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Das Manhard-Zimmer.

Der enge Gang, welcher zu den Chambres séparées führte, lag im weißen Schimmer der Gaslampen. Aus den weißen Milchglaskugeln, die wie absynthgefüllte Karaffen opalisierten, floß das Licht die weiße Holztäfelung der Wände herunter und lag auf dem roten Laufteppich, der den schmalen Boden bedeckte. Durch den großen Spiegel am Ende, vor welchem die Damen beim Kommen ihre Haare ordneten und die Herren ihre Haltung prüften, schien es, als sei der Korridor noch einmal so lang. Aus den weißlackierten Türen, die nach beiden Seiten zu den Kabinetts führten, drang gedämpftes Lachen, Schreien und Gläserklirren. In einem Zimmer wurde Klavier gespielt. Ununterbrochen schwebten die Walzer und Couplets durch den Gang, strömten wie aus einer Leitung hervor, welche diesen hellen Raum mit Melodien versorgen sollte, wie die Lampen ihm Licht und die Gitter der Luftheizung Wärme gaben. Von Zeit zu Zeit begann die elektrische Klingel zu toben. Dann liefen die Kellner aus dem offenen Servierzimmer, in welchem unaufhörlich Tafelgeschirr klapperte, mit lautlosen Schritten über den roten Teppich hin und verbreiteten einen fetten, warmen Speisengeruch, der aus den Schüsseln, die sie auf dem Arm trugen, aufstieg. Der duftige Rauch feiner Zigaretten zog sich durch alle Türspalten und lagerte in kleinen Nebeln um die weißen Gaslampen.

Ganz am Ende des Korridors ward eine Tür aufgerissen und zugeschlagen. Lautes Lachen flatterte eine Sekunde mit vollem Schall heraus, und ein junger Kellner kam dahergerannt. Er trug die Scherben einer Champagnerflasche in der Serviette und war über und über begossen. Doch schien er sich ausgezeichnet zu amüsieren. Er lächelte vor sich hin, wie jemand, der ein gutes Geschäft gemacht hat.

Der Oberkellner Heinrich lehnte ruhig an der Tür des Servierraumes und sah ihn kommen: »Das hat die Berton getan, nicht?« Der junge Kellner lachte laut: »G'rad' auf die Schulter hat sie mich 'troffen.« Heinrich nickte bloß. Das hatte er sich ja gleich gedacht. – »Wie ich ihr hab' einschenken wollen, auf einmal ...« Der Oberkellner hörte nicht mehr zu. Das Weitere interessierte ihn nicht; das kannte er. Ruhig blickte er wieder die Wände entlang in den Spiegel, indessen der Junge seine Geschichte den anderen erzählte und das Schmerzensgeld zeigte. Aus jedem Zimmer drang Geschrei, Poltern, Hallorufe. Ein Pikkolo schlich neugierig hin und horchte. Heinrich hob würdig die Serviette: »Pst! Du – wirst gleich geh'n!« Im Zimmer gab es einen schmetternden Krach; man hatte offenbar Flaschen und Gläser zu Boden geworfen. Der Oberkellner blieb ruhig stehen. Er zuckte nur geringschätzig mit den Achseln: diese Sorte war ihm bekannt, die gleich um halb elf betrunken war und dann alles in Trümmer schlug.

Eiliges Laufen. – »Küss' die Hand!« – »Habe die Ehre, guten Abend!« – »Küss' die Hand.« – Ein paar Herren und eine Dame waren gekommen. »Ist noch was leer?« – »Hier, bitte! – Bitte, hier! Nummer drei!« schrie der Pikkolo eifrig und riß eine Tür auf. Der Oberkellner schleuderte ihn mit einer unmerklichen Bewegung beiseite, daß er im finsteren Kabinett verschwand. »Auf Nummer sieben anzünden,« befahl er. »In Nummer sieben, wenn's angenehm ist. – Nummer drei, bitte, ist bestellt.« – Nummer sieben ward geöffnet. »Decken!« rief der Oberkellner leise. Der Pikkolo kam verschüchtert aus dem dunklen Zimmer und sah seinen Chef mit fragenden Augen an. »Vorwärts!« befahl Heinrich, die Serviette schüttelnd.

Am Ende sollte er dem Buben ein Langes und Breites erklären. Das könnte er jetzt schon wissen, ob Nummer drei jemals vergeben wurde. Nummer drei ist nicht zu haben, es wird jeden Abend reserviert. Das war nun schon seit zwölf Jahren so, und er nannte es bei sich gar nicht mehr anders als das »Manhard-Zimmer«. Seit zwölf Jahren, seit ihrem Engagement am Josefstädter Theater, kam das Fräulein Manhard jeden Abend nach der Vorstellung herüber und soupierte auf Nummer drei. Heinrich hielt dieses Zimmer alle Abend für sie bereit. Sie hatte ihm das zwar niemals aufgetragen, aber in der langen Zeit war sie im ganzen zweimal ausgeblieben. Zuerst vor neun Jahren, als sie auf der Bühne ohnmächtig wurde, weil der junge Baron Füller sich verlobt hatte, und dann vor drei Jahren, an dem Tag, an welchem der alte Graf gestorben war. Sonst ist sie wohl alle Tage hier gewesen. Sie war die einzige, die aus jener lustigen Zeit übriggeblieben, aus den guten Tagen von damals, in denen Heinrich hier Oberkellner geworden. Fast zugleich mit ihm, kaum ein Jahr später, war sie hierhergekommen und kannte das Lokal so gut wie er selbst. Sie wußte, wie nur er, was es früher gewesen und was es jetzt war. Beide hatten sie die guten Jahre miterlebt, da die Leute es noch verstanden, ihr Geld auszugeben, und sie hatten beide davon profitiert.

Draußen hielt ein Wagen, man hörte das Zuklappen des Schlages. »Anzünden auf Nummer drei!« befahl Heinrich. Es war Fräulein Manhard, und er drückte sich an die Wand, um sie vorüberzulassen. Das wohlbekannte Parfüm schlug ihm ins Gesicht, der Pelz streifte seine Hand. Er lächelte grüßend, mit diskreter Vertraulichkeit und doch devot. Sie nickte ihm zu und war schon in das Kabinett getreten, als noch der kleine, junge Herr, der sie begleitete, sehr angelegentlich fragte: »Is was frei?« Heinrich musterte ihn. Ein schlanker Jüngling, fast knabenhaft, mit schmalen, abfallenden Schultern, vornehmen, weißen Händen, kurzem, blondem Haar, ein bißchen schüchternen Manieren, aber von dem gewissen guten Stil, den Heinrich sofort spürte. »Theresianist«, sagte er abschätzend vor sich hin.

*

Johanna saß auf dem kleinen, roten Plüschsofa vor dem gedeckten Tisch und zog ihre Handschuhe aus, als Heinrich mit der Karte eintrat; lange, schwedische Handschuhe, die bis zum Ellbogen reichten. Sie hatte eine schottische Seidenbluse an, mit kurzen Aermeln. Behaglich legte sie ihre dicken, weißen Arme auf das Tischtuch, nahm die Karte und begann das Menü zu komponieren. Vor jeder Speise, die sie nannte, sagte sie langsam: »alsdann –« und fragte hernach: »is recht?«

Heinrich stand steif vor dem Tisch, den Notizblock in der Hand, und schrieb auf. Dabei warf er kurze, beobachtende Kellnerblicke von der Seite auf den jungen Herrn, der in einem Fauteuil saß. Der junge Herr war befangen und aufgeregt, wollte aber gelassen aussehen und Figur machen. Er hatte die Beine gerade vor sich hingestreckt, wie jemand, der sich zu Hause fühlt, aber er zupfte seine Manschetten hervor, ordnete mit verzagten Handbewegungen an der Krawatte und strich manchmal rasch über das kurze, in der Mitte bis zum Wirbel herab gescheitelte Haar. Sein frisches, junges Gesicht war ganz rot. Auf das »is recht?« antwortete er leise »ja!«, nur einmal sagte er » Très bien,« aber da wurde er noch röter. Dann faßte er sich, und als Johanna Heidsieck bestellte, wandte er sich ganz laut zu Heinrich, korrigierend, mit verwöhntem Ton, wie man eine alte, unentbehrlich gewordene Gewohnheit mitteilt: »Nicht Heidsieck – Pommery – im ... Er hatte »immer« sagen wollen.

»Alsdann – Pommery,« wiederholte Johanna.

Heinrich trat auf den Gang hinaus, gab den Zettel ab und lehnte wieder an der Tür zum Servierraum. Er war jetzt immer etwas lebhafter, wenn sie kam, und wenn sie dann drinnen saß und soupierte, war er hier draußen besserer Laune. Er kannte sie ganz genau, und wenn man etwas von ihr wissen wollte, brauchte man nur ihn zu fragen. Er erinnerte sich noch, wie sie als siebzehnjähriges Mädel zum erstenmal hierhergekommen war. Der dicke, alte Kugler, der immer auf Novitäten aus war, hatte sie gebracht. Der hatte sie dressiert, denn das verstand er ausgezeichnet. Er hatte sie essen gelehrt, hatte ihr mögliche Begriffe von Toilette beigebracht und sie dann gut lanciert. Es war überhaupt ein Lieblingssport des alten Herrn, seine Entdeckungen zu lancieren. Bekam er dann einen Baron oder gar einen Grafen zum Nachfolger, so war er stolz. Aber nicht jede hatte sich so gut gehalten wie Johanna. So was tobt und wirft das Geld hinaus und zerschlägt aus reinem Mutwillen das Geschirr, wie da drinnen die Berton, fährt auf Gummirädern, gibt Feste und vergeudet alles, bis eines Tages die ganze Geschichte irgendwo in Jassy oder Temesvar jämmerlich endet. Heinrich hatte nie Respekt gehabt vor diesen liederlichen Frauenzimmern, die ihm Banknoten in die Hand drückten, wenn er sie, angetrunken, mit zerrissenen und begossenen Kleidern, in den Wagen hob.

Johanna konnte ihm damals nicht so gefallen wie heute. Sie war ihm zu dünn, zu kindlich mit ihrem langen, blonden Zopf. Einmal hatte er sie zufällig auf der Bühne gesehen, vor zehn Jahren etwa. Sie spielte an diesem Abend eine kleine Rolle, aber sie machte keinen Eindruck auf ihn. Seither war Heinrich nicht im Theater gewesen, und Johanna hatte keine Rolle mehr gespielt, sondern wirkte nur »so« mit.

Aber hier war sie immer in seiner Nähe gewesen, und allmählich war sie ihm aufgefallen, wie sie niemals übermütig und toll war, wie sie nie etwas verschwendete und nie Lärm schlug.

Dann, wie es ihr immer gleichmäßig gut ging, vom ersten Tag an. Nie war sie wie die anderen, einmal oben, einmal unten; brauchte nie ihren Schmuck verpfänden oder ihre Kleider verkaufen wie die anderen, wenn sie keinen Verehrer hatten. Johanna war übrigens nie allein, in den ganzen zwölf Jahren nicht. Heinrich konnte das genau kontrollieren, denn er hatte alle ihre Verehrer gesehen, hier, in Nummer drei. Und sie mußte sogar Geld gespart haben, auch wenn er den Schmuck gar nicht rechnete, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Denn sie gab keine Feste, hatte keine kostspieligen Passionen, und soviel er von den Kutschern wußte, nahm sie fast nie allein einen Fiaker. Als der Baron Füller sich verlobte, mit dem sie zwei Jahre ein Verhältnis gehabt, soll sie eine sehr anständige Abfertigung bekommen haben. Und der alte Graf, der sie dreieinhalb Jahre ausgehalten, dürfte sie bei seinem Tode wohl auch bedacht haben. Das hatte ihm ja stets an ihr gefallen. Sie hatte nie den Erstbesten genommen; und wenn's auch nur für einen Abend war, immer verkehrte sie mit den feinsten Herren. Nie war sie mit so einem Kommis dahergekommen, der das defraudierte Geld hier verjuxte und dann eingesperrt wurde. Er hatte es erlebt, wie solche Mädchen den Schmuck auf die Polizei tragen mußten und extra noch in die Zeitungen kamen. Johanna hat auch nie diese dumme Passion für Schauspieler gehabt wie die anderen. Sie hat nie einen schönen Statisten mitgebracht, der sich das Souper bezahlen läßt und dem man Handschuhe und Hut kaufen muß, damit er nur überhaupt ins Gasthaus gehen kann. Dafür war sie jetzt erst hübsch. Wo waren nun die anderen, die damals hier aufgehaut hatten, als die Johanna noch mit dem alten Kugler ging? Nur wenige kamen noch manchmal hierher; von den übrigen wußte man gar nicht, wohin sie geraten waren. Und diese paar Ueberlebenden, konnten die sich, verwelkt und verblüht, wie sie waren, mit Johanna vergleichen? Johanna sah frisch und gesund aus. Sie hatte rote Wangen, dicke Arme und runde Hüften. Die hatte es eben verstanden, und er empfand geradezu Hochachtung vor ihr.

Die Klingel am Türpfosten über ihm schrillte zweimal. Er kannte dieses kurze Läuten und ging ins Zimmer Nummer drei.

*

Der Theresianist saß mit roten Ohren da und hielt Johanna bei der Hand. »Alsdann, bringen's einen Syphon.« Lächelnd zog sich Heinrich zurück und schickte das Verlangte durch den Pikkolo. Der junge Herr hatte offenbar den Champagner zu rasch getrunken, und Johanna wollte ihn vor einem Rausch bewahren. Ja, sie verstand eben das alles, und bei ihr war einer gut aufgehoben. Er setzte sich auf seinen kleinen Sessel im Servierraum nahe bei der Tür. Das weiße Licht schwamm in seinem gleichmäßigen, ruhigen Glanze draußen durch den Korridor, über den weißen Teppich herein zu ihm. Das Klavier klimperte aus dem letzten Kabinett noch immer dieselben Walzer und Couplets herüber, er hörte das gedämpfte Murmeln der Gespräche aus den Zimmern. Tiefes Männerlachen, Aufhusten, leise Schreie. Der Duft von Zigarren wurde stärker und mengte sich mit dem Geruch, der aus den Schüsseln und leeren Biergläsern im Servierraum aufstieg. Heinrich griff zu einer Virginier und begann nachdenklich mit halb geschlossenen Augen vor sich hin zu rauchen. Das war seine ruhige Stunde, in der alles versorgt war, in der es auf dem hellen Gang und in den Zimmern stiller und stiller wurde und man keine Tür öffnen durfte, ohne gerufen zu werden. Heinrich dachte nach. Er überlegte Weintarife und Fleischpreise, Bierprovisionen und Personalkosten. Er wußte, daß er diese Dinge bald benötigen werde, und er lächelte über die Fehler in der Geschäftsführung, die er hier in den vielen Jahren herausgefunden hatte. Das würde er alles besser verstehen, wenn er nur erst sein eigener Herr geworden. Wieder tönte die Klingel zweimal. Heinrich war zuerst ein bißchen erstaunt, dann aber legte er die Virginier hin und ging.

*

Der Theresianist schlief. Den Kopf in Johannas Schoß, lag er auf dem Sofa, das junge, frische Gesicht an die Seide ihrer Taille geschmiegt. Er hatte hochrote Wangen in dem tiefen, gesunden Kinderschlaf, dem er nicht mehr hatte widerstehen können. Die eine Hand hing zur Erde herab, in der anderen hielt er noch verknüllt die Serviette über die Brust. Johanna saß weit zurückgelehnt und ihre vollen, weißen Arme waren rechts und links gerade ausgestreckt auf der Sofalehne. Sie lächelte gutmütig. »Alsdann, bringen's mir Zigaretten!« Heinrich blickte sich im Hinausgehen noch einmal nach ihr um. Sie gefiel ihm wirklich ganz besonders. Dieses runde, zufriedene Gesicht mit den lachenden braunen Augen, die schönen blonden Haare, die im goldenen Schein des kleinen Kronleuchters schimmerten, ihr starker Leib mit der weißen, milchigen Blondinenhaut, die fleischigen Arme, die sich so hübsch mit den vielen funkelnden Bracelets und Ketten vom roten Plüsch des Sofas abhoben.

Johanna fühlte diesen Blick und sah erstaunt nach der Tür hin, die sich jetzt schon wieder geschlossen. Sie war geschmeichelt und amüsiert. Während der letzten Zeit hatte sie öfter solche Blicke aufgefangen, aber sie war hier immer zu sehr engagiert gewesen, um weiter darauf zu achten. Heute allerdings blieb ihr Zeit genug. Sie lächelte zu dem schlafenden Knaben hinab und sah dann wieder zur Tür.

Heinrich brachte die Zigaretten und reichte sie ihr über das Tischchen. »Bitt' schön um a Feuer,« sagte sie. Sie kokettierte bereits mit ihm. Er wurde so erregt, daß er ein Glas umstieß und erschrocken zu dem Theresianisten hinspähte. Johanna kicherte leise, das war doch wenigstens ein Amüsement, und sie sah ihm tief in die Augen: »Oh, macht nichts, der wacht nicht auf.« Heinrich hielt ihr das brennende Zündhölzchen hin. Sie rauchte ihre Zigarette umständlich und lange an, die Augen dabei fortwährend auf ihn gerichtet.

Er wurde verlegen, denn er wußte nach diesen verschmitzten Blicken nicht, ob sie wirklich kokettierte oder sich nur über ihn lustig mache.

Johanna warf den Kopf fröhlich an die Lehne zurück und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Sie lachte wieder – »es brennt ja schon – danke!«

Nun blickte Heinrich, der noch über den Tisch gebeugt war, auf den schlafenden Theresianisten nieder. Dann lächelte er sie verständnisinnig an: »Fräul'n Johanna, soll ich Ihnen eine Zeitung bringen?«

Sie lachte ein wenig lauter: »Aber, nein! – Glauben S' denn, daß ich mich langweil'?«

Heinrich griff nach dieser Frage: »Na, das g'rad nicht – aber, es wär' nur, daß die Zeit vergeht – – so allein – –«

Durch die Wände drang das Singen und Lachen aus den anderen Kabinetts herein, das Klavierspielen und das Klirren der Gläser.

Johanna summte den Walzer mit. Dann, wie zu einer Aussprache angeregt, sagte sie auf einmal mit selbstverständlicher Vertraulichkeit: »Es ist mir so lieber – daß er schlaft –,« und ihn herausfordernd anblinzelnd: »Wann nur ein jeder schlafen möcht'.«

Heinrich nahm eine wichtige Miene an und rieb sich mit der flachen Hand das Genick: »Ganz richtig,« sagte er ernst, »der Mensch braucht seine Ruhe!« Es war nicht entschieden, ob er damit den Theresianisten oder Johanna gemeint hatte, aber Johanna bezog es auf sich. Sie nickte ihm zu und seufzte: »Mir ist meine Ruh' auch das Liebste auf der Welt.«

Heinrich wagte sich näher. Den Kopf zur Seite geneigt, mit erwartungsvollen Augen, sagte er einschmeichelnd: »Fräul'n Johanna sollten sich halt zurückziehen. Na ja, das ewige Theaterspielen muß Ihnen mit die Jahre ja auch zuviel werden ...«

Sie fuhr mit dem Finger quer über den weißen Hals: »Bis daher hab' ich's schon –

Heinrich sah ihren weißen Hals an, dann deutete er mit einer unbestimmten Handbewegung im Zimmer umher: »Und das da muß Ihnen ja auch schon fad sein, mein' ich –«

Sie nickte ernsthaft: »Und wie!« – »Natürlich, natürlich,« sprach er weiter, »man is ja net wie andere Leut'.«

Johanna lag mit zurückgebogenem Kopf auf der Lehne und blickte zur Decke auf – langsam blies sie den Rauch zu der türkischen Tapete empor, an der sie jeden Strich, jeden kleinen Riß kannte.

Von nebenan hämmerte das Klavier, man hörte Kreischen und Lachen.

»Früher noch,« fuhr Heinrich fort, »da war halt ein anderes Leben – wie noch der junge Baron Füller her'kommen is, das war noch was – und dann – –«

Johanna hatte bei diesem Namen rasch den Kopf gehoben. In ihr war keine Spur von Empfindlichkeit darüber, daß man so geradezu an ihre Erinnerungen rührte. Sie erzählte ruhig, wie sie sich damals gekränkt hatte, als der Baron heiratete und nach Madrid zur Botschaft kam. Sie berichtete davon wie von einem interessanten Unglücksfall, durch den man selbst interessant wird. Jetzt unterhielten sie sich beide von diesen fernen Tagen. Sie sprachen flüsternd vom alten Kugler, vom Grafen und von all den anderen, die in dem kleinen Zimmer hier gewesen, auf diesem roten Sofa gesessen, an dem Tisch da getrunken. Und sie warfen nur manchmal kurze Blicke auf den Schlafenden in Johannas Schoß, ob er von ihrem Geplauder nicht erwache. Heinrich wurde plötzlich erregt, er bekam Herzklopfen.

Die Gedanken und Pläne alle, die er draußen im Servierraum bei sich überlegt hatte, während er die Mayonnaisen und Austern beaufsichtigte, kamen ihm in den Sinn. »Fräul'n Johanna sollten heiraten,« sagte er, »das wär' das G'scheit'ste.«

Johanna lachte, wie über einen komischen Einfall, während er dastand und sie gespannt betrachtete.

»Das kann man leicht sagen – heiraten – aber wen denn?«

Heinrich sah die Entscheidung kommen. Er zog feierlich die Weste herunter und rieb sich wieder mit der flachen Hand das Genick. Wenn es kein Kavalier sein müsse, wenn sie einen einfachen Mann, der's ehrlich meint –

»Warum wollen Sie denn, daß die anderen Leut' heiraten? Sie haben ja auch noch nicht geheiratet.«

Sie fiel ihm mit dieser Frage mitten in die Rede und zerriß sein Konzept. Er schaute sie einen Augenblick verdutzt an. »Aber ich möcht' ja sehr gern – ich – ich hab' ja – in der letzten Zeit – ich wollt' g'rad –«

Johanna lachte: »Na, Ihr' Frau, die wird auch a Freud' hab'n, wann der Mann immer erst in der Fruh z'hauskommt.«

»Bitte sehr, ich bleib' ja net da im G'schäft – i geh' ja fort –«

Johanna riß die Augen auf. »Was?! Sie? Sie geh'n fort von da? Ah, nicht möglich!«

Heinrich war befriedigt von der Sensation, die er erregt hatte. »Gelt, da schau'n S'? – Freilich geh' ich fort – ich möcht' mich ja selbständig machen. Wann der Mensch in die Jahr' kommt, möcht' er doch sein eigner Herr sein – .« Er deutete wieder mit vager Handbewegung im Zimmer umher. »Das da ist doch nicht für immer –«

Johanna wurde nachdenklich. »Nein, da haben S' recht – das is net für immer.« Der praktische Sinn, der aus diesen Erklärungen sprach, hatte sie ergriffen.

»Draußen in Dornbach is mir a Wirtsg'schäft an'tragen wor'n. Natürlich muß man erst was d'raus machen. Zum Frühjahr könnt' i's übernehmen; da ließ ich's dann herrichten, fein ausstatten, a schöner Garten is auch dabei, und wenn ich die Schramm'ln spielen laß' oder im Winter Bälle geb' im Saal, dann geh'n mir meine Herrn da, die was mich jahrelang kennen, alle außer.« Er deutete mit dem Finger, als wollte er sie durch die Wände hindurch zeigen.

Johanna hatte interessiert zugehört. »Na, ich wünsch' Ihnen viel Glück,« sagte sie dann, »es wird schon gehen«.

Heinrich war jetzt im Zuge. »Warum denn nicht? I versteh ja mei' G'schäft. Nur a Frau – – – Seh'ns, Fräulein Johanna – wenn ich so a Frau krieg'n könnt' wie Sie – das wär' mir recht, so was könnt' ich grad' brauchen – so was Feines, wissen S', was Besseres – und so was Gemütliches! Ueberlegen S' Ihnen's vielleicht.«

Er schwieg erwartungsvoll.

Johanna warf ihre Zigarette in ein Weinglas. Es war ganz still, und man hörte, wie das Feuer darin verzischte.

»Geh'n S', Heinrich, bringen S' mir jetzt an schwarzen Kaffee – –«

»Gleich, bitte!« Er war nun wieder ganz Kellner, wie er sofort leise und gemessen hinausschritt.

Johanna sah ihm mit ernsten Augen nach. Etwas halb Vergessenes erwachte in ihr. Das Gedächtnis an die heimatlichen Vororte, das in ihr geschwiegen, während sie bei den vornehmen Leuten gelebt hatte und von ihrer Eleganz wie mit einem feinen Email überzogen ward. Die Erinnerung an die niederen Häuser da draußen, an die dumpfen, engen Stuben, in denen sie aufgewachsen, an die weiten Höfe, wo sie Holz hackte, Wasser trug und mit den Buben spielte, an die dunklen Torbogen, in denen sie als junges Mädchen von den Bäckergesellen und Fleischerburschen gedrückt und geküßt wurde, an die Bauplätze und Felder, wo sie im Gras gelegen, wenn sie abends mit einem ihrer Geliebten von den Heurigenschenken kam. Es sprach etwas Altbekanntes aus dem Manne, der in dem lichten Kabinett da vor ihr gestanden. Dieser braune, aufgedrehte Schnurrbart unter der kecken Stumpfnase, die feschen, mit Pomade gestrichenen Edelknaben-Sechser an den Schläfen, die fidelen kleinen Augen und der gewalttätige rohe Mund, der ihr energisch von der Tüchtigkeit redend erschien; wie etwas Familiär-Vertrautes grüßte es sie aus diesem Antlitz, in dessen Mienen sie leichter zu lesen vermochte als in den Zügen jener anderen, welche sie seither umarmten. Und zugleich war auch etwas von der gewissen Noblesse an ihm, die sie ja selbst angenommen hatte und die ihr zum Bedürfnis geworden war. Die weiße Hemdbrust mit den goldenen Knöpfen, der moderne, gutsitzende Stehkragen, aus dem sein roter, kraftvoller Nacken hervorquoll, dann seine gezügelten, runden Bewegungen, eine Art von Würde in seiner Haltung, seinem Gang, die an den alten Herrn Kugler erinnerte und an die behagliche Sicherheit wohlhabender Menschen.

*

Heinrich eilte mit der kleinen Mokkatasse durch den Korridor. Er servierte den Kaffee, wie man ein Geschäft verrichtet, das man nicht mehr nötig hat und dessen man sich nur noch aus Güte annimmt. Er sah schon das Gasthaus in Dornbach, »sein Gasthaus!«, und Johanna mit ihrem blonden Kopf und dem vollen, lachenden, roten Gesicht an der Schankkasse. Es war ihm, als könnte es keinen besseren Platz für sie geben, als wäre sie dort draußen erst wirklich zu Hause. Und er empfand es wie einen Triumph, sie dorthin zurückführen zu können, wie eine Heimkehr aus vielen, reichen Eroberungen. Er dachte das nicht mit klaren Worten, aber er dachte an die erstaunten Gesichter, mit denen man sie empfangen würde, an das Ansehen, das sie beide mit ihren Erfahrungen, mit ihren Bekanntschaften und mit ihrer Ueberlegenheit sich verschaffen könnten. Er mußte lächeln, als er an den geschlossenen Türen vorbeischritt. Wie die alle staunen werden, die da drinnen sitzen, wenn sie das erfahren. Wie man sich drängen wird, die Johanna als Wirtin zu sehen, ihre Freunde und ihre Freundinnen. Er berechnete im Fluge den Kundenkreis, zu dem ihnen die Beziehungen Johannas verhelfen würden, und er mußte wieder lächeln.

Er öffnete leise die Tür und stellte seine Tasse nieder. In den Blicken, mit denen sie sich begrüßten, lag schon ihre junge Intimität. Mit dem Gespräch von vorhin hatte sich bereits etwas zwischen ihnen ereignet, das sie verband, es war jetzt, da sie sich nach wenigen Minuten wiedersahen, zu einem gemeinsamen Erlebnis geworden, das sie einander näherbrachte.

»Na – wie is'?« flüsterte er, während das Geschirr in seiner Hand noch leise klirrte und er die Gläser beiseite schob, um Platz zu schaffen. Johanna lächelte. Da begann er wieder, ihr seine Pläne auseinanderzusetzen, und jetzt hörte sie ihn freundlich an, stimmte zu und fand neue Vorschläge, auf die er mit sachlichem Ernst erwiderte, und aus ihren Reden sprach ein gegenseitiger überzeugter Respekt, sprach die unverhohlene Anerkennung, die sie einander entgegenbrachten, über ihr tüchtiges, klug angewendetes Leben. Und nun war alle Scheu zwischen ihnen vorüber. Sie spürten, wie sie einander so leicht und rasch verstanden, aus jedem Wort die enge Verwandtschaft, die sie immer verknüpft hatte, erst in der Jugendzeit und dann hier in ihren Berufen. Wie mit einem Ruck gaben sie die Formalitäten der vornehmen Welt auf, bei deren Amüsement sie so lange bedienstet gewesen.

Heinrich lag mit beiden Ellbogen über dem Tisch, den Kopf ganz nahe bei ihrem Antlitz, und redete auf sie ein. Er hatte die Teller und Schüsseln beiseite geschoben, auf diesem Tisch, an dem er sie zwölf Jahre lang bedient hatte, während sie hier mit den anderen gesessen und fröhlich gewesen.

Er griff nach ihrer weißen Hand, auf der die kostbaren Steine vieler Ringe glänzten – »Geh'n S' weg,« sagte sie und entwand sich ihm – »so weit sind wir noch gar nicht –«

Vom Korridor her schrillte der befehlende Ruf der elektrischen Glocke. Da beugte er sich vor, spähte mit kurzem, diebischem Blick zu dem feinen, rosigen Pagengesicht des Schlafenden in ihrem Schoß hinab, dann griff er sie an ihren vollen Armen und über den schlummernden jungen Aristokraten hinweg küßte er sie rasch, wie sie einst draußen unter den dunklen Torbogen eilig und verstohlen geküßt wurde.


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