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Lippe hatte sich nach dem Souper bei Marguerite nicht zu Bett gelegt, er war nach Hause gegangen, hatte sich durch ein kaltes Bad erfrischt, und sich dann sofort nach seinem Bureau begeben. Das war nichts Ungeheuerliches, denn da in Berlin nicht selten in der Nacht Dinge vorkommen, die das Eingreifen des Privatdetektivs notwendig machen, hatte Lippe stets einen Beamten während der Nacht im Bureau, mit dem er telephonische Verbindung unterhielt, so daß er in kurzer Frist an Ort und Stelle sein konnte. Eine ganze Kette äußerst wichtiger Entdeckungen waren bis jetzt gelungen, nur noch ein Glied schien zu fehlen, um die Kette unauflöslich festzuschmieden. Wie er es gewöhnt war seit Jahren, schrieb er alles Neue aus den letzten Tagen chronologisch auf, er nannte das ein Selbstprotokoll. Bei dieser Arbeit mußte er notgedrungen immer auf die Stellen stoßen, die nicht fest und sicher waren, über die leicht die Phantasie des Kriminalisten weggleiten und so in falsche Wege einbiegen konnte.
Zweifellos hatte der junge Graf Liebenau seine Hand im Spiele, und wie der geschickte Polizist, sobald er Verdacht auf eine einzelne Person geworfen hat, genauestens dessen Umgebung und Verkehr prüft, so hatte auch er seine Fühler nach dem Doktor und der Baronin de Ribérac ausgestreckt.
Vor ihm lagen die Akten des Falles Mohrungen, unwillkürlich griff er danach und fand am Schlusse eingeheftet einen Bericht, datiert vom gestrigen Abend. Jetzt entsann er sich, daß er seinen Bureauvorsteher beauftragt hatte, über die Baronin Erkundigungen einzuziehen, deren Zweck war, zu ermitteln, ob sie mit dem alten Grafen Liebenau in irgend welchen Beziehungen stehe. Die Auskunft war ziemlich genau. Dieser Großmann war ein seltsamer Aktenwurm. Für den Außendienst höchst unbrauchbar, aber als Sammler von Zeitungsausschnitten und scheinbar ganz unverfänglichen Nachrichten unersetzlich. So hatte er von dem Auftauchen der Baronin Ribérac alle Zeitungsausschnitte zusammengestellt, die von ihr handelten. Zuerst hatte sie in einer Blumengavotte beim französischen Botschafter mitgewirkt, und sowohl ihre Schönheit, als auch die hinreißende Anmut ihrer Toiletten war aufgefallen und in einem Gesellschaftsbericht geschildert worden. Der Bericht lag etwa vier Jahre zurück. Dann kam ein Wohltätigkeitsfest im Reichstagshaus, bei dem wieder die Baronin eine Rolle spielte. Besonders war hier hervorgehoben und von Großmanns Hand mit Rotstift unterstrichen, daß sie mit dem jungen Grafen Liebenau von den Zietenhusaren getanzt habe. An einer andern Stelle war ihre Toilette gelegentlich eines Empfanges beim Finanzminister geschildert und wiederum war der junge Liebenau zugegen.
Lippe hatte eine Stunde lang eifrig den Bericht studiert, dann lehnte er sich zurück und überdachte in Ruhe das, was er gelesen hatte.
Seltsam, der Liebenau behauptete doch, die Baronin zu der Zeit, da sein Onkel in das Sanatorium gebracht worden war, noch nicht gekannt zu haben, und hier stand es schwarz auf weiß, daß er schon zwei Jahre vorher in der Gesellschaft mit ihr zusammengetroffen war. Entweder hatte das der Reporter versehen, oder Liebenau log. Das letztere schien das Wahrscheinlichste, denn es ist kaum anzunehmen, daß ein gewiegter Zeitungsmann in drei, vier Berichten das Pärchen zusammen geschildert, wenn er es nicht gesehen hätte, aber man mußte weiter lesen, was noch ermittelt war, und da hieß es:
Mit dem Grafen Liebenau Vater scheint die Baronin de Ribérac keine Verbindung zu haben, dagegen gestalteten sich die Beziehungen zu dem Grafen Heinz Liebenau von Anfang an sehr intim. Schon nach der ersten Begegnung erbat und erhielt er die Erlaubnis, die Baronin in ihrer Villa zu besuchen und war seitdem bei allen Gesellschaften in ihrem Hause eingeladen.
Da lag etwas verborgen. Liebenau mußte einen Grund haben, warum er den Anfang seiner Bekanntschaft mit Marguerite später datierte. Dazu kam der Umstand, daß der Bruder der Baronin, Doktor Willemoes, Assistent in dem Sanatorium des Doktor Mühlfort in Wannsee war. Das kann kein Zweifel sein, die Beziehungen sind zu offenkundig, und es fehlt nur die Brücke von Liebenau zu der Mohrunger Köchin, der Litauerin mit dem schönen, frechen Gesicht.
Es ist eine alte Erfahrung, wenn man eine richtige Spur hat, entdeckt man auch die Einzelheiten der Verbindungen zwischen den Persönlichkeiten, mögen sie noch so verborgen gehalten werden. Hat man eine falsche Spur, so werden die Beziehungen immer brüchiger, bis sie schließlich ganz aufhören. Das ist immer zuverlässig, und der beste Prüfstein für die Richtigkeit der Theorie.
Jedenfalls war die Unaufrichtigkeit Liebenaus verdächtig. Wenn nichts dahinter steckte, mußte es doch völlig gleichgültig sein, ob er die Ribérac ein oder zwei, oder vier Jahre kannte. Im Gegenteil, die Motivierung dieses intimen Verhältnisses hätte eher eine längere Bekanntschaft als eine kürzere gerechtfertigt. Das alles mußte aufgeklärt werden.
Über seinem Nachdenken war der Morgen angebrochen. Der Beamte vom Nachtdienst meldete sich bei seinem Chef ab, da eben als erster der Bureauvorsteher Großmann eingetroffen war. Der treue, pflichteifrige Beamte steckte mit einem freundlichen »Guten Morgen« den Kopf durch die Tür und wurde sofort hereingewinkt.
»Lieber Großmann, ich mache Ihnen mein Kompliment über die saubere Recherche nach der Ribérac. Sie ist mustergültig für die schwierige und langwierige polizistische Kleinarbeit. Sie sind darin ein Meister und geradezu unübertrefflich.«
Großmann lächelte geschmeichelt.
»Es ist so meine Liebhaberei, Herr Direktor, ich trage eben alles zusammen, was ich finde. Sowie eine Persönlichkeit aus der Gesellschaft emportaucht, lege ich für sie ein Aktenstück an und sammle alle mir vorkommenden Nachrichten, man kann nie wissen, wie man dies oder jenes einmal braucht.«
»Ganz recht. Dieser sorgfältig bearbeiteten Registratur, lieber Großmann, verdanken wir, wie Sie wissen, unsere schönsten Erfolge.«
»Nein, nein, Herr Direktor, Ihrem unvergleichlichen Scharfsinn, und vor allen Dingen Ihrer Willenskraft, sich durch keinen Mißerfolg von der Spur abdrängen zu lassen.«
»Jetzt aber drängt mich etwas von der Spur in dem Fall Mohrungen ab. Mein Verdacht gegen den alten Grafen Liebenau verliert immer mehr an Boden, dagegen rückt die Person des jungen Grafen Liebenau, meines guten Freundes, in ein wesentlich ungünstigeres Licht. Sie haben jedenfalls einen Platz im D-Zug bestellt, ich fahre um neun Uhr nach Mohrungen.«
»Das wird nicht gehen, Sie können erst heute Abend fahren, denn der Herr Kriminalkommissar Boderke hat gestern spät noch angerufen, er müßte Sie in der Mordsache Kleißt unbedingt sprechen, der Fall sei aufgeklärt, der Täter ermittelt und geständig.«
»Ja, um Gotteswillen, Großmann, da lassen Sie eine Nacht darüber hingehen, ohne mich aufzustöbern. Das ist ja von der allergrößten Wichtigkeit.«
»Doch nicht so sehr, wie es im Anfang scheint, eher negativ, denn Herr von Kleißt ist einem Unglücksfall erlegen und keinem Mord.«
»Näheres hat Boderke Ihnen nicht mitgeteilt?«
»Nein, er wollte Sie selbst sprechen.«
»Gut, dann werde ich gleich hinfahren, vielleicht findet sich dann noch ein passender Zug.«
»Nein, Herr Direktor, heute Abend gehen mehrere D-Züge, heute vormittag nur der eine.«
»Na, aber vielleicht am frühen Nachmittag.«
»Ich werde nachsehen und alles vorbereiten.«
Lippe fuhr nach dem Polizeipräsidium, schlenderte durch den langen Gang am Erkennungsdienst vorbei, wo die große Tafel mit den Photographien der nicht rekognoszierten Leichen hing und fand Boderke gerade dabei, zwei Herren zu vernehmen.
»Ah, das ist gut, daß Du kommst, Lippe. Bitte, nimm Platz. Du wirst aus den Erzählungen der beiden Herren, die ohne ihr Verschulden mit dem Tode des Herrn von Kleißt in Verbindung stehen, sofort das Nähere erfahren. Darf ich die Herren bekannt machen. Herr Professor Weidmann, Herr Doktor Ehrlich – mein Kollege Lippe. Also bitte, meine Herren, vielleicht haben Sie die Güte, Ihren Bericht noch einmal zu beginnen, damit mein Kollege, der auch mit dem Fall dienstlich befaßt ist, einen klaren Überblick bekommt, wie der Tod den armen Kleißt überfallen hat. Die beiden Herren sind Luftschiffer von Beruf, mußt Du wissen, und haben von der Internationalen aeronautischen Ausstellung in Frankfurt am Main sich an einer Dauerflugkonkurrenz beteiligt …. also ich bitte Sie, Herr Professor, wollen Sie schildern.«
»Wir lasen in der Zeitung von dem geheimnisvollen Tod des Rittmeisters von Kleißt auf der Heide am Kurischen Haff und auch die Begleitumstände, daß er mit einem Anker erschlagen worden sei, und daß sich in seiner Hand ein Stück Schnur befunden habe, dessen Beschaffenheit von den Fachleuten als Ballonnetzschnur ermittelt worden war. Da kamen wir auf den Verdacht, daß wir vielleicht die unschuldige Ursache zu dem Tode des Herrn hätten sein können, aus folgenden Erwägungen: Wir waren am dritten September mit unserem Ballon, der den Namen Hergesell führt, früh um zwei Uhr von der Ausstellung aufgestiegen und mit frischem Westwind in beträchtlicher Höhe schnell über das südliche Thüringen nach Schlesien hineingetrieben worden. Da wir ja möglichst lange in der Luft zu bleiben hatten, wollten wir mit Ballast sparen und konnten darum einer nördlichen Luftströmung, die uns in der Höhe überraschte, nicht durch Höhergehen ausweichen, wir hätten Ballast abgeben müssen und unter Umständen unsere Chancen geschädigt. Wir wurden also nach Norden getrieben. Allmählich merkten wir, daß der Gasverlust zunahm. Wir gerieten in tiefere Schichten und waren, als die Nacht einbrach, wieder in eine südwestliche Strömung gelangt, die uns während der Dunkelheit schnell über die Grenze nach Galizien hineinführte, bis wir beim Morgengrauen uns am Nordrande der Karpathen wiederfanden. Wir trieben nun gemächlich am Rande der Karpathen entlang, in nicht allzu großer Höhe, und da wir uns der russischen Grenze näherten, so wollten wir wenigstens keine Unannehmlichkeiten mit den Kosaken haben, gaben Ballast ab und stiegen schnell auf etwa fünfzehn- bis achtzehnhundert Meter hinauf. Dort fanden wir einen ziemlich lebhaften Nordwind, der uns rasch über die Rokitnosümpfe wegführte, dann mit einer Wendung nach Osten auf Grodno und über die preußische Grenze brachte. Gegen Abend konnten wir Insterburg sichten. Wir waren nun schon beinahe achtundvierzig Stunden unterwegs, hatten starken Gasverlust, mochten aber nicht landen, da wir immer noch ziemlich viel Ballast mit uns führten, doch fühlten wir, daß die Fahrt sich ihrem Ende näherte. Von Viertelstunde zu Viertelstunde mußten wir Sandsäcke ausschütten, um eine gewisse Gleichmäßigkeit zu halten, und als wir uns dem Kurischen Haff näherten, immer noch in starker Fahrt, warfen wir aus etwa hundert Meter Höhe eine Leine mit dem Retarder aus, damit sich unser Tempo verlangsamte und wir, falls der Wind uns über das Haff entführen wollte, schnell niedergehen konnten. Das Auswerfen des Retarders geschah, so weit wir es von oben beurteilen konnten, auf freier Heide. Es scheint nun, daß der Retarder, der ja eine Art Anker ist, und ziemlich schwer, durch einen unglücklichen Zufall dem einsam auf der Heide herumirrenden Herrn von Kleißt den Schädel zertrümmert hat, indes unser Ballon ahnungslos weiterging. Der Getroffene hat dann im Augenblick, als er den Schlag erhielt, in die Höhe gefaßt und eine von den Leinen in die Hand bekommen, die wiederum kleine Haken tragen, um irgendwo Halt zu finden. Der Haken scheint gefehlt zu haben und die Leine riß in der Hand des Sterbenden ab. Wir merkten dann, daß unser Retarder an einem Baum im Wald Halt bekam und zogen ihn schnell höher, bis wir den Wald überflogen hatten. Es gelang uns dann am andern Morgen wenige Kilometer nördlich von Memel zu landen, wir haben unsere Sachen zusammengepackt und sind nach Frankfurt mit der Bahn zurückgefahren. Und erst, als wir durch die Zeitung von dem Tode des armen Herrn von Kleißt Kunde erhielten, revidierten wir unsern Retarder, und fanden tatsächlich Blutspuren an seinem Ende.«
»Wir haben inzwischen den Retarder untersuchen lassen,« warf Boderke ein, »und die Spuren haben sich als Menschenblut erwiesen. Zwischen Sand und getrocknetem Blut waren auch ganz wenige Haare eingeklemmt, die sich zweifellos als identisch mit den Haaren der Leiche erwiesen, auch die Tatsache, daß der Polizeihund auf dem Wege, den der Retarder über die Heide schleppte, ein paar Teilchen Menschengehirn fand, und daß er die Spur am Walde verlor, daß wir auch Verletzungen an einer Kiefer feststellen konnten, das scheint mir alles für einen unglücklichen Zufall zu sprechen.«
»Ich wollte so wie so heute nach Mohrungen fahren,« nahm jetzt Lippe das Wort, »und werde noch einmal genaue Untersuchungen anstellen. Eine unheimliche Erscheinung, die über den Wald strich und Herrn Baron von Mohrungen in Kleißts Todesnacht erschreckte, erklärt sich damit auch.«
Lippe verabschiedete sich von Boderke und den beiden Luftschiffern und fuhr so schnell als er konnte nach seinem Bureau. Jetzt war es in seinem Innern ziemlich entschieden, daß nicht der alte Liebenau an dem Verbrechen gegen seinen Klienten beteiligt sei. War Kleißt das Opfer eines Unglücksfalles geworden, so war seine Theorie, die er zuerst aufgestellt hatte, falsch. Wiederum das charakteristische Zeichen der unrichtigen Spur. Die Beziehungen lösen sich, scheinbar geheimnisvolle Dinge erklären sich auf natürliche Weise, und die Spur verläuft im Sande.
Wie oft täuscht sich auch der gewiegteste Fahnder, und gerade er verirrt sich in ein geheimnisvolles Geklüft, aus dem er schwer den rechten Pfad findet. Zwar war er genau den durch die Praxis alt bewährten Gang gegangen, er hatte geforscht, wem das Verbrechen nütze, hatte dann die Menschen der Reihe nach durchgegangen, ihre Gewohnheiten studiert und sich zunächst gefragt, ist die geistige Möglichkeit eines Verbrechens gegeben. Dann war er, ohne nach rechts und links zu sehen, der Spur gefolgt.
*
Der D-Zug rollte und stieß, wenn er von Schiene zu Schiene sprang, so daß es in den Ohren des fahrenden Detektivs, der behaglich im Schlafwagen ausgestreckt lag, zu einer seltsamen Melodie zusammenfloß. Es war ihm, als ob er, nachdem er gestern abend um elf Uhr in den Zug gestiegen, nicht ein Auge zugetan hätte. Träume von lebhafter Wirklichkeitsschärfe hatten ihn verfolgt während der ganzen Nacht, und als jetzt das seltsame Grau zwischen den Ritzen der niedergelassenen Vorhänge hereinblitzte, das den ostpreußischen Wintermorgen anzeigte, setzte er sich auf in dem schmalen Bette des Schlafwagens. Kleißt war also keinem Verbrechen zum Opfer gefallen, dessen durfte er sicher sein. Der brutale Zufall hatte auf einsamer Heide einen Strich durch seine Rechnung gemacht, und jetzt galt es, einer andern Spur zu folgen, ehe sie kalt wurde.
Sollte wirklich der junge Liebenau, einziger Sohn einer hocharistokratischen Familie, zukünftiger Besitzer eines, wenn auch verschuldeten, so doch großen und ertragsreichen Gutes, sollte der sich so weit vergessen, seine Hand zum Verbrechen des Mordes zu bieten?!
»Allenstein!« rief draußen der Schaffner und die trüben Lichter des kleinen Bahnhofs leuchteten in der morgendlichen Dämmerung aus …. Der weite Weg war ja nun bald zu Ende, noch Insterburg und Tilsit, dann die Kleinbahn.
Allenstein? Was drängte sich ihm dieser Name auf. War nicht in Allenstein vor einigen Jahren auch ein aristokratischer Offizier zum Mörder geworden, zum Mörder an einem Kameraden, an einem Freund? Ja. Und das Motiv? Eine Frau! Eine Frau von eigenartiger, dämonischer Schönheit, die den strengrechtlichen Offizier in einem Banne hielt, aus dem er nicht herauskonnte. Liebeshörigkeit nennt die Wissenschaft diesen Zustand und die Gerichte müssen bei einer Tat, die aus diesen Quellen floß, die freie Willensbestimmung ausschließen ….
Plötzlich wurde es hell in Lippes Gedanken. Liebeshörigkeit war auch hier das Motiv. Und die blendende Sirene saß in der kapriziösen Villa der Hildebrandtstraße. Marguerite! Ja, ja, eine berauschende Schönheit, von einem verwirrenden Liebeszauber, dazu jener Stich ins Abenteuerliche, etwas Bohème, etwas religiöser Mystizismus und eine heiße unbefriedigte Sehnsucht, die das Tageslicht scheut und in verschwiegener Nachtstunde Zauberkreise um naive unbewachte Männerherzen zieht.
Aber der Beweis?! Wie konnte er, so quälte sich Lippe jetzt mit Selbstvorwürfen, das wichtigste Moment ausschalten, aus seiner Rechnung, die Liebe, hier wie dort. Hier war es der Mann, der unbedingt im Banne eines Weibes eine Tat beging, die sein Leben und seine Ehre vernichtete. Dort im Schloß Mohrungen war es ein Weib, diese heißblütige Litauerin mit den frechen verlangenden Augen …. Hallo Lippe, daran hast du doch noch gar nicht gedacht.
Mit solch neuen Gedanken und Plänen gerüstet, kam Lippe in Kallningken an und bestieg den Wagen, den ihm Hatto hinausgeschickt. Er wurde mit großer Herzlichkeit im Schlosse aufgenommen und fand seinen Klienten in ganz vorzüglicher Verfassung. Eine monatelange ernste ärztliche Arbeit hatte die Giftwirkung vollständig aus dem Körper ausgeschieden. Hatto lächelte heiter und zuversichtlich, wenn er auch noch bleich und abgespannt schien. Die Berichte allerdings, die Doktor Schäfer nun an der Hand eingehender Notizen erstattete, waren für Lippe nach keiner Richtung hin befriedigend. Schäfer war eben nur ein ausgezeichneter Arzt, aber er verstand es nicht, mit so raffinierten Verbrechern umzugehen. Darum mußte er auch den Vorwurf über sich ergehen lassen, er habe seine Zeit nicht geschickt ausgenützt. Nachdem er nun schon beinahe zwei Monate auf Schloß Mohrungen wohnte, hätte er mindestens einmal Gelegenheit finden müssen, die Siegnis bei ihrer Giftmischerei abzufassen.
»Ja, mein lieber Lippe, Du hast gut reden. Meine Hauptaufgabe war, den Herrn Baron zu schützen, sein Leben zu wahren und seine Gesundheit wieder herzustellen. Ich hatte das entsetzliche Beispiel Kleißts vor mir, und habe mich darum nie allzulange von dem Baron entfernt. Ich konnte und durfte weder mein noch sein Leben aufs Spiel setzen.«
»Das war gut und vollkommen korrekt, aber ich bin der festen Überzeugung, lieber Schäfer, daß bei einem der vierundzwanzig Vergiftungsversuche, die nach Deinen Notizen gemacht worden sind, der Täter zu ermitteln gewesen wäre. Das Morphium kann doch nicht durch den Schornstein in die Hände der Köchin geflogen sein, sie muß es doch von einer Persönlichkeit außerhalb des Schlosses erhalten, denn in ihren Sachen habe ich nichts gefunden. Sie muß dann die Spur verwischen.«
»Spur verwischen, was heißt das? Sie wirft das Papier, in dem das Morphium eingewickelt war, in den großen Küchenherd, und die Sache ist erledigt.«
»Waren die Vergiftungsversuche mit einer gewissen Regelmäßigkeit gemacht?«
»Nein, aber man kann doch rechnen, daß durchschnittlich zweimal in der Woche eine flüssige Speise auf unserem Tisch Morphium enthielt, und weil es eben unregelmäßig geschieht, habe ich gar keine Anhaltspunkte, um eine regelmäßige Beobachtung eintreten zu lassen. Ich konnte keine dritte Person einweihen. Die Mägde sind stumpfsinnig, die junge Männlichkeit verliebt. Der alte Haushofmeister, dessen Treue und Anhänglichkeit außer Frage steht, kann nicht immer in der Küche sein, das würde auffallen.«
»Mohrungen, Sie sind Amtsvorsteher und zugleich Polizeichef Ihres Gutes, nicht wahr?«
»Dann werden Sie in Ihrer amtlichen Eigenschaft den Antrag an die Post stellen, daß alle, von Schloß Mohrungen abgehenden und in Schloß Mohrungen eintreffenden Briefe und Sendungen Ihrer polizeilichen Zensur unterworfen werden. Wir wollen zu diesem Zweck die Hilfe der Polizeidirektion in Tilsit, die jedenfalls zuständig ist ….«
»Nein, da sind Sie im Irrtum, Lippe, zuständig ist der Landrat des Kreises.«
»Noch besser. Der wird Ihnen gewiß die Berechtigung erteilen. Wir wollen gleich morgen hinfahren und ihm so viel von den Tatsachen mitteilen, als er wissen kann, damit er nicht unsere Kreise stört. Nebenbei werde ich die Siegnis eingehend beobachten, ob sie Verkehr mit Personen außerhalb des Schlosses hat, die ihr das Gift zutragen. Ist das nicht der Fall, so muß es durch die Post einlaufen, und das däucht mir das Wahrscheinlichere. Offenbar erhält sie in unregelmäßigen Zwischenräumen die genau abgewogene Dosis.«
»Ja, das muß sein, denn meine Untersuchungen haben ergeben, daß die Dosen in einem gewissen Verhältnis zunehmen, daß also, wenn der Herr Baron ahnungslos die Morphiumkur weiter fortgesetzt hätte, seine Nerven bis zu Wahnsinnsanfällen zerrüttet worden wären.«
»Du meinst also, lieber Schäfer, daß der Baron jetzt auf dem Standpunkt angekommen wäre, der seine Überführung in ein Sanatorium nötig machte?«
»Dann wollen wir unseren Patienten im Laufe der nächsten Woche nach dem Sanatorium des Herrn Doktor Mühlfort in Wannsee bringen. Und zwar wirst Du, lieber Schäfer, heute in diesem Sinne an den dirigierenden Arzt schreiben.«
Hatto war weiß wie eine Kalkwand geworden.
»Das soll ich wagen, lieber Freund, in die Mörderhöhle soll ich freiwillig gehen?«
»Sie gehen nicht allein, lieber Hatto, Ihr Diener geht mit, und wenn es mich auch meinen schönen Schnurrbart kosten soll.«
In Hattos Augen leuchtete es blitzartig auf.
»Sie selbst wollen mitkommen?«
»Ich selbst, und zwar werde ich mich so herrichten, daß Herr Doktor Willemoes ….«
»Kennst Du auch den dämonischen Doktor?« warf Schäfer ein.
»Ja, ich habe die Ehre und hoffe, ihn noch besser kennen zu lernen. Also dieser Doktor Willemoes, soll an dem blöden Geschöpf in Escarpins und Schnallenschuhen den berüchtigten Fahnder Lippe nicht erkennen …. Du, mein lieber Schäfer, machst dann, wie es sich bei einem großen Herrn, wie dem Herrn Baron von Mohrungen, geziemt, alle zwei, drei Tage Deine Visite im Sanatorium, erkundigst Dich nach dem Befinden des gnädigen Herrn, und wenn man Dich nicht vorläßt, so wird man Dir sicherlich die Auskunft durch den Diener erteilen lassen.«
»Darf ich meine Bedenken äußern?« begann jetzt Schäfer wieder.
»Aber, bitte sehr, lieber Doktor, warum denn nicht?«
»Ich möchte darauf aufmerksam machen …. überlegen wir uns doch einmal die Situation genau: Angenommen, der Tod der beiden Brüder unseres Freundes ist gewaltsam erfolgt ….«
»Daran besteht für mich kein Zweifel.«
»Ja, ja, das gebe ich ja auch zu, laß mich nur weiterreden. Wenn der Tod von dem Besitzer des Sanatoriums, oder seinem Assistenten, oder einem Wärter herbeigeführt worden ist, und wenn unser Freund im Sanatorium auf dieselbe Weise umgebracht werden soll, so wird man einen treuen Diener gar nicht in der Umgebung des dem Tode geweihten Opfers lassen.«
»Gewiß, das kann wohl sein. Es kommt lediglich darauf an, welchen Gesundheitszustand, oder vielmehr, welchen Krankheitszustand wir dem dirigierenden Arzt vortäuschen …. Sie müssen schon ein bißchen schauspielerisches Talent entwickeln, lieber Mohrungen, Sie müssen ein paar Tage den wilden Mann spielen, das hilft nichts. Und ich meine, wenn ein Kranker sich absolut nicht von seinem Kammerdiener trennen will, wenn er Tobsuchtsanfälle bekommt, falls die Trennung durchgeführt wird, dann muß der Anstaltsarzt klein beigeben, will er sich die Aufnahme des gutzahlenden Patienten nicht verscherzen. Du, lieber Doktor, mußt eben schon in Deinem ersten Schreiben darauf dringen, daß der Diener bei dem Kranken bleibt. Das muß die Bedingung sein, und ich wette auch, das Verbrechen gegen das Leben unseres Freundes wird im Sanatorium trotzdem versucht, es wird nur mit größerem Geschick inszeniert.«
»Das ist ja unheimlich, lieber Lippe, das halten meine Nerven nicht aus.«
»Es ist eine Gewaltkur, lieber Baron, die Sie ein für allemal von Ihren Mördern befreit.«
»Die ganze Sache wird nicht lange dauern,« meinte Doktor Schäfer, »man wird systematisch versuchen, Sie durch weitere Dosen Morphium völlig willenlos zu machen und Sie vielleicht dann durch suggestive Mittel zur Verzweiflung treiben. Sie werden aber dank der Vorsicht Lippes kein Morphium nehmen, und darum wird auch die Suggestion auf Ihre Nerven nicht wirken. Wenn der Mörder Sie dann genügend vorbereitet glaubt, wie es nach drei bis vier Wochen sicherlich der Fall wäre, dann wird er zum entscheidenden Schlag ausholen.«
»Und wenn er das tut, dann habe ich ihn fest, dann wird auf telephonischen Anruf Schäfer die Polizei einlassen, und alles ist mit einem Mal zu Ende …. Nun aber habe ich noch eine wichtige und erfreuliche Nachricht für Sie, mein lieber Baron, die Ihnen die nötige Spannkraft für die Kampagne geben wird.«
»Haben Sie Cornelia gesprochen?«
Ein freudiger Rot schoß über Hattos Gesicht.
»Die junge Dame selbst nicht, aber den Professor. Es ist alles in bester Ordnung. Er hat mir einen Brief an Sie mitgegeben, der das Mißverständnis aufklärt.«
Hatto nahm das Schreiben aus Lippes Hand, erbrach es schnell und trat ans Fenster, um zu lesen.
»Gott sei Dank!«
Es löste sich wie ein schwerer Druck von dem verfolgten Manne. Er sah mit glücklichem Lächeln von einem zum andern.
»Das ist wirklich ein Glückstag heute, nun weiß ich doch, wofür ich kämpfe. Nun hat mein Leben wieder einen rechten Zweck. Gleich will ich Cornelia schreiben …. Daß ein solcher Zufall ….«
»Bitte sehr, lieber Baron,« warf Lippe ein, »Sie werden nicht schreiben, oder vielmehr schreiben können Sie, aber abschicken dürfen Sie den Brief nicht. Es gehört ja zum Programm Ihrer Verfolger, Sie von Ihrer Braut zu trennen. Wer weiß, ob man nicht Ihre Korrespondenz beobachtet. Vorläufig muß noch alles bleiben, wie es ist. Die junge Dame wird Rom nicht eher verlassen, bis alles erledigt ist. Machen Sie ihr eine kurze Mitteilung, die ich vermitteln will.«
»Ich danke Ihnen, lieber Freund, danke Ihnen herzlich. Sie wissen gar nicht, was Sie für mich getan haben.«
Am Abend desselben Tages stand Lippe von dem intimen Souper, das der Schloßherr ihm zu Ehren und zur Feier der Wiedergewinnung seiner Braut gegeben hatten, ganz unvermittelt auf und verabschiedete sich.
»Lassen Sie ihn gehen, Herr Baron, wenn er so wider alles Erwarten mitten aus der Gemütlichkeit aufbricht, dann hat er was auf dem Visier. Ich beobachte ihn schon den ganzen Nachmittag. Er war unruhig, gab unaufmerksam Antworten und schien sich mit etwas zu beschäftigen, das ganz abseits unsrer Unterhaltung lag. Lassen Sie ihn ruhig laufen, Herr Baron, alle seine Sinne sind gespannt, man merkt es ihm ordentlich an, wie er fiebert, genau wie ein guter Vorstehhund, der das Wild im Windfang hat.
»Ein ganz seltsamer Mensch, dieser Lippe, nicht wahr?«
»Aber wenn Sie ihn erst näher kennen lernen, Herr Baron, ein Prachtkerl, sage ich Ihnen. Er opfert sich rein auf in seinem Beruf und wirkt lediglich um der Sache willen. Nie leiten ihn andere Dinge, wie etwa das große Honorar, oder Auszeichnungen, oder die gesellschaftliche Position. Er hilft dort, wo es nötig. Aber er legt sich nur dann mit seiner ganzen Persönlichkeit ins Zeug, wenn ihn der Fall interessiert.«
»Ja, er hat einen großen, ich möchte beinahe sagen, europäischen Ruf.«
»Dabei macht er gar keine Reklame. Wie Sie wissen, hat er nicht einmal ein Schild an seinem Bureau, weder im Telephonbuch, noch im Adreßbuch steht Privatdetektiv, oder Auskunftsbureau, oder sonst etwas, lediglich Kriminalkommissar a. D. Lippe, Hauptmann der Reserve. Sein Ruf wird durch die Klienten verbreitet. Einer sagt es dem andern, einer schickt den andern zu ihm, und noch jedem hat er geholfen …. Daß ich nicht lüge, in einem Falle versagte sein Genie. Sie müssen sich das mal in einer stillen Stunde von ihm erzählen lassen. Ich sehe ihn noch wie heute vor mir, es war vor vier Jahren. Er war verzweifelt, als wir zu unserm Klienten kamen und fanden ihn als Leiche vor. Seitdem hat er sich verschworen, nie mehr zwei Fälle zu gleicher Zeit zu bearbeiten.«
»Hat er denn etwas versehen?«
»Versehen kann man nicht sagen, er hat einen seiner ganz ausgezeichnet ausgebildeten Beamten geschickt, wo er selbst gegangen wäre, wenn er Zeit gehabt hätte. Und der Beamte …. Gott, man kann nicht von jedem verlangen, daß er ein kriminalistisches Genie ist …. er wurde übertölpelt. Und als Lippe eingriff, war es zu spät. Der arme Kerl war tot …. Gott, erinnern Sie sich denn nicht des Leutnants Neuburger aus Stettin, der sich in einem Hotel in der Friedrichstraße erschoß?«
»Ja, ich habe davon gelesen.«
»Nun, der Selbstmord stellte sich nachher als Mord heraus und Lippes unermüdlicher Tätigkeit gelang es, den Täter zu ermitteln. Es war eine ähnliche Geschichte, wie die Ihrige. Es handelte sich auch um eine Erbschaft, na, reden wir von etwas anderem. Wenn Sie ihn fragen, wird er es Ihnen erzählen.«
Die beiden Herren saßen noch bis ziemlich spät in der Nacht zusammen und warteten, ob Lippe sich nicht wieder sehen ließe. Aber er kam nicht mehr zum Vorschein.
Unter dem Vorwand, er habe Kopfschmerzen, hatte er sich von dem alten Romeikatis das Schloßtor öffnen lassen und war hinaus in den Garten gegangen.
Es war ein milder Winterabend. Über dem Haff stand eine dunkelblaue Wolkenbank, aus der sich ein fahlsilberiger Mond hob und Blinklichter über die weite Wasserfläche streute. Die Parkwege waren gefroren, so daß die Schritte deutlich klangen. Lippe strich langsam, in seinen Mantel gehüllt, um das ganze Schloß herum, bis er schließlich auf der Rückseite, wo der Schloßgarten dicht heranstieß, ein helles Quadrat auf dem Boden bemerkte. Jedenfalls stand hier eine Tür offen. Vielleicht war auch das große Lichtviereck ein Signal. Jedenfalls mußte man aufpassen. Der Kriminalist hütete sich, zu weit vorzugehen, er schlich sich hinter den hohen, grauen Buchenstämmen herum, bis er so weit vorgekommen war, daß ihm der Einblick in die offene Tür möglich wurde. Als er in den beleuchteten Gang hineinsah, erinnerte er sich, daß dort der Zugang zu den Wirtschaftsräumen, speziell der Küche und dem Schlafzimmer der Köchin sein müsse.
Eine Viertelstunde verhielt er sich ganz ruhig, da bemerkte er den Schatten eines Menschen, in dem hellen Viereck auf dem Boden und erkannte die littauische Köchin Siegnis, die eben in den Türrahmen getreten war und scharf in den Park hinauslauschte. Alles blieb still, die helle, klare Winterluft trug das Rasseln der Ankerketten einkommender Hafffischer bis hierher. Ja, sogar gedämpft hörte man die Turmuhr von Kallningken elf schlagen.
Was wollte die Köchin noch so spät hier draußen? Lippe erinnerte sich, daß nach Hattos strengem Befehl im Winter um zehn Uhr alle Zugänge zum Herrenhaus geschlossen werden mußten. Wie kam die Siegnis dazu, die Hinterpforte zu öffnen, wer hatte ihr den Schlüssel gegeben? Hier war das Reich der Mamsell, und die hätte sicherlich zu keiner Unredlichkeit der Littauerin die Hand geboten.
»Warten wir mal ab,« sagte Lippe mit größter Ruhe zu sich selbst. »Hier ist etwas nicht in Ordnung. Seit zwei Tagen hat Mohrungen kein Morphium erhalten, vielleicht, daß ich heute abend einen guten Fang mache, vielleicht bringt man der Köchin die Dosis für den Morgenkaffee.«
Minute auf Minute verrann. Lippe begann zu frieren, er wäre gern ein Stückchen auf und ab gegangen, aber er durfte sich nicht regen, denn kaum zehn Schritte von ihm stand die littauische Köchin und lauschte immer noch gespannt in die Nacht hinaus. Da hörte er plötzlich das Bellen eines Hundes, etwa fünfzig Schritte von seinem Standpunkte entfernt, in den Park hinein, und im selben Augenblick huschte die Köchin aus der Tür. Sie schoß leise und behend wie ein Lichtstrahl an ihm vorüber in das Dunkel des Parkes. Lippe war im Augenblick hinter ihr, und kam noch gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie sich Siegnis dort, wo der Park ohne eine besondere Mauergrenze in die Heide verlief, auf den Boden bückte und littauische Worte murmelte.
Der Mond war gerade hinter der blauen Wolkenbank verschwunden, es herrschte tiefes Dunkel im Park, so daß Lippe allein auf sein Gehör angewiesen war. Er sah nichts, hörte nur immer die seltsam weichen, schmeichlerischen Worte der altertümlichen, littauischen Sprache. Auf die Gefahr hin, alles zu verderben, schlich er so leise er konnte, bis auf drei Schritte an die Köchin heran und sah, daß sie bei einem, wie es sich in dem zweifelhaften Lichte erkennen ließ, dunkelgrauen Jagdhund kniete, ihm den Kopf streichelte und liebkosende Worte flüsterte. Dann hörte er, daß der Hund etwas zwischen die Zähne nahm, es klang wie wenn er auf Holz biß, und im nächsten Augenblick sah er ihn wie einen dunklen Strich südostwärts über die Heide jagen.
Als der Mond eben wieder hinter der Wolkenbank hervortrat, konnte er gerade noch erkennen, daß der Hund einen Stock im Rachen trug …. sofort schoß Lippe der Gedanke durch den Kopf, der Stock ist hohl und hat die Dosis Morphium für morgen früh enthalten. Noch besann er sich was zu tun, ob es vielleicht schon an der Zeit wäre, die Hand auf die Köchin zu legen, da huschte sie an ihm vorüber, streifte fast seinen Ärmel und ehe er recht wußte, was er tun sollte, war sie im Haus. Das Lichtviereck verschwand und ringsum war wieder Nacht und Schweigen.
»Auch gut,« sagte sich Lippe und kehrte in das Schloß zurück. Er ging aber nicht zu Mohrungen und Doktor Schäfer, sondern trieb sich in den unteren Korridoren herum, die nach der Küche führen, und noch ehe ihn jemand gesehen hatte, war er auf einmal in der Küche selbst. Er fand Siegnis allein. Sie war gerade dabei, ihre Ausgaben, die sie am Tage gemacht hatte, aufzuschreiben und für den morgigen Tag Dispositionen zu treffen.
»Na, schöne Siegnis, was machen Sie Gutes?«
»Ich rechne, gnädiger Herr.«
»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«
»Aber gern, gnädiger Herr,« dabei warf sie ihm einen flammenden Blick zu.
»Ich bin heute spazieren gewesen, und habe kein Abendbrot bekommen, möchten Sie mir eine Kleinigkeit geben?«
»Der gnädige Herr brauchen nur zu befehlen, was es sein soll, und ob ich es ins kleine Eßzimmer bringen soll.«
»Nein, nein, das möchte ich nicht, ich bin sehr müde und gehe gleich auf mein Zimmer, wollen Sie es mir auf mein Zimmer bringen?«
»Aber gern.«
Lippe verschwand, und als die Köchin eine Viertelstunde später in sein Zimmer kam, fand sie es zwar erleuchtet, aber den Besitzer nicht anwesend. Sie wunderte sich sehr. War es ihr doch schon häufig vorgekommen, daß ein Herr, der auf dem Schloß zu Besuch war, sie unter irgend einem Vorwand abends auf sein Zimmer bestellte, aber daß er dann nicht anwesend war?!
Was wollte er nur von ihr? Ob sie wartete? Sicherlich war der Herr Hauptmann abgerufen worden, und würde sehr böse sein, wenn er zurückkäme, und sie nicht mehr vorfände. Also warten! Sie fing an, den kleinen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, aufzuräumen, ganz langsam, Stück für Stück stellte sie zur Seite, nahm dann die bunte Tischdecke herunter, legte sie sorgfältig zusammen, daß jeder neue Bruch wieder in den alten kam, und eine Ecke ganz genau auf die andere paßte. Dabei verging schon etwas Zeit. Dann deckte sie die Frühstücksdecke auf und begann geschmackvoll den Tisch herzurichten. Schließlich faltete sie die Serviette zusammen, so daß ein Schwan entstand, der auf dem mattblauen Porzellanteller wie auf einem Teich zu schwimmen schien.
Als immer noch keine Schritte draußen hörbar wurden, rückte sie Messer und Gabel noch einmal zurecht, verschob die Platten mit dem Aufschnitt, stellte den Brotkorb anders, das Salznäpfchen von der linken nach der rechten Seite, vertauschte Rot- und Weißweinglas. Und als er immer noch nicht kam, setzte sie sich mit dem Bewußtsein, daß ihre Anwesenheit erwünscht sei, auf den Diwan, legte die Hände in den Schoß und ließ ihre blanken Augen ganz ungeniert im Zimmer spazieren gehen.
Endlich kam Lippe. Er machte schnell die Tür auf und ein heiteres Lächeln glitt über sein Gesicht. Es schien ihn gar nicht zu überraschen, daß die Köchin anwesend war, denn als sie aufspringen wollte, winkte er ihr sitzen zu bleiben.
»Ich habe nur warten wollen, ob der gnädige Herr nicht noch Befehle für mich hätten.«
»Ja, ja, das ist nett von Ihnen.« Er faßte sie unters Kinn und streichelte ihr die drallen Backen. »Bleiben Sie nur ein bißchen hier, Sie können dann gleich das Geschirr mit hinunter nehmen.«
»Es ist aber schon sehr spät, gnädiger Herr, wenn mich der alte Romeikatis sieht, …. hu, dann gibt es was Schlimmes.«
»Ach, Unsinn, der wird Sie nicht gleich sehen, setzen Sie sich doch ein bißchen näher heran, haben Sie Angst vor mir?«
»Nein, ich habe keine Angst,« girrte sie und sah Lippe verliebt an.
»Na ja, dann also setzen Sie sich zu mir, kommen Sie her, trinken Sie ein Glas Wein mit mir.«
Er zog sie neben sich aus den Diwan, goß ihr Wein ein und ermunterte sie zum Trinken, während er schnell und ohne Andacht einige belegte Brötchen aß, und schließlich seine Mahlzeit mit einem Schluck Rotwein beschloß.
»Schon fertig, gnädiger Herr? Das war aber nicht viel.«
»Ja, mein Kind, jetzt kommt erst das Kompott.« Blitzschnell schlang er seinen Arm um ihren Hals und küßte sie auf ihre roten frischen Lippen. Sie ließ es sich ruhig gefallen, als ob es so sein müßte und sagte ganz unvermittelt:
»Ich habe es gewußt, gnädiger Herr.«
»Was hast Du gewußt?«
»Daß mir der gnädige Herr gut sind.«
»Was Du nicht sagst, und woher?«
»Weil der gnädige Herr von meinem Liebespulver getrunken hat.«
»Oh, oh, von Deinem Liebespulver habe ich getrunken?«
»Ja, ja, aber der gnädige Herr müssen nichts verraten …. Der gnädige Herr sind doch nicht von der Polizei, nein, nicht wahr?«
»Ach, Unsinn, dummer Frosch, ich bin früher bei der Polizei gewesen,« und wieder küßte er sie, aber länger und verlangender.
»Los, nun erzähl' mir mal die Geschichte mit dem Liebespulver. Ich glaube nicht daran, das bildet ihr littauischen Margellchen euch nur ein, man kann keinem Menschen ein Liebespulver oder einen Liebestrank geben.«
»O doch, man kann. Man kann schon etwas machen, es dauert nur lange.«
»Warum hast Du aber gerade mir Dein Liebespulver gegeben?«
»Ach, der gnädige Herr müssen nicht böse sein, es war für einen andern bestimmt.«
»So, so für einen Höheren?«
Sie nickte und lächelte ihm dann schelmisch in die Augen.
Da wurde sie plötzlich rot und ernst.
»Ja, sehen Sie, gnädiger Herr, aber Sie müssen mich nicht auslachen, mich dummes littauisches Ding. Der gnädige Herr Baron war früher immer so lieb und gut gegen mich, und er hat mir auch mehrere Male die Ehre erwiesen …. na, Sie wissen schon und seitdem er diese dumme blonde Deutsche im Kopf hat, sieht er mich kaum noch an.«
»Und da hast Du ihm ein Liebespulver gegeben, und wo hast Du es her?«
»Ach nein, gnädiger Herr, das sage ich nicht. Es nützt auch gar nichts, es wirkt bei ihm nicht, die Deutsche muß ein stärkeres Mittel anwenden.«
Lippe goß sich ein Glas Rotwein ein, und trank es schnell aus. Welch' seltsame verschlungene Pfade das Verbrechen geht. Hier bedient es sich eines ganz naiven Werkzeuges und nützte die Liebestollheit und den Aberglauben einer littauischen Margell aus. Höllisch geschickt, so daß doch nur ein Zufall auf die Spur führen konnte …. Zufall? Oder vielmehr seine planmäßige Arbeit, sein systematisches immer tiefer und tiefer Bohren, immer enger und enger die Kreise um den Schuldigen ziehen. Diese Siegnis war in ihrer Liebesraserei geradezu gefährlich. Sicherlich hatte sie genau so, wie jetzt Hatto, auch seinen beiden Brüdern das Liebespulver beigebracht. Sicherlich, aber heute durfte er nicht weiter fragen, sonst machte er sie scheu und verstopfte sich die Quelle der Erkenntnis.
»Der gnädige Herr sind mir wohl böse?« klang es plötzlich girrend in seine Gedanken.
»Ach nein, mein Mäuschen, gar nicht.«
»Das wäre auch nicht recht, ich bin dem gnädigen Herrn auch sehr gut, und der gnädige Herr können alles von mir verlangen.«
»Ja, ja, ich weiß, Du bist ein gutes Kind, aber nun gib mir einen Kuß und gehe schlafen. Das kann hier stehen bleiben. Ich wache manchmal in der Nacht auf und bekomme dann einen jähen Heißhunger.«
Siegnis zog ziemlich enttäuscht ab, eine kleine Entschädigung bot ihr das Zwanzigmarkstück, das ihr Lippe diskret in die Hand drückte.
Sie verstand die Männer von heute nicht. Das waren richtige Holzklötze oder Eisblöcke.
Der Kriminalist trat an das Fenster, zog den roten Vorhang zurück und blickte hinaus in die Nachtlandschaft. Alle Wolken waren wie weggefegt vom Himmel. Hoch und hell stand der Mond fast im Zenit und bedeckte die Erde weithin mit einem schillernden Silberschleier.
Lippe nahm seine beiden Browningpistolen aus dem Kasten, prüfte den Mechanismus und füllte die Magazine mit Patronen, dann steckte er sie zu sich. Aus seinem Koffer holte er eine elektrische Lampe hervor, fügte einen frisch geladenen Akkumulator ein und probierte die Leuchtkraft. Dann kramte er einen Schminkkasten aus, wie ihn die Schauspieler haben und begann sein Gesicht zu entstellen. Ein grauer Vollbart und eine graue Perücke, eine Joppe, in die ein Höcker eingepolstert war, abgetragene Hosen und halblange Schaftstiefel veränderten völlig seine Persönlichkeit. Endlich nahm er noch einen dicken Schal in die Hand. Dann ging er, so leise es ihm möglich war, durch die Korridore des Schlosses und gelangte, ohne von einer Menschenseele bemerkt zu werden, ins Freie.
Es war ziemlich hell draußen, und als er an die Stelle im Park gekommen war, wo Siegnis den Hund gestreichelt und ihm den Stock aus den Fängen genommen hatte, fand er ohne jede Schwierigkeit die Spur. Nachdem er aber hundert Schritte gegangen war, hatte das Tier seinen Weg quer durch die Heide genommen, und nun versagten seine Sinne nach jeder Richtung hin. Er dachte einen Augenblick daran, den Leibjäger zu wecken und mit einem Schweißhund der Fährte zu folgen, dann aber kamen ihm wieder Bedenken, ob er überhaupt einen andern Menschen in seine Entdeckung einweihen solle. Aus Erfahrung wußte er, daß ein Geheimnis am besten bewahrt werde, wenn nur einer allein darum wußte. Dann konnte man bei keinem der Schloßbewohner sicher sein, ob er nicht mit den Mördern gemeinsame Sache mache. Vielleicht ganz unbewußt, wie die Köchin. Jede Andeutung würde den Betreffenden warnen, und dann war das ganze Ermittlungsverfahren in Frage gestellt, ja noch mehr, die Mörder packten ihre Sache von einer andern Seite an, und ehe man ihre Wege kreuzen konnte, war ein Unglück geschehen. Also allein weitergehen.
Eine halbe Stunde Wegs entfernt, zog sich ein schmaler Streifen beackerten Feldes durch die Heide, woraus der Torfwärter Perkones seine Kartoffeln zog. Dies Stück Acker mußte der Hund überfallen haben, wenn er in der Richtung nach Liebenau gelaufen war. And hatte man erst die neue Spur gefunden, so war es auch möglich, sich weiter durchzutasten, bis zu dem Ziel, dem Ort, von woher der Hund die Pulver gebracht hatte.
Lippe brauchte nicht lange zu suchen. Nach kurzer Zeit, die er am Rande des Ackers entlang gegangen war, fand er die flüchtige Spur des Vierfüßlers in dem weichen Ackerboden eingedrückt, und da er wußte, daß ein Hund, wenn er einem bestimmten Ziele zueilt, fast immer eine gerade Linie einhält, so stellte er mit dem Kompaß genau die Richtung der Spuren fest, und marschierte nun rüstig auf dem Kompaßstrich, den er ermittelt hatte, weiter in die Nacht hinein.
Nach Verlauf von einer Stunde fand er sich in dem großen Torfmoor und von nun an wurde das Suchen nicht nur mühsam, sondern auch äußerst gefährlich. Dem Hunde natürlich war die Gegend völlig vertraut, er war leicht und elastisch und konnte in großen Sprüngen über die trügerische Moordecke jagen, während Lippe rettungslos versinken mußte. Eine kurze Zeitlang drang er kühn vorwärts, denn er sah deutlich die Spur des Hundes in dem weichen schwarzen Boden. Dann kam ein kleiner Graben, den der Hund in mächtigem Sprung überfallen hatte, und schließlich bog die Spur nach rechts ab und leitete auf einen festen Moorpfad, dem das Tier nunmehr schlankweg folgte.
Lippe marschierte weiter. Stunde auf Stunde verrann, allmählich begann die Kühle der Mitternacht auf ihn zu wirken und die Kognakflasche mußte von Zeit zu Zeit aushelfen. Das bedingte natürlich wieder eine stärker und stärker werdende Müdigkeit, aber er war nicht der Mann, irgend einem körperlichen Gefühle nachzugeben, wenn es galt, eine Sache durchzuführen. Er förderte nur um so rüstiger seine Schritte, je stärker ihn die Müdigkeit überkommen wollte. Solange die Spuren des Hundes klar vor seinen Augen lagen, gab es für ihn kein Halt, und wenn er bis zum nächsten Abend hätte marschieren müssen, er wäre weiter energisch vorgedrungen. Aber da stellte sich ihm unerwartet ein neues Hindernis in den Weg. Der Pfad war allmählich zu beiden Seiten von niederen Knicks eingerahmt und schließlich ganz fest und trocken geworden. Lippe hatte die Landschaft um sich her einer genauen Prüfung unterzogen und gefunden, daß das Moor zu seiner Linken weiter zurücktrat, während sich rechts hin bebautes Feld vorschob. Sein scharfes Ohr unterschied nach einer weiteren Viertelstunde deutlich Hundegebell, und als er seinen Marsch noch eine Viertelstunde ausgedehnt hatte, befand er sich mitten in einem kleinen Dorf, dessen ärmliche Hütten weit zerstreut zwischen Gärten und Feldern lagen. Er beleuchtete das Schild am Dorfeingang und erkannte aus dem schwer aussprechbaren Namen, daß er in ein littauisches Moordorf geraten war.
Jetzt war guter Rat teuer. Auf dem höckerigen Pflaster konnte sich die Spur des Hundes nicht eindrücken und er mußte es auf den Zufall ankommen lassen, ob er am Dorfausgang die Fährte wieder aufnehmen konnte. Schließlich war es ja nur ein Weg, der das Dorf durchschnitt, denn alle anderen, die von den einzelnen Häusern quer durch die Feldmark liefen, mündeten auf diese eine befestigte Straße, die sich aus dem Moorpfad allmählich breiter und breiter entwickelt hatte.
Es mußte schon gegen Morgen hin gehen, denn in einem Pferdestall zur Linken krähte der Hahn und weiter hinten im Dorf blitzte an einem Stallfenster eine Laterne auf, die verschwand, schließlich aber wieder auftauchte und hin und herging. Lippe blieb im Schatten eines größeren gemauerten Hauses, wahrscheinlich der Schule, stehen, zog die Uhr und stellte fest, daß es bereits fünf Uhr früh sei. Wenn er vielleicht den Dorfkrug offen fand, konnte er ein paar Stunden auf Stroh ausruhen und am hellen Tage weitersuchen. Aber nein, vorwärts, vorwärts. War es bis jetzt gut gegangen, würde es auch noch weitergehen. Bis jetzt hatte der Hund mit bewundernswerter Genauigkeit die Richtung nach Liebenau eingehalten, ein Blick auf die Generalstabskarte überzeugte ihn davon.
Die Laterne drüben blieb jetzt stehen, offenbar hatte der Träger das Aufblitzen der elektrischen Lampe bemerkt, die Lippe dazu gebraucht hatte, um die Karte lesen zu können. Er drehte sich deshalb um, nahm eine kurze Pfeife aus der Tasche, und zündete sie mit einem Luntenfeuerzeug an. So konnte er dem Bauer immer sagen, wenn er herankäme, das Licht sei ein Streichholz gewesen, mit dem er seine Pfeife entzündet hatte. Aber der Bauer kam nicht. So konnte der nächtliche Fahnder in Ruhe seinen Weg fortsetzen, bis er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich lassend, den Weg vor sich mit der Lampe nach der Spur des Hundes abzusuchen begann.