Ferdinand von Saar
Tambi
Ferdinand von Saar

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IV

Frühlingsstürme brausten ins Land. Wie vor Feuers Glut schmolzen die weißen Schichten, die noch auf den Höhen lagen, und ringsumher begann ein Tropfen, Rieseln und Rauschen, während das sonst so träge Flüßchen, in welches alle freigewordenen Wasser mündeten, hohen Schwalles dahinschoß. Inzwischen hatte es auch heftig und andauernd zu regnen begonnen, so daß die Gefahr eines Hochwassers in Aussicht kam und manche Anstalt getroffen wurde, die Ufergegenden nach Möglichkeit zu sichern.

In dieser Zeit fuhr bei meiner Behausung ein Wagen vor, dem ein bejahrter Herr entstieg. Es war der Notar aus dem Marktflecken. Er sagte, daß er sich erlaube, im Interesse Bachers zu erscheinen, der sich in dem bedauerlichsten Gemütszustande befinde. Er erscheine nicht mehr in der Kanzlei, bringe halbe Tage bei dem Grabe seines Hundes, die übrige Zeit aber in der sogenannten Weinstube des Kaufmanns Wassertrilling zu, wo er sich mehr und mehr dem Genusse geistiger Getränke ergebe. »Wohin soll das führen?« schloß der Notar. »Schon jetzt fristet er, soviel ich weiß, sein Dasein vom Verpfänden und Verkaufen seiner wenigen Habseligkeiten, und wenn dies noch eine Zeitlang so fortgeht, ist ihm auch ein entsetzliches Ende gewiß.«

Ich erschrak über diese Mitteilungen; aber ich wurde davon nicht überrascht. Ich sagte dies auch ganz offen dem Notar, indem ich auf das Resultat meines letzten Zusammenseins mit Bacher hinwies.

»Ja, ich weiß«, erwiderte der Notar, »daß Sie ihn vor einiger Zeit aufgesucht; ich war damals gerade in einer amtlichen Funktion abwesend. Aber ich möchte Sie dennoch bitten, mit mir zu fahren und noch eine letzte Anstrengung zu machen. Auf meine Worte gibt er, wie ich gesehen habe, nichts. Sie jedoch gelten sehr viel bei ihm, und vielleicht hat es doch einigen Erfolg, wenn Sie ihm tüchtig ins Gewissen reden.«

»Nun, ich will es tun, obgleich ich fürchten muß, daß ihn mein Anblick nur noch tiefer in seinen Jammer hineintreibt. Denn ich bin ja, wie Ihnen bekannt sein dürfte, gewissermaßen selbst mit dem Schicksale verflochten, das ihn getroffen.«

»Er hat mir davon erzählt, und in der Tat ist es ein eigentümliches Schicksal«, fuhr der Notar nachdenklich fort. »Er war seit jeher ein unglücklicher Mensch, der sich und andern vielen Kummer bereitet hat. Den meisten wohl seiner Mutter, die ich gekannt habe und welche eine vortreffliche Frau war. Aber ihrem Sohne gegenüber erwies sie sich äußerst schwach und mochte den eigenwilligen Jungen wohl über Gebühr verhätschelt haben. Als Bacher mit seinen dichterischen Hoffnungen gescheitert war, traf ich ihn zufällig in der nächsten Kreisstadt, wo er seine Kindheit verbracht hatte, und da er nicht wußte, was er nunmehr mit sich anfangen sollte, so nahm ich ihn in meine Kanzlei – und behielt ihn auch, obwohl er kein sehr emsiger und verläßlicher Arbeiter war. Auch glaubte ich schon damals zu bemerken, daß er trinke, und zwar, wie ich annahm, um schmerzliche Erinnerungen zu betäuben. Nachdem er aber den Hund zu sich genommen hatte, ging mit ihm eine merkwürdige Veränderung vor. Er wurde sparsam und nüchtern, bekam Lust und Liebe zu seiner Beschäftigung, und da er ja ein begabter Kopf ist, so zeigte er auch plötzlich eine höchst glückliche Auffassung in Dingen meines eigenen Berufes, so zwar, daß ich für ihn die besten Hoffnungen faßte und schon daran dachte, ihn mit der Zeit zu meinem Konzipienten machen zu können. Da wird ihm sein Hund erschossen, und alles ist aus und nun treibt er dem Untergange entgegen. Aber wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, wir müssen ihn um jeden Preis zu retten suchen. Kommen Sie! Wir haben jetzt gerade die Zeit vor uns, um welche wir ihn im Laden des Kaufmanns treffen.«

Wir stiegen in den Wagen und fuhren, während uns auf der Landstraße Wind und Regen von der Seite anfielen, nach dem Marktflecken, wo wir vor dem Laden des Herrn Wassertrilling hielten. Dort wurde uns jedoch die Mitteilung, daß Bacher nicht anwesend sei. Er würde aber ganz gewiß noch kommen, denn bis jetzt sei er keinen Tag ausgeblieben.

Wir hinterließen den Auftrag, uns sofort von seinem Erscheinen zu benachrichtigen, und begaben uns in ein nahegelegenes Gasthaus, wo sich die Honoratioren des Ortes gewöhnlich abends einzufinden pflegten.

Nachdem wir dort fast zwei Stunden fruchtlos gewartet hatten, begaben wir uns noch einmal nach dem Laden. Es hieß, Bacher sei noch immer nicht erschienen.

»Da wollen wir denn doch in seiner Wohnung nachsehen«, sagte der Notar.

Es war mittlerweile dunkel geworden, und wir lenkten unsere Schritte nach einem engen Seitengäßchen, das nur aus hüttenähnlichen kleinen Häusern bestand und ins freie Feld hinausführte. Vor einem der letzten Häuser stand der Notar still und klopfte an ein matt erleuchtetes Fenster. Ein Teil des Vorhanges lüftete sich; der Notar rief einige Worte in slawischer Sprache hinein, worauf die Tür geöffnet wurde und ein Weib auf der Schwelle erschien, das meinem Begleiter eine mir nicht verständliche Mitteilung machte.

»Er ist heute schon mit dem frühesten fort«, sagte jetzt der Notar zu mir, »und nicht wieder nach Hause gekommen. Zudem soll er gestern eine sehr üble Nacht gehabt und in einem fort gestöhnt und gejammert haben.«

Ich schwieg; eine düstere Ahnung stieg in mir auf.

Der Notar schien diese zu teilen. »Wenn er nur nicht etwa –«

»Ich fürchte es fast.«

Wir fragten noch einmal im Laden nach und kehrten dann in das Gasthaus zurück, wo eben die Kunde angelangt war, daß der Fluß ausgetreten sei und die nächste Brücke weggerissen habe.

Ich sah den Notar an und sagte: »Vielleicht wurde ihm dadurch der Heimweg abgeschnitten?«

»Wohl möglich, wenn er sich am andern Ufer befand.«

»Dort ist das Grab des Hundes, und Sie sagten ja...«

»Allerdings. Wir müssen eben abwarten, was der morgige Tag bringt. Ich bedaure nur, daß Sie jetzt unverrichteter Dinge wieder zurückfahren sollen. Hätte ich nicht Verwandte als Gäste bei mir, so würde ich mir erlauben, Ihnen ein Nachtlager anzubieten.«

»Sie sind sehr freundlich. Aber wissen Sie was? Ich werde jedenfalls die Nacht hier zubringen, um morgen sofort zur Hand zu sein. Wir dürfen Bacher, wenn er zurückkehrt – und ich will es noch hoffen – nicht mehr entschlüpfen lassen. Es wird wohl in diesem Gasthause ein Zimmer zu haben sein?«

»Gewiß, aber wie es aussehen wird...«

»Gleichviel; für einmal wird es hinzunehmen sein.«

Wir mischten uns nun in das Gespräch der übrigen Gäste, die sich hier sehr lebhaft vom Hochwasser unterhielten, welches, da alle menschlichen Ansiedelungen in gesicherter Entfernung lagen, durchaus nichts Schreckhaftes hatte und nur den mehr oder weniger ausgesetzten Kulturen einigen Schaden zufügen konnte. Dabei wurde es endlich zehn Uhr, und die Anwesenden entfernten sich nach und nach, zuletzt auch der Notar, indem er versprach, morgen früh bei mir zu erscheinen.

Ich blieb noch allein sitzen; dann ließ ich mich nach meinem Zimmer führen, das man mittlerweile geheizt hatte. Es war in der Tat sehr primitiv eingerichtet, aber ziemlich sauber gehalten. Da der kleine Raum wahrscheinlich den ganzen Winter hindurch nicht bewohnt gewesen, so herrschte hier trotz des Feuers, das in einem kleinen eisernen Ofen pustete, eine empfindliche Kälte, und ich bestellte heißen Grog, den ich nach längerem Warten erhielt. Dann brannte ich eine Zigarre an und ging auf und nieder. Von Zeit zu Zeit blieb ich beim Fenster stehen und blickte in die Nacht hinaus, die sich mit undurchdringlichem Dunkel ausbreitete. Der Regen hatte aufgehört; ringsum war tiefe Stille; nur wenn ich tief und anhaltend lauschte, vernahm ich in der Ferne ein dumpfes, unheimliches Brausen.

Meine Phantasie beschäftigte sich natürlich mit Bacher, und es war mir, als säh' ich ihn in der Finsternis beim Grabe seines Hundes – und dann wieder am Rande der ausgetretenen Wasser hin und her irren.

Die Flammen im Ofen waren längst erloschen und die Lichter herabgebrannt. Fröstelnd warf ich mich angekleidet aufs Bett und versuchte einzuschlafen, was mir auch endlich gelang.

Es war etwa sieben Uhr morgens, als ich von hereinfallendem Sonnenschein geweckt wurde. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, und im Hause, sowie unten auf dem Platze regte sich das Leben des Tages.

Nach einiger Zeit kam der Notar. »Er ist noch nicht nach Hause gekommen«, sagte er.

»Nun, es ist ja noch früh«, erwiderte ich. »Wenn er irgendwo in der Umgebung die Nacht zugebracht hat, so kann er auch füglich noch nicht zurück sein. Ich denke, wir gedulden uns bis Nachmittag, bevor wir das Schlimmste annehmen.«

Der Notar leistete mir beim Frühstück Gesellschaft; dann begaben wir uns auf eine nahe Anhöhe, von welcher aus wir die Überschwemmung in Augenschein nehmen konnten.

Die Niederung war zum Teil in einen See verwandelt. Ein frischer Wind kräuselte die schimmernde Wasserfläche und bewegte die Wipfel der Bäume, die aus der Flut hervorragten.

Auch die Wiese, auf der Tambi zum letzten Male gejagt hatte, stand unter Wasser; die Mühle nahm sich wie die Arche Noahs aus. Unwillkürlich faßte ich die Höhe ins Auge, wo der tödliche Schuß gefallen war. Ich wies auch den Notar darauf hin und sagte: »Wie wär' es, wenn wir dort drüben nachsehen?«

»Da müßten wir einen ziemlichen Umweg nehmen. Wenn Sie wollen, lasse ich einspannen. Jedenfalls bringen wir den Vormittag damit hin, und wenn Bacher bis zu unserer Rückkehr nicht eingetroffen ist, so werde ich den Postenkommandanten der Gendarmerie ins Vertrauen ziehen.«

Wir fuhren also etwa eine halbe Stunde die Landstraße hinauf bis zum nächsten Orte, wo wir bequem übersetzen konnten. Dann stiegen wir zum Walde empor, an dessen Rande wir jenseits zurückkehrten.

Unter anderen Umständen wäre dieser Gang ein entzückender gewesen. Eine würzig feuchte Luft wogte uns aus den sausenden Wipfeln an; lieblich erschallten frühe Vogelstimmen, und über dem Lande lag der erste Schimmer des Lenzes. Aber unsere Stimmung war ernst und gedrückt, und so schritten wir nachdenklich auf dem moosigen Pfade weiter.

Endlich sahen wir das Plateau mit der Remise vor uns, deren helles Grün im Sonnenschein funkelte. Der Platz war leer und still, und einsam und verlassen ragte das kleine Grab unter der Föhre auf.

Wir gingen darauf zu. »Da liegt ein Hut!« rief ich. Zwischen kahlem Gestrüpp in der Nähe des Baumes kam er zum Vorschein.

Der Notar hob die abgegriffene und durchnäßte Kopfbedeckung mit seinem Stock empor.

»Das ist der Hut Bachers.«

Wir riefen mit lauter Stimme seinen Namen. Aber niemand antwortete; nur ein leises, klagendes Echo schien aus dem Walde zurückzutönen.

Nun stand in uns die Überzeugung fest, daß der Ärmste den Tod gesucht und gefunden habe. Die Möglichkeit einer Überraschung durch das Hochwasser bei der Heimkehr im Dunkeln blieb allerdings nicht völlig ausgeschlossen; aber der zurückgelassene Hut schien gegen diese Annahme zu sprechen. Wie es sich damit auch mochte verhalten haben, Tatsache war es, daß man noch am selben Tage seinen Leichnam bei der Schleuse eines nahen Hammerwerkes angeschwemmt fand.


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