Ferdinand von Saar
Die Steinklopfer / 1
Ferdinand von Saar

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III

Soll ich, der ich diese einfache Geschichte wahrheitsgetreu zu erzählen mir vorgesetzt, nun auch die Seligkeit zu schildern versuchen, welche die beiden von jetzt an überkommen hatte? Ich glaube, daß ich darauf verzichten darf; und zwar nicht bloß deshalb, weil keine Worte zu dem Gefühl hinanreichen, das ihnen mit einem Male den vollen Lichtglanz, den überschwenglichen Reichtum des Daseins erschlossen hatte, sondern auch, weil wohl jeder den Zauber der Liebe an sich selbst erfahren hat und so imstande ist, sich das Glück Georgs und Tertschkas nach seinem eigenen Herzen auszumalen. Freilich mußten sie dieses Glück scheu und ängstlich geheimhalten wie ein Verbrechen; aber es lebte und blühte desto schöner in der Tiefe ihres Innern fort, und bei der angebotenen und lang geübten Begnügsamkeit ihres Wesens waren sie zufrieden, wenn sie sich des Morgens, Mittags und Abends verstohlen entgegenlächeln oder zu einem flüchtigen Händedruck aneinander vorüberstreifen konnten. Auch schien es, als ob der Aufseher immer weniger auf sie achte, daher sich ihre Besorgnis, er könnte vielleicht doch von ihrem gemeinsamen Gange nach Schottwien Kenntnis oder Vermutung haben, mehr und mehr verlor. Ja, Georg wagte sich sogar, wenn er, um Schotter zu holen, mit seinem Schiebkarren nach dem Steinbruch mußte, manchmal rasch zu Tertschka hinauf, wo dann den Liebenden in einer kurzen Umarmung die Welt versank. In einem solchen Augenblick jedoch erschallten plötzlich nahende Tritte, und als sie erschrocken auseinanderfuhren, sahen sie den Aufseher, der mit hohn- und wutverzerrtem Antlitz hinter ihnen stand. »Hab ich euch, ihr Racker!« schrie er. »So befolgt ihr mein Gebot und meint, ich merke euer Treiben nicht! Ich wußte recht gut, daß ihr letzthin den ganzen Sonntag miteinander herumgezogen seid; aber ich wollt' euch auf frischer Tat ertappen, und jetzt sollt ihr mir's büßen!« Und damit ergriff er Georg rückwärts beim Halse und schleuderte ihn ein paar Schritte weit zu Boden, daß Sand und Geröll aufstob. »Fahr deinen Schotter hinab, du Galgenstrick, und dann schnürst du deinen Bündel und gehst! Wenn du mir noch einmal unter die Augen kommst, so schlag ich dich krumm und lahm!« Bei diesen Worten stieß er den mühsam sich Aufrichtenden zu dem Schiebkarren und trieb ihn mit drohend geschwungener Faust den Abhang hinunter. Hierauf kehrte er zu Tertschka zurück und betrachtete sie lange mit einem bösen, grausamen Blicke. »Mit dir«, sagte er endlich, »werd ich später reden.« Und er ging, unverständliche Worte in sich hinein murmelnd.

Betäubt, seiner Sinne beraubt, war Georg bei seinen Genossen angelangt. Er hatte mechanisch den Schiebekarren ausgeleert; dann setzte er sich auf einen Stein und blickte gedankenlos ins Weite hinaus. Der Himmel war am Morgen schon leicht umwölkt gewesen; nun hatte sich ein trüber, grauer Tag zusammengezogen. Herbstlicher Windhauch strich leise durch die Wipfel der Tannen, und ein feiner, kalter Regen fiel auf die Erde. Aber Georg empfand die Tropfen nicht, die scharf in sein Antlitz schlugen. Feurige Funken tanzten vor seinen Augen, und ein heißer Schauer durchrieselte die Leere seiner Brust. Nach und nach jedoch drängte sich das Bewußtsein der erlittenen Schmach immer mächtiger in ihm hervor und mischte sich mit dem brennenden Gefühl des Unrechtes, das man an ihm und Tertschka zu begehen im Begriffe stand. Fortjagen wollte man ihn, und sie auseinanderreißen, die so tief und innig verbunden waren? Wer durfte das? Niemand! Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr empörte sich seine sonst so verschüchterte und duldende Seele, und eine hehre Kraft, ein heiliger Mut lohten darin auf, jeder Macht der Erde entgegenzutreten, die sich solcher Gewalttat unterfinge. Seine unscheinbaren Züge nahmen allmählich den Ausdruck fester Entschlossenheit an, und seine fahlen Augen funkelten wundersam. Endlich erhob er sich und schritt, während ihm die andern verwundert nachsahen, zu Tertschka empor. Die saß da und weinte.

»Weine nicht, Resi!« sagte er, und seine Stimme klang ernst und tief.

Sie antwortete nicht.

Er hob ihr sanft das Haupt empor. Sie schluchzte noch lauter.

»Weine nicht«, wiederholte er. »Es hat alles so kommen müssen. Aber es ist gut; wir wissen nun, was wir zu tun haben.«

Sie sah vor sich hin.

»Er hat mich fortgejagt; ich muß gehen – und du gehst mit mir.«

Es war, als hörte sie ihn nicht.

»Unten in Krain bauen sie die Eisenbahn weiter«, fuhr er fort. »Dort finden wir Arbeit.«

Sie schüttelte langsam das Haupt.

»Du willst nicht, Resi? Und sieh, noch eins. Ich hab einmal gehört, daß ausgediente Soldaten, die im Krieg waren, Bahnwächter werden können. Ich laß mir ein Gesuch schreiben; vielleicht glückt es mir, und wir bekommen dann eines von den kleinen Häusern, wie sie unten am Geleise stehen, und können darin leben als Mann und Frau. – Und wenn es damit nichts ist«, setzte er rasch hinzu, da sie noch immer kein Zeichen der Beistimmung gab, sondern nur heftiger weinte, »wenn es damit nichts ist, so muß es auch recht sein. Wir wollen ein paar Jahre fleißig arbeiten und sparen, soviel wir können. – Aber so sprich doch ein Wort, Resi!«

»Ach«, jammerte sie, »was du da sagst, ist alles schön und gut; aber du bedenkst eins nicht, daß mich der Aufseher nicht fortläßt.«

»Er muß dich fortlassen. Du bist kein Kind mehr. Auch hat er sonst nichts mit dir zu schaffen. Du bist eine Arbeiterin wie jede andere und kannst gehen, wann und wohin du willst.«

»Glaub mir, er läßt mich nicht gehen – und mit dir schon gar nicht! – Ich hab dir's bis jetzt verschwiegen«, fuhr sie nach einer Pause fort, während sich ihr Antlitz mit dunkler Röte überzog, »aber nun muß ich dir's sagen. Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärtlich mit mir tun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich würd' es der Mutter klagen. Im vorigen Sommer jedoch kam er eines Abends allein aus dem Wirtshaus zurück und fing wieder an und sagte, er würde mich heiraten. Und da ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich aber hab mich seiner erwehrt und hab ihm gesagt, was ich von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis aufs Blut und rächt sich, wie er kann.«

Georg war bis in die Lippen hinein bleich geworden, und seine Brust rang mühsam nach Atem. »Der Elende!« stieß er endlich hervor. »Und bei dem solltest du bleiben? Jetzt, da ich das weiß, noch weniger! Du ziehst mit mir, und er soll sehen, wie er's verhindern kann.«

»Trau ihm nicht«, rief sie ängstlich. »Er ist imstande, einen zu morden, der schwächer ist als er.«

»Ich fürcht ihn nicht«, erwiderte Georg, und seine kleine Gestalt reckte sich scheinbar weit über ihr Maß hinaus. »Er hat mich früher von hinten angefallen, und ich war nicht darauf gefaßt. Aber er soll mir noch einmal kommen!«

»Jesus!« klagte sie und rang die Hände; »ich könnt' es nicht sehen, daß ihr aneinandergerietet.«

»Nun, es wird so arg nicht werden«, versetzte er, seine Erregung niederkämpfend. »Wir wollen zu ihm – jetzt gleich – und ihm ruhig und gemessen unseren Entschluß mitteilen. Du wirst sehen, daß er nichts erwidert. Denn so schlecht, so niederträchtig er auch ist, erkennen muß er, daß er kein Recht und keine Macht hat, dich zu halten.«

Sie rang noch immer verzweifelt die Hände.

»Fasse Mut, Resi«, sagte er ernst. »Willst du mich allein ziehen lassen?«

Sie flog ihm an die Brust und klammerte sich an seinem Halse fest.

»Nun also«, fuhr er fort und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn, »gehen wir.« Und sie schritten langsam auf die Hütte zu: sie die Brust voll Bangen und Zagen vor den Dingen, die sie kommen sah, er unerschütterliche Kraft und Zuversicht im Herzen.

Als sie über die Schwelle traten, saß der Aufseher mit einem Messer in der Hand am Tische und schälte Kartoffeln. Er blickte etwas betroffen auf das Paar; aber seine Überraschung schlug allsogleich in Zorn und Wut um. »Was wollt ihr zwei da?« schrie er, indem er sich halb erhob und den Griff des Messers wie kampfbereit auf den Tisch stützte.

»Ihr habt mir die Arbeit gekündigt«, erwiderte Georg in ruhigem Tone. »Ich komme, um meine Sachen zu holen und Euch zu sagen, daß die Tertschka mit mir geht.«

Der Aufseher machte eine Bewegung, als wollte er auf ihn zustürzen; jedoch fühlte er sich durch die ernste, sichere Miene, mit welcher Georg vor ihm stand, wider Willen eingeschüchtert.

»Darauf geb ich gar keine Antwort«, knirschte er endlich.

»Ihr braucht auch keine zu geben. Tertschka ist frei und ledig und kann tun, was sie will.«

Der Aufseher keuchte.

»Nimm, was dir gehört, Resi«, fuhr Georg fort, indem er sich wandte, um seinen Quersack zu suchen, »und dann komm..

In der Brust des anderen arbeitete es heftig. Er wußte augenscheinlich nicht, was er beginnen sollte. Aber in dieser Unentschlossenheit warf er einen Blick nach Tertschka, welche ihre Seelenangst nicht verbergen konnte. Und als sie jetzt auf die Kiste zuschritt, sprang er auf sie los und stieß die Entsetzte in den Keller hinunter, dessen Tür halb offen stand. Dann schloß er diese ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. »So, das ist meine Antwort«, stammelte er, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, während er sich wieder am Tische niederließ und mit erzwungener Ruhe seine Beschäftigung fortzusetzen begann.

Das war so rasch, so unvermutet geschehen, daß es Georg nicht hatte verhindern können. Er faßte sich jedoch allsogleich, hängte ohne jedes Zeichen von Eile seinen Sack über die Schulter und näherte sich mit langsamen Schritten dem Aufseher. »Laßt die Tertschka heraus«, sagte er ruhig.

Der Aufseher schälte Kartoffeln.

»Laßt die Tertschka heraus.«

Die Hände des Aufsehers zitterten. Und als Georg zum dritten Male, jedoch eindringlicher, seine Forderung wiederholte, sprang er auf und ballte die Faust. »Geh jetzt – geh!« rief er, »sonst – –«

»Was – sonst?« erwiderte Georg gelassen. »Ich fürcht Euch nicht, wenn Ihr auch stärker seid. Vorhin hattet Ihr leichtes Spiel mit mir, denn ich war wehrlos, wie jetzt die Tertschka. Aber Aug' in Aug' steh ich Euch!« Das Antlitz des Aufsehers war gräßlich anzusehen. Haß, Rachsucht und lähmende Feigheit wogten darin auf und nieder. Er rang nach Luft und seine Hände griffen unsicher vor sich hin. Georg gewahrte das alles, und seine Brust stählte sich mehr und mehr. »Drum rat ich Euch«, fuhr er fort, »gebt gutwillig heraus, was mein ist; sonst nehm ich mir's mit Gewalt.«

Während dieser Worte hatten sich einige Männer in der Hütte eingefunden; denn die Mittagsstunde nahte heran. Ihre Anwesenheit wirkte stachelnd auf den Aufseher. Er fühlte sich sicherer, und seine Feigheit, die er selbst mit Wut empfand, bäumte sich aus Furcht, von anderen bemerkt zu werden, zu frecher Verwegenheit empor. »Habt ihr gehört?« rief er, gegen die Männer gewendet, »der Kerl wagt es, mir zu drohen, weil ich das schlechte Weibsbild, die Tertschka, eingesperrt hab, daß sie nicht mit ihm davonläuft.«

»Beschimpft uns nicht!« rief Georg, dessen Blut unwillkürlich höher aufwallte. »Wir sind zwei ehrliche Leute. Ihr habt kein Recht, die Tertschka einzusperren, wenn sie auch schlecht wär'.«

»Was? kein Recht hätt' ich?! Sie ist mein Stiefkind und bei mir aufgewachsen!«

»Leider Gottes! Mehr sag ich nicht; ich will Euch schonen vor diesen da.« Und dabei deutete er nach den Männern, die mit stumpfem Behagen dem wachsenden Streite zusahen.

»Hört ihr den Hund? Schonen will er mich! Packt ihn und werft ihn hinaus!«

Die Männer blickten einander an; aber sie regten sich nicht. Hinter der Kellertür war lautes Ächzen vernehmbar.

»Seht Ihr?« fuhr Georg in steigender Erregung fort; »es fällt keinem ein, mich anzurühren. Drum sag ich Euch zum letztenmal: gebt die Tertschka frei – oder ich nehm den Hammer dort. Zwei Schläge damit, und die Tür geht in Trümmer!«

»Was? Die Tür willst du mir einschlagen? Du Räuber! Du Dieb! Hinaus! Sonst laß ich die Gendarmen holen!"

»Laßt sie holen« rief Georg flammend. »Dann wird sich zeigen, wer im Recht ist! Dann wird sich zeigen, warum Ihr die Tertschka eingeschlossen habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr sie von klein auf mißhandelt, wie Ihr der Armen schändlich nachgestellt und ihr den sauer verdienten Taglohn und das Erbteil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewissen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehrlosen umgeht und wie Ihr Euch mästet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!« – Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieser Anklagen hatten bei dem Aufseher das Maß zu Rande und ihn selbst um alle Besinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, schäumenden Mundes, die Augen weit vorgequollen – so stürzte er sich mit hochgeschwungenem Messer auf Georg. Dieser aber hatte den Hammer erfaßt und schwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufseher, vor die Brust getroffen, wankte – und taumelte, während sich ein Schwall dunklen Blutes aus seinem Munde ergoß, röchelnd zu Boden.

Einen Augenblick herrschte lautlose Stille; stummes, ödes Grausen hatte die Anwesenden ergriffen. Georg aber stand da, wie David an der Leiche Goliaths. »Resi! Resi!« rief er jetzt, indem er mit raschen Schlägen das Türschloß aufsprengte, »komm heraus, Resi! Du bist frei; unser Peiniger liegt am Boden!«

»Jesus Maria!« schrie sie, hervoreilend, und schlug mit einem Blick auf den Getroffenen die Hände zusammen. »Er ist tot! Georg! Georg! Was hast du getan! Jetzt wird man dich fortführen und als Mörder vors Gericht stellen!«

»Das soll man! Ich werde Red' und Antwort geben. Die dort müssen es bezeugen, daß er mir mit dem Messer ans Leben wollte. – Geht hinunter«, wandte er sich an die Männer, »und meldet, daß der Arbeiter Georg Huber den Aufseher erschlagen hat.«

Es dauerte lange, bis sich einer dazu entschloß. Georg aber setzte sich mit Tertschka draußen vor der Hütte nieder. Sie weinte in einem fort; er, noch immer gehoben von dem Vollgefühle seiner Tat, die ihm ein vollstrecktes Richteramt erschien, streichelte ihr von Zeit zu Zeit sanft tröstend die Wangen. Endlich erschienen zwei Herren von der Bauleitung und ein Gendarm. Sie ließen sich alles erzählen und sprachen dann eifrig miteinander. »Eingeliefert muß er werden«, sagte der Gendarm. »Er ist Urlauber und gehört vor das Militärgericht in Wiener Neustadt.« Da sich Georg willig und fügsam erwies, so wurde ihm mitgeteilt, daß man ihm keine Fesseln anlegen wolle; zu der jammernden Tertschka aber sprach der Gendarm, sie möge sich trösten; nach allem, was er gehört, dürfte es so schlimm nicht werden. Ja, er gestattete ihr sogar, sich mit auf den Vorspannswagen zu setzen, der ihn und Georg später nach Wiener Neustadt brachte – und so fuhren sie in den sinkenden Abend hinein und in die dunkelnde Nacht, während man oben die Leiche fortschaffte und ein endloser Regen vom Himmel niederströmte.


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