß sich keines die Zeit genommen hat, auf das Kind zu warten,« und sie reichte ihm die Hand und schloß für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und sagte, auf der Treppe zurückblickend: »Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!«

»Wirklich?« sagte Frau Hartwig, »dann bringe du mir nur bald die dicken Teppiche, damit ich sie legen kann.«

Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem kleinen Violinspieler. »Wenn das Kind sich unwohl fühlt,« sagte sie zu Wilhelm, »so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter Laune erhalten können!« Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert richteten. »Wenn der Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will,« sagte Frau Pfäffling zu Wilhelm, »so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen Leiden.« Da mischte sich Elschen ein: »Er ist ja gar nicht krank, er hat ja mit mir getanzt.« »Freilich, und gelacht,« sagte Wilhelm, »und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm.«

So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet nachträglich zu verdienen.

Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. »Sieh, da kommt dein kleiner Freund,« sagte Edmunds Vater, der Wilhelms bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. »Aber er macht ja keine Purzelbäume,« entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.

»Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich,« sagte der Vater. Im Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: »Ich habe einen kleinen Kreisel für Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?« »Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird,« sagte das Fräulein, »jetzt hat er noch seine Mama.« Ein paar Augenblicke später kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. »Ist es Zeit, Herr Weismann?« frug ihn der Künstler. »Ja, wenn ich bitten darf.« Die anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: »Du gehst hierhin, zu Wilhelm,« die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer.

Weismann trat zu dem Kleinen heran: »Die dritte Nummer des Programms hat unser kleiner Künstler,« sagte er, und auf die bereit gelegte Violine deutend, fragte er: »Ist dein Instrument schön im Stande?« Edmund antwortete nicht.

»Ich denke wohl,« sagte statt seiner das Fräulein, »sein Vater hat vorhin darnach gesehen.«

»Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen sollst, wenn du spielst?« fragte der Herr, »du weißt doch noch, nicht ganz dicht am Flügel?« Es erfolgte wieder keine Antwort.

»Aber Edmund, wie bist du heute so unartig,« sagte das Fräulein, »wenn dich Papa so sähe!« Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. »Sei nur zufrieden, Kind,« tröstete sie, »du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!« Sie trocknete ihm die Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein Beifallssturm dröhnte aus dem Saal.

»Nun ist Mama fertig,« sagte er und sah nach der Türe. »Nein, sie muß noch einmal wiederholen,« fügte er nach einer Weile gespannten Horchens hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. »Bei mir ist das auch manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß.«

»Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?« fragte Wilhelm, »so etwas habe ich noch gar nicht gehört.«

»O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es nachher schon hören,« sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: »Sieh Mama, was ich kann?« Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: »Gottlob, daß er vergnügt ist!« und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm.

Im Saal erklang der Konzertflügel.

»Nach Papa kommst du an die Reihe,« sagte die junge Mutter und sich an das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: »Wie mir immer angst ist, wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie anfangen sollen.« Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: »So sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine Sache immer gut gemacht.«

»Aber heute wird es anders werden,« flüsterte die Mutter, »hat er nicht auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen Sie, Fräulein!«

»Vom Kreiseln,« sagte sie, »er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen lassen.«

»Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen nicht müde sein vor dem Violinspiel.«

Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also mußten ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen.

»Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama,« sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: »Sieh ein wenig durch den Türspalt, wie er seine Sache macht!«

Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes, freundliches »Danke!« rufen.

In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.

Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen vermocht, daß er noch einmal vorspiele.

Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.

»Laß nun einmal die zärtlichen Worte,« sagte der Künstler zu seiner Frau, »sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund reden.« Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die Augen.

»Du bist heute abend krank, Edmund,« sagte er, »und möchtest lieber zu Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst.« Und er nahm das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. »Vater,« fragte leise der Kleine, »haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um.«

»Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt,« sagte ruhig und bestimmt der Vater.

Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte sich der Vater an das Publikum: »Ich bitte es dem zarten Alter des Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von Mendelssohn vorspielen.« Ein freundliches Klatschen bezeugte die Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die Freude verkürzt wurde. »Nun mach es um so besser,« flüsterte der Vater noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.

»Wie er das Kind anschaut,« dachten manche der Zuhörer, aber die meisten hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel.

Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing.

»Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett,« sagte der Vater zu dem Fräulein, »Wilhelm begleitet Sie hinüber zum Droschkenplatz, nicht wahr?«

Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen.

Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine Geigenspieler sei an den Masern erkrankt.

Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.

Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.


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