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Anton begann sich einzuleben. Die Stadt Wien lernte er freilich nicht kennen; denn er blieb auch an seinen freien Tagen im Stall oder in dessen Vorhof, der, von den hohen Bauten der alten Burg umschlossen, eine Welt für sich bildete. Dieses Geviert war auch die Welt Antons. Auf Spaziergänge verzichtete er leichten Herzens. Jenseits des Schwibbogens lag für ihn die Fremde. In den Mauern der gigantischen Hofburg war jetzt seine Heimat. Da stand Florian hinter der Gittertür seiner Box, da war Bosco. Das genügte. Hie und da ein kurzes Gespräch mit den Kameraden. Anton war eher wortkarg, und er war, gleich vielen Menschen, die sich ganz der Tierpflege widmen, schüchtern, ja scheu.
Der Stall mit seinem Prunk flößte Anton zunächst ein Gefühl beklemmender Ehrfurcht ein. Da hatte jedes Pferd seine breite Futterkrippe, hatte ein Wasserbecken aus rotem Marmor, und in jedes Becken strömte aus dem darüber angebrachten Leitungshahn der frische Trunk. Da war prächtiges Pferdegeschirr, das vor jedem Abteil geordnet am Pfahle hing. Elegant gearbeitetes Riemenzeug, daran die vergoldete Kaiserkrone, manchmal auch die Initialen Franz Josephs erglänzten. Da waren feine, warme Flanelldecken, mit Leder eingesäumt, mit Schnallen versehen. Da war das beste Putzzeug an Bürsten, Kämmen und Striegeln.
Anton lernte den Stallraum lieben, die hohen glatten Wände, die sich konkav zur Decke wölbten, und wo in jeder Höhlung über jedem Abteil ein schön modellierter Pferdekopf zu den lebenden Pferden niederschaute. Auf wie viele Generationen edler Rosse diese stummen Köpfe schon herabgeblickt hatten, darüber sann Anton nicht nach. Er wußte nichts von Karl VI., dem Begründer der Spanischen Reitschule. Er wußte überhaupt nichts von dergleichen Dingen.
Um in die Reitschule zu gelangen, mußte die Straße, die den Schwibbogen durchlief, überquert werden. Die Reitschule! Als Anton sie zum erstenmal betrat, blieb er am Eingang stehen und legte die Hand vor den Mund, damit niemand den leisen Ausruf, der ihm entschlüpfte, vernehme: »Jesus Maria!« Von tiefer Andacht ergriffen, staunte er diese Kathedrale der Reitkunst lange an.
Unwahrscheinlich hoch ragte die weite Halle auf. Das matte, elfenbeinerne Weiß der Wände, die weiße Zierat des Balkons, der säulengestützten Galerie darüber empfingen vom Schwung der kassettierten Decke, vom Schmuck der Balustraden, vom Tageslicht, das durch die beiden Fensterreihen strömte, wohnliches Behagen. Das üppig reiche, von Genien getragene, triumphal emporgehaltene Wappen, das die Kaiserloge krönte, das überlebensgroße Bildnis Karls VI. an der Stirnwand – Anton gelangte nie dazu, diese majestätische Pracht genau zu sehen. Sein Blick verirrte sich jedesmal. Er fühlte sich eingeschüchtert von dem herrlichen Pathos, mit dem die Figuren und Embleme in ihrer beredsam gebärdenreichen Sprache deklamierten.
Dann wurde es für ihn ein großes Ereignis, das größte, eindrucksvollste seines Lebens, als er dabei sein durfte, wie Hohe Schule geritten wurde.
Die Herren, die er bisher nur in Zivilanzügen gesehen hatte, trugen braunen Frack mit Goldknöpfen, glatt anliegende weiße Hirschlederhosen und Stulpenstiefel aus schwarzem Lack. Sie trugen weiße Handschuhe, hatten weiße Perücken mit steifen Lockenrollen und einem kleinen, von schwarzer Seide umwickelten Zopf. Zweispitze hatten sie auf, die Hutspitzen nach den Ohren gerichtet.
Die Pferde aber waren sparsam und prunkvoll zugleich geschirrt. Schmale Riemen, goldbeschlagen. Ein schmaler Riemen lief um die Brust, und ganz vorn saß, nein, schaukelte, tanzte, liebkosend, zärtlich und prächtig zugleich, ein kleiner, runder, golden blitzender Schild mitten auf der Brust des Pferdes.
Anton sah, wie Reiter und Roß in die Bahn einzogen – in den Kobel, wie man sagte.
Die Reiter schwenkten grüßend den Zweispitz zu dem Bildnis Karls VI. empor.
Und nun fing das Schulreiten an.
Anton lachte. Mit diesem lautlosen, unbeholfenen Grinsen sah er noch einfältiger aus als sonst. Allein das ekstatische Feuer in seinen Augen zeigte, daß er jetzt zwar unbeherrscht, doch keineswegs blöd genannt werden durfte. Er war überwältigt. Jetzt hatte Anton die letzte, höchste Vollendung des Reitens vor sich. Er schaute die fast märchenhafte Einheit von Roß und Reiter, die unbegreifliche Harmonie, die Tier und Mensch miteinander verband. Von dem Menschen ging ein Strom des Willens aus, der stählern und zugleich gütig war, und ihn empfing eine Ergebenheit in diesen Willen, die voll Vertrauen und voll liebender Dienstbereitschaft schien. Anton war hingerissen. Desgleichen hatte er nie geahnt, hatte, wenn man im Stall die Hohe Schule erwähnte, darüber weggehört und sich nichts weiter darunter vorgestellt.
Jetzt begriff er alles.
Jetzt verstand er das Zuchtgestüt von Lipizza, wo er so lange gedient hatte, verstand den verschwenderischen Luxus, mit dem der Stall hier in der Hofburg ausgestattet war, verstand die Majestät der festlichen, lichten Halle, darin die weißen Hengste von Lipizza ihren wunderbaren Tanz aufführten.
Der fanatische Ehrgeiz, den Anton für Florian hegte, war bisher verschwommen und eigentlich ziellos gewesen. Jetzt hatte Antons Ehrgeiz ein festes, deutliches Ziel. Wie berauscht ging er umher, stand bei Florian, hielt dessen Haupt in den Armen und flüsterte ihm in die lauschenden zuckenden Ohren: »Du kannst es, Florian. Besser schon kannst du's, viel besser als die andern!«
Ennsbauer half der mit ihm befreundeten Schauspielerin Gabriele Menzinger, die sich die Vorführung in der Hofreitschule auch ansehen wollte, aus dem Wagen.
Er hatte im Torbogen des Reitschultraktes auf dem Josefsplatz gewartet. Als das Coupé angefahren kam, von zwei großen russischen Trabern gezogen, trat er heran und reichte der Schauspielerin die Hand, daß sie sich darauf stützte.
Gabriele Menzinger war seit ein paar Jahren der Liebling des Wiener Publikums. Keine Schauspielerin konnte sich mit ihr messen. Auch alte Kenner der Bühne, Herren und Damen, die sich der Geistinger, der Gallmeyer, sogar der Wolter erinnerten, bekannten, daß Gabriele Menzinger jedem Vergleich entrückt sei. Prinzen und Handwerker, Finanzgrößen und Bankiers, alle, ohne Unterschied, gerieten in einen Taumel der Begeisterung, wenn sie von dieser Schauspielerin redeten. Auch die Zeitungen sprachen fast ununterbrochen von ihr.
Von Leopold Ennsbauer schwiegen die Zeitungen. Niemals trat er an die Öffentlichkeit. Dennoch gehörte er zu den berühmten Männern der Monarchie. Er genoß eine sehr noble, sehr exklusive Berühmtheit. Am kaiserlichen Hof, beim Adel, in den Kavallerieregimentern, unter den Stammgästen, die auf dem Freudenauer Turf oder auf dem Trabrennplatz den Sattelraum besuchten. Ennsbauers gedrungener Wuchs erschien allen seinen Bewunderern als die vorbildliche Reitergestalt. Sein verschlossenes, tiefbraunes Gesicht hatte den Ausdruck unergründlich tapferer Willenskraft. Gewöhnlich war er schweigsam und ganz ruhig, so daß man geneigt war, ihn für phlegmatisch zu halten. Aber seine wie aus Erz gegossene Gattamelata-Miene übte auf Frauen magische Anziehung aus. Wie kein anderer saß er zu Pferd, meisterte wie kein anderer die Kunst des Zügels und Bügels; darüber gab es nur begeisterte Einstimmigkeit. Er ritt die Pferde für den Kaiser Franz Joseph zu. Und er war im Umkreis der Spanischen Reitschule der einzige, der es wagen durfte, dem Erzherzog-Thronfolger zu widersprechen.
Jetzt trat er an die zwei hohen Rappen heran, die vor den Wagen der Menzinger gespannt waren und von weißem Schaum beflockt dastanden. »Ganz gut«, murmelte er, indem er dem einen Rappen den Hals klopfte.
»Wie ist es mit dem Florian?« erkundigte sich die Schauspielerin.
Ennsbauer wurde lebhafter: »Heute probier' ich's mit ihm. Heute nehm' ich ihn zwischen die Pilaren!«
Gabriele Menzinger gab ein dramatisches Staunen zum besten. »Heute? Nach so kurzer Zeit? Der Florian ist ja noch kaum richtig longiert . . .«
Sie waren zu einer Glastür gelangt. Ennsbauer wandte sich an den Reitknecht, der dort stand. Ein Wink, der bedeutete: Führen! Die Schauspielerin mußte dem Reitknecht folgen, mußte auf die Galerie. »Hals- und Beinbruch!« rief sie Ennsbauer zu, während sie davonhuschte. Er gab ihr keine Antwort. Still öffnete er eine kleine Seitentür und betrat die Reitbahn.
Vom niederen Balkon her klangen ungenierte, laute Stimmen. Da oben befanden sich der Oberststallmeister, ein General der Kavallerie, Major von Neustift und Elisabeth, ein paar junge Offiziere und einige junge Mädchen, Leute, die sich hier zu Hause fühlten.
Die knappe Verbeugung Ennsbauers erwiderten nur der Oberststallmeister und Neustift, indem sie einen Finger zum Schirm ihrer Mütze hoben. Elisabeth nickte lächelnd.
Dann führte Anton am Zügel Florian herein. Florian trug den Sattel und war vollständig angeschirrt. Vom Balkon her kamen Ausrufe des Beifalls.
»Prächtiges Tier!«
»Tadellos!«
»Und ein Schimmel ohne den kleinsten Fleck!«
»Wie heißt er?« fragte ein junges Mädchen.
Der Oberststallmeister antwortete: »Florian, Prinzessin.«
Das junge Mädchen lachte; die andern begannen gleichfalls zu lachen. »Florian! Florian!« riefen sie lustig hinunter.
Florian hob das Haupt, seine Ohren spielten, und er begann fröhlich zu wiehern. Es war wie ein Singen, so melodisch.
»Er antwortet!« lachten die Mädchen. »Wie manierlich.«
Unterdessen hatte Anton die beiden Riemen, die wie Zügel von den Backenstücken auf dem Sattel lagen, abgenommen. Florian stand nun zwischen den zwei Pflöcken, die in der Mitte der Reitbahn aufragten, und die man Pilaren nannte. Anton befestigte die Riemen links und rechts an einem Ring an den Pflöcken, so daß dem Pferd die Möglichkeit genommen war, vorwärts oder rückwärts zu gehen.
Florians Haupt war mit einem weißen Doppelgurt an den Sattelknopf geschnallt. Der breite Hals hob sich in steilstem Bogen vom Widerrist. Die ganze Haltung des Pferdes drückte Stolz aus.
Inzwischen war Ennsbauer an die Pilaren herangetreten, hatte Florian gestreichelt, ihm den Hals geklopft, die Oberlippe flüchtig mit der Hand berührt. Dann hatte er das Geschirr rasch untersucht, den Sattelgurt geprüft, die Peitsche ergriffen, die Anton ihm reichte, und gewartet, bis Anton verschwunden war.
Anton gesellte sich außerhalb der Reitbahn hinter der geschlossenen Brettertür zu den andern Reitburschen und spähte über den mannshohen Rand hinein. Sein Herz klopfte stürmisch.
Florian stand regungslos. Auch er war erregt. Doch er bezwang sich. Er sammelte seine Aufmerksamkeit, war nach wenigen Minuten nichts als Neugier, nichts als hingebende Bereitschaft. Seine großen, dunkelschönen Augen leuchteten. Seine zierlichen Ohren, die seitwärts spielten, zeigten lauschendes Erwarten. Sein ganzer Körper lauschte und wartete.
Er wollte seine Stimme erheben und besann sich. Er schwieg. Er wollte schnauben, doch instinktive Regung gebot ihm, diese Sekunden des Erwartens durch keinen Laut zu stören. Seine Nüstern öffneten sich weit, ließen ihr Inneres, das rosig schimmerte, sehen, schlossen und öffneten sich wieder.
Da berührte die Peitschenschnur sein linkes Vorderbein. Ganz leise. Wie eine Liebkosung.
Florian hob sogleich das linke Bein. Hob unwillkürlich in einem das rechte Hinterbein.
Langsam tat er das. Feierlich. Kein Versuch, vorwärts auszuschreiten. Nicht der kleinste Ruck an den Riemen, die ihn an die Pilaren fesselten. Er setzte die Hufe auf demselben Fleck zu Boden, von dem er sie gehoben hatte.
Noch ehe die Peitschenschnur das andere Bein erreichte, vollführte Florian damit dieselbe Bewegung.
Markierter Schritt, der nicht fördern, sondern Gebärde bleiben sollte. Festliche, pathetische, deklamierende Gebärde.
Die hauchzarte Berührung mit der Peitschenschnur, die dem Vorüberstreifen eines Schmetterlings ähnlich war, hatte für Florian genügt. Seine Nerven, sein Instinkt errieten, was sein Blut im voraus als ein unerprobtes Können in sich trug.
Uralte Erbschaft von vielen Generationen her, in Florian zu einer Art Genialität gesteigert, machte es ihm leicht, seine Bestimmung zu erfüllen, eine Bestimmung, die seine Väter seit Jahrhunderten immer wieder erfüllt hatten.
An ihm vollzog sich in hohem Maß eine Erscheinung, die sich bei auserlesenen Exemplaren edel gezüchteter Tiere manchmal mit besonderer Reinheit vollzieht. So haben Rennpferde, die Abkömmlinge von Siegern sind, den Ehrgeiz des Wettlaufens geerbt, und ihr Training, ihr Kampf auf der offenen Bahn scheinen ein Wunder zu sein. So kommen adlige Jagdhunde, ohne Dressur, zum erstenmal ins Feld und zeigen beim ersten Schuß, beim Stürzen des ersten Fasans, daß sie beinahe alles, was von ihnen verlangt wird, schon im voraus wissen, daß sie nur ganz geringer Anweisung bedürfen.
»Sie, Ennsbauer«, rief der Oberststallmeister halblaut hinunter.
Ennsbauer sagte leise: »Pst!«
Florian stand.
»Befehlen, Exzellenz?«
»Wie oft war der Hengst schon in den Pilaren?«
»Bis heute noch nie!«
»Die Wahrheit?«
Ennsbauer gab keine Antwort, senkte die Peitsche, und Florian begann wieder diesen synkopischen Schritt am Ort.
Die Peitschenschnur berührte die Innenseite der Vorder- und Hinterbeine während des Schrittes. Florian verstand auch dieses Zeichen.
Noch langsamer, noch feierlicher hob er die Beine im Gehen am Ort. Man sah das Spielen der einzelnen Gelenke bis in die Schulter und bis an die Kruppe. In jeder Stellung glich er einem Monument, in jeder Bewegung war stumme Musik.
Die jungen Mädchen begannen Beifall zu klatschen, die Offiziere folgten ihrem Beispiel, und der dünne Applaus flatterte in die Reitbahn.
»Er piaffiert wie ein vollendetes Schulpferd«, rief Neustift.
Die Prinzessin erkundigte sich wißbegierig: »Was heißt das: piaffiert?«
»Das, was du siehst«, erklärte Elisabeth, »dieses Schreiten in Kadenzen nennt man die Piaffe.«
»Ich möchte wissen, was die Mädchen eigentlich lernen«, sagte Neustift zu seiner Frau und lachte.
Florian begleitete seine Übung mit einem taktmäßigen, ganz leichten Wiegen des Hauptes.
»Er hat unerhörtes rhythmisches Gefühl«, stellte Elisabeth fest.
Der Oberststallmeister stimmte ihr bei: »Man möcht' gar nicht glauben, wie musikalisch Pferde empfinden.«
Ennsbauer ließ wieder ein »Pst!« hören. Genug für heute! dachte er bei sich. Es ist ganz gut gegangen. Nur so viele Zuschauer vertrag' ich nicht. Er grüßte die Herrschaften auf dem Balkon mit knapper Verbeugung.
Auf Ennsbauers Wink kam Anton herbeigelaufen und löste Florian von den Pflöcken, um ihn zum Stall zu führen. Florian schnaubte und stieß ein Wiehern aus, metallisch klingend, voll einer Lebenskraft, die unzerstörbar schien.
Im dunklen Gang erwiderte Florian die Liebkosungen Antons, indem er ihn mit Stirn und Nase in die Schulter stieß; das galt immer als Ausdruck seiner Zufriedenheit. Florian wußte um den Erfolg, den er jetzt errungen hatte.
Als sie zusammen die Durchfahrtsstraße unter dem Schwibbogen überquert hatten und in die Helligkeit des Hofes vor dem Stall gelangten, sah Anton, daß Florians große dunkle Augen lachten. Auch Anton lachte still vor sich hin.
Seit Wochen versah Neustift Adjutantendienst beim Kaiser. Heute war er dazu bestimmt, den Kaiser auf seiner Fahrt von Schönbrunn, wo Franz Joseph wohnte, in die Hofburg zu begleiten.
Der Weg von dem nahen sommerlichen Lustschloß zur Wiener Burg kann gewiß nicht lang genannt werden. Die wenigen Male jedoch, die Neustift mit dem Kaiser gefahren war, schien ihm der Weg kein Ende zu nehmen.
Da saß er, zur Linken des Monarchen, hatte darauf zu achten, daß seine Person so unbemerkt wie möglich blieb, mußte die Blicke aufmerksam, doch ganz unauffällig überall haben, um jede Störung zu verhindern. Höchste Geistesgegenwart erforderte dieser Dienst, noch mehr Angespanntheit als jede andere Dienstleistung in der persönlichen Nähe des Kaisers.
Diese Nähe hatte, wie bei andern auch, bei Neustift alle Legenden, die über Franz Joseph im Umlauf waren, gleich Dunst und Schaum zergehen lassen.
Der Mensch Franz Joseph trat unmittelbar hervor. Und dieser Mensch war ein Kaiser. Eine Wirklichkeit, die Franz Joseph niemals vergaß, und die seiner Umgebung stets im Bewußtsein blieb. Nur sehr selten ließ der Kaiser merken, daß er auch ein Mensch war. Immer jedoch ein hoheitsvoller, ein ganz einsam ragender Mensch. Weltfremd und zugleich vielerfahren, weise und trotzdem beschränkt, gewissenhaft bis zur Pedanterie und bei alledem zügellos herrisch. Ausgestattet mit dem schlagfertigen, spöttischen Witz der Habsburger und dennoch wortkarg, zurückhaltend bis zur Schüchternheit und manchmal so gerade und offen, daß man davon überwältigt wurde. Dieser fürstliche Mensch konnte alle seine Gemütsregungen verhehlen. Nur seine Eifersucht schimmerte dann und wann deutlich genug hervor. Seine Anfälle von Jähzorn waren gefürchtet, wie man den Tod oder die zufahrende Hand des Schicksals fürchtet. Besonders die Angehörigen der kaiserlichen Familie zitterten vor ihm. Er war ihr unumschränkter Gebieter, konnte über Leben und Sterben, über Gefangenschaft und Freiheit der Erzherzoge und Erzherzoginnen nach Belieben verfügen und war niemand Rechenschaft schuldig. Er hatte in seinem Dienst, unter den Ministern wie unter den Generalen, einen ungeheuren Männerverbrauch; denn er ließ jeden ohne weiteres fallen, der in den Verdacht geriet, populär zu werden, der die eifersüchtig bewachte Popularität des Kaisers zu gefährden drohte. Trotz dieser scheinbaren Treulosigkeit bewahrte er einzelnen gegenüber sein Leben lang unverbrüchliche Treue. Niemand konnte sein Wesen mit wenigen Worten schildern. Es war falsch zu sagen: Er ist gut; falsch, zu behaupten: Er ist böse. Falsch, zu behaupten: Er ist tückisch, boshaft oder rachgierig, ebenso falsch, zu denken: Er ist ohne Argwohn, vertrauensvoll und gnädig. Jeder, der sich zu solchen Behauptungen hinreißen ließ, hatte recht und unrecht zugleich. Daß er unnahbar war, blieb das einzige, das sich mit gutem Grund sagen ließ. Unnahbar, ein wahrhaft großer Herr, gab er das Beispiel peinlichster Pflichterfüllung, war genau, zuverlässig und pünktlich in der Arbeit wie in allem Umgang. In seiner Lebensweise, seinen Bedürfnissen war er von spartanischer Einfachheit, und doch liebte er den kultivierten Luxus.
Neustift wußte natürlich, daß er es nicht wagen durfte, den Kaiser, neben dem er saß, anzusprechen. Die wenigen Male, die er die Fahrt erlebt hatte, war Franz Joseph schweigsam gewesen.
Heute kam er wohlgelaunt aus seinem Arbeitszimmer, schritt lächelnd die Treppe hinunter und stieg in den Wagen.
Der Leibjäger mit dem flatternden weißen Federbusch breitete eine Decke über die Beine des Kaisers und des Adjutanten und sprang zum Kutscher auf den Bock.
Kaum erschienen die Köpfe der beiden Lipizzaner Schimmel unter der Terrasse, so trat die Schloßwache ins Gewehr. Trommeln wirbelten den Generalmarsch. Die Kompanie in Front präsentierte. Der kommandierende Offizier leistete den Säbelsalut, und die Fahne wurde grüßend gesenkt, während der leichte, elegante Wagen, an dessen Rädern die vergoldeten Speichen funkelten, über den weiten Hof zum Tor hinausrollte.
Der Kaiser salutierte und unterließ es diesmal, die Soldaten mit scharf prüfendem Blick zu mustern. Gleichfalls ein Zeichen guter Laune.
Der Wagen, schon durch den Schönbrunner Schloßdienst signalisiert und am weißen Federbusch des Leibjägers wie am Zeichen des Kutschers kenntlich, rollte mitten auf der Fahrbahn dahin. Gleichmäßig trabten die zwei Schimmel, kopfnickend und stolz. Alle Hindernisse waren weggeräumt. Für den kaiserlichen Wagen gab es keine Verkehrsvorschriften.
Diesmal begann der Kaiser ein Gespräch. Er führte dabei unablässig die rechte Hand an den Schirm seiner Kappe, um für die Grüße der Menge zu danken.
»Der Bertingen, der gestern bei mir war, hat mir von einem Hengst erzählt, den der Ennsbauer zureitet . . . Wunderdinge . . .«
Bertingen, das war der Oberststallmeister General Graf Bertingen.
»Warten Sie, wie heißt das Biest nur noch . . .« sprach der Kaiser.
»Euer Majestät zu dienen, vielleicht Florian?« sagte Neustift halblaut.
»Ja, richtig, Florian«, sagte Franz Joseph lebhaft. »Komischer Name für ein Lipizzaner Schulpferd, Florian. Aber wie haben Sie erraten, daß der Bertingen von diesem Florian gesprochen hat?«
»Majestät, es ist das beste Pferd . . .«
Der Kaiser unterbrach ihn: »Der Bertingen sagt, so etwas soll noch nie dagewesen sein. Na, wenn er nur nicht übertreibt, der gute Bertingen . . .«
Neustift unternahm ein Wagnis: »Eure Majestät gestatten gnädigst, Seine Exzellenz übertreibt keineswegs. Es ist das schönste und begabteste Pferd, das man seit Jahrzehnten in der Hofreitschule gesehen hat.«
»Wirklich?« Der Kaiser wandte sein schönes altes Gesicht Neustift zu und lächelte. Es war wie ein Schimmer von Silber, der weiße Schnurrbart, der weiße Backenbart. Dazu die rotbraunen frischen Wangen und die blauen Augen. Neustift liebte den Kaiser in diesem Augenblick schwärmerisch. »Wirklich? Sie werden ja ganz feurig.«
»Verzeihung, Majestät«, stammelte Neustift.
»Na, das freut mich.« Der Kaiser redete behaglich weiter. »Da haben wir einen Star und brauchen nicht zu fürchten, daß wir Starlaunen ertragen müssen, oder daß ihn uns ein anderer wegengagiert.«
Gehorsam belachte Neustift diesen Scherz.
Nach einer Weile fing der Kaiser wieder an: »Der Bertingen hat mich dringend gebeten, daß ich in die Reitschule kommen soll. Das Wundertier betrachten. Direkt sekkiert hat mich der Bertingen deswegen.«
Schweigen. Der Wagen fuhr durch die Mariahilferstraße und bog in die Ringstraße ein.
»Vielleicht komme ich wirklich einmal in die Reitschule«, sagte der Kaiser munter. »Sie machen mich neugierig, Sie und der Bertingen.«
Neustift verbeugte sich ein wenig und schwieg.
Der Kaiser redete freundlich weiter: »Ich war ja lange nicht bei den Lipizzanern.« Er seufzte ganz kurz: »O Gott, wie lang ist das her!«
Sie kamen durch das äußere Burgtor. Das Rufen der Schildwache, der Trommelwirbel, das klang verweht über den riesenhaft weiten Platz.
Der Kaiser schaute um sich. Sein Blick überflog die beiden bronzenen Reitermonumente, überflog den ungeheuren Himmel, der hier blaute, die Bäume des Volksgartens, überragt vom Rathausturm und vom Marmorgesims des Burgtheaters.
Neustift, der das Haupt nicht wendete und die wohlbekannte Szenerie nur mit dem inneren Auge sah, dachte: Das alles hier ist unter seiner Regierung so geworden, ist durch ihn entstanden und groß geworden.
Begleitet vom Zuruf, Trommelwirbel und Salut der Hauptwache, rollte der Wagen in den Burghof, beschrieb einen leichten Bogen um das Standbild des Kaisers Franz und hielt im Flur des Michaeltraktes.
Während der Kaiser ausstieg, sagte er in sachlich befehlendem Ton: »Sie erinnern mich daran, wenn es soweit ist.«
Neustift, der hinter dem Kaiser die Treppe hinaufging, vorbei an präsentierenden Garden, wußte, daß die Spanische Reitschule und die vollendete Ausbildung Florians gemeint waren.
Der Tag kam sehr bald.
Ennsbauer hatte von der kaiserlichen Zusage Kenntnis erhalten und sich eifriger noch als zuvor ins Zeug gelegt.
Florian war von glühendem Ehrgeiz durchdrungen, als wüßte er, was bevorstand.
Graf Bertingen kam immer wieder und staunte täglich über die Fortschritte, die Florian machte.
»Bravo, Ennsbauer«, lobte er, »das wird Ihr Meisterstück!«
Ennsbauer dankte. Aber er dachte nicht daran, ein glückliches Gesicht zu zeigen. Man konnte nie wissen. Es war möglich, daß Florian eines Morgens vieles von dem, was er so spielend erlernt hatte, vergaß und in Anfangsstadien zurückfiel. Es war möglich, daß der Gaul die Kolik bekam oder sonst einen Schaden an seiner Gesundheit litt, der ihn für Wochen arbeitsunfähig machte. Alles Schlimme war möglich. Und Ennsbauer glaubte an alles Schlimme, fürchtete alles Schlimme und glaubte nur an das Gute, das der Augenblick untrüglich darbot.
Doch wenige Wochen später berichtete er dem Oberststallmeister: »Die andern Hengste sind noch nicht soweit, aber den Florian kann ich jederzeit vorführen.«
Dem Oberststallmeister fiel es nicht ein, dem Kaiser darüber Meldung zu erstatten. Neustift hatte den Auftrag erhalten, also mußte Neustift das besorgen. Das war die Ordnung, die niemand verletzen durfte, ohne ein unwilliges Stirnrunzeln Franz Josephs zu wagen.
Neustift empfing vom Grafen Bertingen die Nachricht, die er dem Kaiser meldete.
Franz Joseph erwähnte die Meldung gegenüber dem Generaladjutanten, Graf Paar, und fügte hinzu: »Vielleicht erinnert sich der Bertingen, daß er mich gebeten hat . . .«
Graf Paar verständigte den Oberststallmeister sofort. Eine Stunde später fragte Graf Bertingen in der Kabinettskanzlei an, ob es ihm erlaubt sei, den Kaiser zu sprechen.
[Der Kaiser ließ] ihn sogleich kommen und bestimmte den Tag seines Besuchs in der Reitschule.
Viel Zeit blieb nicht bis dahin, kaum eine halbe Woche. Der Kaiser hatte befohlen, es solle nur eine »ganz intime Veranstaltung« werden, jedoch gestattet, daß die Hofansage auch den Erzherzogen zukommen dürfe.
Große Zurüstungen begannen. In den Kanzleien der Hofburg, den Möbel- und Gobelindepots herrschte unnötige Aufregung, denn alles ging glatt, und nur die Aufregung verwirrte den Mechanismus.
Eile war geboten; aber die überlieferten Formen einzuhalten, war nicht schwer. Einzig die Wichtigtuerei ergab Schwierigkeiten.
Im Stall kochte unter dem eisernen Deckel der Selbstbeherrschung, die Ennsbauer übte, heiße Nervosität. Graf Bertingen war immer zugegen. Der Obersthofmeister kam einige Male. Fortwährend standen hohe Funktionäre herum, die sich den Anschein gaben, als wäre ihre Anwesenheit unerläßlich.
Mühsam erwehrte sich Ennsbauer seiner hypochondrischen Unruhe. Im Sattel, im Beisammensein mit Florian fand er Beschwichtigung. Er probierte mit Florian alle Gangarten der Hohen Schule. Der Hengst schien alles zu erraten. Er zeigte sich bereit und jedesmal über Erwarten fähig, eins mit dem Reiter zu sein, ja, er verbesserte Ennsbauer, wenn dieser ab und zu im Begriff war, ein Tempo um ein winziges zu verfehlen. Dann ließ Ennsbauer den Florian in gewöhnlichen Schritt fallen und klopfte ihm dankbar den Hals, worauf Florian mit fröhlichem Schnauben antwortete.
Florian war der einzige, der von jeglichem Lampenfieber verschont blieb. Ihm bedeutete der Kaiser gar nichts. Er wußte nichts von Franz Joseph, und er wußte nicht, daß er einem kaiserlichen Haus angehörte. Keine Regung sagte ihm, er sei Eigentum des Kaisers von Österreich. Er, Florian, dachte, daß er Anton zugehörig sei und Bosco, dem Foxterrier, seinem geliebten Spielgefährten. Dazu erfüllte ihn der Ehrgeiz, dem Mann, der ihn ritt, zu Willen zu sein.
Innerhalb des bunten, prunkhaften Treibens, das ihn umgab, hatte Florian die ganze reizende Naivität und das Unbekümmerte der Natur, die Hingegebenheit und das einfache, niemals wankende Vertrauen der sanften, dienenden Geschöpfe.
Er spielte mit Anton, dessen leise, zärtliche Worte, dessen Hand und dessen Geruch er liebte. Immer waren es dieselben Scherze, die Anton mit ihm und er mit Anton trieb. Schnallte ihm Anton das Geschirr ab, so grub Florian seine weiche, samtige Nase in Antons Genick und schnaubte ein wenig oder stieß ihn leicht in die Schulter, wenn Anton die Box verlassen wollte. Kam Anton, um ihn zu striegeln oder ihn anzuschirren, so ging Florian rückwärts, als wollte er sich das nicht gefallen lassen. Dann blieb Anton stehen und murmelte: »Na, willst du oder willst du nicht!« Und dann kam Florian, berührte mit den Lippen Antons Hände und sah ihm ins Gesicht. Hier bin ich! sprachen die großen, beseelten Blicke, die Anton immer wieder ins Herz drangen.
Auch mit Bosco vergnügte sich Florian. Sowie die beiden allein waren, spielten sie. Immer dasselbe. Bosco lief zwischen Florians Beinen hin und her, sprang an ihm empor, so daß seine schwarze, kalte Nase Brust und Lippen des Pferdes berührte. Plötzlich tat sich Florian nieder. Bosco drückte sich in eine Ecke und wartete, bis der schwere weiße Leib des Schimmels auf dem Stroh lag. Dann schnupperte er ihn überall ab. Sorgfältig und ernst. Von der Stirne und dem Haupt bis zu den Weichen. Schließlich kroch er unter Florians Kinn und schmiegte sich an seinen Hals. So schliefen die beiden ein paar Stunden.
Die kühne Melodie einer Fanfare aus dem achtzehnten Jahrhundert klang durch den weiten Raum, als der Kaiser die Hofloge betrat.
Purpurrote Samtdecken hingen vom Balkon hernieder und belebten mit ihren glühenden Farben den Saal.
Auf dem Balkon waren nur wenige Leute: Offiziere, Kammervorsteher der Erzherzoge, die erschienen waren, Hofdamen, Gattinnen der verschiedenen Würdenträger. In der Hofloge warteten fünf Erzherzoge, darunter der Thronfolger Franz Ferdinand. Er hatte sich entschlossen, ohne seine Frau zu kommen. Die Anfrage, die er mit Zähigkeit jedesmal an das Obersthofmeisteramt richtete, ob der Herzogin von Hohenberg der Zutritt in die Hofloge gestattet wäre, war wie immer mit einem Nein beantwortet worden.
So erschien er trotzig allein, erwiderte den Gruß des Obersthofmeisters nicht und zeigte den kaiserlichen Prinzen eine mürrische Miene. »Segen! Segen! Segen!« sagte er rasch hintereinander, während seine Rechte ein Kreuz in die Luft zeichnete. Das enthob ihn des Händeschüttelns.
Den Erzherzog Friedrich und dessen Gemahlin Isabella übersah er einfach. Früher hatte zwischen ihm und den beiden herzliche Freundschaft bestanden. Seit seiner Verheiratung mit der Gräfin Chotek waren Friedrich und Isabella seine Feinde. Franz Ferdinand fürchtete die kleine wohlbeleibte Isabella um ihres scharfen Witzes willen. Sooft ihm eine spitze Bemerkung dieser Frau hinterbracht wurde, bekam er einen der Tobsucht nahen Wutanfall und schwur Rache.
Der alte Erzherzog Rainer redete ihn unbekümmert an: »Wie geht's deiner Frau und den Kindern, Franz?«
Franz Ferdinand sah ihn mißtrauisch an, erkannte jedoch, daß die Erkundigung keine Malice barg, sondern einfach in greisenhafter Gutmütigkeit erfolgt war. Er schaute noch allen Anwesenden zornfunkelnd ins Gesicht. Die aber taten, als hätten sie nichts gehört. Jetzt lächelte Franz Ferdinand und erwiderte: »Danke herzlich!« Er sprach demonstrativ laut: »Meiner Sophie geht es ausgezeichnet. Den Kindern gleichfalls. Wir sind alle miteinander den ganzen Tag froh und glücklich!« Er sah sich um, bemerkte, wie Isabella spöttisch lächelte, meinte zu vernehmen, daß sie vor sich hin flüsterte: »Wer's glaubt!«, und biß sich auf die Lippe.
Da erklang die Fanfare.
Franz Joseph trat ein; die Prinzen standen nach ihrer Verbeugung stumm. Die Erzherzoginnen tauchten aus tiefem Hofknicks auf.
Ein kurzes »Guten Morgen!« des Kaisers, begleitet von einer in die Runde grüßenden Handbewegung. Sobald Franz Joseph sich gesetzt hatte, öffneten sich an der gegenüberliegenden Schmalseite die hölzernen Tore, und vier Reiter kamen in die Bahn.
Geradeaus näherten sie sich im Schritt der Hofloge, hielten davor in angemessener Entfernung, zogen gleichzeitig die Zweispitzhüte, schwenkten sie, daß der Arm sich waagrecht streckte, machten dann kehrt und begannen unter den Klängen der »Zigeunerbaron«-Musik ihre Quadrille.
Haargenau glichen die Kreise, die Wendungen der vier Hengste einander. Eine Korrektheit war das, so vollendet, daß sie musikalisch wirkte.
Alle hier im Saale waren des Reitens kundig, waren mit Pferden vertraut, gaben sich mit kennerischem Genießen dem Schauspiel hin, entzückten sich an den schönen Tieren und an ihrer edlen Kunst.
Der Kaiser sah angeregt, mit ernst zusammengezogenen Brauen zu. Seine weißbehandschuhte Rechte stieß leise und ordnend von unten nach oben gegen den dichten weißen Schnurrbart.
Da flüsterte jemand in seiner Nähe: »Fad!«
Der Kaiser erkannte die Stimme des Thronfolgers.
Er wendete den Kopf und sagte energisch: »Wer sich langweilt, soll gehen!« Man hörte den aufsteigenden Zorn aus diesen Worten.
Franz Ferdinand erwiderte, als wäre er bestürzt: »Verzeihung, Majestät. Das hat nicht der Quadrille gegolten.«
Geringschätzig wurde ihm abgewinkt: »Schweig!«
Franz Ferdinand schwieg, blieb sitzen und schmunzelte kaum hörbar. Der dicke schwarze Schnurrbart verdeckte dieses Schmunzeln. Er hatte seine Absicht, den Kaiser zu ärgern, durchgesetzt.
Die Quadrille war zu Ende, die vier Reiter empfahlen sich. Die hölzernen Türflügel blieben offen.
Jetzt kamen sieben Hengste herein und schritten in Front vor die Loge. Sieben Zweispitze wurden von sieben Köpfen gezogen, waagrecht zur Höhe gehalten und wieder aufgesetzt.
In der Mitte stand Florian. Rechts von ihm drei ältere, längst schon fertiggeschulte Tiere, links von ihm drei ebenso sicher erprobte Hengste. Florian hatte die Mitte. Er sah aus wie ein strahlender Jüngling unter reifen Männern. Er war inmitten der weißen, an der Brust, der Kruppe oder den Beinen grau bewölkten Pferde der einzige wirkliche Schimmel. Sein schneeiges, durch keinen einzigen Flecken getrübtes Fell erinnerte an wolkenlose Sonnentage, an gnadenreiche Geschenke der Natur. Seine großen dunklen Augen, auf deren tiefem Grund die Seele zu schimmern schien, sprachen stumm von Jugend, Kraft und frischer Gesundheit. Oberbereiter Ennsbauer saß wie eine antike Statue im Sattel. Mit dem braunen Frack, den scharf geschnittenen, rotbraunen Zügen, der unbewegten Miene machte er den Eindruck, als wäre er in Erz gegossen.
Der Kaiser bemerkte, indessen die Bläser mit der Musik begannen: »Der Ennsbauer hat keinen Bügel und keine Sporen.«
Die Pferde gingen an der grauweißen Holzvertäfelung dahin. In ihre langen Schweife und ihre wehenden Mähnen waren Goldschnüre geflochten. Paarweise wurden sie zur Hohen Schule herangeführt, kamen von unten her, von der andern Schmalseite gegen die Mitte und setzten zum synkopierten, zum kadenzierten Schritt an. Der Kaiser schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Er sah nur Florian an und wartete gespannt.
Sein Kennerblick prüfte das Pferd, prüfte den Reiter, konnte nichts entdecken, was Einschränkung des Lobes erheischte, das er vernommen hatte. Seine rechte Hand stupfte den Schnurrbart von unten her, aber sanft und ohne die schnelle Ungeduld, die an ihm bekannt war, wenn ihn etwas enttäuschte.
Ennsbauer fühlte den Beobachterblick des Kaisers wie körperliche Berührung. Er straffte sich. Jetzt, im Sattel, mit dem herrlichen Hengst zwischen seinen Schenkeln, dessen Bereitschaft zu gehorchen er deutlich und beglückt verspürte, jetzt war jedes Schwarzsehen, jede Bangigkeit verschwunden. Von dem gesammelten, hingegebenen, freudig entschlossenen Tier, auf dem er saß, empfing er Sammlung, Entschlossenheit, Zuversicht.
Da war die Reihe an ihm.
Von der Wand weg lenkte er Florian in die Mitte der Bahn der Hofloge entgegen.
Ein winziges Zeichen, und Florian, als hätte er darauf gewartet, ging von der Wand weg sofort im spanischen Schritt.
Anmutig und feierlich zugleich hob er die Beine, sah aus wie an den Rhythmus der Musik gebunden, sah aus, als ob er aus eigenem Willen zu eigener Lust den Reiter so gemessen langsam dahintrüge.
Mit dem Raum geizend, setzte er einen Huf knapp vor den andern.
Der alte Erzherzog Rainer rief leise: »Noch nie hab' ich so meisterhaft piaffieren gesehen.«
Florian schritt einher, wie die Rosse schreiten, die im Triumph, majestätisch und der triumphalen Gelegenheit bewußt, einst vor Jahrhunderten siegreiche Cäsaren, erfolggekrönte Feldherren getragen haben mochten bei ihrem Einzug in eroberte Städte oder bei ihrer Rückkehr in die Heimat.
Der steil gebogene kräftige Hals, der schwere, gedrungene Leib, der auf dünnen Beinen federnd sich zu wiegen schien, das Spiel der Muskeln und Gelenke – alles das bildete zusammen ein hinreißendes Schauspiel, das noch hinreißender wurde, weil man ihm den Wunsch anmerkte, Großartiges großartig darzustellen.
Die Musik dauerte an, und Florian drehte leise das Haupt, dessen Kinn zur Brust gesenkt blieb, im Takt nach rechts und links.
»Erinnerst du dich«, flüsterte Elisabeth ihrem Mann zu, »was unser Bub einmal von Florian gesagt hat? Er singt, hat der Kleine gesagt, er singt, man hört ihn nur nicht.« Im selben Augenblick dachte Ennsbauer auch an diesen Ausspruch und lenkte Florian aus dem spanischen Tritt unmittelbar in die Volte. Die Freude, mit der Florian das annahm, die spurlose Leichtigkeit, mit der er den ganz kurzen, den scharf kadenzierten Galopp einschlug, ermutigte Ennsbauer, sich sofort in die kunstreichste und schwierigste Art der Volte, in die Redopp, zu wagen und die Pirouette anzuschließen.
Als hätte Florian die Absicht, einen Kreis in die Lohe des Bodens zu stampfen, so blieb sein Hinterbein, um das er sich drehte, fast unbeweglich am Platz. Der erregende Anschein ergab sich, das Pferd wäre in vollstem Lauf und käme nicht vom Fleck, würde von einem Zauber oder von einer inneren Überlegung an dieselbe Stelle gebannt.
Als hierauf nach kurzem Umritt Florian zur Pesade aufstieg, die beiden Vorderbeine hoch erhoben, die Hinterbeine tief eingeknickt, zwei-, dreimal diese schwierige Balance gleich dem leichtesten Spiel gehalten hatte, wurde es kein Antreiben, sondern vielmehr ein Gewährenlassen, als Florian zu courbettieren begann. Steil aufgerichtet. Die vorderen Beine schlugen nicht in die Luft, hingen ruhig nebeneinander, im Knie gebogen, so daß man aufwartender Hündchen sich erinnerte. So trug Florian den Reiter, sprang, ohne die Hinterbeine zu straffen, vier-, sogar fünfmal je ein kleines Stück vorwärts. In den Augen der Zuschauer malte sich die Art, wie Florian die Courbette ausführte, nicht als Bravour, nicht als durch langes Studieren und sorgsame Dressur besiegte Körperschwere, sondern als ein Akt des Mutwillens, als ob das Pferd den Überschuß beherrschter Riesenkraft heroisch auszutoben trachtete.
Nochmals ein kurzer Umritt, abgekürzt durch die Ungeduld Florians, der dabei ganz von selbst im spanischen Schritt der Hohen Schule ging. Florian genoß die Musik, wiegte sich in ihrem Rhythmus. Ihm war der Rang der Menschen gleichgültig. Aber die Gegenwart so vieler Zuschauer hatte ihn vom ersten Augenblick an befeuert. Er wollte gefallen, er empfand heiße Sehnsucht nach Lob; sein Ehrgeiz, von der Musik entfacht, versetzte ihn in einen Rausch; das Gefühl von Jugend und Wohlsein, das Florian durchströmte, kam wie ein Strom im Gefälle zum rauschenden Überschäumen. Nichts mehr war schwierig für Florian. Er feierte mit seinem Reiter, mit all den Menschen hier ringsum ein zauberhaftes Fest. Er spürte den Boden nicht unter den Hufen, spürte nicht einmal die geringe Last auf seinem Rücken. Er schwebte, tanzte zur Melodie, deren fröhliche Klänge ihn entzückten; er hätte fliegen können, wenn es von ihm verlangt worden wäre.
So sprang Florian mit angezogenen Hinterbeinen, mit gestreckter Vorhand, sprang ein zweites Mal zum Erstaunen Ennsbauers, ging nach derart im Hauch vollbrachter Croupade wieder in den spanischen Tritt. Feierlich und zugleich sichtbar übermütig, stolz, dabei belustigt, was seinen großen dunklen Augen, die vor Heiterkeit sprühten, anzumerken war. Beim Sprung der Ballotade steigerte Florian das Kunststück rasch zur Capriole, so hoch sprang er vom Stand in die Luft, so gleichmäßig streckte er alle viere, und so vollkommen war das »Streichen«, daß er, wenn man nur die beiden Hinterhufe sah, einem störrischen Gaul glich, der, den Kopf tief gesenkt, die Vorderbeine zu Boden gestemmt, zornig ausschlug. Aber Florian war nichts weniger als zornig. Er befand sich weit weg vom Boden in der Luft, hatte die Vorderbeine gerade vor sich und das Haupt zuversichtlich emporgerichtet. Es war ein stummes Jauchzen: Bezwingen!
Der Beifall knatterte durch den weiten Raum. In der Mitte der sechs andern Hengste kam Florian vor die Hofloge, und während die Bereiter ihre Zweispitze grüßend schwenkten, neigte er ein einziges Mal das schöne Haupt, als wüßte er, daß die Ovation ihm galt, und als wollte er dafür danken.
Franz Joseph hatte selbst das Zeichen zum Applaus gegeben, indem er ein paarmal ganz leicht die Hände zusammenschlug. Dann stand er auf und wandte sich an den Erzherzog Rainer, der in der Hofrangloge als der entfernteste Thronagnat einen der letzten Plätze einnahm, der aber der älteste aller Erzherzoge war, älter sogar als der siebenundsechzigjährige Kaiser. »Nun«, sagte Franz Joseph, »hast du jemals so etwas gesehen?«
»Nein«, antwortete Rainer, »derartiges erlebe ich zum erstenmal.«
»Na also!« Der Kaiser betonte jetzt absichtlich jedes Wort. »Ich verstehe nicht, wie sich jemand dabei langweilen kann!«
Rainer beschwichtigte: »Das hat ja niemand gesagt.«
»O doch!« erwiderte Franz Joseph, und es war eine Spitze in seinem messerscharfen »O doch!«
Franz Ferdinand markierte ein Gähnen.
Den weiteren Vorführungen widmete der Kaiser wenig Aufmerksamkeit. Er wurde ungeduldig und erhob sich, um die Reitschule zu verlassen.
»Nach dem Florian kann man nichts mehr sehen«, erklärte er Isabella und Friedrich, »unmöglich!«
Zum Oberststallmeister, der in der Loge erschien, sagte Franz Joseph: »Ich hab' keine Zeit mehr – Sie wissen ja!«
Graf Bertingen erlaubte sich die Bemerkung: »Schade – der Florian nur am Leitseil, das ist das beste, Majestät.« Franz Joseph war in guter Laune: »Gewiß, schade, aber auch ich bin am Leitseil meiner Pflichten.«
Der Oberststallmeister verbeugte sich.
Der Kaiser lächelte: »Ich danke Ihnen, lieber Bertingen, es war wirklich sehr schön. Eine vortreffliche Leistung!« Er blieb nochmals stehen: »Da habe ich etwas für den König von England, der ja bald zu mir kommt!« Und wieder mit Betonung, während seine eben noch lachenden Augen unter dem buschigen Weiß der Brauen einen harten Glanz annahmen: »Der wird das nicht langweilig finden. Der nicht!«
Er schritt hinaus.
Franz Ferdinand zog eine hämische Miene, schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin: »Wie er sich ärgert! Großartig!«
Alle hörten das. Selbst der Kaiser hätte es noch hören können.
Franz Joseph stand vor der offenen Logentür und sprach mit dem Grafen Bertingen: »Sagen Sie dem Ennsbauer, daß ich sehr zufrieden bin.«
Damit ging er, und gleich darauf verließen auch die andern die Reitschule; denn Bertingen verkündete, daß die Schlußvorführung, Florian am losen Leitseil, unterbleiben werde.
Graf Bertingen ließ Ennsbauer holen, der ganz bestürzt herbeikam. Aber der Oberststallmeister hatte Trost für ihn.
»Meinen Glückwunsch, Ennsbauer«, sagte er und ließ die unbeabsichtigte, im hohen Hofdienst beinahe selbstverständliche Kopie des Kaisers in Ton und Haltung, Distanz und Leutseligkeit nicht verkennen, »Seine Majestät haben allergnädigst geruht, Ihnen Seine allerhöchste Zufriedenheit durch mich aussprechen zu lassen.«
Ennsbauer verneigte sich. Sein Gesicht blieb unverändert, nur in den Augen flimmerte es hell.
»Ein großer Erfolg, Ennsbauer«, sprach Graf Bertingen weiter, »die Vorführung ist für den Besuch Seiner Majestät des Königs von England bestimmt worden. Da können Sie den Florian auch am langen Leitseil zeigen.«