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An einem Vormittage im Juni 1754 sammelten sich vor einem am Alexanderplatze in Berlin gelegenen Hause, dem sogenannten Stelzenkruge, viele Menschen an, steckten die Köpfe zusammen und blickten bald zur offenen Haustüre hinein, bald zu den kleinen Fenstern hinauf und waren sichtlich sehr erregt.
In dem kleinen zweistöckigen Hause wohnte seit Jahren eine Witwe Langenberg, die für sehr wohlhabend galt; ihr Mann, der schon seit längerer Zeit tot war, hatte einen großen Viehhandel betrieben, für die Armee Friedrichs des Großen bedeutende Ochsenlieferungen nach Schlesien übernommen und viel Geld damit verdient. Trotzdem hatte seine Witwe sehr eingezogen gelebt, in fast krankhaftem Geize immer noch mehr gespart und sogar ihr oberes Stübchen, um ja noch etwas zu verdienen, an einen Kandidaten der Theologie, einen gewissen Georg Baumann, vermietet.
Diese Frau war es, welche die Menge vor dem Hause an jenem Vormittage so lebhaft beschäftigte. Sie war am Morgen nicht wie alltäglich in den benachbarten Milchladen gekommen, um sich ihr Kännchen Milch zu holen, und als um zehn Uhr ihre Aufwartefrau erschienen war, hatte diese die Türe zur Wohn- und Schlafstube noch immer verschlossen gefunden, auch alles Klopfen und Rufen war vergeblich gewesen, die Witwe hatte nicht geöffnet. Infolgedessen war die Aufwärterin zu den Nachbarn gegangen, hatte den sonderbaren Sachverhalt erzählt, und die Nachbarn, welche befürchteten, es möge der alten Frau etwas zugestoßen sein, sie könne vielleicht einen Schlaganfall bekommen haben und liege nun hilflos in ihrem Bette, oder es könne an ihr sogar ein Verbrechen verübt worden sein, hatten zur Polizei geschickt. Diese befand sich nun in dem Hause und ließ eben das Schloß zur Stubentür durch einen Schlosser öffnen.
Plötzlich entstand eine große Bewegung unter der Menge, ein Nachbar, der mit oben beim Öffnen der Stubentür gewesen und auch mit in die Schlafstube der Witwe getreten war, kam bleich aus dem Hause gestürzt und berichtete in größter Aufregung, es sei ein entsetzliches Verbrechen verübt worden, die Frau sei mit einem Stricke erwürgt, sie liege tot in ihrem Bette. Und so war es auch; die Witwe lag, noch mit allen Kleidern angetan, einen dicken Strick um den Hals, entseelt auf ihrem Bett; im Wohnzimmer und Schlafzimmer befand sich alles in der alten Ordnung, nur auf der Kommode, an der auch ein Schlüssel stak, war die Decke etwas verschoben und eine von den vier feinen Kaffeetassen, die, nach der Sitte der Zeit, zum Schmucke darauf standen, war umgefallen.
Die Aufwartefrau sagte alsbald aus, daß Frau Langenberg in dieser Kommode ihr Geld aufbewahrt habe, man konnte also annehmen, daß, falls hier ein Raubmord stattgefunden, der Mörder wahrscheinlich gut Bescheid gewußt habe, gleich an die Kommode gegangen sei, vielleicht auch eine Summe Geldes herausgenommen habe, dann aber, wohl gestört, schnell das Schubfach zugeschoben und dadurch die Decke verschoben und die Tasse zum Fallen gebracht habe. Das waren aber alles nur so die ersten Vermutungen, man besaß ja weiter gar keinen Anhalt; diesen konnte aber vielleicht der einzige Mitbewohner des Hauses der Ermordeten geben, dessen man sich jetzt erst erinnerte, der Kandidat Baumann. Ein Polizeibeamter schritt daher zu dessen Wohnung hinauf, allein dieselbe war verschlossen und wurde auch weder infolge von Rufen noch von Klopfen geöffnet. Weil die Sache zu wichtig war, Baumann womöglich ebenfalls ermordet sein konnte, da sich niemand der Nachbarn erinnerte, ihn weggehen gesehen zu haben, er auch, wie man wußte, immer bis gegen elf Uhr zu Hause blieb, von welcher Stunde ab er dann Privatunterricht gab – so ließ die Polizei auch seine Wohnung durch den Schlosser öffnen. Man fand aber den Kandidaten weder im Zimmer noch in der Schlafkammer und machte eine höchst seltsame Entdeckung: das Bett des Kandidaten war noch völlig unberührt, der Besitzer desselben hatte also entweder die Nacht außerhalb des Hauses zugebracht oder sich doch wenigstens in der Nacht nicht zu Bett gelegt. Dasselbe konnte am Morgen auch von keiner fremden Hand zurechtgemacht sein, denn die Aufwärterin der Frau Langenberg, die auch die Wohnung des Kandidaten mit instand erhielt, erkannte an der ganzen Art, wie das Bett noch lag, daß sie es so am Morgen des vorigen Tages gemacht hatte.
Man schüttelte natürlich sehr den Kopf; es war doch höchst seltsam und sehr auffällig, daß der Kandidat in dieser verhängnisvollen Nacht nicht wie immer in seinem Bette geschlafen. Er hatte sich bisher als ein sehr solider, strebsamer, fleißiger junger Mann gezeigt; da es ihm sehr kümmerlich ging, so hatte er viele Privatstunden gegeben, von elf Uhr an, wenn die Kinder aus der Schule kamen, bis spät abends, doch hatte er damit nicht viel verdient, denn die Stunden wurden nur sehr schlecht bezahlt. Ferner wußte man von ihm, daß er sich seit lange um eine Pfarrstelle bewarb, aber bisher immer leer ausgegangen war. Er hatte sich bisweilen sehr verstimmt darüber geäußert und auch so etwas fallen lassen, als wäre es ihm bei dem Wunsche, endlich ein Pfarramt zu bekommen, nicht einzig und allein um seine Person zu tun. Bestimmter hatte er sich aber nicht ausgesprochen und seine weiteren Familienverhältnisse kannte man nicht. Einige meinten aus seinen Äußerungen entnommen zu haben, er sei verlobt und wolle die arme Braut, die schon seit Jahren warte, endlich heimführen; das konnten jedoch nur Vermutungen sein, direkt hatte er dergleichen nicht gesagt. Im übrigen war er ein allgemein geachteter Mann, der seines freundlichen und bescheidenen Wesens wegen immer sehr gern gesehen wurde, auch bei seinen Schülern sehr gute Erfolge erzielte. Wie stand es nun um ihn? War er in irgendeiner Weise an der Ermordung der Witwe Langenberg beteiligt gewesen, oder hatte er gar selbst den Mord ausgeführt und war nun flüchtig geworden?
Gegen die letztere Annahme war die Stimme im Publikum ganz entschieden, ja die meisten Nachbarn meinten sogar, der Kandidat könne nicht einmal an dem Verbrechen in irgendeiner Weise beteiligt sein. Diese Ansicht entsprang aber offenbar nur aus dem Gefühl, dem Herzen – der Kopf hatte daran keinen Anteil, denn irgendwelche Beziehung des Kandidaten zu dem Verbrechen mußte doch bestehen, warum war er denn so spurlos verschwunden?
Auf jeden Fall mußten sofort alle Anstalten getroffen werden, des Kandidaten habhaft zu werden. Schon nach Verlauf einer halben Stunde sprengten daher aus allen Toren der Stadt berittene Polizisten hinaus, um in der Umgegend Erkundigungen einzuziehen, während in Berlin selbst alle Straßen durchforscht wurden und auch das Haus der Ermordeten vom obersten Boden bis zum Keller durchsucht wurde. In dem Hause fand sich aber nicht der geringste Anhalt, und eben wollte der Kommissär, der die Durchsuchung geleitet hatte, verdrießlich das Haus zuschließen, um dann aus dem Polizeiamte über die Erfolglosigkeit seiner Nachforschungen zu berichten, als ein großer Menschenschwarm die Straße heraufkam, in dessen Mitte er zwei Polizisten erblickte, die einen Menschen führten; gleich darauf wurde ihm zugerufen, daß der Kandidat eingefangen worden, daß er dort gebracht werde. In der Tat verhielt es sich so; dicht vor dem Tore war der Gesuchte, als er eben in die Stadt eintreten wollte, festgenommen worden.
Sein Äußeres mußte unter den obwaltenden Umständen auffallen und den Verdacht, der auf ihm ruhte, bestärken. Er sah abgespannt aus wie einer, der eine Nacht hindurch gewacht, seine Haarfrisur sah ziemlich unordentlich aus und seine Schuhe und Kleider waren arg bestäubt. Der Polizeikommissär ordnete daher seine sofortige Überführung nach dem Polizeigefängnisse an und bald saß er denn auch hinter Schloß und Riegel.
Die Aufregung in der Stadt und besonders in der Gegend des Alexanderplatzes wuchs infolgedessen ganz außerordentlich; es bildeten sich förmlich zwei Parteien, die für und gegen den Kandidaten waren. Dieser aber hatte alsbald sein erstes Verhör zu bestehen. Es wurde ihm in diesem zunächst amtlich mitgeteilt, welches Verbrechen in der vergangenen Nacht in dem Hause, in welchem er seine Wohnung habe, verübt worden sei. Da aber bereits unterwegs das Publikum mit ihm über die Affäre gesprochen, ihm sogar mitgeteilt, daß man auf ihn Verdacht habe, so konnte man jetzt ein besonders gravierendes Benehmen an ihm nicht mehr wahrnehmen, man sah nur, daß er tief erregt war; das mußte er aber ja in jedem Falle sein. Auf die Frage, wo er die vergangene Nacht zugebracht habe, wurde er zunächst verlegen, die Röte stieg ihm ins Gesicht und er zögerte mit der Antwort. Das machte den verhörenden Richter in hohem Grade stutzig, er drang eifriger in den Verhafteten und dieser sagte nun aus, daß er am gestrigen Nachmittage die Straße über Großbeeren hinaus gegangen sei, in der Absicht, einen recht langen Spaziergang zu machen, denn es sei ihm nicht ganz wohl gewesen. Dabei habe er nicht weiter auf den Weg geachtet, sei in Gedanken versunken weiter gewandert und plötzlich habe ihn die Dunkelheit überrascht. Er habe nun nicht mehr gewußt, wo er sich befinde, sei während der ganzen Nacht in der Irre umhergelaufen und habe sich bei Sonnenaufgang weit von Berlin befunden. Darauf sei er zunächst nach Großbeeren gewandert, habe dort einen Morgenimbiß, etwas Brot und Bier, zu sich genommen und sei dann nach Berlin zurückgekehrt, wo er nun dicht vor dem Tore verhaftet worden sei.
Die ganze Erzählung klang natürlich höchst unwahrscheinlich, und der Richter sprach dies auch dem Verhafteten gegenüber unverhohlen aus, er hielt ihm in beredten Worten vor, daß, wenn er ein vollständig der Wahrheit entsprechendes Geständnis ablege, seine Strafe erheblich gemildert würde. Der Verhaftete versicherte jedoch hoch und teuer, daß er an dem Morde nicht im entferntesten schuld sei und daß seine Unschuld auch an den Tag kommen müsse; Gott könne nicht zugeben, daß er für ein so entsetzliches Verbrechen eines anderen büßen soll. Damit wurde dieses erste Verhör geschlossen; der Untersuchungsrichter konnte sich nicht der Ansicht verschließen, daß der Verdacht gegen den Kandidaten gewachsen war. Er teilte diese Ansicht auch dem Großkanzler von Cocceji mit, der ihn zu sich bescheiden und sich Bericht über das Verbrechen erstatten ließ.
Am Nachmittage desselben Tages ward sodann eine Konfrontation des Verhafteten mit der Leiche der Ermordeten herbeigeführt. Man hatte die Leiche noch ganz so liegen gelassen, wie man sie gefunden, der Kandidat wurde in einer verschlossenen Kutsche bis vor den Stelzenkrug gefahren und dann dort, von zwei Polizeidienern geführt, der Toten gegenübergestellt, zugleich auch vom Untersuchungsrichter scharf beobachtet.
Als der Kandidat die Leiche erblickte, schauderte er zusammen, rang die Hände und brach in Weinen aus. Als nun der Untersuchungsrichter ihn fragte, ob er angesichts der Leiche nun doch nicht lieber bekennen und sich aller weiteren peinlichen Verhöre überheben wolle, er habe die Tat gewiß in einem Zustande der Unzurechnungsfähigkeit getan und könne daher auf die Gnade des Königs rechnen, da rang er die Hände, brach in die Worte aus: »O mein Gott, wie schwer willst du mich prüfen?« und sank ohnmächtig zusammen. Er mußte daher von den beiden Polizisten zurück in den Wagen getragen werden. Beim Gefängnis angekommen, konnte er nur schwankenden Schrittes in seine Zelle zurückgehen, und dort wurde er in Ketten gelegt.
Mittlerweile war auch nach anderen Seiten hin alles getan worden, was Klarheit in die Sache bringen konnte, und es war ermittelt worden, daß der Kandidat allerdings, wie er angegeben, am Morgen im Wirtshause zu Großbeeren gefrühstückt hatte. Er war dabei schweigsam und in sich gekehrt gewesen; davon, daß er die ganze Nacht in der Irre umhergelaufen sei, hatte er keine Silbe erwähnt. Einmal hatte er tief aufgeatmet wie einer, dem eine schwere Sorge drücke, und infolgedessen hatte die Wirtin zu ihm hinübergeblickt, aber sonst nichts Auffälliges an ihm bemerkt. Am Tor konnte der Torschreiber nicht angeben, daß er den Kandidaten habe hinausgehen sehen, auch von den Umwohnern des Tores und des Alexanderplatzes vermochte niemand zu bezeugen, daß er ihn bemerkt habe. Das konnte jedoch nicht schwer ins Gewicht fallen, da an schönen Sommernachmittagen die Straße durch Spaziergänger stets sehr belebt war. Wichtiger war, daß man erfuhr, daß der Verhaftete einigen Knaben, denen er noch am Spätnachmittage Stunden zu geben gehabt hätte, durch andere Kinder hatte sagen lassen, diese Stunden müßten ausfallen, sie sollten nicht auf ihn warten. Den Grund hierzu hatte er aber nicht angegeben.
Die Nachforschungen in der Wohnung der Ermordeten führten zu der Ansicht, daß das Geld der Witwe gestohlen sein müsse; in der Kommode, in welcher sie, nach der Angabe der Aufwärterin, ihr Geld in einer hölzernen Schachtel aufbewahrte, war kein Pfennig zu finden, auch die Schachtel war verschwunden. Wieviel Geld geraubt worden sein konnte, darüber konnte man nicht einmal eine Vermutung äußern, denn die Alte hatte nie zu jemand über ihre Geldangelegenheiten gesprochen. In der Wohnung des Kandidaten fand man alles in bester Ordnung; die hölzerne Geldschachtel der Witwe Langenberg kam trotz des sorgfältigsten Nachsuchens nicht zum Vorschein. Bei der Beaugenscheinigung und Durchsuchung der Sachen zeigte es sich indessen, daß der Kandidat in noch dürftigeren Verhältnissen gelebt hatte, als bisher angenommen worden war, und das mußte als ein den Verdacht bestärkendes Moment angesehen werden.
Nach diesen Vorarbeiten kam die Kriminalbehörde zu dem Entschluß, mit aller Strenge gegen Baumann vorzugehen. In den letzten Jahren waren in Berlin die verschiedensten Raubmorde vorgekommen, und bei mehreren war der Täter unentdeckt geblieben; dieser allgemeinen Unsicherheit mußte mit größtem Nachdrucke gesteuert werden. Dem Kandidaten wurde daher eröffnet, daß ihm, falls er nicht klipp und klar sein Verbrechen gestehen wolle, die Folter zuerkannt werden müsse. Diese Eröffnung versetzte den Armen in die höchste Aufregung, er beteuerte bei allem, was ihm hoch und heilig sei, die schreckliche Tat nicht begangen zu haben, man solle doch noch warten, seine Unschuld müsse ja doch an den Tag kommen. Gott könne es ja unmöglich zulassen, daß die Schuld eines Mörders auf ihn geladen werde.
Solche »Redensarten« bekam man aber bei kriminalistischen Untersuchungen sehr oft zu hören und hatte sich daran gewöhnt, ihnen keinen Glauben beizumessen, nur klar vor Augen liegende Beweise konnten befriedigen. Infolgedessen wurde denn auch der Delinquent eines Morgens in die Folterkammer abgeführt, wo sein Untersuchungsrichter bereits mit zwei Assistenten und einem Schreiber an einer schwarzbehangenen Tafel saß, und als er sich auf die Frage des Richters, ob er sich zur Tat bekennen wolle, abermals in Beteuerungen seiner Unschuld zu ergehen begann, setzte ihm der Scharfrichter mit seinem Gehilfen sofort die Daumschrauben an und schraubte sie so heftig zu, daß sogleich das Blut aus beiden Daumen weit hervorspritzte und der Gefolterte mit einem lauten Schmerzensschrei zu Boden stürzte.
»Will Er bekennen?« raunte ihm jetzt der Scharfrichter, wie es seines Amtes war, ins Ohr, »oder ich ziehe noch schärfer an!«
Der Kandidat antwortete nicht; da drehte der Scharfrichter die Schraube mit einem schnellen Ruck noch fester um, und wie ein Wahnsinniger hoch aufkreischend sprang der Gefolterte empor und blickte stier um sich.
»Will Er bekennen?« fragte der Scharfrichter wieder.
»Ja, ja, beim Allmächtigen, ja!« schrie der Kandidat.
»Hat Er schon im Laufe des Abends die Tat ausgeführt?« fragte jetzt der Richter.
»Ja!« schrie der Kandidat.
»Hat Er die Tat allein vollbracht?« fragte der Richter weiter.
»Ja!« stieß der Kandidat hervor.
»Hat Er die hölzerne Schachtel mit dem Gelde beiseite geschafft?«
Der Kandidat hauchte nur noch ein letztes »Ja«, dann sank er in Ohnmacht.
Die Daumschrauben wurden ihm jetzt abgenommen und er wurde in seine Zelle zurückgetragen; er war jetzt offenbar so aufgeregt, daß er keiner klaren Antwort mehr fähig war; übrigens konnte man mit dem Resultate sehr zufrieden sein – er hatte ja bekannt, daß er der Mörder war.
Die Nachricht, daß er gestanden, verbreitete sich alsbald mit Blitzesschnelle durch ganz Berlin. »Ein Kandidat der Theologie, ein Gottesgelehrter!« jammerte man hier, »wohin die Habsucht den Menschen nicht führen kann!« – »Ja, ja, ein rechter Scheinheiliger muß er gewesen sein,« rief man dort, »da kann man sehen, was manchmal in solchen steckt, die fein bescheiden und demütig einhergehen!« Viele schüttelten aber auch die Köpfe und besonders diejenigen, deren Kinder einst bei dem Kandidaten Unterricht genossen. Gar mancher bessersituierte Handwerksmann hatte sich dann und wann, wenn er Zeit gehabt, mit in die Stube gesetzt, wenn sein Sohn vom Kandidaten unterrichtet worden war, und hatte sich über die freundliche, milde, verständige Art gefreut, mit der der Lehrer dem Schüler alles klargemacht und wie er ihn auch zu weiterem Fleiße angespornt hatte. Nach dem Unterrichte hatte wohl auch der und jener mit dem Kandidaten noch eine kleine Unterhaltung angeknüpft und war von dem, was dieser gesagt und geurteilt, stets angenehm berührt worden. Besonders hatte ein Sattlermeister Hagemann, der schon seit mehreren Jahren zwei seiner Knaben durch den Kandidaten hatte unterrichten lassen, sich immer gern mit dem bescheidenen Manne unterhalten, und der war nun ganz außer sich darüber, daß der Kandidat ein Mörder sein solle. Er ging herum zu denen, die den Kandidaten auch als Lehrer gehabt, erkundigte sich nach deren Meinungen und schlug, als er sah, daß noch viele mit ihm der Ansicht waren, der arme Gefolterte könne nicht die Wahrheit gesagt haben, vor, eine Deputation an den Großkanzler von Cocceji abzusenden und diesen zu bitten, noch eine eingehendere Untersuchung anzuordnen, da man es für unmöglich halte, daß der Kandidat den Mord begangen haben könne; nur die Schmerzen der Folter würden dem Unglücklichen das Geständnis erpreßt haben. Dieser Vorschlag fand Anklang, die Deputation wurde gewählt und Hagemann als der Sprecher derselben erkoren. Sie ward auch vom Großkanzler sehr wohlwollend aufgenommen, ja dieser versprach sogar, selbst den Fall noch einmal genau zu prüfen.
Er ließ sich daraus sämtliche Untersuchungsakten kommen, unterzog sie einer genauen Durchsicht und machte dabei die Bemerkung, daß niemand auf den Gedanken gekommen sei, ob die Witwe sich nicht vielleicht selbst erdrosselt habe. Daß das hölzerne Geldschächtelchen fehle, beweise noch nicht, daß hier wirklich ein Raubmord vorliege. Er drang also darauf, daß festgestellt werde, ob die Witwe sich selbst erdrosselt habe oder durch fremde Hand erwürgt worden sei.
Zur Kommission, die das betreffende Gutachten abgeben sollte, wählte er neben einigen Justizbeamten und Ärzten auch den Scharfrichter als Sachverständigen. Die Leiche, welche der Vorsicht halber auf dem Gottesacker erst in eine ausgemauerte Gruft gesetzt worden war, wurde wieder heraufgehoben, und auch der Strick, den man um den Hals der Leiche geschlungen gefunden, wurde herbeigeholt und gerade so wieder der Leiche um den Hals gelegt, wie er an jenem Unglücksmorgen gelegen hatte, was sehr gut anging, da er sorgsam noch mit der Schlinge und dem Knoten, durch welchen diese ging, bei den Untersuchungsakten vom Gericht aufbewahrt gewesen. Darauf erwies sich aber die Vermutung des Großkanzlers, die Witwe könne sich selbst das Leben genommen haben, als unbegründet; die Ärzte sowohl wie der Scharfrichter gaben ihr Gutachten dahin ab, daß nur durch eine fremde Hand der Tod der Witwe herbeigeführt worden sei, und der Scharfrichter ließ in dem betreffenden Protokoll noch bemerken, die Witwe könne sich schon deshalb nicht selbst erwürgt haben, weil sie unmöglich den kunstgerechten Knoten, der sich an dem Stricke befinde, gemacht haben könne.
Als der Großkanzler das Protokoll durchsah, fiel ihm sofort die Bemerkung des Scharfrichters in betreff des »kunstgerechten Knotens« auf; er ließ daher sogleich den Scharfrichter kommen und fragte ihn, was er denn unter einem solchen verstehe.
»Ein kunstgerechter Knoten ist ein solcher,« versetzte dieser, »den wir zu machen pflegen, wenn wir einen Delinquenten aufhängen; er ist derart, daß sich die Schlinge sodann schneller zuzieht und der Tod infolgedessen beschleunigt und erleichtert wird.«
»Und gehört denn wirklich ein besonderer Kunstgriff dazu, um diesen Knoten schlingen zu können?« fragte der Großkanzler gespannt.
»Ei gewiß«, entgegnete der Scharfrichter mit einem gewissen Stolz. »Man muß ihn ordentlich einlernen und üben, und nur einer, der zum Metier gehört, kann ihn schlingen.«
»Dann könnte ja aber der Kandidat Baumann den Knoten an dem Stricke, mit dem die Witwe Langenberg erdrosselt wurde, gar nicht geschlungen haben!« rief der Großkanzler verwundert.
Der Scharfrichter stutzte. »Nein,« sagte er dann bestimmt, »den Knoten kann der Kandidat nicht geschlungen haben, und wenn ich mir jetzt die Sache recht überlege, so kann er auch die Frau gar nicht erwürgt haben, denn die ganze Schlinge war so nach den Regeln des Handwerks gemacht und zugezogen, daß ich jetzt behaupte, es kann nur einer von unserem Metier, der das Hängen ordentlich versteht, den Mord ausgeführt haben.«
»Alle Wetter!« der Großkanzler sprang auf, »das ist ja eine Entdeckung von größter Wichtigkeit!«
Sofort ordnete er eine genaue Nachforschung an, ob zurzeit, als das Verbrechen verübt worden, ein fremder Scharfrichter oder fremde Scharfrichterknechte in der Stadt Berlin gewesen seien, und alsbald meldete auch ein Torschreiber, daß die beiden Scharfrichterknechte Langenberg aus Spandau am Tage vor dem Bekanntwerden des Mordes früh in die Stadt gekommen und am Abend spät wieder hinausgewandert seien.
Der Großkanzler schickte infolgedessen sogleich einen reitenden Boten mit dem Befehl an die Spandauer Polizei ab, die beiden Scharfrichterknechte Langenberg – Schwäger der Ermordeten – festzunehmen und nach Berlin zu transportieren, ferner die Wohnung der beiden Verhafteten genau zu durchsuchen; es komme besonders darauf an, daß eine hölzerne Schachtel gefunden werde.
Schon nach kurzer Zeit wurden auch die beiden Knechte eingeliefert und auch alsbald verhört. Sie konnten nicht leugnen, an dem bezeichneten Tage in Berlin gewesen zu sein, stellten aber in Abrede, ihre Schwägerin auch nur besucht zu haben.
Nach Verlauf von wenigen Stunden änderte sich jedoch die Sachlage bereits, der Polizeihauptmann von Spandau kam nämlich an und brachte eine in der Wohnung der Brüder Langenberg gefundene hölzerne Schachtel, die mit preußischen Talern und Friedrichsdor gefüllt war, und einen goldenen Ring mit; beides erkannte die Aufwärterin der Witwe Langenberg als deren Eigentum, ja sie gab sogar an, daß noch zufällig am Tage vor ihrer Ermordung die Witwe ihr den Ring gezeigt und ihr erzählt habe, daß sie ihn nicht mehr tragen könne, weil ihre Finger dicker geworden seien; sie wolle ihn sich aber weiter machen lassen. Darauf habe sie ihn in eine der Tassen auf der Kommode gelegt, wahrscheinlich um ihn bei der Hand zu haben, wenn sie einmal ausgehe. Die Aufwärterin beschwor die Wahrheit dieser ihrer Aussagen. Nach weiterer eifriger Umfrage fanden sich auch zwei am Alexanderplatz wohnhafte Frauen, die die beiden Brüder Langenberg in der Dämmerstunde in das Haus der Witwe hatten eintreten sehen; die eine der Frauen hatte die beiden Männer ganz deutlich erblickt, sie beschrieb genau die Kleider und beschwor auch die Richtigkeit ihrer Aussagen.
Es begann nun ein lebhaftes Kreuzverhör mit den Knechten, und das Resultat war, daß sie endlich bekannten, den Mord begangen zu haben, erstens aus Rache, weil die Schwägerin ihnen niemals habe eine Unterstützung zukommen lassen und dann, um sie zu beerben. Schon etwas vom Schauplatze der Tat mitzunehmen, sei anfangs nicht ihre Absicht gewesen; allein der eine habe unwillkürlich die Schublade der Kommode aufgezogen, an der ein Schlüssel gesteckt habe, und da habe er die Schachtel mit Geld gesehen und sie an sich genommen, während der andere den Ring in der Tasse gesehen und ihn zu sich gesteckt habe. Der Bruder habe ihm das verwehren wollen, weil durch Ringe schon manches herausgekommen sei, und dabei sei die Tasse umgestürzt worden. Durch das Geklapper seien sie so erschreckt worden, daß sie die Wohnung nun eiligst verließen und zuschlossen. Den Schlüssel hätten sie im freien Felde auf dem Wege nach Spandau weggeworfen.
Der Großkanzler atmete tief auf, als er diese Geständnisse vernahm; er war ein außerordentlich gewissenhafter Mann, der bereits Tag und Nacht die Sorge nicht losgeworden war, daß unter seiner Verwaltung etwa ein Justizmord begangen werden könne. Eiligst ließ er dem armen Kandidaten die Ketten abnehmen und ihn zu sich bescheiden. Der unschuldig so entsetzlich Gequälte war wie gebrochen, er konnte nur mit Mühe eintreten; als ihm aber der Großkanzler eröffnete, daß seine Unschuld an den Tag gekommen, daß er frei sei, da glitt es wie ein heller Sonnenschein über sein blasses Antlitz und er sank zu stummem Gebet in die Knie.
Als er sich wieder erhoben hatte, vermochte sich der Großkanzler nicht zu enthalten, ihn zu fragen, ob er noch immer verschweigen wolle, welche Bewandtnis es mit seinem sonderbaren Spaziergange in der Unglücksnacht gehabt habe, es sei doch nicht wohl anzunehmen, daß er sich in der Tat so wie er angegeben, verirrt habe. Die Frage habe für ihn, den Großkanzler, auch ein gewisses juristisches Interesse, da gerade diese sonderbare Angabe des Kandidaten hauptsächlich den Verdacht gegen denselben erweckt habe.
Der Kandidat aber schüttelte den Kopf. »Gestatten Sie mir, Herr Großkanzler,« versetzte er, »daß ich über die ganze Angelegenheit, die mir soviel Leid gebracht, nicht noch einmal spreche; nur das eine will ich sagen, daß bei allem, was mir widerfuhr, mich der feste Glaube an Gottes Gerechtigkeit aufrecht erhielt. Selbst nachdem mir der entsetzliche Schmerz der Folter alle Energie geraubt und mich zu einem falschen Geständnis verleitet hatte, lebte ich noch immer der unerschütterten Zuversicht, daß mich Gott nicht verlassen, daß meine Unschuld an den Tag kommen werde, und Sie sehen, Herr Großkanzler, mein Glaube hat mich nicht zuschanden werden lassen. Es ist mein – –«
Ein Lärm im Vorzimmer unterbrach den Redenden; verschiedene Stimmen klangen durcheinander, plötzlich rief eine Frauenstimme: »Nein, nein! Laßt mich, ich muß ihn sehen!«
In demselben Augenblicke wurde die Türe aufgerissen, ein junges Mädchen stürzte herein, eilte, als es den Kandidaten erblickte, mit einem lauten Schrei aus denselben zu und sank halb ohnmächtig in dessen Arme.
Der Kandidat wurde bald rot, bald blaß, »Elise, meine geliebte Elise, wie konntest du so außer dir geraten?« sagte er leise.
»O, ich bin fast vergangen vor Angst«, versetzte das Mädchen, den Kopf an die Brust des Kandidaten pressend. »Erst heute morgen erfuhr ich von deinem Schicksal. Mein Herr erzählte so ganz beiläufig, da er keine Ahnung hatte, daß du mein Bräutigam seiest, daß in Berlin ein Kandidat Baumann verhaftet worden sei, weil er seine Hauswirtin ermordet habe. Ich war ganz starr vor Schrecken, aber schnell erholte ich mich. ›Baumann?‹ rief ich, ›das kann nicht sein, dessen edles Herz kenne ich ganz genau, denn er ist mein Bräutigam. Ich bitte, lassen Sie sofort anspannen, ich muß nach Berlin und alles daransetzen, den Verdacht von meinem Bräutigam abzuwälzen‹ – aber ich habe schon gehört, daß deine Unschuld bereits an den Tag gekommen ist. Tausend, tausend Dank dem Allmächtigen!«
»Du liebes, tapferes Mädchen,« entgegnete der Kandidat mit Tränen in den Augen, »und du scheutest dich nicht, den in so schwerem Verdachte stehenden Mann plötzlich für deinen Verlobten zu erklären?«
»O du Lieber, nicht einen Augenblick, als es galt, dich zu retten!«
»Nun, dann fällt auch der Grund hinweg,« wandte sich der Kandidat zum Großkanzler, der mit Verwunderung schweigend der Szene zugeschaut hatte, »weshalb ich Ihnen nicht weitere Auskunft über jenen nächtlichen Spaziergang geben wollte. Ich bin seit zwei Jahren mit diesem jungen Mädchen, Elise Fichtner, verlobt. Da es mir aber noch nicht möglich war, eine Pfarrstelle zu erhalten, so konnten wir uns auch noch nicht heiraten. Um häßlichen Neckereien zu entgehen, beschlossen wir, unser Verhältnis geheimzuhalten; infolgedessen konnte ich aber Elise nur selten sehen und sprechen, besonders seit Jahresfrist, seitdem sie auf einem Rittergute bei Trebbin eine Stelle als Erzieherin angenommen hat. Da erhielt ich vor etwa acht Tagen einen Brief von ihr, sie habe solche Sehnsucht, mich wieder einmal zu sprechen, könne aber nicht wohl abkommen, möchte auch ihrer Herrschaft nicht sagen, daß sie verlobt sei, und bat mich, doch einmal eine Wanderung nach dem Gute zu machen. Abends so etwa von 7 bis 9 Uhr könnten wir uns ungestört in einer Laube des Gartens sprechen und ich könnte dann wenigstens bis Großbeeren zurückkehren und dort übernachten. Das tat ich auch; wir saßen bis gegen 10 Uhr in der Laube, da es ein herrlicher Sommerabend war, und dann schritt ich wieder auf Berlin zu. Ich versank aber unterwegs in Gedanken, besonders über unsere Zukunft, verirrte mich, da sich mittlerweile der Himmel mit Wolken bezog und es infolgedessen sehr dunkel wurde, und mußte die ganze Nacht im Freien zubringen. Als die Sonne aufging, befand ich mich sehr weit rechts von Großbeeren und hatte noch einen tüchtigen Marsch zu machen, bevor ich zu dem dortigen Wirtshause gelangte, wo ich, wie Sie aus den Verhandlungen ersehen haben werden, einen Morgenimbiß nahm. Als ich sodann in die Nähe des Tores von Berlin kam, wurde ich plötzlich verhaftet. Ich sollte nun sagen, was es mit meiner Wanderung für eine Bewandtnis gehabt – das konnte ich aber nicht, ohne den guten Ruf meiner Braut zu schädigen. Diese konnte infolgedessen ja sogar ihre Stelle verlieren, und was hätte dann die Arme, die ganz allein in der Welt steht, anfangen sollen? Ich mußte also meine Hoffnung auf Gott setzen, der schon noch den Schuldigen ans Licht ziehen werde, und so ist es auch gekommen.«
»Sie sind ein braver, edler Mann,« sagte der Großkanzler gerührt, »ich werde Sie Seiner Majestät empfehlen, damit Sie bald eine Ihrer würdige Stellung erhalten!«
Das Paar verabschiedete sich nun und der Großkanzler hielt Wort; schon bald erhielt der Kandidat eine sehr einträgliche Pfarrstelle in Pommern und nicht lange darauf führte er seine geliebte Elise als Gattin heim. Zum Hochzeitsfeste war auch der wackere Meister Hagemann geladen, der durch sein kräftiges Einschreiten ja die erste Veranlassung zur nochmaligen Untersuchung des Langenbergschen Mordes gewesen war. Er blieb auch später ein warmer Freund des Pfarrers Baumann und dessen Familie, und hatte bei allen seinen Besuchen stets die Freude, zu sehen, daß der Pfarrer mit seiner Gattin eine überaus glückliche Ehe führte.
Die beiden Scharfrichterknechte wurden schon vierzehn Tage nach ihrer Festnahme durch den Strang vom Leben zum Tode gebracht. Damit war aber die Mordaffäre Langenberg noch nicht abgetan; sie wurde vielmehr noch zu einem Marksteine in der Geschichte der Rechtspflege in Preußen, denn der Großkanzler von Cocceji trug dem Könige vor, zu welch schrecklichen Irrtümern die Anwendung der Folter führe, wie dieselbe, ein Vermächtnis des düsteren Mittelalters, in die aufgeklärte neue Zeit nicht mehr passe, und darauf erließ Friedrich der Große die berühmte Kabinettsorder vom 4. August 1754, kraft deren die Tortur in Preußen für alle Zeiten abgeschafft wurde.