Felix Salten
Florian – Das Pferd des Kaisers
Felix Salten

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Zwei Jahre später brach alles zusammen. Das Reich, der Kaiserthron und der Krieg. Jetzt lernte Florian die erbärmliche Mühsal des Daseins kennen.

Schon während der beiden düster hinschleichenden Jahre war es still und öde im Marstall geworden.

Nur wenig Hafer war noch übrig, zuletzt gab es gar keinen mehr. Man merkte an dem Aussehen der edlen Tiere, daß sie schlecht genährt waren. Doch der Hunger wütete im Volk weit schlimmer. Kinder starben an Entkräftung und waren doch fähig und von Gott dazu bestimmt, aufzublühen und kraftvoll heranzuwachsen. Da blieb für die Tiere kein Mitleid übrig.

Die Menschen wurden stumpf vor Grauen, Jammer und Entsetzen. Doch tiefer, auf dem Grunde ihrer Stumpfheit, glühte Erbitterung. Nur sehr wenige fühlten mit den Tieren, mit der Unschuld der stummen, stumm-leidenden Geschöpfe Erbarmen.

»Die Pferde braucht man nicht mehr«, sagte Konrad Gruber, der müßig die Ställe durchwanderte. Er blieb bei Florian stehen und streichelte ihm die abgemagerte Flanke.

»Mich, mein braver Florian«, flüsterte er, »mich braucht auch keiner mehr.«

Gruber war gesprächig geworden, aber er sprach nur zu sich selbst und zu den Leibpferden des toten Kaisers.

Florian wandte ihm das Haupt zu. Gruber faßte ihn an dem Haarbüschel, das zwischen den Ohren niederhing. Florian schaute Gruber voll ins Gesicht. Gruber sagte in diese fragenden, dunklen Augen, deren Blick ihn erschütterte: »Nein, nein! Da ist alles Warten vergeblich. Anton kommt nimmer! Dem ist jetzt wohler als uns zweien. Der hat's überstanden.«

Florian stieß ihn mit der Nase vor die Brust. Ganz leicht, zutraulich und in aller Freundschaft. Doch es war nicht mehr Neckerei, nicht mehr heiteres Spiel des Übermuts, sondern flehentliche Bitte um Hilfe.

Gruber schaute lange in diese dunklen, großen, seelentiefen Augen, die zu weinen schienen. Er preßte die Lippen zusammen, atmete schwer und flüsterte dann: »Ja, ja, mein Guter, wir sind fertig, wir zwei. Ganz fertig.«

Der junge Kaiser fuhr im Auto und im Sonderzug. Pferdewagen benützte er nicht. Zuerst wohnte er im Schloß Laxenburg. Er mied die Hofburg, und die Wiener bekamen ihn nur selten zu Gesicht.

Als die Katastrophe hereinbrach, zog er sich mit Frau und Kindern auf das Jagdschloß Eckartsau zurück. Von dort reiste die kaiserliche Familie ins Ausland.

Die Pferde des Marstalls wurden versteigert.

Alle.

Es gab keinen Kaiser mehr. Keine Hofhaltung. Keinen Marstall.

Also!

Von seinem kleinen Kämmerchen, darin er hauste, draußen am Rand der Stadt, kam Konrad Gruber zur Versteigerung. Er war alt geworden, hatte seine aufrechte Strammheit verloren. Ein zermürbter, zerbrochener Mann, der sich nicht zugestehen wollte, daß er zermürbt und zerbrochen war.

Die Händler, die Kutscher, die sich eingefunden hatten, brachten ihm Pietät und Hochschätzung entgegen. Länger als dreißig Jahre Leibkutscher des Kaisers Franz Joseph, das wußten alle. Ihre Gesinnung hing immer noch an dem alten Kaiser, wenn sie das heute auch nicht laut sagen wollten.

Zu dem Fiaker Lorenz Schleinzer stellte sich Gruber, deutete auf Florian und flüsterte heimlich: »Folg mir und kauf den Schimmel! Ein besseres Roß gibt's nicht!«

Schleinzer horchte der klugen Schilderung, die Gruber von den Vorzügen Florians entwarf: Lieblingspferd Franz Josephs, vor dessen Wagen es immer gespannt wurde, unvergleichlicher Traber, weichmäulig, dem leisesten Zeichen gehorsam.

Als Schleinzer Florian erstanden hatte und fortführte, rief Gruber ihm noch zu: »Das sag' ich dir – keine Peitsche! Schläge ist Florian nicht gewohnt, und er verträgt sie nicht.«

Schleinzer wehrte ab, als hätte man ihn einer Ungeheuerlichkeit verdächtigt. »Aber, Herr von Gruber! Was glauben's denn von mir? Ich schlag' doch meine Rösser nie!«

Konrad Gruber nickte, zog den Hut tief in die Stirne, preßte die Lippen fest zusammen und ging.

Lorenz Schleinzer war ein gutmütiger Mann, nahe an die Fünfzig. Ein Mensch, der allen Leuten, der auch seinen Zugpferden freundlich geneigt schien, der das Wohlbehagen liebte, und bei dem zum Wohlbehagen stets ein oder zwei Liter Wein gehörten. Wenn er aber zwischen Nüchternheit und Trunkenheit balancierte, geriet er regelmäßig, sooft er allein war, in wilden, gegenstandslosen Zorn. In diesen plötzlichen Wutanfällen wurde er zum Tierquäler.

Anfangs ging es ganz leidlich. Die veränderte Umgebung hatte für Florian freilich ihr Schmerzliches. Der enge, armselige, dunkle Stall, darin eine verbrauchte, eingesperrte Luft das Atmen schnürte, unterschied sich keineswegs angenehm von den Prachträumen, die Florian gewohnt war. Es gab so wenig Stroh, daß der kalte, harte Ziegelboden kein Ausruhen zuließ. Florian mußte warten, bis der Bursche, ein mürrischer, alter Kerl, ihm einen Kübel Wasser vorhielt. Oft konnte das Tier seinen Durst nicht völlig löschen, weil der Bursche den Kübel einfach wieder wegzog, wenn er meinte, nun wäre es genug.

Nur noch zwei Pferde standen im Stall, der für fünf Raum hatte, ein struppiger Eisenschimmel, blind und dumm geworden, der an den Gefährten keinen Anteil nahm, und eine Fuchsstute, eine boshafte, kränkliche Kreatur.

Als Florian den Eisenschimmel, der Hansl hieß, begrüßte, erhielt er keine Antwort. Die Stute, die den nicht eben passenden Namen Liebchen trug, biß nach Florian zum Willkomm.

Sehr hart wurde Florian die Arbeit, die er leisten mußte.

Eingespannt, den Zaum im Maul, den er niemals so lange auf der Zunge erduldet hatte, hielt er auf den Standplätzen still. Stunden um Stunden. Im Regen, im Sturm, im Frost wie in der brütenden Sonne.

Eine oder zwei dünne Decken boten kaum genügenden Schutz vor der Kälte. Strömte der Regen nieder oder fiel Schnee, so wurden Kopf und Hals triefend naß. Und in die Beine zog eine schmerzende Starrheit.

Noch mehr Beschwerden erwuchsen ihm aus dem Verhalten des Eisenschimmels, wenn er mit ihm zusammen den Wagen zog, weil Hansl gar zu gern im Schritt ging oder in einer schwachen Andeutung von Galopp. Dann schnalzte dem Hansl die Peitsche um Hals und Ohren, und kleine Schmitze trafen manchmal auch Florian.

Kritisch wurde die Sache aber, wenn Florian mit Liebchen im Geschirr ging. Liebchen tat so, als wäre es ihr unmöglich, mit Florian gleichen Schritt zu halten. Sie fing immer wieder von neuem an, das Tempo zu verändern. Sie sprang und zerrte und hopste schließlich einen lächerlichen Galopp. Schleinzer begann sie daraufhin zu prügeln, was Liebchen veranlaßte, nach Florian zu schnappen.

Eines Tages, es hatte geregnet, und Liebchen wollte wieder ihre Galoppaden aufführen, stürzte sie auf dem glitschigen Asphalt. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken nach außen. Sofort schlug sie wie rasend um sich. Florian merkte, daß Liebchen ihn treffen wollte, und rückte von ihr weg. Sie dachte gar nicht daran, sich zu erheben, strampelte nur wie toll mit allen vieren und streifte richtig Florian am Schenkel. Da löste ihm auch schon Schleinzer, der vom Bock gesprungen war, die Stränge. Es war die Rettung. Liebchen hätte ihn sonst sicherlich zum Krüppel geschlagen.

Diesmal brauchte Lorenz Schleinzer keine Trunkenheit, um in Wut zu geraten. Der Schreck und das Benehmen der Stute reichten dazu. Als Liebchen wieder aufrecht stand, traktierte er die Stute mit sausenden Peitschenhieben. Ein paar davon zuckten dem schuldlosen Florian über Schulter und Kruppe. Nie gekannter Schmerz durchfuhr ihn, zugleich mit dem Gefühl, demütigendes Unrecht zu erleiden. Fassungslos blieb Florian stehen, war nicht vorwärts zu bringen und stampfte nur verzweifelt mit den vier Hufen.

Schleinzer erinnerte sich rechtzeitig der warnenden Worte Grubers. Er stieg rasch vom Bock, ging zu Florian und wollte ihn an Stirn und Nüstern streicheln. Der Schimmel aber warf das Haupt hoch, starrte entsetzt, verstört ins Weite, und Schleinzer mußte ihn am Zügel zu sich niederzwingen.

»Na, na«, murmelte er beschwichtigend, »na, na, es war nicht so arg, gelt?«

Florian, rasch versöhnt, schnaubte laut.

Aber es geschah dennoch wieder. Einige Tage später war Schleinzer angetrunken. Er schlug in grundlosem Zorn, laut schimpfend, auf die Pferde los.

Der Eisenschimmel, diesmal mit Florian im Gespann, bot seine äußerste Kraft auf, um den Herrn zufriedenzustellen. Aber Florian blieb einfach stehen.

Hieb auf Hieb prasselte ihm über den Rücken, in die Weichen, um die Ohren. Keine Stelle gab es an ihm, die nicht wie eine offene Wunde brannte. Der ganze, von Entbehrungen geschwächte Leib Florians flammte in ungeheurem Schmerz. Und seine Seele flammte in bitterster Scham. Er rührte sich keinen Schritt vorwärts. Er wäre eher gestorben, als sich dazu zwingen zu lassen.

Die Fahrgäste murrten. Schleinzer raste. Er schlug grimmiger zu. Da bäumte sich Florian, hob sich eine Sekunde beinahe senkrecht empor, ließ sich auf die Vorderbeine fallen, klemmte den Zaum zwischen die Zähne und begann, das Haupt tief gebeugt, auszufeuern.

Seine Hufe donnerten gegen das Wagengestell, gegen den Kutschbock.

»Was für einen stützigen Gaul haben Sie da?« rief es aus dem Coupé, »der gehört ja zum Schinder!«

Schleinzer mußte nachgeben.

Florian ging wieder. Doch versöhnen ließ er sich nicht.

Lorenz Schleinzer hatte chauffieren gelernt und die Prüfung bestanden. Nun steuerte er seinen Kraftwagen durch die Straßen, in denen Pferdegespanne so selten geworden waren, daß die Leute stehenblieben und sie anstaunten. Schleinzer war zufrieden. »Das ist ein anderes Geschäft«, sagte er, weil jetzt kaum eine halbe Stunde verstrich, ohne daß ein Fahrgast ins Taxi stieg.

Florian stand einsam im Stall und hungerte. Den Eisenschimmel hatte der Schinder geholt, Liebchen fiel dem Pferdefleischhauer zum Opfer.

Doch Florian sah immer noch stattlich aus, und Schleinzer empfand eine unüberwindliche Scheu, sich des kaiserlichen Tieres schnöde zu entledigen. »Kruzitürken«, murrte er, sooft er Florians Krippe mit Häcksel füllte, »was fang' ich nur mit dem verdammten Roß an? Man kriegt ja heutzutage nix dafür. Gar nix kriegt man.«

Da brachte der Zufall die Lösung, brachte für Florian Erlösung. Schleinzer führte ein Liebespaar in den Wiener Wald hinaus. Die beiden wollten nicht allzu weit fahren, nur unter Bäumen allein spazierengehen und dann zu Abend essen.

Schleinzer fuhr an den letzten Heurigenschenken von Sievering vorbei, aufwärts gegen den Hermannskogel. Wo die Straße nach Weidling abzweigte, hielt er die Richtung nach Scheiblingstein. Er fuhr einfach drauflos. In der Nähe eines Gehöfts wurde Halt befohlen.

»Warten Sie hier«, gebot der Herr und half seinem Mädchen beim Aussteigen, »wir gehen ein bißchen und kommen bald zurück.« Die beiden entfernten sich, schlugen den Fußsteig ein und verschwanden.

Allein geblieben, begann Schleinzer sich zu langweilen. Er kletterte vom Wagen, trat an die Staketentür des Gehöfts und brüllte: »Hallo!«, bis schließlich ein Mann erschien und fragte, was los sei.

»Kann man etwas zu trinken kriegen?« erkundigte sich Schleinzer.

Der Mann erwiderte, daß er kein Schankrecht besitze, lud aber Schleinzer ein, hereinzukommen, er wollte ihn gern mit einem Gläschen Schnaps bewirten.

Sie saßen beisammen vor einem breitbehaglichen Bauernhaus, und der Mann, dem es anscheinend angenehm war, Besuch zu haben, wurde gesprächig.

Er hatte den Krieg mitgemacht, jawohl. Vom ersten bis zum letzten Tag. Und nichts war ihm geschehen. Zu seinem Glück ging das ganze vier Jahre dauernde Ringen aus. Wirklich zu seinem Glück. Als er heimkehrte, als er der Frau, die da hauste, die Nachricht vom Tode ihres Mannes brachte, war er gleich hiergeblieben, hatte bei der Arbeit geholfen und die Witwe nach einigen Monaten geheiratet. Er, ein armer Stallknecht, er, Karl Wessely, der nicht damit rechnen durfte, wieder in den kaiserlichen Dienst aufgenommen zu werden, weil es ja keinen Kaiser mehr gab.

Jetzt aber gehörte das schöne Anwesen hier ihm, dem Karl Wessely, oder so gut wie ihm. Denn, sapperment, er war der Herr im Hause! Er zeigte in die Runde. Sechs Kühe standen im Stall. Viele Hühner liefen umher. Gänse zogen ihre Straße zu einem schmalen Bach, der das Bauerngütel durchrieselte. Milch lieferte Wessely in die Stadt, Butter, Eier jeden Tag, dann und wann Geflügel.

Lauernd erkundigte sich Schleinzer, wie denn diese Lieferungen besorgt würden.

Ja, du lieber Gott, gestand Wessely, früher, vor dem Krieg, habe es hier ein Pferd gegeben. Der Streifwagen sei heute noch vorhanden. Aber jetzt übernehme es der benachbarte Gastwirt, die Sachen zu Markt zu bringen. Freilich nicht regelmäßig.

Schleinzer begann: »Sie, ich hätt ein Roß, das ich nimmer brauchen kann. Ein prachtvolles Roß! Ein Lipizzaner! Billig, sag' ich Ihnen, ein Gelegenheitskauf.«

Wessely stutzte: »Ein Lipizzaner?«

»Ein echter«, sagte Schleinzer, »ein Hengst. Wissen S', früher hat er den Wagen vom Kaiser Franz Joseph gezogen!«

Wessely sprang ins Haus: »Mali! Mali! Komm schnell!«

Eine dürre, abgearbeitete, vor der Zeit gealterte Frau erschien und betrachtete Schleinzer mißtrauisch. Als sie hörte, was werden sollte, meinte sie, man müsse den Gaul zuerst sehen.

Wessely schilderte ihr die Lipizzaner, bezog sich auf viele seiner Erzählungen und entwickelte die Vorteile, die sich ergeben würden, wenn sie täglich nach Wien zu Markt fahren könnten.

Frau Mali gestand zu, daß ein Pferd wünschenswert sei. »Aber gesund muß es sein!«

»Dem Roß fehlt nix«, bemerkte Schleinzer trocken.

»Na gut«, entschied Frau Mali, die in ihren Mann verliebt schien und bereit, nach seinem Willen zu tun, »na gut! Du verstehst doch was von Pferden, geh hin und schau dir das Viech an.«

So gelangte Florian in den Besitz der Eheleute Karl und Amalie Wessely.

Florian stand auf der Wiese und atmete den Grasgeruch, den Duft des Waldes. Er empfing nach langer Zeit wieder freundliche Worte, wurde nach langer Zeit wieder gestreichelt. Ein leises Gefühl von Glück regte sich zaghaft in ihm. Sein Haupt erhob sich, sein schöner Hals bekam ein wenig den stolzen, steilen Schwung von einst. Seine großen, tiefen Augen, die voll Kummer, voll Angst gewesen waren, hatten wieder den sanften Schimmer der Güte.

Er nahm dankbar die dicken Bissen Brot, die ihm Frau Mali reichte, küßte jedes Stück behutsam von ihrer harten Hand. Er war hungrig.

Karl Wessely konnte ihn nicht genug preisen. »Mali«, rief er immer wieder und wieder, »das ist der Florian! Der gehört jetzt uns! Du weißt ja nicht, was das heißt, der Florian! Begreif doch . . . der Florian!«

Dann aber stellte er den Florian in den Kuhstall. Einen andern Platz hatte er nicht.

Nun trabte Florian Tag für Tag am frühen Morgen zur Stadt. Nicht in die herrlichen Straßen von einst ging der Weg, nur bis Ottakring oder Hernals. Die Milch, die Butter und die Eier fanden dort ihre Käufer.

Florian hatte längst nicht mehr den stolzen Gang, der ihm früher zu eigen gewesen war. Die Entbehrungen der Kriegszeit, der Zeit nach dem Kriege, die vorrückenden Jahre, die schwere Arbeit, die schlechte Behandlung durch den Fiaker Schleinzer hatten seine elastische Natur nach und nach erschlaffen lassen, sein schönes, freies Gefühl verschüchtert. Der gute Wessely war freilich stolz, ein Pferd vom Range Florians zu besitzen. Aber trotz der unwiderstehlichen Hochachtung, die er vor Florian empfand, schlug er den edlen alten Hengst oft genug, ganz gedankenlos, nur weil er eine Peitsche in der Hand hielt.

Daß Florian im Kuhstall wohnen mußte, daran war Wessely allerdings unschuldig. Er konnte ihm kein anderes Quartier bieten.

Florian nahm alles hin, sogar die Peitschenhiebe. Er trottete zu Markt, stand geduldig stundenlang auf einem weiten Platz inmitten vieler Wagen und anderer Pferde. Diese Gesellschaft quälte ihn eigentlich am meisten. Sie war ihm ärger als das Beisammensein im Stall mit den Kühen, die ihm fremd blieben und ihn nichts angingen.

Freier fühlte sich Florian jedesmal auf dem Heimweg. Hier wurde er nicht mehr von den hundertfachen, widerlich gemengten Gerüchen des Marktes belästigt, die ihm Übelkeit verursachten. Wenn dann die Straße waldaufwärts führte, durfte er im Schritt gehen, atmete den Duft der Wiesen, den Duft des Laubes, und ein linder Hauch von Hoffnung wehte ihm jedesmal erfrischend ins Herz.

Den Rest des Tages und die ganze Nacht stand er bei den Kühen. Es war ihm schwer, ihren Dunst zu ertragen, den Dampf einzuatmen, der dem Dünger entstieg; auch gewöhnte er sich nur langsam an das Grünfutter, an das manchmal etwas saure Heu, das ihm vorgesetzt wurde.

Einen schwarzen, zottigen Hund gab es auf dem Gehöft. Nero wurde er gerufen. Florian suchte seine Freundschaft. Bosco fiel ihm ein, und Boscos Andenken rief die Erinnerung an Anton hervor. Aber Nero verstand Florians Werben nicht und verhielt sich gleichgültig.

Florian war einsam.

Unaufhörlich grübelte er. Wohin war Bosco geraten? Wohin Anton verschwunden? Was war aus den schönen Kameraden, aus dem prächtigen Stall, dem ganzen herrlichen Dasein geworden? Wie kam er hierher zu den Kühen? Was hatte er verschuldet, daß er ein so häßliches, armseliges Leben führte? Keineswegs klar formten sich diese Gedanken in Florian, verschwammen nur wie Wolken, wie blasse Bilder, zogen nebelhaft an ihm vorüber.

 

Eine lange Zeit verstrich.

Eines Tages fragte Wessely seine Frau: »Jetzt haben wir das Lastauto – was fangen wir mit dem Florian an?«

Mali antwortete trocken: »Führ ihn zum Schinder!«

Wessely erschrak: »Zum Schinder? Geh, Mali! Ein Pferd, das der Kaiser . . .« Er sah hilflos aus.

»Meinetwegen«, entschied Mali, »behalt ihn. Er kostet ja nicht viel. Das bißchen Futter spielt keine Rolle.«

Wessely lachte: »Recht hast du. Das bißchen Futter spielt wirklich keine Rolle.«

So wurde Florian abgehalftert und bekam das Gnadenbrot.

 

Spätsommerabend. Von der Bergkuppe herab, durch den Laubwald, schritt ein Mann und erreichte am Ende des Fußpfades die Straße, die niederwärts nach Sievering und von da weiter nach der Stadt zieht.

Der Mann hielt sich aufrecht. Seine Schlankheit hatte etwas Dürres, Vertrocknetes. Sein Aussehen war greisenhaft; aber die Haltung und die festen Schritte widersprachen diesem Aussehen. Sein Anzug war irgendwann einmal elegant gewesen, doch er war sichtbar verbraucht, und man merkte ihm die sorgfältige Pflege an, die armgewordene Leute ihren Kleidern zuteil werden lassen.

Wessely stand vor der Gittertür seines Gehöfts und blickte dem einsamen Wanderer entgegen. Als der Mann näher kam, erkannte er ihn und rief: »Oh, Herr General! Meine Hochachtung.«

Der Mann blieb betroffen stehen. »Sie kennen mich?« fragte er streng.

»Aber ich werd' doch den Herrn General von Neustift kennen.« Wessely war erfreut und voll Eifer.

»Vom Krieg her?« wollte Neustift wissen.

»Jawohl, auch vom Krieg her.« Wessely stand stramm. »Und von noch früher her. Damals waren der Herr General Major und Adjutant Seiner Majestät.«

Neustift wurde milder. Der Ausdruck »Seine Majestät« hatte ihn besänftigt. »Jetzt sind Sie hier angestellt?« erkundigte er sich.

»Angestellt nicht.« Wessely lachte glücklich. »Eigentümer bin ich!«

»So«, sagte Neustift gleichgültig. »Nun, guten Abend.« Und er wollte weitergehen.

Wessely vertrat ihm den Weg. »Darf ich so frei sein . . . entschuldigen schon, Euer Gnaden . . . ich möcht' um die Ehre bitten, daß der Herr General bei mir Rast halten . . .«

»Danke!« Neustift lehnte ab. »Ich muß nach Hause.«

Doch Wessely hörte die Unentschlossenheit im Ton der Antwort. »Herr General«, flehte er, »so ein Zufall . . . nach so vielen Jahren . . . ich hab' eine Riesenfreud' . . . der Herr General wird mir das nicht antun und vorübergehen . . .«

»Es wird bald Nacht«, wandte Neustift ein.

»Noch lang nicht«, drängte Wessely voll Eifer, seinen Besitz zu zeigen. »Ich hab' da hinterm Haus ein schönes Platzerl auf der Wiesen. Wenn der Herr General mir die Ehre geben . . .« Er übersprudelte sich. »Es wird dem Herrn General gefallen . . . und gewiß sehr gut tun . . . ausruhen . . . und ein Glas frische Milch . . .«

Neustift mußte sich heimlich gestehen, daß es ihn lockte, ein wenig Rast zu halten und einen erfrischenden Trunk zu genießen.

Dann saß er wirklich auf einer Bank an einem ungefügen Tisch, hatte das breite Bauernhaus im Rücken, und vor ihm dehnte sich die sanfte Schönheit der Waldwiese.

Neustift hatte die Milch getrunken, hatte sogar einen Bissen von dem Brot, das dabei lag, gegessen. Wessely und die alte Mali hatten bald gemerkt, daß er allein zu bleiben wünschte, und waren verschwunden.

Um ihn war die lebendige Stille der Dämmerung. Grillen zirpten mit schrillem Laut. Fledermäuse glitten lautlos unter dem weiten Himmel hin, der ein sanftes Grau angenommen hatte.

Neustift schloß die Augen. Er war müde. Wegmüde, der Sorgen müde und müde der ständigen Verbitterung.

Fast wäre er eingeschlummert.

Da fuhr er auf, denn ein warmer Atem blies ihn an.

Neben ihm stand ein Schimmel.

Neustift staunte. Er hatte das Pferd nicht kommen gehört und es bisher nicht gesehen.

Doch der Schimmel stand da, ganz nahe bei ihm. Streckte den Hals vor und beschnupperte Neustift am Gesicht, an der Brust, zutraulich und sanft.

»Was willst du denn?« murmelte Neustift. »Ah, das Brot? Ja, ja, das kannst du haben. Gern!«

Ein Stück davon brach er ab und reichte es dem Schimmel auf der flachen Hand.

Als der Schimmel das Brot aufnahm, mit behutsamen Lippen, zuckte es Neustift durch den Kopf: wie ein Kuß ist das!

Noch einen Bissen reichte er dem Pferd, und als er wieder die feinen samtigen Lippen auf der Handfläche fühlte, sagte er plötzlich: »Florian!«

Die Ohren des Schimmels spitzten nach vorn. Kleine, zierliche Ohren.

»Florian!« wiederholte Neustift, »Florian!«

Jetzt erhob Florian das Haupt.

Neustift blickte in die großen dunklen Augen, aus denen nun durch das Leid noch innigere Beseeltheit strahlte als je vorher.

Neustift stand auf. »Guter Florian«, flüsterte er, »alter Freund.«

Florian schnaubte, daß seine Lippen, vom stoßenden Atem gewölbt, bebten.

Dann aber erkannte Neustift, daß sich Florians Unterlippe nicht schloß, daß sie, schlaff geworden, ein wenig hing.

»Armer Kerl«, sagte er, »auch du bist alt . . .«

Er streichelte die Stirne, den Hals, den Rücken Florians.

»Ich war dabei, damals in Lipizza, als du auf die Welt gekommen bist.« Er streichelte ihn sehr behutsam, schonend und zärtlich. »Eine andere Welt ist das gewesen, eine ganz andere Welt! Und doch, mir ist, als wär' das gar nicht so lange her . . . als wär's erst vorgestern gewesen oder vor zwei, drei Wochen.«

Neustift lächelte: »Was hab' ich seitdem durchgemacht . . . und du, alter Florian!« Er lächelte wieder. »Alter Florian – komisch! Ja, mein Guter, das, was wir Menschen Zeiten nennen, hat seine Komik, seine Komik und Grausamkeit.«

Florian ließ sich streicheln. Hielt den Kopf gesenkt. Seine Ohren spielten, als verstünde er, was zu ihm gesprochen wurde. Doch den herzlichen Trost verstand er wirklich, und die Liebkosung verstand er auch. Beides war ihm lange nicht zuteil geworden.

Er schnupperte an Neustift herum und wußte nicht sehr deutlich, wußte es aber trotzdem, das war ein Mensch aus dem rätselhaft versunkenen Dasein, nach welchem er immerfort Heimweh empfand.

Neustift umfaßte mit beiden Armen Florians Haupt. »Wir zwei«, redete er ihm ins Ohr, »was waren wir zwei! Früher einmal! Früher! Jetzt haben wir ausgedient, wir beide. Jetzt braucht uns keiner mehr. Jetzt sind wir fertig, du und ich . . .«

Um alles gern hätte Neustift in diesem Augenblick ein Wort von Florian gehört. Ein einziges Wort. Er war ihm so nah, war ihm so sehr verbunden durch das gleiche Schicksal, war so einig mit Florian, wie er seit Jahren mit keinem anderen Geschöpf einig gewesen. Doch die geheimnisvolle Pforte, die Mensch und Tier voneinander trennt, öffnet sich nie, so sehnsüchtig man auch daran rüttelt.

Neustifts Hand fuhr leise über die samtweichen Nüstern, während er vor sich hin sprach: »Nur das Letzte erwartet uns noch, das Allerletzte . . . dich und mich . . .«

Aber Florian hatte keinen Sinn für Sentimentalitäten. Sanft löste er sich von Neustift und stand noch ein paar Sekunden bei ihm. Wie nachdenklich. Dann ging er langsam fort. Langsam schritt er über die Wiese, entfernte sich und war in der niedersinkenden Dunkelheit des Abends ein blasser Schatten.

 

Ende

 


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