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Die ganze Pracht des Frühlings war über den Park des Neuen Palais zu Potsdam und den Garten von Sanssouci ausgeschüttet. Die Bäume standen in einer Üppigkeit, wie sie seit lange nicht beobachtet worden war, und auf Beeten prangten die Primeln, Narzissen und Tulpen im herrlichsten Farbenschmuck. Dabei durchzog ein süßer, wunderlieblicher Duft die ganzen Parkanlagen, und goldener Sonnenschein warf seine glitzernden Lichter durch die Zweige auf die sorgfältig gepflegten Wege.
Ein langer hagerer Offizier in schlichter blauer Uniform, der die breite Allee, welche vom Neuen Palais nach Sanssouci führt, dahergeschritten kam, schien aber von der Wonne des Frühlings nicht im mindesten berührt zu werden; er machte ein recht unwirsches Gesicht. Als er einige hundert Schritte gegangen war, begegnete er einem Herrn, der von einem Seitenwege in die breite Allee einbog; doch hätte er ihn in seinem Unmute vielleicht gar nicht bemerkt, wenn dieser nicht laut »Guten Morgen, Majestät!« gerufen hätte. Jetzt blickte er auf, und über sein Gesicht ging ein freundlicher Zug.
»Guten Morgen, lieber Schilden!« erwiderte er, blieb stehen und reichte dem Herrn die Hand.
Der verdrießliche Offizier war der König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Er pflegte, wenn er mißgestimmt war, hinaus ins Freie zu gehen und sich dort, wie er sagte, »seinen Ärger zu verlaufen«. Leider gab es in diesem schönen Frühlinge des Jahres 1802 des Ärgers und Verdrusses mehr als genug. Draußen im Auslande war es der erste Konsul der französischen Republik, Napoleon Bonaparte, der beständig Verstimmungen hervorrief. Er wurde immer rücksichtsloser gegen Preußen und schien den friedfertigen König sogar absichtlich zu reizen. Dazu kamen noch Verstimmungen in seiner Haus- und Hofhaltung. Er war ein sehr gewissenhafter und sparsamer Haushalter, der sich auch um das Einzelne der Wirtschaft und selbst um das Kleine bekümmerte. Da ging er denn oft zu weit und erregte sich über Dinge, die ihn eigentlich gar nicht hätten berühren sollen.
Das war auch diesmal wieder der Fall. Seit lange war er mißgestimmt über den Kammerdiener seiner Gemahlin, den Christian. »Unachtsamer Mensch!« hatte er in seiner kurzen Art schon wiederholt zu seiner Gemahlin gesagt, »ein Träumer. Werde ihn einmal nach Spandau schicken, daß er aufpassen lernt.«
Dann hatte die Königin stets ein gutes Wort für den Gescholtenen eingelegt. Daß er ein Träumer war, konnte sie allerdings nicht in Abrede stellen, dafür durfte sie aber seine sonstigen Eigenschaften loben, seine Treue, seine Gutherzigkeit, seinen guten Geschmack, wenn es etwas zu arrangieren, mit Blumen zu garnieren, oder sonst irgendwie zu schmücken gab. Die Nachlässigkeit, die er sich neuerdings wieder hatte zuschulden kommen lassen, vermochte allerdings auch sie nicht zu entschuldigen. Am vorigen Abend hatte er im Salon der Königin ein Fenster offen gelassen und in unbegreiflicher Gedankenlosigkeit eine kostbare Tischdecke in dieses offene Fenster gelegt. Darauf war bei dem Gewitter, das sich in der Nacht entladen hatte, die Tischdecke vom Winde hinausgeweht worden und hinab in die Traufe gefallen, wo sie dann vom Regen ausgewaschen worden war. Sie schien nun gänzlich ruiniert zu sein, was um so mehr beklagt werden mußte, da sie ein Geschenk des Königs von England war.
Der König war sehr aufgebracht, als er von der Nachlässigkeit hörte, und hatte sofort den Kammerdiener entlassen wollen. Auch die Königin hatte diesmal für eine Bestrafung dieser Pflichtvergessenheit gestimmt, aber doch gebeten, noch nicht mit der Dienstentlassung vorzugehen. Auf eine gelindere Strafe hatte aber der König nicht eingehen wollen, er hatte seiner Gemahlin heftig geantwortet und sie schließlich sogar durch sein zorniges Aufbrausen verletzt. Darauf war er in seiner Aufregung hinaus in den Park geeilt.
»So geht's einem noch obendrein,« sagte er schließlich, nachdem er dem Kammerherrn v. Schilden den Vorfall mitgeteilt hatte. »Wie soll ich dem Menschen nun Achtsamkeit und Sorglichkeit beibringen? Oder taugt er überhaupt nicht zum Lakaien, und wäre es besser, ich steckte ihn unters Militär, in eine Handwerkerkammer oder in eine Schreibstube?«
Der Kammerherr v. Schilden schwieg einige Augenblicke, dann sagte er langsam, wie zögernd: »Allerdings, Majestät, es scheint mir auch, als wenn er sich zum Kammerdiener wenig eigne. Sein verstorbener Bruder war ja ein ganz vorzüglicher Lakai, ein Muster seiner Art, aber der Christian hat wohl nichts von diesen Talenten.«
»Freut mich, daß Sie mir zustimmen«, versetzte der König. »Stehe bei meiner Frau mit meiner Meinung immer allein da. Werde aber jetzt auf meinem Willen bestehen. Kerl soll sich wundern.«
»Offenbar«, fuhr der Kammerherr fort, »liegt seine Begabung nach einer ganz anderen Seite hin, und darum wohl auch die gnädige Nachsicht Ihrer Majestät. Es steckt etwas von einem Künstler in dem jungen Menschen.« Der Kammerherr blickte dabei den König forschend von der Seite an.
»Ach ja, ganz recht, habe dergleichen schon einmal sagen hören«, entgegnete der König. »Nun, dann taugt er auch noch nicht einmal für die Handwerkerkammer oder die Schreibstube, dann kann ich ihn nur gleich einfach fortschicken. Derlei Leute mit solchen Firlefanzgedanken sind zu gar nichts nütze. Was war's doch gleich, was er –«
»Er hat Talent zur Bildhauerei,« erwiderte der Kammerherr, »und Ihre Majestät hat ihm daher auch bereits vor längerer Zeit huldreich gestattet, an den Abenden, an denen er dienstfrei ist, den Studien im Aktsaale der Akademie beizuwohnen, das heißt, wenn sich der Hof in Berlin befindet.«
»So?« fragte der König. »Soll wohl gar ein Genie sein? Weiß ja von dem allem noch gar nichts. Ist mir wohl absichtlich verheimlicht worden? Aber gut, daß nun endlich dahinter gekommen. Mag keine Genies, will Kammerdiener.«
Er hatte sich wieder mehr und mehr in Erregung hineingeredet, der Kammerherr wagte daher nichts weiter über den Gegenstand zu sagen. Und da der König nun wieder den Rückweg nach dem Neuen Palais einschlug, so schritten die beiden Männer jetzt schweigend nebeneinander her.
Am Portal des Schlosses verabschiedete sich Herr von Schilden, und der König wandte sich nach den Gemächern der Königin. Dort fand er seine Gemahlin mit Tränen in den Augen.
»Es ist ein rechter Unglückstag«, sagte sie, indem sie sich erhob und ihm entgegenging. »Du weißt, als wir, meine Schwester Friederike und ich, dich damals in dem Lager bei Bodenheim besucht hatten –«
»Ja, ja,« versetzte der König, »es war Ende Mai 1793 in dem Feldzuge gegen die Franzosen.«
»Da schenktest du mir, zur Erinnerung daran, einen silbernen Fingerhut, auf dem dargestellt war, wie wir dich im Lager begrüßten. Es war zugleich das erste Geschenk, das du mir als Bräutigam machtest. Ich habe darauf den Fingerhut immer sehr hoch gehalten und sorgfältig gehütet und nun –«
»Nun ist er doch nicht etwa gestohlen worden?« fragte der König ungeduldig.
»Das wohl nicht, aber ich habe ihn doch eingebüßt. Ich nähte noch gestern nachmittag damit und legte ihn unvorsichtigerweise nicht wieder in das Nähkästchen, sondern daneben auf das Tischchen am Fenster. Da muß er irgendwie hinunter auf den Fußboden gerollt sein, so daß ihn Christian heute morgen zertreten hat.«
Der König fuhr ordentlich zurück, als er den Namen hörte. »Was?« rief er, »schon wieder eine Ungeschicklichkeit, eine wahre Tölpelhaftigkeit von diesem Menschen! Wird wohl selbst den Fingerhut hinuntergeworfen haben in seiner Schlafmützigkeit. Ganz unerhört! Noch nie so einen Menschen gehabt. Siehst jetzt hoffentlich ein, daß er vollständig unbrauchbar.«
»Er hat ja besonders in letzter Zeit viel zu wünschen übrig gelassen«, mußte die Königin zugeben. »Doch es schien ihn irgend etwas schwer zu bedrücken, und ich möchte dich daher bitten, dich in deinem Unmut über ihn nicht hinreißen zu lassen.«
»Willst ihn schon wieder in Schutz nehmen?« murrte der König; aber sein Zorn war doch schon gebrochen, konnte er doch überhaupt nicht widerstehen, wenn die so heißgeliebte und so hochverehrte Frau ihn um etwas bat. »Wo ist denn der Fingerhut?« fragte er dann.
Die Königin holte ihn von ihrem Arbeitstische und zeigte ihn dem Gemahl. Er sah höchst kläglich aus, der Fuß des Dieners hatte ihn vollständig zusammengedrückt, so daß die Seitenwand total zersplittert war.
»Die Gräfin Voß, die heute mittag nach Berlin fährt,« begann die Königin wieder, »soll ihn mit zu einem Juwelier nehmen, vielleicht ist er doch noch zu retten.«
»Glaube nicht, daß da noch etwas zu machen ist«, versetzte der König. »Jammerschade! Hatte das kleine Ding so gern; erinnerte mich immer dabei an euern Besuch damals, über den ich mich so freute. Wart auch beide sehr nett dargestellt, wenn das Ganze auch weiter kein Meisterstück war. – Was aber nun mit dem Hans Tapps anfangen? Einfach zum Teufel jagen?«
»Handle nicht im Zorn«, erwiderte die Königin, und ihre großen blauen Augen blickten ihn so bittend an, daß er gar nicht anders konnte, als sich ihrem Wunsche fügen. »Gib ihm zunächst einige Tage Stubenarrest,« fuhr sie fort, »dann wird uns mittlerweile einfallen, wie wir ihn anderwärts verwenden können. Er ist ein durchaus braver Mensch, aber er steht hier nicht an der richtigen Stelle.«
Der König stimmte zu, und so ward über den Kammerdiener Christian ein mehrtägiger Stubenarrest verhängt, den der arme Verurteilte hoch oben in seinem Mansardenzimmer abzusitzen hatte.
Tief niedergeschlagen saß er an seinem Tische; die ganze Welt erschien ihm grau und düster; nirgends sah er für sich einen Hoffnungsstern, während seine Seele sich in Sehnsucht nach einem ganz anderen Schaffen verzehrte, während seine Phantasie ihn fort und fort hinaustrug in die Welt der Schönheit, der Kunst. Ja, nur dort allein konnte er sich glücklich fühlen, nur dort, wo er seinen Phantasiegebilden Form zu geben vermochte, in der Werkstatt des Bildhauers war sein Platz.
Erregt stand er auf und fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn, zugleich blickte er zum Fenster hinaus in den herrlichen Frühlingstag, auf den Hof, wo stets Diener und Beamte geschäftig hin und her gingen. Auch Paul, den Lakai der Gräfin Voß, sah er aus einer Tür kommen.
Da schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er pfiff leise und winkte dem jungen Burschen, als dieser aufblickte, zu sich herauf. Und als dieser dann kam, bat er ihn, wenn er nachher mit der Gräfin Voß nach Berlin fahre, ihm von dort einen glatten silbernen Fingerhut mitzubringen.
Paul versprach sehr gern, den Wunsch zu erfüllen, worauf ihm Christian gleich den entsprechenden Betrag einhändigte.
Dann aber holte er sich ein Blatt Papier und seine Bleistifte, setzte sich wieder an seinen Tisch und begann emsig zu zeichnen. Unter der Leitung Chodowieckis, des berühmten Direktors der Akademie der bildenden Künste, hatte er sich in seinen dienstfreien Stunden in der Akademie stets mit großem Eifer dem Zeichnen gewidmet und sich auch immer den Beifall des Meisters erworben, es konnte ihm daher jetzt nicht schwer fallen, aus dem Gedächtnis die zierlichen Figürchen zu reproduzieren, die auf dem Fingerhute der Königin angebracht gewesen waren, zumal er sich die Zeichnung oft genug früh morgens beim Instandsetzen des königlichen Gemaches angesehen hatte. Ja, er bemerkte sogar, während er zeichnete, daß er jedes einzelne Strichelchen kannte, selbst die beiden Vögel, die am Himmel über den Zelten angebracht gewesen waren. Die Hauptgruppe aber, die beiden Prinzessinnen, den damaligen Kronprinzen und den König Friedrich Wilhelm II., glaubte er sogar noch lebenswahrer und ähnlicher dargestellt zu haben, als sie auf dem Original zu sehen gewesen waren. Je weiter er kam, desto heller glänzten seine großen blauen Augen, und als er schließlich den letzten Strich getan hatte, da sprang er jubelnd auf, aller Kummer war vergessen, das ganze Wonnegefühl des Künstlers, der etwas Schönes geschaffen, erfüllte ihn.
Ungeduldig harrte er nun der Rückkehr Pauls entgegen, und als dieser dann gegen Abend kam und ihm den gewünschten Fingerhut brachte, da zündete er sofort seine kleine Schirmlampe an, holte sein Federmesser und begann unverzüglich die Übertragung seiner Zeichnung auf den Fingerhut. Eine Radiernadel wäre hierzu allerdings weit geeigneter gewesen, doch bestand auch sein spitzes Federmesser aus so hartem Stahl, daß er mit Leichtigkeit auf dem weichen Silber jede Linie eintragen konnte. Noch war Mitternacht nicht vorüber, als sich bereits die ganze kleine anmutige Szene im Lager bei Bodenheim in zierlichem Bilde auf dem Fingerhut darbot.
»Wie wird die Königin wohl den Ersatz aufnehmen?« fragte er sich. »Wird sie mir meine Unachtsamkeit verzeihen, wird auch der König mir nicht mehr zürnen?« Ja, er wagte sich noch weiter in seinen Gedankengängen. »Werden die Majestäten vielleicht gar Freude über die kleine Arbeit empfinden und mir vielleicht ermöglichen, die Laufbahn des Künstlers einzuschlagen?«
Er mußte sich in den Stuhl zurücklehnen, so ungestüm klopfte ihm das Herz. Aber seine Phantasie trug ihn unaufhaltsam weiter, er sah sich in einem weiten Atelier herrliche Standbilder schaffen, wie das des Großen Kurfürsten auf der Brücke am Schloßplatz, sogar die holde Königin Luise sah er wie eine hoheitsvolle Statue vor sich stehen, aber plötzlich ging es ihm wie ein Stich durchs Herz, er sprang vom Stuhle auf und ging heftig im Zimmer auf und ab. Wie konnte er sich in solche Träume verirren, weil er ein artiges Bildchen auf einen Fingerhut graviert hatte und noch dazu bloß einfach nach einem Muster! Nein, nein, er würde gewiß bleiben, was er war, ein ungeschickter Lakai.
Er trat ans Fenster und lehnte den heißen Kopf ans Fensterkreuz. Es war ihm unsäglich elend zumute.
Noch lange grübelte er, bis er endlich zur Ruhe ging. –
Am anderen Morgen ließ er durch einen ihm befreundeten Kammerdiener den Fingerhut der Oberhofmeisterin Gräfin Voß mit der Bitte zustellen, ihn der Königin zu überreichen. Diesem Wunsche entsprach die Gräfin Voß auch alsbald, worauf er schon im Laufe des Vormittags zur Königin befohlen wurde.
Die Königin dankte ihm zunächst herzlich, daß er ihr den Fingerhut erneut habe, der alte sei – nach den Versicherungen des Juweliers – in der Tat nicht zu reparieren, und da sie das Andenken an ihre fröhliche Brautzeit immer schmerzlich vermißt haben würde, so sei es ein sehr glücklicher Gedanke von ihm gewesen, ihr diesen Ersatz herzustellen. Dann aber wandte sie sich zu der kleinen eingravierten Szene.
»Ich bin ganz erstaunt,« sagte sie, »mit welcher Treue Sie die Gruppe dargestellt haben. Es fehlt nichts, auch rein gar nichts daran; sogar die beiden Vögel über den Zelten sind vorhanden. Doch die Treue und Genauigkeit ist bei weitem noch nicht die Hauptsache an der kleinen Arbeit; die Gruppe ist auch noch weit vollendeter ausgeführt, als das bei dem Original der Fall war. Man sieht es deutlich, daß Sie ein großes Talent für die bildende Kunst besitzen. Baron v. Schilden hat mir schon wiederholt davon gesprochen, aber ich hatte bisher keine Gelegenheit, mich davon zu überzeugen; jetzt sehe ich es deutlich und werde nun auch Sorge tragen, daß Sie nicht hier in dieser Stellung verkümmern.«
Christian hätte aufjauchzen mögen vor Seligkeit, aber dann war es ihm auch wieder, als wäre das gar nicht Wahrheit und Wirklichkeit, was er da hörte; es schwindelte ihm. Wie ein Geretteter kam er sich vor, der bis zur Ermattung mit Wogen und Sturm gekämpft und der nun doch endlich durch eine hilfreiche Hand das Land erreicht.
Und er sollte sich auch nicht getäuscht haben. Seiner gütigen Fürsprecherin gelang es jetzt leicht, ihren Gemahl für den jungen Künstler zu gewinnen, war doch auch dieser in hohem Grade über die gelungene Reproduktion des Fingerhutes erfreut und zugleich erstaunt über die Kunstfertigkeit, mit der sie ausgeführt worden.
Christian erhielt zunächst einen sechsmonatigen Urlaub und ging auf Empfehlung des Barons v. Schilden nach Dresden, um dort unter tüchtigen Meistern die ersten gründlichen Studien zu machen. Der König schenkte ihm hierzu zehn Friedrichsdor, und die Königin sorgte für anderweitige Ausstattung. In Dresden kam er schnell über das Anfangsstadium hinaus, und als er im Januar 1803 wieder nach Berlin zurückkehrte, setzte er in der königlichen Bildhauerwerkstatt unter Schadow seine Studien fort und erhielt schließlich in regelrechter Weise, wie es der König liebte, seine Entlassung aus dem Dienste, zugleich mit der Zubilligung der etatsmäßigen Pension von hundertfünfundzwanzig Talern und zwölf guten Groschen.
Nun war er ganz frei von allen Fesseln, und frohlockend zog er hinüber nach der Heimat der Kunst, nach Italien, begleitet von den herzlichsten Wünschen seiner Gönnerin. In Rom, wo er sich niederließ, fand er bald im Hause von Wilhelm v. Humboldt ein trautes Heim, und an Thorwaldsen und Canova treue und hilfreiche Freunde. So machte er denn in seiner Kunst schnell große Fortschritte, und bald nannte man drüben in der preußischen Hauptstadt den Namen Christian Rauch mit Achtung und weiterhin mit Stolz.
Aber der Königin Luise war es nur noch kurze Zeit vergönnt, sich an dem kühnen Emporsteigen ihres Schützlings zu erfreuen; das schwere Unglück, welches von Frankreich aus über Preußen hereinbrach, lähmte ihre Lebenskraft, und vor der Zeit sank sie ins Grab. Doch ihr hoheitsvolles Bild blieb für alle Zeiten erhalten. In einem Meisterwerke schuf Christian Rauch die ruhende Statue der Unvergeßlichen für das Mausoleum zu Charlottenburg und umgab sie mit der ganzen königlichen Anmut, die ihr eigen war.
Tränenden Auges dankte der König Friedrich Wilhelm III. dem Künstler für diese herrliche Schöpfung, und in seinem Innern bat er ihm ab, daß er einst das harte Wort gesprochen, er wolle keine Genies.
Rauch jedoch hatte die Bitternis seiner Jugend längst überwunden, ja er war sogar überzeugt, daß er das Monument, das ihn für alle Zeiten berühmt gemacht, gar nicht so vollendet hätte bilden können, wenn er die Königin nicht viele Jahre tagtäglich geschaut hätte. Allein, wenn er dieses günstigen Umstandes gedachte, dann erinnerte er sich auch stets des glücklichen Zufalls, daß er einmal unvorsichtigerweise den Fingerhut der Königin zertreten. Wer weiß, meinte er dann immer, ob er jemals Bildhauer geworden wäre, wenn dieser kleine Unfall seinem Lebenswege nicht die neue Richtung gegeben hätte.
Rauch, dessen Hauptwerk das berühmte Denkmal Friedrichs des Großen in Berlin ist, war einer der ersten Bildhauer seiner Zeit und Begründer der Berliner Bildhauerschule. Er starb nach einem an Werken und Ehren reichen Leben am 3. Dezember 1857.
In Hesses Neuen Leipziger Klassiker-Ausgaben erschienen: Charles Dickens' ausgewählte Romane. Übersetzt und herausgegeben von Richard Zoozmann. 16 Bde. Mit Biographie und zwei Bildnissen des Dichters. In 8 Leinenbdn. M. 22.50. In 16 Bände gebdn.: Leinen M. 30.–. Feine Ausgabe M. 42.–. Luxus-Ausgabe M. 54.–. Salon-Ausgabe M. 38.–. Jeder Band einzeln in biegsamem Leinenband M. 2.–.
Inhalt:
Bd. I–II. David Copperfield. Der berühmteste Roman von Dickens, der hier in autobiographischer Form vieles aus seinem eigenen Kindheits-, Jünglings- und Mannesleben erzählt, und zwar in bald tief ergreifender, bald in äußerst lustiger, immer aber in fesselnder und die Aufmerksamkeit des Lesers wacherhaltender Weise. Adolf Wilbrandt nannte diese Lebensgeschichte mit vollem Recht die schönste und beste Romandichtung des neunzehnten Jahrhunderts. Und in der Tat ist es einer von den wenigen Romanen, zu dem man in gewissen Zwischenräumen immer wieder gern zurückkehrt, um bei der erneuten Lektüre, selbst im vorgeschrittenen Lebensalter, immer wieder die alte Freude, die alte Ergriffenheit zu empfinden mit den bald rührenden, bald belustigenden Erlebnissen und Abenteuern des duldenden, ringenden und endlich triumphierenden kleinen David.
Bd. III. Londoner Skizzen. Ein Bild des alltäglichen Londoner Lebens in Hunderten von kleinen aber scharfbeleuchteten Momentaufnahmen, das Großstadtleben mit seinen guten und schlimmen Eigenschaften, mit seinem Humor und seinen Freuden, wie mit seinen Leiden und Sünden, überall durchdrungen von der absoluten Wirklichkeit und dem feinen Sinn für das Gefühl und der Herrschaft über den Stoff. Es ist der erste ungetrübte Erguß des Dickensschen Genius, der den Autor mit einem Schlage berühmt machte. Die in dem ganzen Werke entfaltete Beobachtungsgabe ist geradezu staunenswert in ihrer vollkommensten Leichtigkeit und in der Geschicklichkeit der Behandlung sovieler einander entgegengesetzten Begebnisse.
Bd. IV–V. Die Pickwickier. Wie Don Quixote und Sancho Pansa, so steht Herr Pickwick und Sam Weller obenan in der humoristischen Dichtung der Weltliteratur. Überall, also nicht nur in England, werden die Pickwickier wegen ihrer überströmenden Freude und ihres heitern Lebensgenusses, der nie die Grenzen der Wohlanständigkeit überschreitet, ein Lieblingsbuch für solche Leser bleiben, die für die in diesem Roman sprudelnde, allerdings etwas eigentümliche humoristische Ader ein gewisses Verständnis besitzen, sich dann aber an der wunderbaren Frische und an dem unerschöpflichen Frohsinn der darin auftretenden Personen wahrhaft erquicken.
Bd. VI. Oliver Twist. Nächst Robinson Crusoe und den Cooperschen Lederstrumpferzählungen erfreut sich wohl kein Roman bei der Jugend der gleichen Beliebtheit wie diese unterhaltende und stets mit feinen Mitteln spannende Erzählung eines armen Waisenjungen, der vom Schicksal durch allerhand widrige Verkettungen in das Haus einer Verbrecherbande geschleudert wird, aber infolge seines lautern Charakters und seiner standhaften Gesinnung aus allen Prüfungen und Unbilden rein und siegreich hervorgeht.
Bd. VII. Fünf Weihnachtsgeschichten. Sie enthalten das berühmte Heimchen am Herde, die von goldigster Poesie strahlende und Scherz und leise Tragik enthaltende, in tausenden von Ausgaben existierende Weihnachtsgeschichte, die auch den Komponisten Goldmark zu seiner Oper begeisterte. Der Verwünschte schildert einen der Melancholie verfallenen Gelehrten, der durch holden Weibeszauber erlöst wird. Der Kampf des Lebens stellt ein junges Mädchen zwischen zwei Liebhaber, wobei die ältere Schwester zum Glücke der jüngeren ihre eigene Neigung opfert. Die Silvesterglocken schlagen im Herzen des Lesers unvergeßliche Töne an und führen ihm das Los der Armen ergreifend vor Augen, während uns Der Weihnachtsabend die Pflicht vor Augen führt, Freude zu verbreiten, traurigen Herzen Trost und kalten Herden Licht und Wärme zu bringen. Dickens hat durch diese prächtigen Weihnachtsgeschichten mehr menschenfreundliche Güte genährt, mehr wirkliche Handlungen der Wohltätigkeit befördert, als eine Legion von Traktätchen und Erbauungsschriften zusammengenommen.
Bd. VIII. Harte Zeiten. Auf dem dreifachen Hintergrund von Schule, Fabrik und Kunstreiterwelt entrollt sich hier eine Folge von lebenswahren Gemälden vor den Augen des Lesers. Es sind Bilder von hoher nationaler Wichtigkeit, gesellschaftliche und sozialpolitische Fragen werden angeregt, die Schule mit ihren oft verkehrten Erziehungsmethoden wird gegeißelt und die überlegene Verachtung, die gewisse bürgerliche Kreise dem Leben und Treiben des Fahrenden Volkes entgegenbringen, glänzend zunichte gemacht. Diese Schrift bildet mit ihren darin enthaltenen Weisheitslehren für Staat, Familie und Volk einen Erziehungsroman ersten Ranges.
Bd. IX–X. Nikolaus Nickleby. Nach Stil und Inhalt einer der besten Romane, einheitlich und wohl durchdacht in Erfindung und Ausführung, schildert er in wahrhaft genialer Weise die etwas abenteuerliche Geschichte eines jungen, in der Welt ziemlich alleinstehenden Mannes, der sich nach vielen Widernissen, Enttäuschungen und harten Kämpfen als echter self-made-man sein Leben selbst zu zimmern und sich und seinen Angehörigen (einer schwatzhaften, köstlich gezeichneten Mutter und einer edeln, mit dem Bruder tapfer ringenden Schwester), eine gesicherte Lebensstellung zu erringen weiß. All diese interessanten Vorgänge haben einen satirischen Hintergrund, der ein bedeutendes und lebenswahres Zeitgemälde genannt werden muß, umsomehr er die Verwahrlosung der englischen Schulzustände und die grausame und törichte Handhabung in den Schuldgefängnissen in satirischer Weise schildert und zu deren Beseitigung s. Zt. kräftigst beigetragen hat.
Bd. XI–XII. Dombey und Sohn. Die Geschichte des menschlichen Stolzes zu schreiben, hatte sich Dickens in diesem Romane vorgesetzt, und der Dichter hat sein Ziel in wahrhaft glänzender Weise erreicht. Nächst Bleakhaus hat kaum ein anderer Dickensscher Roman die gleiche Fülle von lebenswahr geschilderten Personen und Charakteren aufzuweisen, die oft nur in wenigen Zügen an unserm geistigen Auge hingezaubert werden, aber dann wie von einem Blitzlicht klar beleuchtet vor uns stehen in ihrer ganzen Körperlichkeit. Dieser Roman, der ebenso wie Copperfield ein Ichroman ist, wurde und wird noch von vielen Lesern als bedeutendster und interessantester Roman allen andern Dickensschen Dichtungen vorgezogen. Berühmt ist die Schilderung vom Tode des kleinen Paul Dombey, der nur ein Seitenstück in dem Tode Joes, des Straßenfegers, in Bleakhaus findet. Übrigens könnte man diesen Roman ein nach englischen Anschauungen geschriebenes Seitenstück zu Freytags Soll und Haben nennen.
Bd. XIII-XIV. Bleakhaus. Halb Ichroman, halb Erzählung des Dichters, halb Sensations-, halb Mysterienroman, bringt dieser Roman eine wahrhaft überwältigende, aber dennoch scharf voneinander unterschiedene und lebenskräftig geschilderte Fülle von Personen mit sich. Er bildet eine von flammender Begeisterung gehobene scharfe Anklage gegen das englische Rechtswesen mit seinem Rattenkönig von überflüssigen Formalitäten. Ein seit Dezennien spielender Erbschaftsprozeß Jarndyce gegen Jarndyce reißt Verstand und Vermögen, Leben und Gesundheit der zahlreich dabei Beteiligten und oft wider Willen darin Verwickelten in seinen unerschöpflichen Schlund mit hinab, bis endlich das verhängnisvolle Testament aufgefunden wird, aber zu spät: denn die seit Generationen angewachsenen Kosten haben die Substanz verschlungen und alle Beteiligten gehen leer aus. Sensationell wirkt die Schilderung der Selbstverbrennung des alten Säufers Krook, aber reich entschädigt dafür der rührende Tod des armen Straßenfegerjungen Joe aus Tom-All-Alones. Trotz seinem schon erwähnten Figurenreichtum herrscht nirgend Verwirrung oder Unklarheit; klar und künstlerisch ist der reiche epische Stoff gegliedert, meisterhaft ist die feingesponnene Intrige angeknüpft, meisterhaft zu Ende geführt. Satire und Tragik wechseln mit Sensation und Humor in belebten Szenen unterhaltend und belehrend ab.
Bd. XV. Die Geschichte zweier Städte. Dieser Roman gibt in lebendigen alfresco gemalten Zügen ein grandioses Bild der französischen Revolution und spielt abwechselnd in Paris und London. Die Schilderung des edelgesinnten Ausgestoßenen ist in ihrer Art einzig und es gibt in der modernen Romanliteratur kaum eine großartigere und liebenswertere Gestalt als die des innerlich zerfallenen, sich selbstaufopfernden Warton. Das Treiben der Revolutionäre, der Charakter der Defarges und des Repräsentanten des ancien regime ist meisterhaft entwickelt und anschaulich geschildert.
Bd. XVI. Große Erwartungen. Wie David Copperfield ist auch dieser Roman in Form einer Selbstbiographie geschrieben; er schildert in spannender, von leiser Tragik verschleierter Weise, wie einem Knaben die ihm in Aussicht stehenden großen Erwartungen nach und nach in Nichts zerrinnen und sich ihm von allen Träumen und Hoffnungen nur jene verwirklichen, die er durch eigene Kraft und Tüchtigkeit in die Tat umzusetzen weiß, so daß ihm durch Fleiß und Arbeit eine angesehene Stellung und ein ebenbürtiges Weib als unverlierbares Gut zu eigen werden. Ohne jemals doktrinär und dadurch trocken zu werden, wohnt diesem Roman, der eine Kämpfernatur schildert, dennoch ein hoher erzieherischer Wert inne.
J. F. Coopers ausgewählte Romane. 8 Bände. Übersetzt und herausgegeben von Richard Zoozmann. Mit einer Biographie und einem Bildnisse des Dichters. Broschiert M. 12.–, jeder Band einzeln M. 1.50. In 8 biegsamen Original-Leinenbänden M. 16.–, jeder Band einzeln M. 2.–.
Inhalt: 1. Band: Der Wildtöter. 2. Band: Der letzte der Mohikaner. 3. Band: Der Pfadfinder. 4. Band: Die Ansiedler. 5. Band: Die Prärie. (Bd. 1–5 ergeben zusammen die Lederstrumpf-Erzählungen.) 6. Band: Der Spion. 7. Band: Der rote Freibeuter. 8. Band: Der Bravo.
Alte liebe Bekannte sind es, die hier in neuer Gestalt vor das deutsche Lesepublikum hintreten und um eine günstige Aufnahme werben wollen. Soviel neue und abenteuerliche Schriften: Reiseabenteuer, Seegeschichten, Kriegserlebnisse und dergleichen auch alljährlich erscheinen, den Cooperschen Romanen und dem Robinson Crusoe hat kein Buch eine ernste oder dauernde Konkurrenz machen können, die fünf Lederstrumpf-Erzählungen und einige Seeromane Coopers bilden noch immer die Krone dieser Art im besten Wortsinne gediegener Unterhaltungslektüre. Bei der Beurteilung der Cooperschen Romane darf man sich natürlich nicht auf die lebhaften Eindrücke aus der Jugendzeit verlassen, aber das Lesen in späterem Alter bestätigt doch von neuem, daß der amerikanische Schriftsteller neben den beliebtesten Romanverfassern alter und neuer Zeit genannt zu werden verdient, und besonders dann, wenn man die Phantasie als das betrachten will, was im Grunde den Dichter macht, Erfolg einträgt und Dauer verspricht. Er hält auch den Erwachsenen, der sich nicht mehr so leicht verblüffen läßt, in dem Banne seiner wunderbaren Erzählungskunst fest, versteht ihn mit Überraschungen zu packen und zu erregen, und weiß die Teilnahme durch abwechselnde und spannende Handlungen und Vorgänge, darunter meisterlich geschilderte Seestürme, Waldbrände usw. über Hunderte von Seiten hindurch unerlahmt festzuhalten.
Und wie abenteuerlich, fast unmöglich uns viele der geschilderten Begebnisse anmuten mögen: Cooper hat sein großes Talent nie zu bloßer Mache und Sensationslust herabgewürdigt: Der Kern seiner Geschichten ist immer wahr; denn in jenem Kriege, der im achtzehnten Jahrhundert zwischen Rothäuten und Blaßgesichtern ausgefochten worden ist, in jener teils gewaltigen, teils ergreifenden Geschichte der nordamerikanischen Kolonisation, sind wirklich solche Heldentaten geschehen, wie sie die Lederstrumpfromane erzählen. Lederstrumpf ist der Typus und berühmteste Vertreter aller jener namenlosen Pioniere und Helden, die dem heutigen Amerikaner durch die Gefahren der Wildnis den Weg gebahnt und am Existenzkampfe sowohl als auch an der Vernichtung der zähen, roten Rasse tatkräftig mitgewirkt haben: Darin liegt die Anteilnahme, die uns dieser kühne, selbstlose und aufopfernde Mann einflößt und zugleich auch sein tragisches Geschick, indem er für einige Stämme der unterdrückten roten Menschenbrüder ein warmes Mitgefühl übrig hat und andere bekriegen und vernichten helfen muß. In diesen fünf Romanen (Bd. I–V) ist das nordamerikanische Wald- und Wildnisleben mit all seinen Schönheiten und drohenden Schrecknissen, sowie in seiner ganzen herben Poesie am wahrsten und malerischsten verherrlicht worden. Im »Spion« (Bd. 6) behandelt der Dichter einen geschichtlichen Vorgang aus den nordamerikanischen Unabhängigkeits-Kriegen; der Roman wurde mit ungeheurem Enthusiasmus aufgenommen. Band 7 bringt einen der beliebtesten und meisterhaft geschriebenen See-Romane Coopers »Der rote Freibeuter«. Schließlich folgen wir dem Dichter noch auf ein politisches Gebiet im »Bravo« (Bd. 8), wo er die wachsenden Mißstände der eigenartigen Verfassung Venedigs seinem Roman zugrunde legt, Mißstände, die schließlich den Untergang der einst allmächtigen Beherrscherin der Meere herbeigeführt haben.
Die vorliegende Serie der Cooperschen Romane in der ursprünglichen Form wird gewiß freudig begrüßt werden und den Erfolg haben, dem amerikanischen Schriftsteller neue Freunde zuzuführen.
Druck von Hesse & Becker in Leipzig.