Ferdinand von Saar
Tambi
Ferdinand von Saar

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II

Was ich vorausgesehen, traf ein: Bacher zeigte sich nicht bei mir. Da ich ihn eben auch nicht vermißte, so vergaß ich ihn wieder mehr und mehr. Zudem war ich bald neuerdings in Arbeit vertieft; denn ich hatte mir nun einmal vorgesetzt, den Winter in meinem Buen Retiro gehörig auszunutzen.

Darüber waren etwa vier Wochen hingegangen, und man konnte allmählich bemerken, daß der Frühling im Anzuge sei. Tauwetter war zwar noch nicht eingetreten; aber die Kälte hatte sich bei bedecktem Himmel gebrochen, und eine feuchte Luft zersetzte bereits langsam den Schnee auf Feldern und Wiesen.

Bei solch trübem Wetter hatte ich eines Morgens wie gewöhnlich das Haus verlassen und einen Fußpfad eingeschlagen, der zwischen dem Flusse und dem Eisenbahndamme hinlief. Ich pflegte sonst von diesem Fußpfade, einer starken Krümmung des Flusses folgend, abzubiegen und längs des Ufers fortzugehen. Auf diese Art gelangte ich zu einer Brücke, die ich überschritt, um auf der jenseits befindlichen, ziemlich hochgelegenen Landstraße, gewissermaßen im Rundgange, wieder nach Hause zurückzukehren. Heute aber hielt ich, in Nachsinnen verloren, an dem Fußpfade fest, ohne es eigentlich zu wissen und daran zu denken, daß er durch die Niederung dem Marktflecken entgegenführte, den mir Bacher als seinen Aufenthaltsort bezeichnet hatte. Es war Sonntag, und ringsum herrschte tiefe Stille; die Kirchenglocken hatten noch nicht zu läuten begonnen. Auf den Feldern saßen Dohlen, die hin und wieder träg aufflogen; von Zeit zu Zeit fiel ein leichter Regen mit kleinen wehenden Schneeflocken gemischt.

In solcher Weise hatte ich mich bereits auf mehr als halbem Wege dem Orte genähert, als ich auf einer vor mir liegenden, sehr großen Wiese plötzlich Tambi gewahrte, welcher dort, die Nase am Boden und mit der Rute hin- und herschlagend, lustig brackierte. Ich blickte umher – und da ging auch Herr Bacher, der den Lauf seines Hundes mit vergnügten Augen verfolgte und mich nicht früher bemerkte, als bis wir aufeinanderstießen.

Er war so überrascht oder vielmehr so betroffen, daß er fast ganz vergaß, meinen freundlichen Morgengruß zu erwidern. »Ah – Sie, Verehrter –« sagte er, sich sammelnd. »Kommen Sie auch einmal in unsere Gegend? Nicht wahr«, fuhr er rasch und errötend fort, »Sie verzeihen, daß ich Ihrer gütigen Aufforderung bis jetzt noch nicht nachgekommen bin, aber...«

»Keine Entschuldigung, bester Freund! Sie haben eine solche mir gegenüber nicht notwendig. Ich freue mich, Sie auf meinem Wege getroffen zu haben und zu sehen, daß es Ihnen und Ihrem Liebling wohl geht.«

»Ja, wir befinden uns beide wohl – und ich und er haben allen Grund, Ihnen dankbar, sehr dankbar zu sein, Sie werden sich erinnern«, fuhr er nach einer Pause fort, »welchen Eindruck Ihre Worte von neulich auf mich gemacht haben und wie ich dabei ganz tiefsinnig geworden bin. Die Sache war ja in der Tat eine Lebensfrage für mich und den Hund, welchen ich doch, das müssen Sie zugeben, nicht beständig, nicht jahrelang mit mir an der Leine herumführen kann; und ihn zu dressieren, etwa wie Förster und ähnliche Leute mit Gewaltmitteln vorgehen, dazu bin ich nun einmal nicht fähig. Es galt also, aus diesem Dilemma herauszukommen. Und es ist mir gelungen. Ich habe nämlich für Tambi einen gewissermaßen neutralen Boden, eine Art Domäne ausfindig gemacht, wo er gehörig ausgreifen und dabei einem ganz unschuldigen Jagdvergnügen nachhängen kann, ohne Schaden zu nehmen. Sehen Sie sich einmal diese Wiese an. Sie werden bemerken, daß sie sehr groß und rings vom Wasser eingeschlossen ist. Hinter uns grenzt der Fluß das Terrain ab; vor uns, die ganze Wiese entlang, fließt der Mühlbach, welcher dort oben bei dem Wehr in den Fluß mündet. Tambi kann also nirgends ausbrechen; denn er scheut sich, ins Wasser zu gehen.«

»Das ist ganz gut«, sagte ich. »Aber Sie vergessen die Brücke, die sich weiter oben befindet, und dann wird wohl auch über den Mühlgraben irgendwo ein Steg gelegt sein.«

»Keiner, keiner«, versicherte er nachdrücklich. »Ich habe mich davon überzeugt. Nur ganz dicht vor der Mühle kann man hinübergelangen. Im übrigen scheinen sich bloß Rebhühner hier aufzuhalten; ich habe wenigstens bis jetzt noch kein anderes Wild –«

Er konnte den Satz nicht beenden. Denn eben jetzt stand vor Tambi, der im Kreise herumjagte, ein Hase auf und floh in gerader Richtung auf uns zu. Als er uns erblickte, stutzte er und bog nach rechts ab. Der Hund, der hinter ihm herlief, ebenfalls; der Hase machte abermals eine Wendung nach rechts und eilte dann gegen die Mitte des Mühlgrabens zu. Dies alles war so rasch wie der Blitz geschehen, und sei es nun, daß beide Tiere den nicht allzubreiten Graben übersprungen oder ihn durchschwommen hatten – genug: schon kamen sie jenseits zum Vorschein, überflogen den nahen Eisenbahndamm, schossen eine abgeholzte Hügellehne hinan und verschwanden, während das helle Gekläff Tambis noch in den Lüften schallte.

»Da haben Sie es!« sagte ich zu Bacher, der wie versteinert dastand und erst jetzt aus Leibeskräften zu rufen und zu pfeifen begann.

Plötzlich fielen rasch nacheinander zwei Schüsse.

Bacher erblaßte und fing heftig zu zittern an.

»Man hat nach dem Hunde geschossen!« rief ich unwillkürlich.

»Glauben Sie?« stammelte er. »Vielleicht nach dem Hasen...«

»Immerhin möglich, aber nicht wahrscheinlich. Es ist jetzt keine Schußzeit. Wollen Sie, daß ich nachsehe?«

»Bitte! Bitte!« rief er und faltete die Hände.

Ich eilte über die Wiese der Mühle zu, von dort über den Damm und stieg den ziemlich schneefreien Abhang empor, von welchem eben ein junger Mann in Jägertracht mit übergehängtem Doppelgewehr herabkam. Ich sah ihn an, er mich gleichfalls, dann lüftete er leicht den Hut.

»Haben Sie nach einem Hunde geschossen?« fragte ich ihn.

»Allerdings!« antwortete er, stehenbleibend. »Er hat einen Hasen in die Remise hinein verfolgt.«

»Und ist er tot?«

»Ja. Gehörte er Ihnen?«

»Nicht mir, aber einem Bekannten, mit welchem ich eben dort unten auf der Wiese im Gespräche stand.«

Er errötete. »Das tut mir leid. Aber ich habe die Herren nicht gesehen und den Hund nicht gekannt; ich bin erst seit acht Tagen hier als Adjunkt angestellt. Übrigens«, fügte er, sich in die Brust werfend, mit leichtem Trotze hinzu, »habe ich nur meine Pflicht getan.«

»Ganz gewiß. Aber vielleicht hätten Sie doch nicht sofort – es war ja doch eigentlich ein Jagdhund...«

»Ein Jagdhund?« entgegnete er verächtlich. »Ein Bastard war es, ein Köter. Dort oben bei der Remise liegt er.« Damit lüftete er wieder den Hut und ging.

Ich aber eilte zur Remise empor. An ihrem Rande, unter einem Fichtenbusche, lag Tambi, die vier gelben Pfoten von sich gestreckt, mit blutender Weiche, die von einer vollen Schrotladung getroffen und zerrissen war. Eine Schar von Dohlen hatte sich schon um ihn versammelt, die bei meinem Nahen krächzend aufflogen, sich aber gleich wieder in kurzer Entfernung niederließen. Mit wehmütigem Schauder betrachtete ich die Leiche des Tieres, das seinem Instinkte zum Opfer gefallen war und dessen Augen jetzt weit aufgerissen und verglast gegen den Himmel zu starren schienen. Armer Tambi! Armer Bacher!

Ihm mußte ich nun die vernichtende Kunde bringen. Schon am Fuße des Abhanges kam er mir, den Damm überschreitend, entgegen, ein Bild trostloser Seelenangst.

»Nun? Nun?« fragte er tonlos.

Ich machte ein Zeichen mit der Hand.

»Tot!« rief er, »tot!?«

Ich bejahte stumm.

»Mein Gott! Mein Gott!« Und er blickte um sich, wie ins Leere.

»Wollen Sie ihn sehen?« fragte ich nach einer Pause.

»Sehen? Ich weiß nicht, ob ich den Anblick ertragen kann. Aber ist er denn wirklich – ist keine Rettung mehr möglich? Vielleicht, daß doch noch –«

»Es ist aus«, sagte ich, »und alles umsonst. Es wird am besten sein, wenn wir ihn gleich dort oben begraben. Sind Sie einverstanden?«

Er erwiderte nichts; aber ich sah, daß er es zufrieden war, wenn ich für ihn dachte und handelte. Ich begab mich daher in die Mühle und forderte einen Burschen auf, einen Spaten zu nehmen und uns zu folgen. Bacher konnte sich kaum auf den Füßen halten; ich mußte ihn unter dem Arm fassen.

Oben angelangt, blieben wir stehen, und ich deutete nach der Remise. Bacher warf zuerst einen scheuen, furchtsamen Blick nach der Stelle, wo Tambi lag; hierauf tat er mit starren Augen rasch ein paar Schritte nach vorwärts – und wandte sich dann schaudernd ab.

»Setzen Sie sich einstweilen auf diesen Baumstrunk«, sagte ich, »ich werde alles Weitere besorgen.«

Er tat es mechanisch und verhüllte sein Antlitz.

Das kleine Grab war bald aufgeworfen und wieder mit Rasen und Moos bedeckt. Wir hatten es unter einer jungen, freistehenden Föhre angebracht, und zum Schlusse türmte ich noch ein kleines Mal aus herumliegenden bunten Syenitstücken darauf. Dann entlohnte ich den Burschen, welchen ich gehen hieß, näherte mich Bachern und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Er schrak auf, wendete sich und ging mit ausgebreiteten Armen auf das Grab zu...

Ich fühlte, daß er jetzt das Bedürfnis habe, allein zu sein, und entfernte mich.


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