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Zweiter Teil

Neuntes Kapitel.
Mr. Selby erzählt weiter.

An einem bitter kalten Julimorgen des Jahres 1860 versuchte unsere Bark Planter, die von London nach Adelaide segelte, aber durch widrige Winde ziemlich weit nach Süden verschlagen worden war, wieder nördlichen Kurs zu halten, soweit die noch immer ungünstige Windrichtung dies zuließ. Unsere Bramstengen lagen unten an Deck, und über die Querbramsalings hinaus zeigten wir keine Leinwand, sodaß wir bei der starken Dünung nur langsam von der Stelle kamen.

Ich war damals Oberbootsmann auf dem Planter, einem Fahrzeug von 460 Tonnen, und hatte an jenem Tage die Morgenwache. Die ganze Nacht hindurch hatten wir angestrengt nach schwimmenden Eismassen Ausguck gehalten, denn tags zuvor waren wir nur mit knapper Not der Gefahr entronnen, auf einen ungeheuren Eisberg aufzulaufen.

Jetzt stieg langsam der kalte Polartag über dem Horizonte herauf. Als ich meine Augen leewärts über die See schweifen ließ, nahm ich zu meinem Erstaunen ein Segel wahr, das geradewegs auf uns zusteuerte. Mit Hilfe meines Fernrohrs erkannte ich ein dichtbesetztes Langboot.

»Segel in Lee!« rief ich und erstattete eilig dem Kapitän, der eben an Deck erschien, Rapport. Rasch wurden die nötigen Befehle gegeben; wir näherten uns dem Segelboot von Minute zu Minute und waren in kurzer Zeit in Rufweite.

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, nehmt uns auf, wir sind schon halb erfroren!« klang es flehend zu uns herüber.

Wir drehten bei und warfen ein Tau hinab, erkannten aber bald, daß die Leute zu erstarrt waren, um daran emporklettern zu können. Der Kapitän rief dem Führer des Bootes zu, wer sich noch rühren könne, solle zuerst den ganz Hilflosen das Seil um den Leib schlingen, damit sie nacheinander an Bord gezogen werden könnten. Der erste der Unglücklichen war ein kleiner, dicker Mann mit Glatze, allem Anschein nach kein Matrose; er schien bereits erfroren und wurde in die Kajüte hinunter getragen. Vier oder fünf andere blieben leblos an Deck liegen und mußten der Obhut des Schiffsarztes übergeben werden. Die übrigen wurden ins Mannschaftslogis geführt, um sich dort zu erwärmen und zu erholen.

»Was soll mit dem Boot geschehen?« fragte ich den Kapitän.

»Hm,« versetzte er mit einem bedauernden Blick auf das schmucke kleine Fahrzeug, »nehmen wir's ins Schlepptau, so schlägt es doch voll Wasser und sinkt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als es seinem Schicksal zu überlassen.«

Auf Anordnung des Kapitäns sah ich nach den Geretteten, die im Vorderkastell untergebracht waren. Man hatte ihnen ihre durchnäßten und steif gefrorenen Kleider ausgezogen, ihre erstarrten Glieder in wollene Decken gewickelt und die ermatteten Lebensgeister durch heißen Grog wieder angeregt. Der Einzige, der all dieser Sorgfalt nicht zu bedürfen schien, war der Führer des Bootes, ein hünenhafter, rotbärtiger Matrose. Nachdem er seinen Oelrock abgestreift, ein paar Gläser dampfenden Grogs hinuntergespült, kaltem Fleisch und Schiffszwieback alle Ehre angetan und durch kräftige Bewegungen seine langen Arme und Beine wieder gelenkig gemacht hatte, erklärte er sich bereit, dem Kapitän seine und seiner Kameraden Geschichte zu berichten.

Da meine Pflicht mich an Deck festhielt, hörte ich seinen Bericht erst später, als der Kapitän mich aufsuchte und mir mit einem bekümmerten Ausdruck auf seinem ehrlichen Seemannsgesicht erzählte:

»Ich fürchte, drei von den armen Teufeln sind nicht mehr zu retten. Der vierte hat eben das Bewußtsein wiedererlangt, aber Gott weiß, was aus ihm werden soll. Seine Finger scheinen total erfroren, und wenn man ihm die Stiefel auszieht, werden die Zehen wohl mitgehen.«

»Wer ist der Unglückliche?«

»Der erste, den wir an Bord zogen, ein Schiffsarzt.«

»Und die anderen sind tot?«

»Leider. Alle Wiederbelebungsversuche, die Newman angewandt hat, sind erfolglos geblieben.«

Newman war unser Bootsmann, hatte aber früher etwas Medizin studiert und fungierte bei uns nebenbei auch als Schiffsdoktor.

Der Kapitän erzählte, was der fremde Matrose ihm berichtet hatte. Die geretteten Seeleute gehörten der Lady Emma an, die am 2. April die Themsemündung verlassen hatte und am 2. Juli von einem orkanartigen Windstoß überfallen worden war, der das Schiff beinahe zum Kentern gebracht hätte. Um das Fahrzeug wieder in die Höhe zu bringen, hatte man den Großmast gekappt, der aber auch die anderen Masten über Bord riß, so daß nur ein zwölf Fuß hoher Stumpf des Fockmastes stehen blieb. Ein mit großer Mühe errichteter Notmast wurde von einer Bö über Bord gefegt.

Der Kapitän der Lady Emma hatte sich, nach Aussage der Leute, der schwierigen Sachlage nicht recht gewachsen gezeigt. Einige Wochen vor dem Sturm war er durch die gespenstische Erscheinung eines Doppelgängers an Bord erschreckt worden; seit der Zeit lastete eine tiefe Niedergeschlagenheit auf ihm, die seine sonstige Kaltblütigkeit und Umsicht in den Stunden der Gefahr beeinträchtigte. Um seinen unversicherten Schiffspart zu retten, bestand er eigensinnig darauf, ein vorübersegelndes Fahrzeug abzuwarten, um sich von ihm ins Schlepptau nehmen zu lassen.

Der Mannschaft jedoch schien diese Rettungsaussicht zu unsicher. Sie benutzte die erste Gelegenheit, das Langboot auszurüsten, um unserem in der Ferne gesichteten Segel nachzueilen. Der Kapitän, seine Frau und eine junge, vornehme Dame, die als Passagier die Reise mitmachte, waren an Bord zurückgeblieben, doch nicht durch die Schuld der Leute, denn diese hatten den Schiffsführer und seine Angehörigen mehrfach vergeblich aufgefordert, sich ihnen anzuschließen.

Die Mannschaft im Boot hatte unsere Bark bald aus den Augen verloren gehabt, machte dann vergebliche Versuche, das Wrack wieder zu gewinnen, und trieb zwei Tage und zwei Nächte auf dem Meere umher. Am dritten Morgen erreichte sie uns – noch eine Nacht im offenen Boot hätte zweifellos niemand mehr lebend überstanden.

»Wo mag das Wrack sich jetzt wohl befinden?« fragte Kapitän Parry.

Ich überlegte einen Augenblick, zog die Windrichtung und die Segelgeschwindigkeit des Bootes in Betracht und meinte dann nach kurzer Berechnung:

»Etwa 150 Meilen nach West-Süd-West.«

»Ich schätze die Entfernung noch größer,« erwiderte Mr. Parry.

»Sie mögen recht haben, Kapitän.«

»Wie's auch sei, es ist unsere Pflicht, das Schiff zu suchen. Drei Menschen sind an Bord, zwei davon Frauen. Die eine soll sogar die Tochter eines englischen Baronets sein.«

Wir änderten unseren Kurs und gingen auf die Suche nach der Lady Emma. Die Hauptschwierigkeit dabei lag in der außerordentlich kurzen Tagesdauer sowie in dem Umstande, daß es sich nicht um ein Vollschiff unter Segel, sondern um ein niedriges, entmastetes Wrack handelte, das unseren Blicken bei Nacht oder in der Dämmerung leicht entgehen konnte. Unser Unternehmen war dennoch keineswegs aussichtslos. Das Wrack wies, wie die Leute der Lady Emma bestätigten, noch kein Leck auf und war überdies mit Lebensmitteln und Feuerung reichlich versehen, so daß die drei Zurückgebliebenen ihr Leben noch lange Zeit fristen konnten.

Den ganzen Tag über hielten wir bei leidlich klarem Wetter scharfen Ausguck und sichteten mehrere Eisberge, doch keine Spur von der Lady Emma. Bei Beginn der Dunkelheit refften wir alle Leinwand bis auf zwei Toppsegel, und langsam schob sich der Planter durch die stark, aber gleichmäßig von Westen her rollende Dünung.

Ich vermutete, daß der Kapitän der Lady Emma eine Signallaterne an seinen Fockmaststumpf hängen werde, doch vergeblich durchforschten meine Augen die dunkle Wasseroberfläche nach einem glimmenden Lichtfünkchen. Während der langsam verrinnenden einsamen Stunden der Wache hatte meine Einbildungskraft Muse genug, sich die verzweifelte Lage der drei auf dem Wrack Zurückgebliebenen auszumalen.

Auch unser Schiff mußte sich jetzt in tiefer Finsternis seinen Weg durch die Wasserwüste bahnen. Allein über meinem Haupte wußte ich doch das luftige Gefüge aus Masten und Raaen, aus Tauen und Segeln in guter Ordnung, und in das matte Schneelicht mischte sich der trauliche Schein der Decklaternen, leuchtete der Schimmer der Kompasscheibe.

Jene Aermsten aber trieben in ihrem zerstörten Wrack wie in einem schwimmenden Sarge ...

Bei Tagesanbruch bewölkte sich der Himmel, und als ich nach ein paar Stunden Schlafes durch das Deckfenster spähte, verschleierte dichtes Flockengewirbel jede Fernsicht. Weiß wie ein Schneemann betrat gleich darauf der Kapitän die Kajüte:

»Keine Spur von der Lady Emma und keine Aussicht das Wrack zu finden, so lange das Wetter sich nicht aufklärt.«

»Wir werden hier noch lange kreuzen müssen, wenn Sie die Absicht, das Schiff zu suchen, nicht bald aufgeben,« erwiderte ich.

»Das kann ich nicht verantworten,« versetzte Mr. Parry ernst. »Und wenn es mich auch eine ganze Woche kosten sollte, so will ich doch nichts unversucht lassen, um die drei Unglücklichen dem Verderben zu entreißen.«

Als ich an Deck kam, empfing mich ein Hagel körnigen Schnees, den der eisige Wind mir ins Gesicht peitschte. Kamerad Newman stand, in gelbes Oelzeug und hohe, schwere Seemannsstiefel gekleidet, hinter dem Besanmast, dessen ausgespannte Segel ihn ein wenig gegen das Unwetter schützten. Ich selbst trug niemals Oelzeug, sondern war heute ebenso gekleidet wie stets bei strenger Kälte, nämlich in einen Anzug von dickem Seemannstuch, eine Pelzkappe mit Ohrenklappen, dicke Fausthandschuhe und einen wollenen Schal.

Das Schiff lief unter zwei Toppsegeln und Groß-Stengen-Stagsegeln mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Knoten. Als ich meine Blicke über das Takelwerk gleiten ließ, sah ich plötzlich, wie ein Matrose, der in den Wanten herunterkletterte, das Tau verfehlte, nach dem er griff, und rücklings in die See stürzte.

»Mann über Bord!« schrie ich aus Leibeskräften.

Der Mann am Steuer drehte rasch bei. Ich schleuderte dem mit den Wellen Ringenden eine Rettungsboje zu, aus der sich, sobald sie das Wasser berührte, ein roter Stab mit einem gleichfarbigen Wimpel herausschob, der bei Tageslicht einem Schwimmer oder einem Boot als weithin sichtbarer Rettungspunkt dienen sollte.

Unterdessen hatte der zweite Steuermann alle Mann an Deck beordert. Rasch wurde ein Boot zu Wasser gefiert; ich sprang mit drei anderen Leuten hinein, und mit Aufbietung aller Kräfte ruderten wir dem roten Wimpel nach. Unser Boot war fest und solide gebaut, tanzte aber so wild auf den hochgehenden Wellen, daß die Leute kaum die Ruder gebrauchen konnten.

Der über Bord Gefallene war nicht mehr zu sehen, und ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß die schweren, dicken Tuchkleider und die hohen Stiefel, die er trug, ihn längst in die Tiefe gezogen haben mußten. Doch war es unsere Pflicht, die Wasserfläche gründlich abzusuchen.

Der Unglückstag sollte noch mehr Opfer fordern. Wir waren ganz nahe bei der schwimmenden Boje, als eine pfeifende Schneebö uns in einen blendenden Flockenwirbel hüllte und eine gewaltige See unser Boot zum Kentern brachte. Nach entsetzlichen Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen, fand ich mich mit zwei meiner Kameraden krampfhaft an das gekenterte Boot geklammert. Der dritte Matrose war verschwunden.

Wir fühlten, daß wir in fünf Minuten erstarrte Leichen sein mußten, wenn wir noch länger im Wasser blieben. Mit der Kraft der Todesangst gelang es uns in kurzer Zeit, das Boot wieder aufzurichten. Durch eine unvorsichtige Bewegung aber schlug einer meiner Gefährten dabei mit dem Kopf hart gegen den Bootskiel und versank lautlos in die Tiefe; wir beiden anderen schwangen uns mit letzter Kraft in das Boot, wo wir erschöpft niedersanken.

Bald aber zwang uns der Selbsterhaltungstrieb, das immer wieder in das Boot hereinschlagende Wasser auszuschöpfen. Glücklicherweise fand ich einen großen kupfernen Schöpfeimer, der an einem Taljereep festgebunden war, mein Kamerad half fleißig mit seinem Südwester, und so hielten wir uns notdürftig über Wasser. Vergebens aber strengten wir unsere Augen an, um eine Spur des Planter zu entdecken. Das dichte Schneegestöber verhinderte jeden Ausblick, und nur, wenn ein gelegentlicher Windstoß den tollen Wirbel ein wenig lichtete, sahen wir von fern den Wimpel der Boje flattern, in deren Nähe wir das Schiff vermuteten.

Nachdem wir eine Weile mit der Kraft und Ausdauer der Verzweiflung gearbeitet hatten, ließ mein Gefährte ermattet seinen Südwester sinken und sagte:

»Wenn man uns nicht bald zu Hilfe kommt, Selby, dann ist's aus mit mir.«

»Mensch, nimm Dich zusammen! Wir müssen 's Boot flott halten!«

Endlich gelang es uns nach verzweifelten Bemühungen, bis auf einen unbedeutenden Rest alles Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Mehrere Stunden waren verstrichen, und ich begann die Hoffnung auf Rettung aufzugeben. Mein Kamerad stöhnte und jammerte fortwährend.

Auch meine Leiden waren unbeschreiblich. Ich war bis auf die Haut durchnäßt, und meine steif gefrorenen Kleider krachten bei jeder Bewegung wie splitterndes Glas. Die Innenflächen des Bootes und die Ruderbank, auf der ich saß, waren mit einer zolldicken Eiskruste überzogen und spiegelglatt. Trotz unserer hoffnungslosen Lage aber fühlte ich noch bedeutend mehr Lebensmut und Widerstandskraft in mir als mein unglücklicher Leidensgenosse, der plötzlich, als eine Welle das Boot hoch emporhob, vornübersank, tief aufseufzte und erstarrt liegen blieb.

Ich konnte ihm nicht helfen. Womit hätte ich seinen regungslosen Körper erwärmen können! So mußte ich, selbst ein mit dem Tode Ringender, den einzigen Gefährten in dieser fürchterlichen Einsamkeit vor meinen Augen sterben sehen. Neben seiner starren Leiche wartete ich auf den Tod.


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