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Wer in früherer Zeit – heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig – die Bahn über den Semmering, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände emporwindet, zum ersten Male befahren hat, der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Viadukte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos scheinender Tunnels hineinbrauste, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden haben, die uns stets überkommt, wenn wir etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmählich ebenen Boden erreichend, wieder gefahrlos zwischen lachenden Triften forteilte, dann wird er sich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu sein, das solche Wunderwerke hervorbringt, in seinen Sitz zurückgelehnt und sich mit halbgeschlossenen Augen hinübergeträumt haben in die Errungenschaften der Zukunft, welche in der Eröffnung des Suezkanals und dem Durchstich des Mont Cenis noch immer nicht ihre kühnste Betätigung gefunden. An eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden die wenigsten gedacht haben: an die Tausende und Abertausende von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich jene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher man, fast so rasch wie der Gedanke, aus der unruhvollen, staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den Strand der blauen Adria versetzt werden kann. Von zweien solcher armen Menschen, welche seit jeher, ohne daß ihnen selbst bis jetzt die Segnungen des Fortschritts zuteil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der großen Kulturarbeit der Völker, will ich nun eine kleine Geschichte erzählen. Nicht etwa, um das harte Los dieser Parias der Gesellschaft, die unsere Dome und Paläste, unsere Unterrichtsanstalten und Kunstinstitute bauen, in grellen Farben zu schildern, oder darzutun, welche Rolle der sogenannte fünfte Stand dereinst noch im Laufe der Begebenheiten zu spielen berufen sein dürfte: sondern nur, um ein schlichtes Lebensbild aus der großen Masse derjenigen festzuhalten, deren Dasein, von schweren körperlichen Mühen überbürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brot meist unbekannt und unbeachtet dahingeht, bis es zuletzt in irgendeinem dumpfen Winkel der Erde spurlos endet – nur um zu zeigen, wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und daß sich überall im kleinen abspielt die große Tragödie der Welt. –
Die Bahn war hergestellt. Der zyklopische Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengschüsse war verhallt, und das zahl- und rastlose Menschengewirr, das sich aus dem entlegenen Böhmen, den mährisch-ungarischen Niederungen, aus dem steinigen Karst und dem gesegneten Friaul hier zusammengefunden hatte, war weiter südwärts gezogen, um dort sein mühevolles Tagewerk fortzusetzen. Das tief in die Wälder hinein verscheuchte Wild kehrte allmählich wieder zurück und wagte sich, wie neugierig, auf den riesigen Höhenpfad, der, noch unbefahren, gleich einer vergessenen Spur menschlicher Tatkraft in dem stillen Frieden des Hochgebirges lag. Nur hier und dort, etwa zwei Wegstunden voneinander entfernt, stand noch eine jener geräumigen Bretterhütten, welche die Nomaden der Arbeit in Scharen bewohnt und bei ihrem Aufbruche wieder niedergerissen hatten. Sie beherbergten eine Anzahl von Zurückgebliebenen und späteren Nachzüglern, welche bestimmt waren, den Oberbau gänzlich zu vollenden. Denn noch galt es, an mancher Stelle Schienen zu legen, Geleise zu beschottern, Telegraphenstangen aufzurichten und Wächterhäuschen auszumauern, an deren Gesimse die zierlichen Schwalben, welche sich tagsüber oft in langen Reihen auf den elektrischen Drähten niederließen, bereits ihre Nester geklebt hatten.
Eines Nachmittags, es war Sonntag, saß vor einer solchen Hütte, welche sich, etwas abseits von der Bahn, an schroffe Felsen lehnte, eine weibliche Gestalt auf der Schwelle. Sie war barfuß, hatte um das Hinterhaupt ein grobes dunkles Tuch geschlungen, und das Antlitz, das daraus hervorsah, war welk und von jener bräunlich fahlen Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blassen Gesichtern zu erzeugen pflegt. Die Stirn wies tiefe Furchen auf, und um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende älter erscheinen ließ, als sie sein mochte, und die verkümmerte Mädchenhaftigkeit ihres Leibes seltsam hervorhob. Die Sonne stand nicht mehr hoch; über die meisten Abhänge hatten sich bereits dunkle, schweigende Schatten gelagert. Aber auf dem Wiesengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln des seitwärts ansteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der helle Strahl, in welchem sich eine Schar von Faltern, Bienen und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Einsame jedoch achtete nicht der lieblichen Sonnenpracht, die sich vor ihr ausbreitete, sondern hielt den Blick unverwandt auf eine schadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherstellung sie eifrig beschäftigt war. Diese Arbeit schien ihr recht sauer zu werden; denn ihre rauhe, schwielige Hand, welche die Nadel mühsam und ungelenk führte, hatte wohl sonst nur Haue und Schaufel anzufassen. Jetzt wurde sie durch nahende Schritte aufgestört, und als sie das Haupt hob, gewahrte sie, wie vom Bahngeleise her ein Mann auf die Hütte zuschritt, dessen Erscheinung einen kläglichen Anblick darbot. Klein und unansehnlich von Wuchs, trug er einen alten, zerschlissenen Soldatenkittel, welcher, zu lang und zu weit, seinen Körper wunderlich umschlotterte, während ihm eine blaue, abgegriffene Feldmütze tief über die Stirn herabfiel. Er wankte im Gehen, obgleich er sich auf einen knorrigen Baumast stützte, und der kleine Sack von fadenscheinigem Zwillich, den er über die Schultern gehängt trug, ziemlich inhaltslos aussah. So näherte er sich, scheu und verlegen aus matten, farblosen Augen blickend, der Erwartungsvollen. »Ist das die Hütte Nummer sieben?« fragte er mit unsicherer Stimme.
»Ja, das ist sie«, erwiderte die andere in jenem eigentümlichen, hart klingenden Deutsch, wie es im südlichen Böhmen gesprochen wird. »Was willst du?«
»Man hat mich zur Arbeit heraufgeschickt.« Und dabei wies er einen Zettel vor, den er in der Hand hielt.
Sie betrachtete noch immer seinen seltsamen Anzug und sein dünnbärtiges Antlitz, das jämmerlich bleich und abgemagert aussah. »Der Aufseher ist nicht zu Hause«, sagte sie endlich: »Er ist mit den andern nach Schottwien hinuntergegangen zum Wein. Setz dich einstweilen dort nieder, wenn du müd bist.« Und mit einem letzten Blick auf sein hinfälliges Wesen nahm sie, ihrer unterbrochenen Arbeit sich besinnend, rasch wieder Nadel und Faden auf.
Der Ankömmling erwiderte nichts, sondern schleppte sich bloß ein paar Schritte seitwärts, wo er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung im Grase niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer sank, ihr letztes Gold verschüttend. Lautlose Stille herrschte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreiste mit langgedehntem Schrei ein Geier.
Plötzlich erklang in der Ferne ein wüster Männerchor. Die Emsige schrak auf. »Jesus, da sind sie schon«, sagte sie halblaut zu sich selbst, »und ich habe die Jacke noch nicht fertig.«
Immer näher, immer stärker scholl der Gesang, und es dauerte nicht lange, so kam eine Schar verwildert aussehender Gesellen heran, aus deren Mitte, besser als die andern gekleidet, ein Mann von herkulischem Wuchse emporragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; sein breites, aufgedunsenes Gesicht war vom Weine gerötet, und der Strohhut, der ihm tief im Genick saß, ließ graue, verworrene Haare sehen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und über die linke Achsel geworfen; in der rechten Hand, die feist und stämmig aus dem losen Hemdärmel hervorsah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den übrigen trugen schwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf dem Rücken. »Heda! Tertschka!« rief der Mann mit dem Korbe in heiserem Tone, »mach Licht drinnen, daß wir den Proviant in den Keller schaffen können!« Und da er jetzt vor ihr stand und ihm die Jacke, die sie ängstlich an sich drückte, in die Augen fiel, fragte er barsch: »Nun, ist sie gemacht?«
»Noch nicht ganz«, war die zaghafte Antwort.
»Was? Nicht?« kreischte er, und sein Gesicht wurde blaurot. »Hab ich dir nicht gesagt, daß ich sie morgen brauche?«
»Ich hab mich den ganzen Nachmittag damit geplagt. Aber ich kann's nicht so schnell machen wie eine, die das Nähen gelernt hat.«
Der stille Vorwurf, der in diesen Worten lag, schien ihn noch mehr zu reizen. »Du weißt immer etwas zu erwidern!« schrie er. »Aber ich sage dir nur, wenn ich die Jacke morgen früh nicht habe, so gib acht, was dir geschieht!« Und er drang, den Korb auf den Boden stellend, auf die Zurückweichende ein, als wollte er schon jetzt seine Drohung zur Wahrheit werden lassen. Dabei fiel sein Blick auf die Gestalt im Soldatenkittel, die sich inzwischen furchtsam genähert hatte.
»Wer ist der da?« fragte der Wütende, indem er die erhobene Hand sinken ließ.
»Er ist zur Arbeit hergewiesen«, sagte Tertschka, schwer atmend.
Der Aufseher – denn er war es – trat mit der ganzen Wucht seines vierschrötigen Wesens vor den Kleinen hin und musterte ihn von oben bis unten. »Zur Arbeit? Der Kerl kann ja kaum auf den Füßen stehen!«
»Ich hab einen weiten Weg gemacht«, sagte der andere schüchtern. »Vom Ottertal herüber.«
»Das ist auch was!« höhnte der Aufseher, indem er beim Schein des Zwielichtes in den Zettel sah, der ihm mit bebender Hand überreicht wurde. »Huber nennst du dich?« fragte er nach einer Pause, aufblickend.
»Ja; Georg Huber.«
»Wie kommst du zu dem Soldatengewand?«
»Ich bin Urlauber.«
»Was? du hast beim Militär gedient?«
»Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben sie mich heimgeschickt, weil ich das böse Fieber nicht loskriegen kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt.«
»So, das Fieber hast du auch? Was die in der Baukanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern sie sich, daß es nicht vorwärts geht. Aber merk dir's, du«, fügte er mit einer drohenden Handbewegung bei, »wenn du nicht täglich deine zwei Fuhren Schotter zuwege bringst, so jag ich dich fort! Hier ist kein Spital.« Und damit langte er wieder nach dem Korbe und ging, während die andern folgten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eisen beschlagene Tür aufschloß. Diese führte in eine Höhlung, welche mehrere Stufen tief in den Felsen gesprengt war und als Keller benützt wurde. Tertschka leuchtete mit dem Kienspane, den sie von einem weitläufigen Herde genommen und angezündet hatte, voran, und die Lebensmittel wurden untergebracht. Hierauf schloß der Aufseher die Tür wieder hinter sich ab und zog sich in eine Art Verschlag zurück; die übrigen aber streckten sich, miteinander kauderwelschend und ohne ihren neuen Kameraden zu beachten, längs der Seitenwand auf eine Schütte alten Strohes zur Nachtruhe hin. Georg stand noch immer scheu und verlegen unweit des Einganges; endlich trat Tertschka an ihn heran. »Geh schlafen«, sagte sie und deutete mit der Hand nach einer leeren Stelle des gemeinschaftlichen Lagers. Er folgte ihrem Winke; ängstlich bedacht, so wenig Raum als möglich einzunehmen, schob er seinen Quersack unter den Kopf, breitete den abgelegten Kittel gleich einer Decke über sich und schlief mit einem tiefen Seufzer ein. Tertschka aber zündete noch eine kleine Öllampe an und begann, am Herde niedergekauert, wieder emsig zu nähen. Endlich ließ sie die Nadel sinken und unterzog die Jacke einer genauen Prüfung. Dann blies sie, mit der vollbrachten Arbeit zufrieden, das qualmende Flämmchen aus und legte sich, angekleidet, wie sie war, in einem Winkel neben dem Herde nieder. –
Draußen duftete die blaue Sommernacht, und zur Dachluke der Hütte herein, in den dunklen, vom Atemgeräusch der Schlafenden durchzogenen Raum sahen die zitternden Sterne.