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Eine Wandergeschichte aus Südfrankreich
Die rothosige Schildwache vor dem alten gotischen Thor der weiland päpstlichen Residenz zu Avignon stand, bequem aufs Gewehr gestützt, neben ihrem trikoloren Schilderhaus. Dabei betrachtete sie, halb mit Neugierde halb mit Mißtrauen, einen etwas auffallenden Fremden, welcher mitten auf dem uneben-abschüssigen, weißen Pflaster des Domplatzes mit sichtbarem Staunen an den ungeheuren Steinmassen der alten Pfaffenburg mit ihren ebenso seltenen wie kleinen Spitzbogenfensterchen emporsah.
Es war ein junger Manu von offenbar noch nicht fünfundzwanzig Jahren. Ein weiter rauchschwarzer Havelock, der an einen alten Reitermantel erinnern konnte, und ein weicher Filz von der nämlichen Farbe, machten aus der hohen schlanken Gestalt eine malerische Erscheinung, an welcher aber der schwarze wollene Regenschirm unterm Arm modern-prosaisch, philiströs aussah, im grellen Gegensatz zu dem träumerischen Ausdruck des mageren schmalen Gesichts mit seinen undefinierbaren gelbflaumigen Bartansätzen. Doch eine mächtige goldene Brille war für das Gesicht, was der Regenschirm für die Gestalt.
Nicht nur der Schildwache, auch den Vorübergehenden fiel die fremdartige Erscheinung auf. Sie stach in dieser Stadt, wo ausnahmslos alles entweder das gleiche schmutzige Überhemd oder den gleichen stutzerhaften Überzieher der neuen Mode und schmalkrempigen steifen Hut trug, allzusehr ab. Die meisten musterten den Schlanken mit neugierigen Blicken, viele hielten einen Augenblick unartig gaffend an, einige Gassenbuben in den obligaten schmutziggrauen Leinenhemden umlagerten ihn.
Dem Fremden wurde es davon sichtbar unbehaglich zu Mute, und er wandte sich gegen das hohe Eingangsthor der Burg.
» On n'entre pas ici,« bemerkte ihm die Schildwache lakonisch, ohne sich aus ihrer bequemen Stellung zu rühren.
» Eh, monsieur l'Anglais!« riefen lachend die sich nachdrängenden Buben. Der im Havelock warf den Ungezogenen einen zornigen Blick zu und schritt dann zögernd auf die Kathedrale von Notre-Dame des Doms zu, welche die ehemalige pontifikale Festung flankiert und selber das Ansehen eines festen Bollwerks hat.
Eine Viertelstunde später lehnte er an der niederen Mauerbrüstung, welche das zur Seite der Burg und der Kathedrale freigelassene Felsplateau gegen den senkrechten jähen Absturz des Rocher des Doms abschließt. Die angeblich von Karl dem Großen aus einem römischen Herkulestempel erbaute und thatsächlich aus den Stilarten aller Zeiten zusammengehäufte Domkirche hatte keinen erquicklichen Eindruck in dem fremden Beschauer hinterlassen, um so überwältigender war der Ausblick auf seinem gegenwärtigen Standpunkt.
Über ihm in unheimlicher, schwindelnder Höhe die düsteren, dicken Mauern und Türme der Burg, die wie lebendig aus dem Felsen zu wachsen schien, eins mit ihm – zu seinen Füßen, abermals in schwindelnder Tiefe unter dem nackten Felshang, ein weites unabsehbares Land, zwei mächtige Ströme unermeßliche gelbe Fluten wälzend, stehengebliebene Bogen und Arkadenreste alter Brücken und Aquädukte, fernher winkende Städte, von kahlen Höhen überragt, mit malerisch in den grauen Horizont stehenden Mauertrümmern und geborstenen Windmühlen. Darüber die leuchtende Föhnluft eines provençalischen Dezembertages und am blaßgrünen Himmel großartige, jagende Wolken, gewaltige Gruppen, hier in silbernem Glanz, dort mächtig grau und schwarz.
Aber auch dieser Anblick wurde ihm gestört, denn wieder war er der Gegenstand gaffender Verwunderung, und es reute ihn recht, das dumme Pfaffennest mit seinem Besuch beehrt zu haben. Nun wollte er es wenigstens so schnell als möglich wieder verlassen und schickte sich sofort dazu an.
Auf dem bequemen Asphalttrottoir der ganz modernen und sehr glänzenden Avenue du chemin de fer strebte er dem Bahnhof zu. Nicht allzuschnell kam er vorwärts; ein heftiger Wind blies die breite Straße herauf, verwickelte sich in den auch ihm so ungewohnten Mantel und bauschte ihn auf wie ein schwarzes Segel, daß elegantes und unelegantes Volk aufs neue dem Fremden mehr oder weniger auffallend nachschaute.
Da hatte er sich »das Land der Troubadours« doch anders gedacht! Aber das war jedenfalls noch nicht das echte, und er freute sich, südlicher zu kommen.
Vor einem Buchladen hielt er dennoch einen Augenblick an; es schien seine Gewohnheit zu sein, an einem solchen nie vorübergehen zu können.
» C'est bien un Anglais,« hörte er neben sich flüstern. – » Il n'est pas mal, celuici,« antwortete es ein klein wenig lauter, mit einer Stimme, in welcher der südliche Accent etwas Prickelndes hatte zumal für einen, der ihn zum erstenmal hörte und dem die Nasalierung und Abgestumpftheit des Modern-Französischen immer etwas stutzerhaft fad vorkommen wollte. Daß der also Glossierte keineswegs ein Engländer war, hätte dem Kundigen schon die Art und Weise verraten, wie derselbe von der allgemeinen gaffenden Aufmerksamkeit unangenehm berührt worden. Sein Regenschirm, sein Hut und besonders seine goldene Brille bezeugten es auch äußerlich und wiesen ihn mit großer Wahrscheinlichkeit als poetischen Deutschen aus, wenn dies kein Pleonasmus ist. Er war es in der That, nicht das letztere, sondern das erstere. Ein leichtes blitzartiges Zucken um seinen Mund und in seinen großen grauen Augen zeigte jedoch in diesem Augenblick, daß er eine bekannte Schwäche seiner Landsleute nicht teilte. Es schmeichelte ihm offenbar nicht, für einen Angehörigen der stolzen britischen Nation gehalten zu werden, und da er sich zu gut bewußt war, daß sein ganzes Wesen mit dem philiströsen, prosaisch-nüchternen jenes insularen und insolenten »Krämervolks« nichts gemein habe, flößte ihm die Unwissenheit und Urteilsunfähigkeit der beiden Provençalinen neben ihm die größte Geringschätzung ein. Er wollte auch eben einen sein Gefühl ausdrückenden Blick auf die beiden werfen; aber dies gelang ihm nicht, sein eigener armer Blick wurde niedergeschmettert von einem anderen, der ihm entgegenkam, einem übermütig sieggewohnten, zauberhaft strahlenden, aus so schwarzem, tiefüberschattetem Auge, wie der Deutsche sich nicht erinnern konnte, gesehen zu haben, und begleitet von einem halb aufmunternden, halb spöttischen Lächeln um einen frischen kleinen Mund mit weiß aufblitzenden Zähnen. Ganz unwillkürlich senkte er seine Augen zu Boden und fühlte sich zugleich heiß in den Schläfen. Diejenige aber, welche diese Wirkung auf ihn hervorgebracht, machte eine unsagbare Schwenkung, wobei sie den Betroffenen fühlbar streifte.
» Qu'il est amusant,« hörte er sie sagen und dann hell und übermütig lachen, vielmehr kichern. Ihre Begleiterin entgegnete etwas, das er nicht deutlich verstand, nur ein Wort schien ihm wie » imbecile« zu klingen.
Noch verstimmter als zuvor setzte er seinen Weg fort. War das nicht, wenn man das moderne Kostüm wegdachte, wie die Ouvertüre und Exposition zu einer romantischen Oper? Er hatte die Schwarzäugige sichtbar gereizt und sich durch seine unbeholfene Schüchternheit wahrscheinlich um ein interessantes Abenteuer gebracht. Zwar ging die Romantik in ihm nicht ganz so weit, daß ihm seine eigenen Gedanken über das flüchtige Begegnis nicht doch wieder als Phantasterei erschienen wären; aber dies gab ihm wenig Trost, denn er sagte sich, daß ihm eines Tages ein wirkliches Abenteuer in den Weg laufen könne, ohne daß er nach den eben gemachten Erfahrungen der Mann sei, es anzuhalten. Der Gedanke drückte ihn ganz nieder. Ein klein wenig tröstlicher war für ihn der andere, daß wir vielleicht bei den echtesten Liebes- und Lebenshändeln gar nicht erst zuzugreifen brauchen, sondern ohne weiteres von ihnen ergriffen werden, wie von einer Windsbraut. Daraus leuchtete ihm einige Hoffnung.
Nicht in der Absicht, Abenteuer aufzusuchen, war er in die »Mittäglichen Provinzen Frankreichs« gekommen, der Doktor Anton Pfeilschmitt, wie er hieß. Es wäre komisch gewesen, wenn diesem Zweck seine goldene Brille hätte dienen sollen. Mit ihrer Hilfe suchte er vielmehr als angehender Privatdozent einer kleinen deutschen Universität nach verlorenen Handschriften in der Sprache der Troubadours, die er dann im Druck herausgeben wollte.
Aber es war unverkennbar, daß in dem jungen Manne mit der goldenen Brille der Philologe nicht alles absorbiert hatte, wie das zu Zeiten kommen mag und wie etwa eine Ichneumonida in der Schmetterlingspuppe alles an sich saugt und nur die trockene Haut als Umlarvung zurückläßt, aus welcher zuletzt statt des vorausgesetzten Sommerfalters ein garstiges kleines Ungeheuer kriecht. Doktor Pfeilschmitt war innerlich noch ein Mensch, ohne indes sein ganzes Leben lang sich immer in der Lage befunden zu haben, mit Faust zu sagen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Seine Verhältnisse waren im Gegenteil solche gewesen, daß er es meistens nicht sein durfte. Umsomehr hegte er in sich die lebhafte Begierde, manches Versäumte nachzuholen, hoffend, daß die Freiheit des Reifens ihn darin begünstigen werde.
Noch mehr, in dem Doktor steckte so etwas wie ein Stück von einem Poeten und zwar nicht nur wie allgemein angenommenerweise in jedem Deutschen, sondern in wesentlich erhöhtem Maß. Nicht allein die Sprachformen des Idioms der Troubadours hatten ihn interessiert, sondern auch der darin sich aussprechende Geist, was keineswegs ein philologisches Interesse ist. Dabei hatte er sich oft nicht verhehlen können, daß das, was diese losen Vögel von Minnesänger gelebt haben, in den meisten Fällen viel poetischer ist, als was sie gesungen und geschrieben. Mit großer Aufregung las er aber- und abermals die »Leben der Troubadours« von Friedrich Diez, und wie der Hauch des Frühlings kahles Astwerk in bunte Blütenlauben verwandelt, ließ seine Phantasie aus den toten urkundlichen Notizen reiches farbiges Leben erstehen. Lebhaft bedauerte er dann, daß Paul Heyse die Troubadournovellen bereits gedichtet und ihm damit zuvorgekommen. Dieselben sagten ihm nicht sehr zu, er hätte sie anders geschrieben und konnte nicht begreifen, wie der sonst so idealistische Heyse gerade an diesem romantischen Stoff der neuen Schule ungebührliche Einräumungen machen und zu realistischer Darstellung seine Zuflucht nehmen mochte, wo dieselbe ihm am wenigsten angebracht schien. Zum Glück hatte der Dichter der Troubadournovellen die reiche Quelle nicht erschöpft, und so konnte Anton Pfeilschmitt, den trotz seinen gelehrten Verdiensten der Lorbeer des Künstlers nicht wenig reizte, sich Hoffnung machen, mit einem eigenen Werk, etwa »Novellen aus dem Land der Troubadours« betitelt, den berühmten Meister der Litteratur in den Schatten zu stellen. Da wäre es nicht übel gewesen, einstweilen selber etwas Troubadourliches zu erleben.
Auf dem Bahnhof beim Einsteigen in den Zug schien sich die Gelegenheit auch wirklich von neuem dazu bieten zu wollen. Hier geriet der Doktor nämlich mitten in eine Gesellschaft Schauspieler und Schauspielerinnen vom Stadttheater zu Avignon, welche zweimal wöchentlich in der berühmten Vaterstadt des Monsieur Tartarin ihre Kunst und ihre Künste aufführten. Er kam sogar zwischen die erste Intrigantin und die zweite Liebhaberin zu sitzen, beide gar nicht übel. Es war nur zu viel auf einmal und schüchterte ihn ein. Um nicht lästig zu fallen, um den beiden ihm hart auf den Leib rückenden weiblichen Körpern nicht unnötig viel Berührung mit dem seinigen aufzunötigen, machte er sich dünn und saß reglos kerzengerade, steif wie ein Kleiderhalter. Damit imponierte er weder der ersten Intrigantin noch der zweiten Liebhaberin, welche beide, nachdem sie ihm einen prüfenden und darauf einen verächtlichen Blick zugeworfen hatten, ihn für immer übersahen. Nur von Zeit zu Zeit, wenn sie lebhaft gestikulierten, gaben sie ihm, bald die erste Intrigantin rechts, bald die zweite Liebhaberin links, mit dem Ellenbogen unbeabsichtigte gelinde und ungelinde Rippenstöße, und gelegentlich sagte dann auch einmal eine » Pardon, monsieur!« und lachte dazu. Von Avignon bis Tarascon war das ein unaufhörliches Kreuz- und Querfeuer von Neckereien, Anspielungen, feinen Zweideutigkeiten, unzweideutigen Coupletversen und hellem, schlitterndem Lachen. Dabei nahm das Gesicht des Doktors Anton Pfeilschmitt eine immer trübseligere, hoffnungslosere Miene an. Er empfand, daß er unfähig sei, unter solchen Leuten etwas zu sein und zu gelten, was ihn zu Hause sehr kalt gelassen hätte, hier in der Fremde jedoch unglücklich stimmte, weil es ihn ein Hindernis dünkte, je etwas Rechtes zu erleben.
Die Bande war unterdessen in Tarascon ausgestiegen. Die bösen Gedanken aber fuhren mit dem Doktor weiter und woben, als seien es unheimliche Kreuzspinnen, einen grauen Gewebschleier vor seine Augen, daß er nichts außer sich sah – weder den unermeßlichen gelbflutigen Strom, über den hoch hinweg, einem Luftballon gleich, der Zug langsam hinging, noch die Doppelstädte Tarascon und Beaucaire mit dem hochragenden Schloß des Königs René, mit dem massig aufsteigenden, vielgegipfelten Turm von Sainte Marthe und denen von Saint Jacques und Saint Paul, mit den romanischen und gotischen Trümmern des alten sagenhaften Bellum Quatrum. Und das war doch – ein überraschend großes, gewaltiges Bild und ganz aus der Vogelschau.
Dann änderte sich die Scene; rechts hinaus gelbe Hügel, oft in nackte Felsen sich zugipfelnd, und links, tief drunten, weite, unabsehbare Ebene, ein unendlicher Olivenwald, der zwar im einzelnen, aus jungen Pflanzen bestehend, nichts Großes hatte, in seiner weiten Unbegrenztheit aber einem grünen Ocean glich, über dessen ruhigem, leicht gewelltem Spiegel der Wind, wie er die silberne Unterseite der Blätter aufflimmern machte, sanftes schimmerndes Wellengekräusel zu erregen schien.
Ein weicher Föhn strich von Aigue-Morte herüber.
Die sanfte Luft und die weichen Linien des weiten Horizont wirkten besänftigend, auch der Doktor Anton Pfeilschmitt empfand dies.
Dann kam Nimes, wo sich der deutsche Philologe besonders auf das Amphitheater freute, während der Poet in ihm sich der reizenden Abenteuer erinnerte, welche A. M. v. Thümmel in seiner »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich« erzählt. Ohne Zweifel war Nimes endlich das geträumte Wunderland, wahrer »Süden«, spezifische Provence.
Die Luft war nach und nach immer stiller geworden, und ein leichter grauer aber warmer, man mochte fast sagen brühwarmer Nebel hatte sich über das Land hingelegt, von Nimes war beim Anfahren des Zuges keine Spur sichtbar.
Vom Bahnhof niedersteigend, sah sich der Doktor Pfeilschmitt, so viel ließ der Nebel noch erkennen, keineswegs in einem Wunderland, sondern in einer Straße, welche im großen und ganzen ebensowohl der guten Stadt Mannheim oder der guten Stadt Leipzig angehören konnte.
Zugleich fühlte der Doktor eine Trockenheit in seiner Kehle, die ganz außerordentlich war und ihn vorderhand gegen Romantik und Unromantik absolut gleichgültig machte. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er sehnte sich nach einem Trunk. Dabei dachte der ehemalige Münchener Student keinen Augenblick an das dortige braune Nationalgetränk. Er entbehrte dasselbe nicht und unterschied sich in diesem Stück sehr von seinen Landsleuten, nicht vergessend, daß er jetzt »im Land der süßen Weine« lebte, auf welche er sich fast ebenso freute wie auf Handschriften und Abenteuer, denn als Poet liebte er den Wein. Zudem gehörte der Genuß desselben auch zu denjenigen Dingen, deren oft mehr als teilweises Versäumnis er auf seiner Reise durch »die mittäglichen Provinzen« einzuholen gedachte; an den günstigsten Gelegenheiten dazu konnte es da keinesfalls fehlen. Gerade der augenblickliche Moment dünkte ihn eine solche. Da er auf mächtig hohen Spiegelscheiben, die auf große Eleganz deuteten, das Wort Café las, that seine Seele oder vielleicht auch nur seine Kehle einen empirischen Analogieschluß, und über das banal moderne Äußere dieser »Taberne« sich wegsetzend, figürlich und buchstäblich, drang er mit Entschlossenheit ins Innere. Zwei riesige Billards, worauf junge Leute spielten, und etwa ein Dutzend Gäste, sämtlich nach der neuesten »englischen« Mode gekleidet, an kleinen weißen Marmortischchen Zeitung lesend und – Bier trinkend, fielen ihm auf. Die letztere Beobachtung erschreckte ihn mehr, als sie ihn erfreute, und zwar seltsamerweise derart, daß ihm fast aller Durst darüber verging. Zugleich sah er sich wieder auffallend von allen Seiten angegafft. Etwas verlegen an einem leeren Tischchen Platz nehmend, verlangte er Wein.
Aber der dienstbereite Kellner bedauerte, es gab keinen Wein. Einen Augenblick war der deutsche Magister, im alten Stil zu reden, wie aus den Wolken gefallen; dann stand er im Begriff, Bier zu fordern, aus purer Verlegenheit, nur um sein Niedergedonnertsein nicht auffallend werden zu lassen.
Aber nein, Bier trinken im Land der Troubadours, das that er doch nicht. Und mit stolzer Verachtung erhob er sich und ging.
Er schlenkerte weiter. Die vorige Inschrift sah ihm wiederholt auf den hohen Scheiben entgegen, aber er hatte nicht mehr recht den Mut. Doch seine Kehle trocknete immer ärger ein, und es blieb ihm nichts übrig, als noch einmal einen Versuch zu wagen. Etwas zögernder öffnete er diesmal die Thür, indem er sich überredete, daß jenes »Café« ohne Wein mitten in der Provence sicherlich ein Unikum sein mußte.
Leider sah gleich äußerlich dieser zweite Saal jenem anderen so ähnlich wie nur ein Ei dem anderen.
Außer Bier und Kaffee hatten einige Gäste noch etwas unbekanntes Grünes in ihren Gläsern. Wein gab es nicht, der Kellner bedauerte sehr; zur Entschädigung zählte er, wie der Besitzer einer Marktbude seine Meerwunder, alle zu habenden Getränke auf. Mit seltsamem Klang traf das Wort Wermut an das Ohr des deutschen Gelehrten. Dieses Getränk kannte er noch nicht, es mußte aber, nach dem Namen zu schließen, etwas Poetisches sein und paßte gewiß recht zu seiner Stimmung. Das deutsche Wort Wermut, welches nicht gleich dem Bier seinen romantisch-poetischen Sinn beleidigen konnte, heimelte ihn unendlich an hier tief unten in Frankreich, wo das Französische italienisch klingt.
Der Doktor Anton Pfeilschmitt bestellte also » un vermouth« – es war das unbekannte grüne Ding.
Der Kellner tröpfelte ein paar Tropfen, wie wenn es Hoffmannsche gewesen wären, in ein Glas mit einem Theelöffel und stellte eine Flasche Wasser daneben.
Mit dem letzteren füllte der Doktor sein Glas bis oben, rührte darin herum und setzte es mehr begierig als gierig an die Lippen, denn die Sache dünkte ihn gar zu wässerig. Dennoch war er in seinem ausgetrockneten Zustand unvorsichtig genug, einen ganzen Schluck zu nehmen. Aber dann stieß er das Glas auf den Marmor zurück, daß es fast zerbarst, und sein Gesicht verzog sich zur Grimasse. Nein, das konnte er nicht hinunterbringen trotz allen übereinstimmenden bitteren Gefühlen in seiner Seele, trotz Poetisch deutscher Benamsung, trotz seinem Durst »hoffnungslos, riesengroß«. Er forderte sich ein leeres Glas und trank einen Schluck reinen Wassers, das ihm verhältnismäßig schmeckte und auch seinen ärgsten Brand löschte, wiewohl es lau war wie Spülicht.
Nun fiel ihm zum erstenmal die Reblaus ein. Aber das hätte er doch nicht geglaubt, daß dieses Teufelsvieh, von dessen Verheerungen er gehört, den Wein so ganz bis auf den letzten Tropfen vertilgt habe. Aber es mußte schon so sein, und mit dem Gefühl, ebensowenig einen solchen je in die Kehle zu bekommen als in diesem Land von Kaffeehausphilistern ein Abenteuer zu erleben, trat er wieder auf die Straße hinaus, entschlossen, sich das Amphitheater durstig anzusehen.
Doch wo die Not am größten, da ist Gott am nächsten. Er hatte kaum zehn Schritte gemacht, so las er in einer Nebengasse auf sehr primitiv und provisorisch aussehendem, gelb angestrichenem Schild in roten Lettern das Wort: VINS. Rot und gelb aber war die Landesfarbe seines deutschen Geburts-Bundesstaates, die Illuminations- und Festfarbe seiner Kindheit, und keine drei Minuten später saß er zwar nicht »im kühlen«, aber wohl in einem schwülen Keller, was seinem Zweck indes nicht zuwider war. Derselbe erinnerte auch nicht an einen deutschen Ratskeller; die Stiege, die vom Straßenpflaster direkt hinunterführte, war ziemlich schmierig, und das Stück Glockenseil, das als Geländer diente, war es noch mehr. Der Raum selber hatte weder imponierende Säulen noch gewaltige Wölbungen, und seine Wände waren, statt mit buntfarbigen Arabesken und Schildereien bemalt zu sein, mit rohem Kalk angestrichen. Kohlen- und Bleistiftzeichnungen aber, Profile von Menschen- und Tiergesichtern und unsauberen Dingen, ganze Gestalten und Gruppen, politische Karikaturen, dem Urzustand der Kunst angehörend, und dazwischen gekritzelte unfeine Reime bewiesen wenigstens das eine, daß nicht nur die Sonne, wie Goethe meint, sondern auch die Menschen in ihrem angeborenen Kunstsinn kein Weißes so leicht dulden, was die rohen tannenen Stühle und Tische in anderer Weise thaten, ohne daß daran die geringste Farbe verschwendet worden.
Fast alle Tische waren vollbesetzt, meist von Arbeitern in langen grauen Überhemden; auch ging es ziemlich laut zu, denn es war nicht nur der letzte Tag des Jahres, sondern auch ein Montag.
Im ersten Augenblick erschrak der Doktor vor dieser Spelunke; aber er wollte ja das Leben kennen lernen, das Leben in Höhen und Tiefen, in der ganzen Buntheit seiner Erscheinungen. So setzte er sich, ohne jedoch seinen Mantel von sich zu legen, an den einzigen leeren Tisch neben der Stiege.
» Du vin?« fragte ein vierschrötiger herkulischer Kerl in aufgestülpten Hemdärmeln, und der Doktor nickte.
Er hatte eben einen Gedanken, über den er hinterher selber stutzte. Wer weiß, sagte er sich, ob die Schenken in denen der große Hafis verkehrte und unter welchen wir uns Wunder was für eine Romantik denken, in Wirklichkeit nicht vielleicht dieser da auf ein Haar geglichen haben.
Doch da stand schon der Wein vor ihm, dickrot oder eigentlich blau. Der Doktor schenkte ein und that einen Schluck. Was war das? Wie wenn er Tinte und reinen Galläpfelsaft getrunken, zog's ihn: alle Schleimhäute zusammen, und krampfhaft schüttelte er sich. Das war »im Land der süßen Weine«.
» Pardon, monsieur,« sagte in diesem Augenblick der Schenke, welcher seinen Gast mit den Augen aufmerksamer geprüft hatte, und nahm mit diesen Worten das dem großen Faß entzapfte Getränke wieder mit sich fort, um aus der kleinsten Tonne eine andere Flasche zu füllen, welche er mit einem » Voici, monsieur!« vor Anton Pfeilschmitt hinstellte. Dem zukünftigen Verfasser der idealistischen »Novellen aus dem Land der Troubadours« drohte aller Glauben an Romantik zu vergehen, er kostete vorsichtig den neuen Wein.
Derselbe war jedoch vortrefflich. Da der Doktor nicht nur vor Durst, sondern auch vor Begierde brannte, das berühmte Amphitheater, den Dianatempel, die Maison Carée und die seltsame Tour-Magne sich anzusehen, ehe es Nacht würde, wollte er keine Zeit verlieren, trank den Wein, der ihm mundete, in raschen Zügen und stand eben im Begriff, sich aufzumachen, als etwas die Treppe herunterkam und ihn aufhielt.
Zwei weibliche Wesen waren es, wie die deutsche Sprache sich allitterierend ausdrückt. Voraus eine Alte, ein langes weißhaariges Gespenst, mit einem zerfransten und zerlöcherten, grünseidenen Tuch um Hinterkopf und Schultern, einem dünnen, ursprünglich rosafarbenen, sehr schmutzigen und weit nachschleppenden Rock. Mit einem langen Stab in der knöchernen Hand, unter mühsamen Keuchen tastete sie die schmierigen Stufen herunter. Ihr folgte ein junges leichtes Ding in ähnlichem Kostüm, nur statt grünem mit rotem und etwas stattlicherem Tuch, viel kürzerem und saubererem, doch ebenfalls hellfarbigem Rock, die Arme in weiten weißen Ärmeln – eine Einfachheit zugleich der Armut und des guten Geschmacks, ganz reizend in ihrer absoluten Absichtslosigkeit. Waren es Zigeuner? In der Heimat des Doktors hätte jedermann sie dafür gehalten, hier in der Provence war nur ihr äußerlicher Aufzug vom allgemein Gewohnten abweichend.
Die Alte hatte sich auf der unteren Treppenstufe niedergekauert, wie um sich auszuschnaufen, während ihre Begleiterin, die etwas zurückgeblieben war, plötzlich, man wußte nicht wie, mitten in dem menschenerfüllten Raum stand, mit einem Ruck, der wie ungewollt erschien, ihr seidenes Tuch vom Kopf schob und sich leicht und leise in den Hüften zu wiegen begann, den Rhythmus ihrer Bewegungen durch ein schwaches Castagnettentremulanto markierend.
Sie mußte eine fremde Erscheinung hier sein, alles sah erstaunt zu ihr hin, die Nächsten schoben ihre Stühle und Tische zurück, um ihr Platz zu machen, eine fast andächtige Stille trat ein. Eine Stille, nur unterbrochen durch halbunterdrücktes bewunderndes Flüstern und die noch leise zitternde Castagnettenmusik, welche von einer für das Instrument unglaublichen Weichheit war und aus dem Nichts oder vielmehr aus den rhythmischen Bewegungen der tanzenden Gestalt als in der Luft sich fortsetzende Schwingungen hervorzugehen schien.
Dann wurden die Bewegungen größer, heftiger, leidenschaftlicher, ihr Rhythmus aufgeregter, mit wildem Ungestüm scheiterten die Castagnetten, mit einer Kraft und Gewalt, die der Doktor Anton Pfeilschmitt nicht für möglich gehalten hätte. Ein Dämon schien in die Tänzerin gefahren, sie war wie von Raserei ergriffen. Das zurückgeschobene Tuch rutschte tiefer, der Hals und die Schultern wurden bloß, das kurze altersmürbe Mieder klaffte; der dünne Rock aber, der von den Hüften niederfiel, ließ die feinsten Linien ihres Körpers darunter erkennen. Dem jungen Gelehrten wurde es wirbelig im Kopf, ihm war, als ob die leichten fadenscheinigen Hüllen wie Dunst, wie Fetzen grauen Nebelschleiers zerreißen und zerfließen müßten, und er sah, statt der wirklichen poetisch-reizvollen Erscheinung vor sich, eine phantastische, zauberhaft lockende Vision, ein Phantasiegebild.
Erst das brausende Beifallsrufen rings um ihn weckte ihn aus seinem seltsamen Traum. Er sah die Tänzerin, die ihr rotseidenes Tuch wieder um die Schultern zusammengezogen hatte, von Tisch zu Tisch gehen und ihre Sous und Doppelsous einsammeln. Zu ihm kam sie zuletzt, und er warf ihr, was ihm bei seinen Verhältnissen bis jetzt noch nie in einem ähnlichen Fall passiert war, ein Vierzigsousstück in die schwarzgrüne Horusschale. Ein erstaunter Blick aus ihren Zigeuneraugen traf ihn, daß ihm eine leichte Blutwelle in die Schläfe schoß, und nur zögernd zog sie ihre Schale zurück. Dann setzte sie sich, während die Alte den Leuten in fremdartig gefärbter, aber sehr beredter Sprache ihren Wunderbalsam anbot, einen halben Schritt hinter ihm auf eine an der Wand lehnende Kiste, knüpfte ihr Mieder wieder fest und zog wie fröstelnd ihr Tuch über das halb zusammengeknotete, halb in Strähnen losgelöste blauschwarze Haar hinauf. Er schaute ihr dabei zu, und alle Umgebung vergessend, dünkte es ihn, als ob er ein Märchen erlebe, als ob das leuchtend schöne, hohe Feenwesen seiner phantastischen Vision von vorhin leibhaftig neben ihm sitze, aber verkappt in irdisch ärmlicher Außenhülle. Zugleich besann er sich, daß es dumm sei, so stumm neben ihr zu sitzen, er müßte, wenn er nicht blöde sein wollte, ein interessantes Gespräch mit ihr anknüpfen, müßte ihr innerliches Wesen kennen lernen, vielleicht die Offenbarung eines poetischen Geheimnisses erleben. Er brachte aber kein Wort über die Lippen, und sein Herz klopfte beklommen, als hätte er in Wahrheit zu einer Wundererscheinung reden sollen.
Mit dem Weibe zu reden war nie seine Stärke gewesen; der Kontrast zwischen dem, wie dasselbe in seiner Phantasie und in seinem Dichten leibte und lebte und ihm vertraulich war, und wie es ihm dann als Wirklichkeit entgegentrat, hatte ihn von jeher immer verblüfft. Das gegenwärtige war zwar fast ein Kind, aber je mehr er es in seiner romantischen Phantasie zu einem inkarnierten Märchenwesen machte, desto schwerer fand er's, mit menschlicher Sprache zu ihm zu reden. Wohl hundertmal hatte er schon den Satz auf den Lippen, aber alles, was er sagen wollte, schien ihm nicht bedeutend genug. Zuletzt bemerkte er, sie werde wohl recht müde sein.
Das Mädchen, welches wie im Traume vor sich hinausgeschaut hatte, warf ihm einen streifenden Blick zu, in dem fast etwas wie Verachtung lag und wobei das Weiß ihres Auges unter der nächtigen Umschattung kalt-umheimlich aufblitzte. Das war mehr als genug, um den Doktor vollends einzuschüchtern und zu verwirren, und er hätte jedenfalls eine ziemlich lange Zeit gebraucht, um einen zweiten Anredeversuch zu machen, wenn er einen solchen überhaupt gewagt haben würde.
Dies sollte jedoch für alle Ewigkeit unentschieden bleiben, da eben die Alte unter seltsam grotesken Begrüßungsgebärden sich seinem Tisch näherte und ihm ihren Balsam anbot, von dessen Kräften sie blaue Wunder zu sagen wußte, der für alle Gebresten Leibes und der Seele gut war, alle innerlichen und äußerlichen Schmerzen linderte, ein Lebenselixir, so kräftig, wie nie eines erfunden worden, und dessen Geheimnis niemand kenne außer ihr, die es direkt von ihrer Urgroßmutter überkommen, welche dasselbe ihrerseits von einem heiligen Einsiedler auf dem Berg Libanon durch List erschlichen habe.
Und keinen Pfennig kostete das Mirakel, es durfte keine Ware sein; die es bereitet, mußte arm bleiben wie der heilige Eremit, dem es ein Engel vorn Himmel geoffenbart. Und so schob sie dem Doktor ein in Goldpapier gewickeltes winziges Päckchen hin.
Nur ein frommes Almosen durfte sie annehmen, und alljährlich mußte sie eine Wallfahrt zu der ehemaligen Höhlenwohnung des heiligen Waldbruders machen, weil dort allein das Kraut wächst, aus dem der Balsam bereitet wird. Der Doktor fragte die Alte nach ihrer Heimat und schien noch andere Fragen im Sinn zu haben, zugleich zog er langsam seinen Beutel hervor, eine gestickte Börse, ein Andenken von seiner Schwester. Die kurzsichtigen Augen tief niedergebeugt, suchte er in den Goldstücken herum, denn nur solche enthielt die Börse.
In diesem Augenblick erhob sich die Tänzerin plötzlich und gab der Alten ein fast gebieterisches Zeichen zum Aufbruch. Das Betragen war seltsam, es schien fast, als ob das Mädchen den Fremden verhindern wollte, noch mehr Geld herzugeben; aber sie konnte auch die Absicht haben, ihn zu überrumpeln und ihm ein Goldstück abzunehmen. Der Doktor entsann sich aber jetzt, daß er sein Kleingeld frei in die Tasche gesteckt hatte, langte das erste beste Stück, das ihm in die Hand geriet, heraus, einen großen Doppelsous, und schob ihn der Alten hin, welche sich mit übertriebener Unterthänigkeit bedankte und dann mit ziemlicher Behendigkeit die Stufen hinaufstieg. Hier erwartete die Junge sie bereits, welche dem Fremden noch einen ihrer rätselhaften Blicke, herausfordernd und abweisend zugleich, hinunterwarf, worauf beide verschwanden.
Auch Anton Pfeilschmitt erhob sich. Vor die Thür tretend, sah er trotz der anbrechenden Dunkelheit die beiden Gestalten in einiger Entfernung sich die enge Gasse hinunter an den Häusern hindrücken. Unwillkürlich nahm sein Fuß dieselbe Richtung, ohne daß sein Kopf etwas dachte oder sein Willen etwas Bestimmtes wollte. In seiner eigentümlichen Aufgeregtheit dünkte ihn die Gasse sich ins Unendliche zu verlieren, hinaus ins Weite, in eine Felswüste, wohin er den seiner Phantasie immer rätselhafter erscheinenden Wesen folgen und wo er ein Märchenwunder erleben mußte. Aber nur wie ein dumpfer Traum lag das alles in ihm, und zwischen hinein stiegen die Altertumsreste von Nimes, die er fast vergessen gehabt, das Amphitheater, die Maison Carée, die Tour-Magne, der Dianatempel, als ein verworrenes Bild in seiner Phantasie auf, vergrößert, in multiplizierter Mannigfaltigkeit, als eine ausgestorbene Welt, eine steinerne unendliche Trümmereinöde, in die er sich verirrte auf der Spur einer Doppelinkarnation seines romantischen Traumes. Die Menschen, an denen er vorüberkam, dünkten ihn zwischen Ruinen hinhuschende graue Phantome, und er bemerkte nicht, daß wieder die meisten stehen blieben und ihm verwundert nachschauten. Seine Aufgeregtheit nahm noch zu, er war schon wie mitten in einem Abenteuer, er kostete ein nie empfundenes seltsames Lustgefühl, seine Phantasie feierte Orgien und er schwelgte darin.
Schon einigemal hatte er die beiden immer mehr umdunkelten fernen Gestalten, denen er folgte, ohne im Ernst etwas von ihnen wollen zu können, aus den Augen verloren, um sie dann beim Einbiegen in eine Nebengasse, wie wenn sie hier auf ihn gewartet hätten, sich auffallend näher gerückt zu sehen, worauf sie auf einmal wieder verschwunden waren, als ob Hexerei im Spiele sei.
Jetzt schaute er seit länger umsonst nach ihnen aus, als er plötzlich fast einen lauten Ausruf des Erstaunens that und wie erschrocken seinen Schritt innehielt. Aus seiner schmalen Gasse mit kleinen ärmlichen Häuschen und mittelalterlichem Giebelwerk sah er auf eine hell erleuchtete breite Straße voll auf- und abwogender Menschen und kleiner Verkaufstische unter winterlich kahlen Bäumen, mit rot- und blau- und grün- und vielfarbig glühenden Lampions über buntem Spielwarenkram und noch bunterem Zuckerbackwerk. Darüber hinweg aber, ungesehen von den durcheinander wogenden Menschen, unbeachtet, unbewundert, stieg eine unheimliche, übergewaltige dunkle Masse auf, ein schwarzes Ungeheuerliches, das Amphitheater, das Kolosseum einer ehemaligen zweiten Hauptstadt der Welt. Mit stillem heiligem Ernst, mit furchtbarer Größe ragte es in die unendliche Nacht empor und ließ das Palais de Justice links, das Häusergewimmel und Menschengetriebe der anstoßenden Straßen und diese ganze Welt ebenso klein, so winzig, so unbedeutend unter sich zurück wie der Justizpalast das Spielwarengerümpel und Buntbackwerk des Boulevard.
Ein heiliger Schauer überlief Anton Pfeilschmitt vor dem steinernen Riesengrabmal einer längst gestorbenen Welt, um welches herum achtlos neue Geschlechter lärmten, wie Kinder, die zwischen den Denksteinen eines vergessenen Kirchhofs spielen, aus Sand und Hobelspänen Städte bauend.
An eine Hausecke gelehnt, stand er lange wie weltentrückt. Plötzlich fuhr er auf; das war wieder der rätselhafte scheue Blick gewesen, vor dem er schon zweimal zusammengezuckt. Ohne es zu wollen, folgte er aufs neue den durch die Menge hingleitenden bekannten Gestalten. Als er sie jedoch bald aus dem Auge verlor, bog er von der hellen Straße, welche in die neue Stadt zwischen modernen Fassaden hineinlief, ab und ging der Rundung des Amphitheaters nach, an das sich jetzt ein dunkler menschenleerer Platz anschloß. Zwischen kahlen Bäumen plätscherte fallendes Wasser, eine Gruppe marmorner Riesenweiber leuchtete wie mit lebendiger Nacktheit aus dem Dunkel. Anton Pfeilschmitt sah betroffen hin. Dann hörte er eine Stimme hinter sich.
» Voulez-vous entrer, monsieur l'Anglais?«
Erst nach einigem Umsehen entdeckte Anton Pfeilschmitt den Frager, eine knirpsige Gestalt, von der man in der Dunkelheit nicht sagen konnte, ob es ein Knabe oder Zwerg sei. Er lehnte an einem der mächtigen Eisenthore, welche die zahlreichen Zugänge in die Arena verschlossen, und zwar innerhalb desselben.
Als der Doktor sich nun näherte, öffnete er das Thor und machte eine einladende Bewegung.
» Bougre, il ne donne rien, celui-ci,« fluchte der Kleine im Rücken des Fremden, welcher klopfenden Herzens durch die nachtschwarze, riesenhafte Wölbung auf eine dämmernde Lichtung zuschritt, während hinter ihm das Eisenthor in seinen rostigen Angeln knarrte und dröhnend ins Schloß fiel, wobei es dem Eindringling scheinen wollte, als ob rings in den riesigen Vorweltsmauern ein tausendfaches Echo schmerzlich aufseufzte.
Dann Grabesstille, und Anton Pfeilschmitt stand am Rand der Arena, die Seele voll Schauder. Nie in seinem Leben hatte etwas auf ihn einen Eindruck gemacht wie dies unerwartete nächtliche Verlorensein in dieser starren Grabesunendlichkeit, so weit und so ungeheuer, als sollte es der Sarkophag der ewigen Menschheit sein, in den sich nur hier und da ein Lichtstrahl verirrte wie ein Schein aus einer anderen Welt.
Anton Pfeilschmitt wagte endlich einen Schritt vorwärts zu thun und bewegte sich dann langsam gegen die Mitte, die ihm erst so nahe schien und nun weiter und weiter hinausrückte, so daß er sich selber immer kleiner, wie zusammengeschrumpft vorkam. Aber nur körperlich, sein Geistiges wuchs mit jedem Schritt, als schreite er aus den Erbärmlichkeiten des Alltagslebens heraus wie in eine fabelhafte vierte Dimension. Die Ahnung des Großen, des Ewigen zog durch seine Seele.
Da entging ihm ganz, daß aus einer alten Bretterbude, die in verschwindender Kleinheit sich gerade hinter ihm an die Quadern der Peripherie lehnte, eine menschliche und zwar weibliche Gestalt hervortrat und ihm verwundert nachsah.
Anton Pfeilschmitt war zu aufgeregten Gemüts, als daß es ihn nicht gereizt haben sollte, zu dem himmelhochragenden und scheinbar leicht zu erreichenden obersten Rand emporzusteigen. Dies ging im Anfang sehr einfach; die Treppen waren breit und, weil von Sonne und Regen weiß gebleicht, auch deutlich erkennbar, trotz der unterdessen vollends hereingebrochenen frühen Sylvesternacht. Auch konnte er sich ohne die eigentlichen Treppen mühelos von Sitz zu Sitz emporschwingen und brauchte die ersteren nur an den Übergängen von einer Hauptetage zur anderen. Am schwierigsten war der letzte Aufstieg zur obersten Randhöhe, weil hier die Treppen nicht radial zum Amphitheater, sondern in der Richtung von Tangenten oder Sehnen, und nicht frei, sondern unter dunklen Überwölbungen von den Arkaden her emporführten. Aber sein Versuch gelang glücklich, und mit einem rechten Hochgefühl in der Brust sprang er aus dem unheimlich finsteren Mauerloch, wo er einen ganzen Klumpen Fledermäuse aufgejagt, hinaus auf den schwindelnden Rand des steinernen Riesenkelches, aus dem einst viele Tausende zu gleicher Zeit schäumende Luft geschlürft.
Doch wie er jetzt über die brüstungslose, schutzlose Kante hinunterblickte, tief hinunter in das Giebelwerk der Stadt, in das Häusergewirr und Menschengewimmel, in den lichtdurchwobenen Dunst der Straßen, deren Getös nur dumpf bis herauf an sein Ohr klang, wurde er wirklich von Schwindel und Grauen erfaßt, daß er sich niederkauern und an den Steinen festklammern mußte. Einen Augenblick lang war es ihm ängstlich zu Mute, und das ganze Amphitheater schien sich mit ihm zu drehen wie ein ungeheuerlicher Mühlstein, der die ganze Erde zermalmen wollte, wie ein unheimliches Geisterkarussell. Zugleich empfand er eine unbeschreibliche Lust in diesem leichten Gruseln. Er erhob sich wieder und stand frei und groß, wie über der Welt. Ein leichter Nachtwind blähte die Armklappen seines Havelocks, daß er von der Tiefe herauf dem märchenhaften Vogel Greif gleichen mochte oder einem phantastischen Spuk, einer schwarzen Riesenfledermaus.
Immer höher schwoll ihm das Herz vor eigentümlichen: Vergnügen und Abenteuerlust, seine Lage dünkte ihn hoch interessant, er hätte sich keine romantischere Sylvesternacht träumen können. Große Gedanken erfüllten ihn, wunderbare poetische Gesichter stiegen vor ihm auf.
Wie lange er so stand, wer vermochte es zu sagen? Er selber war wie außerhalb des Bewußtseins von Raum und Zeit.
Dann raffte er sich auf, mit Gewalt riß er sich aus der poetischen Exaltation seines träumerischen Geistes heraus. Einmal mußte er wieder hinuntersteigen.
Die Doppelstaffeln, mittels denen man, wie schon erwähnt, in tangentialer Richtung in die obersten Arkadengänge hinunter- und wie in das Mauerwerk hineinstieg, stellten bei Nacht, von oben her gesehen, schwarze parallelogrammförmige Löcher dar, wie Versenkungen auf der Bühne. Der Doktor Pfeilschmitt, sich am Rand des nächsten besten derselben anhaltend und mit seinem Regenschirm nach den unsichtbaren Stufen vor sich hintastend, bemerkte, und zwar nicht ohne leisen Schreck trotz aller Abenteuerstimmung, daß das schwarze Loch vor ihm gar keine Treppen hatte. Dieselben schienen, wie in einem greisen Mund die Zähne, längst ausgebrochen.
Durch diesen hohlen Schacht konnte er also nicht heraufgekommen sein, und er wandte sich zurück, um den nächsten zu untersuchen. Das Loch war schwarz und zahnlos wie das erstere, die Sache wurde unheimlich. Sollte er sich nun nach rechts oder links wenden, um den Weg in die Unterwelt zu finden? Die Wahrscheinlichkeit war auf beiden Seiten gleich groß. Aber da Anton Pfeilschmitt glücklicherweise nicht der Esel des Buridan war, versuchte er's nach kurzem Zögern mit einer von beiden Seiten, ohne zu bedenken, ob sie die rechte oder die linke sei. Wieder traf er auf einen ausgehöhlten Schlund, und so das folgende und das aberfolgende Mal, so das zehnte, das fünfzehnte, das zwanzigste Mal: alle waren es wüste, leere Löcher, nirgendwo traf er auf eine feste Stufe, nur an einzelnen wenig vorstehenden, morschen Überresten stocherte sein Schirmstock herum, so wie auch im verwüstetsten Mund vielleicht noch ein mürber Stumpen zu finden ist.
Er wußte zuletzt nicht mehr, wie viel Eingänge er auf ihre Einfälle hin, die er im Augenblick gar nicht geistreich finden konnte, untersucht hatte, er wußte auch nicht, ob er seine Entdeckungsrundreise, die, was selten der Fall ist, einmal wirklich rund war, noch erst zu vollenden oder ob er sie schon zum zweitenmal angetreten habe. Nichts konnte ihn darüber aufklären, für ihn sah in diesem monströsen Steinbecken ein Punkt und Quader dem anderen so ähnlich wie eine Welle des Oceans der anderen; er mochte stehen, wo er wollte, immer war es aufs Haar derselbe Anblick, und schon schwindelte ihm wieder, und das Amphitheater drehte sich, erst langsam schwerfällig wie ein Riesenmühlstein, dann immer leichter, schneller, wie rasend, wie ein ungeheures Geisterkarussell. Anton Pfeilschmitt kauerte sich ängstlich nieder, gewisse Märchen der Kindheit fielen ihm ein, in denen ahnungslose Menschenkinder, in die unterirdischen Wohnungen von allerlei Zauberwesen gelockt, umsonst den Ausweg ans Licht der Sonne suchten, und viel fehlte nicht, daß ihm die Steinwüste, über welcher er wie auf Felsgipfeln kauerte, als das Reich eines bösen Kobolds erschienen wäre.
Als unterdessen seine erste Aufregung, über welcher ihm ein wenig warm geworden, sich beruhigt hatte, überlegte er. Er konnte zweierlei thun: entweder er riskierte, seinen Hals zu brechen, indem er trotz der zertrümmerten Staffeln einen Abstieg versuchte, oder er wickelte sich resigniert in seinen Mantel und schlief in Gesellschaft von Fledermäusen ruhig hier ein – auf dem schwindelnden Rand dieses ewigen Steindenkmals vergangener Zeiten und Geschlechter, während die melancholischen Tropfen eines abermaligen Jahres »ins Meer der Ewigkeit« sickerten, geräuschlos und achtlos. Beides dünkte ihn nicht ohne Romantik, das erstere jedoch weniger verlockend.
So entschloß er sich zum zweiten und rückte sich in eine bequeme Lage.
Er entschlief jedoch nicht allzuschnell, trotzdem er die vorausgegangene Nacht im Bahnzug verbracht und auf seinem unbequemen Sitz nicht dazu gekommen war, ein Auge zu schließen. Noch immer war seine Phantasie nur allzulebendig und ließ tausend närrische Bilder vor seinem halbgeschlossenen Blicke gaukeln.
Dann sprang er plötzlich in großer Erregtheit in die Höhe. Das war kein Phantasiebild mehr, was er da sah, es war wunderbare aber leibhaftige Wirklichkeit.
Mitten in der Arena brannte ein leichtes Feuer, und zwei weibliche Gestalten, die Köpfe ihrer gigantischen Silhouetten bis zu ihm hinaufwerfend, bis an den unendlichen Rand dieser steinernen Welt, bewegten sich um dasselbe. Anton Pfeilschmitt erkannte sie, kein leisester Zweifel blieb ihm: es waren die rätselhaften Frauenwesen, denen er in einer seltsamen Geblütswallung durch die Winkelstraßen der Stadt gefolgt. Die Alte rührte in einem Kessel, die Junge winkte ihm mit ihrem Tuch. Er antwortete ihr, seinen Hut schwenkend, und fühlte dabei ein eigentümliches Klopfen unter seinem Mantel.
Eine Zeitlang wiederholte sich die romantische Telegraphie, dann waren, während draußen in der anderen Welt vorbeiziehende Sylvestermusik seine Aufmerksamkeit auf eine Sekunde abgelenkt hatte, die beiden Weiber plötzlich verschwunden. Von dem erlöschenden Feuer sah man eine Zeitlang noch glimmende Kohlen und aufsteigenden Rauch, zuletzt nichts mehr. Zum zweitenmal legte er sich nieder auf seinem steinernen Bett, auf dem eine halbe Welt Platz hatte.
Noch schlief er nicht ein; oder war er doch eingeschlafen und war das tolle Zeug, das ihm durch den Kopf ging, Traum? Das Amphitheater schien ihm die Welt zu sein, die Erde der Menschen, von gewaltigem Steinwall ummauert und selbst zu totem Steingerippe erstarrt, aus dem alles Leben bis auf das vegetabilische hinunter für immer verweht war. Nur er allein, todmüde, mit durchgerissenem Schuh und mürbem, in Lappen auseinander gehendem Mantel, als Ahasver der Sage kauerte, sterbenssehnsüchtig, an ihrem Rand und schaute in die Ewigkeit hinaus. Dann entstanden drunten in der Arena, die, ins Unabsehbare auseinander gedehnt, in Grabesstille lag, plötzlich dröhnende Geräusche. Er sah hinunter und erschrak. In der Mitte des Raumes sah er eine entsetzliche Versammlung.
Was Heinrich Heine einmal in toller Laune der Phantasie ausgesprochen, ohne es selber zu glauben, geschah hier.
Die großen Baudenkmäler der Welt, von allen Schöpfungen der verwehten Menschheit die einzigen Überbleibsel, gaben sich ein Rendezvous. Da trampelten die ägyptischen Pyramiden neben stutzerhaften Obelisken; indische Pagoden, die fußlosen Felstempel von Ellora und Koromandel nach sich schleppend, schlurften mit dem Tschultri zu Madura und den Heiligtümern von Edfu und Philä zwischen erhabenen Griechentempeln, das Panthenon zu Athen voran; die düsteren deutschen Riesendome von Worms und Bamberg wackelten zwischen den Kathedralen von Reims und Bourges, dem Kölner und Straßburger Münster, der Notre-Dame von Paris; der römische Triumphbogen des Augustes und der Napoleons von der Place de l'Etoile gingen nebeneinander, obschon sie sich wie alle Nebenbuhler mit steinernem Haß anblickten; der Sankt Peter von Rom stand anmaßend in der Mitte und machte Miene, eine Predigt halten zu wollen, konnte aber nicht zu Worte kommen. Der Lärm war entsetzlich, mark- und beindurchdringend das laute Gekreisch der steinernen Ungeheuer. Erschütternd schlugen die Schallwellen an den unendlichen Steinwall der ausgestorbenen Welt, an dem der einzige Unglückliche aus Fleisch und Bein sich angeklammert hielt, und prallten als donnerndes Echo zurück. Drunten diskutierten sie über die Philosophie der Weltgeschichte, und jedes wollte seine Zeit, die seiner Jugend, als die glänzendste, großartigste und tiefsinnigste aufgestellt wissen. Und da sie nicht einig werden konnten, schickten sie sich an, den einen übriggebliebenen Menschen zum Schiedsrichter aufzurufen. Da spürte dieser plötzlich einen leisen Hauch, und die Ungetüme drunten wehten auseinander wie Kartenhäuser oder vielmehr wie Staub und Moder. Ein junges noch mädchenhaftes Weib stand in der Mitte des Planes, das hatte sie weggeblasen mit warmem Odem, mit roten Lippen. Er erkannte sie trotz ihrer ungewohnten Nacktheit; sie winkte ihm, ihre Castagnetten tremulierten, leicht und leise wiegte sie sich in den Hüften – Wenn es nicht vom Anfang an schon Traum gewesen, so waren jedenfalls seine Phantasien allmählich in einen solchen übergegangen.
Dann folgte fester, ruhiger Schlaf, das Versäumnis der vorausgegangenen Nacht machte sich geltend.
Dann ein neuer Traum – oder war das nicht mehr? Seine Augen blieben zwar geschlossen, seine Schlaftrunkenheit war zu groß; aber die weichen Arme, die ihn umfaßten, der Odem, der ihn warm anhauchte, und jetzt gar die Lippen, die sich heiß auf seinen Mund drückten, so lebendig wahr ist keine Traumeinbildung.
Und er that einen gewaltsamen Ruck, um die bleiernen Schlummerbande von sich zu schütteln und die holde Erscheinung in seinen Armen fester an sich zu pressen. Aber statt einen warmen Körper zu umschließen, griff er in die leere Luft. Der Schreck, den er darüber empfand, scheuchte eine Sekunde den Schlaf aus seinem Auge, und sein Lid riß sich plötzlich auf. Einen halben Moment sah er ins Leere, dann glaubte er im Finsteren etwas wie eine fliehende weibliche Gestalt in die nächste Versenkung tauchen zu sehen.
Im folgenden Augenblick riß ihn der gewaltige Schlaf wieder auf sein Steinlager zurück.
Als er von neuem erwachte, war es Tag. Fröstelnd sah er um sich und betrachtete nicht ohne Erstaunen sein großes steinernes Bett; dabei schüttelte es ihn ein- ums anderemal, denn der Morgen war kühl geworden. In der frostigen Nüchternheit der Frühstunde war er zu poetischen Kontemplationen weniger aufgelegt und hatte Lust, so schnell als möglich seinem überirdischen Labyrinth zu entrinnen.
Er kam vor die nächste Versenkung, sie hatte ganz neue Staffeln. Wie seltsam! am Abend waren sie doch zertrümmert gewesen. Kopfschüttelnd stieg er in die Tiefe.
Als er eine Viertelstunde später behaglich in einem Restaurant beim dampfenden Kaffee und golden leuchtenden Cognac saß, freute ihn seine Sylvesternacht doch. Er ließ die poetischen Vorstellungen und großen phantastischen Bilder der Nacht aufs neue an sich vorüberziehen, er fand sie würdig, in einem Gedicht schöne bleibende Form zu finden, und er plante einen »Sylvesternachtstraum« in vierzeiligen Trochäen und im Stil des »Atta Troll«. Das Feuer im Mittelpunkt der Arena zur Stunde des Jahreswechsels, die Alte im Kessel rührend, die Junge ihm mit ihrem Tuche winkend, dachte er sich darin von besonderer poetischer Wirkung. Eines gefiel ihm nicht ganz, weniger mit Rücksicht auf das Gedicht, da man in einem solchen alles darstellen kann, wie man will, als vielmehr im Gedenken an seine Person als Mensch und Dichter – der Traum in der Nacht nämlich, den er so klar und deutlich empfunden wie nie in seinem Leben einen. Wie interessant, wenn er Wirklichkeit gewesen wäre!
Ein wenig verstimmt durch den Gedanken, daß er dazu verurteilt sei, Abenteuer nur zu träumen und zu dichten, doch nie welche zu erleben, wollte er nach seiner Uhr sehen, die er ohne Kette in goldenem »väterererbtem« Gehäuse in seiner Tasche zu tragen pflegte. Er griff zuerst links, dann rechts, dann machte er ein verdutztes, ja erschrockenes Gesicht. Die Uhr war nicht da, auch seine gestickte Börse mit dem Gold fehlte.
Es war mehr als ein Traum, es war ein wirkliches Abenteuer gewesen.