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Simulorum

I.

Der Simulorum war ein sonderbarer Heiliger. Er hieß eigentlich Sebastian und war ein Bruder der heiligen Magdalena von Witscht. Er war eine zarte furchtsame Natur und tat niemand etwas zu leid, sondern meinte es gut mit allen, mit den Menschen und mit den Tieren. Die Tiere liebte er wie der heilige Franziskus von Assisi. Er liebte sie mehr wie die Menschen, denn sie liebten ihn wieder; die Menschen aber verspotteten ihn wegen seiner eigenen Art und weil er nicht war wie sie alle.

Er besaß einmal eine weiße Katze und die war ihm vor allen anderen Geschöpfen Gottes ans Herz gewachsen. Er hatte sie zahm gemacht wie ein frommes Lämmlein und sie folgte ihm auf Schritt und Tritt. Aber ein böser Bub erschlug sie ihm. Kalt und steif fand er sie eines Morgens auf der Schwelle seiner Türe liegen. Da weinte er, und drei Tage genoß er keinen Bissen vor Schmerz und Traurigkeit.

Dann begrub er seine Lieblingin. In dem Baumgarten seiner Schwester, unter einem alten Birnbaum grub er den Rasen auf und machte ihr ein Grab. Oben drauf steckte er ein hölzernes Kreuzlein; denn der Simulorum war ein großes Kind.

Als aber wiederum drei Tage verstrichen waren, empfand er eine unbändige Sehnsucht nach der Toten. Er mußte sie noch einmal sehen. Er öffnete also ihr Grab und – sah sie wieder. Aber er hatte die Nerven eines Asketen, feine, gereizte, nicht ganz gesunde Nerven. Und der Anblick und der Geruch ging ihm auf den nervus vagus, und wie krank eilte er davon.

Man sah ihn nun oft an einer Hausecke stehen, den Unterarm gegen die Mauer gestützt und den Kopf auf dem Unterarm, mit allen Gebärden eines Kranken oder Betrunkenen. Und wenn ihn jemand fragte, was ihm fehle ... Die Katz, antwortete er, die Katz, ich hab sie im Leib und sie will heraus.

Sein Leben lang hatte er die Katze im Leib, die heraus wollte und nicht konnte.

So war der Simulorum.

In dem Simulorum lag aber auch ein Tielmann Riemenschneider oder ein Veit Stoß verborgen.

Ohne äußere Anleitung, nur aus dem inneren Triebe heraus und in Erinnerung an den alten Martin Seitz, schnitzte er die schönsten Bilder in Holz. Aus allerlei Klötzen, wie sie ihm gerade zur Hand waren, schnitt er, mit seinem einfachen Taschenmesser, das Bild der Muttergottes heraus mit samt dem Jesuskinde, das die Weltkugel in der Hand trug. Und genial verschwenderisch mit den Schöpfungen seines Geistes und seiner Hand, beschenkte er ganz Witscht mit diesen Kunstwerken. Viele sind noch hie und da erhalten und werden von den Kindern als Puppen benutzt.

Aber der stärkste Genius des Sebastian ist damit immer noch nicht bezeichnet. Auch ein Palästrina oder Sebastian Bach rumorte in ihm.

Oft schlenderte der Simulorum, lang und hager, schleppenden Ganges, die Beine lässig nachschleifend mit einem fertigen Kunstwerk durch's Dorf, um sich einen auszusuchen, den er durch die Beschenkung mit seinem Werke glücklich machen könnte. Da ereignete sich hundertmal der nämliche seltsame Auftritt.

Der Bastian blieb plötzlich stehen und winkte jemand. Und wenn dieser Jemand nicht zu ihm kommen wollte, so kam der Prophet zum Berge.

»Horch«, sagte er und tippte mit dem Knöchel seines Zeigefingers an seine Statue. »Was hörst du?«

»Du Narr, was soll ich denn hören!«

»Gelt«, antwortete Sebastian, »das ist stumm und tot, das hat keinen Klang.«

Und traurig ging er seines Wegs, seine Beine noch schlaffer nach sich ziehend als zuvor.

Daß seine Bilder so stumm und tot waren, machte ihn tief unglücklich. Auch half es ihm nichts, daß er ein Erzgießer ward und seine Statuen aus Tonerde formte und in Blei umgoß. Das war noch stummer und toter als Holz.

Doch machte ihn eine Entdeckung kurze Zeit glücklich. Er formte große Tonbilder, höhlte sie sorgfältig aus und brannte sie im Backofen. Er brauchte lang, bis ihm die Kunst so gelang, daß seine Bildungen seine Sprünge mehr bekamen. Da tippte der Simulorum wieder mit einem Knöchel daran, und siehe, das klang.

Der gute Bastian hatte nun eine kindliche Freude. Aber es ging ihm wie allen seinen Kollegen. Wie jeder, der etwas schafft, war er im Augenblick entzückt, doch mit der Zeit fand er die eigene Leistung schwach und ungenügend. Einige Wochen lang ging der Bastian mit dem tönenden Bilde von Haus zu Haus, und jedermann mußte seine Statue nicht sowohl sehen als hören.

Da, eines Tages, während er in Wonne schwamm, himmelhoch, jauchzend, brachte so ein cynischer Lästerer und Gottesverächter einen alten Topf herbei, dessen nähere Bezeichnung man dem Berichterstatter erlassen möge. Er hielt seinen Topf dem Bastian ans Ohr und tippte mit dem Zeigefinger daran.

»Hörst du, Simulorum«, sagte er höhnisch, »das tönt so gut wie deine Muttergottes, noch besser, du hättest dir nicht so viel Mühe zu geben brauchen.«

Da fuhr dem Bastian ein jäher Schreck in die Glieder, daß die tönende tönerne Muttergottes seinen Händen entfiel und in tausend Scherben zerbarst.

Wenn ihn nun jemand fragte: Wie geht's Bastian, warum so finster? so nahm sein Gesicht einen noch trübseligeren Ausdruck an. Das ist ein stumpfer Klang, antwortete er traumhaft, und die Seele zittert nicht, wenn sie ihn hört.

Dann verfiel der Simulorum auf etwas anderes. Was er nicht selber vermochte, nämlich tönende Gebilde zu schaffen, hatten andere getan, und der Simulorum wurde ein Quasimodo secundus. Ganze Tage und Nächte saß er auf dem Glockenstuhle des Dorfkirchturms. Den Glocken waren auch Muttergottesbilder eingegossen. Die betrachtete der Bastian mit heiliger Andacht. Von Zeit zu Zeit tippte er mit dem Fingerknöchel an den Glockenrand, und wenn dann, einer Welle im Ozean gleich, ein mächtig tönendes Summen über das eherne Gebilde hinlief, erfüllte es ihn mit freudigem Schauer. Und die Dämonen seines Innern wurden allmählich so aufgeregt, daß er alle Besinnung verlor und die Glocke in Schwingung, das ganze Dorf aber in Aufruhr versetzte. Er mußte oft eingesperrt werden.

Er weinte dann wie ein kleines Kind und versprach, ein solches Unheil nie wieder anrichten zu wollen. Doch fiel er wiederholt in seine Leidenschaft zurück. Zur ewigen Strafe dafür muß er seit seinem Tode, als Gespenst, auf der großen Glocke rittlings sitzen, von Abends an, wenn der letzte Klang des Aveläutens verklungen ist, bis zum Morgen, wenn es das Frühave läutet. Da friert es ihn im Winter so sehr, daß der alte Nachtwächter Stephan Stech, wenn er am Turme vorbeigeht, oft das Gerippe des Unglücklichen vor Frost klappern hört.

Als der Bastian aber noch lebte und im Fleische wandelte, fragte er eines Tages seinen Nachbar, den Ochsenwirt, ob der Mann mit dem Simulor noch nicht angekommen sei.

»Was soll denn das sein, dein Simulor?« fragte der.

»Ei, wißt ihr das nicht?« antwortete Bastian lächelnd. »Simulor, das klingt, das tönt, heller als Gold und Silber; wenn der Mann kommt, will ich eine Muttergottes daraus machen, und wenn es reicht, auch eine Glocke für den Kirchturm.«

Simulor! Geheimnisvolles Wort. Wer mag es deuten und erklären? Die Anhänger Oschwalds und der heiligen Magdalena behaupteten, das Wort sei im Munde des Bühelfranzens Sebastian eine Weissagung gewesen, eine innerliche Offenbarung, und Simulor heiße das noch unentdeckte Metall, welches, reiner und edler als Gold, einst zur Prägung der kaiserlichen Münzen des »Tausendjährigen Reiches« werde verwendet werden.

Wie dem auch sein mag, der Bastian fragte von da an jeden Tag und jeden ihm begegnenden Menschen nach dem Manne mit dem Simulor, und noch auf dem Totenbette, mit seinem letzten Hauche, fragte er nach dem Manne mit dem Simulor. Der arme Simulorum.

II.

Nicht immer war der Simulorum ein Simulorum. Einige Anlagen dazu hatte er vielleicht mit auf die Welt bekommen, ein wenig Sonderling wäre er wohl unter allen Umständen geworden, auch ohne jenen gewaltsamen Streich des Schicksals, welcher im Räderwerk seiner Geistesmaschine wie mit einem plötzlichen Ruck irgend ein Ineinandergreifen störte, irgend einen Riemen zerriß, irgend eine Walze zum Stocken brachte.

In der Schule war der Bastian, von Anfang bis zu Ende, stets der beste Schüler gewesen. Und da in Witscht die Knaben unmittelbar hinter der entsprechenden Mädchenabteilung sitzen, hatte er seinen Platz immer hinter dem Rücken der Pauline Grünling eingenommen; die beiden waren Nachbarskinder und gute Freunde.

Das erste Band dieser Freundschaft aber bildete sozusagen die Kunst.

In der Werkstatt des alten Martin Seitz, des großen Künstlers von Witscht, dessen Lieblinge sie waren, verflossen ihnen die ersten Kinderjahre.

Seitz, der weitberühmte Vergolder und Maler und Herrgottschnitzer, bewohnte als Großoheim der Pauline einen Nebenbau des Grünlingschen Hauses. Er war durch seine äußere Erscheinung und sein ganzes Wesen auch etwas recht Absonderliches und wirkte in seiner eigenartigen Umgebung zwischen den lackierten und vergoldeten Muttesgottesbildern, Kruzifixen, heiligen Sebastianen, Florianen und andern, alten und neuen, mächtig auf die kindliche Phantasie. Außerdem wußte er auf der Flöte berückende Lieder zu spielen, lustige und traurige.

Den Bastian liebte er besonders. Vielleicht hoffte er, sich einen Jünger seiner Kunst in ihm zu erziehen. Der kleine Bastian erklärte auch bei jeder Gelegenheit mit dem Tropus Individuum pro genere, daß er einmal auch Seitz werden wolle.

»Dann mußt du mich abmalen«, meinte die Pauline.

»Nein«, entgegnete der Bastian ernst, »nur die Heiligen malt man und die Muttergottes.«

Dennoch sagte er, noch nicht zum Schulalter herangewachsen, einmal zu seiner Mutter, die Pauline habe das schönste Haar von allen Mädchen des Dorfes. Da hatte sie im Spiel das Pferd vorgestellt und er ihre Zöpfe als Zügel benutzt.

Später scheint ihm dieses Haar noch besser gefallen zu haben, denn in der Schule war er manchmal so in die Betrachtung der Zöpfe vor ihm versunken – deren Enden er meist spielend in der Hand hielt – daß er oft auf die leichteste Frage nicht zu antworten wußte und verwirrt dreinschaute, während er doch sonst überraschend kluge Antworten geben konnte. Ein Mitschüler stellte deshalb den Satz auf, der Bastian sei »quartalgscheid«, was wohl nach Quartalen wechselnd heißen sollte.

Der Schule entwachsen, wurde Bastian, ohne Rücksicht auf seine Liebe zur Kunst (zur Kunst des Martin Seitz), zum Schuster bestimmt, das auch das Handwerk seines Vaters gewesen war, und bei einem weitläufigen Verwandten in einem drei Stunden entfernten Städtchen in die Lehre getan. Der Bastian wurde dort sehr streng gehalten und kam innerhalb mehrerer Jahre kaum einmal nach Hause.

In dieser Zeit tauchte der Prophet Ambrosius Oschwald zum erstenmal in der Gegend auf als Frühmesser oder Kaplan zu Ballenberg und gewann großes Ansehen und zahlreichen Anhang. Unter seiner Jüngerschaft nahm die Madlena, Bastians Schwester, bald einen ersten Rang. ein. Sie wurde seine Lieblingin und dann später die berühmte heilige Magdalene von Witscht.

Oschwald's Bedeutung bestand vor allem in seinem Gegensatz zu seinen Amtsbrüdern, den übrigen katholischen Priestern des Landes, die er für Unwürdige, für Kinder der Welt erklärte.

Und so beschlossen die Auserwählten, der Zukunft gedenkend, sich selber einen Priester zu erziehen, ganz nach dem Herzen Gottes und dem Bilde des Propheten. Auf Madlenens Rat wurde ihr Bruder Bastian dazu auserkoren.

So sah sich dieser plötzlich, bereits an die achtzehn Jahre alt, aus seiner Schusterwerkstatt hinweg in das Frühmesserhäuslein zu Ballenberg versetzt. Statt mit Pech und Draht, sollte er sich von nun an mit der alten Römersprache beschäftigen.

Unter der Anleitung und nach höchsteigener Methode des großen Propheten Ambrosius Oschwald betrieb er die neue frei Kunst. Das römische Brevier diente als Lesebuch. Das Leben und Lernen der beiden Klausner, des Lehrers und des Schülers, mag sich seltsam genug ausgenommen haben. Denn zu den reformatorischen Manifestationen des Frühmessers Oschwald gehörte auch die, daß er keine Haushälterin noch sonst eine weibliche oder männliche Bedienung bei sich duldete, sondern alle häuslichen Verrichtungen selbst besorgte.

Fast drei Jahre dauerte dieses evangelische Zusammenwohnen. Dann wurde ihm plötzlich ein Ende bereitet. Oschwald wurde als des Protestantismus verdächtig, vom geistlichen Gericht verurteilt und in eine Korrektionsanstalt verwiesen; er wanderte später nach Amerika aus, wohin ihm viele seiner Anhänger Gefolgschaft leisteten. Bastian aber kehrte nach Witscht zurück. Das Gerücht ging, er wolle nun Kapuziner werden.

Gleich in den ersten Tagen stieß er am Brunnen, wo er Trinkwasser holte wie in der Knabenzeit, mit Pauline Grünling zusammen. Er war sehr verlegen und wußte nicht recht, wie er sich geben solle. Sie dagegen scherzte über sein heiliges Aussehen und über seine heiligen Absichten; doch klang aus ihren Reden ein gutmütig herzlicher Ton.

»Zu uns unheiligen Leuten kannst nun freilich nicht mehr zu Besuch kommen«, fügte sie hinzu, »sonst hätt ich dich gern eingeladen. Aber das wird sich weder mit deiner lateinischen Gelehrsamkeit, noch deiner neuen Würde vertragen; wir sind halt nicht so fromm, und unser Herrgott muß uns nehmen, wie wir nun grad einmal sind.«

Sie tat dem Bastian unrecht. So war er nicht. Schon am nämlichen Abend nach dem Nachtessen erschien er.

Es war mitten im Winter, die Zeit der langen Spinnabende.

»Nun, habt ihr schon gebetet?« fragte die Pauline, während sie den Tisch abräumte und das Tischtuch in den Katzenteller ausschüttelte. Sie meinte das übliche gemeinsame Gebet an Winterabenden.

»Nein,« antwortete er, »ich will's bei euch mithalten.«

»Wenn dir unsres genügt«, erwiderte sie scherzend, indem sie ihr Spinnrad hinter dem Ofen hervorholte, »du wirst besseres gewöhnt sein. Wir sind halt nur gemeine Leute, und so beten wir auch.«

Bastian konnte nicht erwidern, der alte Grünling begann den Rosenkranz. Zum erstenmal in seinem Leben wurde dem Bastian während des Betens die Zeit lang.

*

Bald wurde Bastian von seiner Schwester Madlene scharf getadelt, daß er jeden Abend bei den Grünling drüben sitze, statt zu Hause zu bleiben unter den Gesinnungsgenossen. Man hätte sich mehr von seiner Frömmigkeit versprochen. Und sie redete von Fallstricken des Teufels, von Augenlust, Fleischeslust und dem unheiligen Sinn gewisser Leute.

Der Bastian ließ sich nicht beirren. Wenn ihn jemand fragte, wie es mit dem Mönchtum sei, gab er keine entschiedene Antwort. Nur ferner Schwester sagte er einmal schüchtern, daß er nicht glaube, zum Klosterleben berufen zu sein. Und Madlene hieß ihn einen wankelmütigen Menschen und feigen Schwächling. Sie fügte hinzu, daß sie wohl wisse, wo bei ihm der Has' im Pfeffer liege.

»Nun, wo denn?« fragte er.

Als Antwort erhielt er von seiner heiligen Schwester eine schallende Ohrfeige.

Eine rechte Beschäftigung hatte der Bastian einstweilen nicht. Er stack entweder mit seinem Kopf in alten Kalendern, Legendenbüchern und Ritterromanen, die er in allen möglichen Häusern zusammensuchte, oder er saß beim alten Martin Seitz und suchte es ihm, wie ehemals, in seiner Kunst nachzutun.

»Er weiß nicht, was er will«, sagten die Leute.

Die Auserwählten, die bei der Schwester Madlene zusammenkamen, gaben zwar ihre Hoffnung noch nicht auf, daß der Bastian einst ihr geistlicher Führer würde; aber sie fingen doch allgemach an, den Kopf zu schütteln. Sie meinten, aus dem Menschen sei nicht klug zu werden.

Und das dachte oft auch die Pauline Grünling. Aber nur über einen Punkt wurde sie nicht klug, sonst im allgemeinen kannte sie den Bastian durch und durch. Sie wußte, daß er eine herzensgute stille Seele sei und daß es sich mit ihm und um ihn leicht und angenehm leben lasse.

Aber wenn sie auch nicht zu jenen gehörte, die aus dem Bastian einen Heiligen machen wollten, war sie doch mit ihnen darin einig, wie sehr es zu beklagen wäre, daß der Bursche so unentschlossen, so schwankend sei und niemanden eigentlich merken lasse, was in ihm vorgehe. Und noch trauriger sei es, meinte die Pauline bei sich, daß er selber nichts zu merken scheine, je länger, je weniger.

Die Pauline war in vieler Beziehung das gerade Gegenteil vom Bastian. Sie war vor allem ein Menschenkind von strammem straffem Wesen. Nichts war lotterig an ihr. Ihre Kleider waren ihr wie auf den Leib gewachsen, und noch inniger waren in ihrem Wesen Leib und Seele ineinander gepaßt.

Doch hatten die Leute unrecht, wenn sie vom Bastian sagten, er wisse nicht, was er wolle. Er wußte es ganz gut, er getraute sich nur nicht, sein geheimes Wünschen laut werden zu lassen. Ihm ahnte, daß man ihn verhöhnen würde.

Der alte einsiedlerische Seitz war es und dessen Kunst, die es dem guten Bastian von neuem angetan hatten – –

Nach allen anderen würde er nichts gefragt haben, wenn er nur gewußt hätte, was die Pauline darüber dachte. Er konnte sich nicht enthalten und machte ihr eines Tages eine schüchterne Andeutung.

»Du bist verrückt«, sagte sie trocken und fast verächtlich, »du willst alles anfangen und wirst zuletzt gar nichts werden. Ich meine, du hätt'st dir schon lang das Sprichwort merken sollen: Schuster bleib bei deinem Leisten.«

Bald darauf, es ging schon dem Frühjahr zu, kam der Bastian eines Abends mit lustiger Miene in die Stube Grünlings. Er zeigte sich diesmal weniger einsilbig als sonst und plötzlich sagte er: »Brauchst keine Schuhe, Pauline?« Alle schauten den Kapuziner in spe verwundert an.

»Ich habe nämlich heut«, erklärte er lustig, »Vater's Handwerksgerümpel zusammengesucht und Leder gekauft. Nun fehlt mir's nur an Bestellung.«

Pauline brauchte in der Tat neue Schuhe und Bastian machte sich sofort daran, ihr das Maß zu nehmen.

Er betrug sich nicht gerade geschickt dabei.

»Eigentlich sollte ich es nicht darauf ankommen lassen, mir Schuhzeug von dir zu bestellen«, scherzte Pauline, »du scheinst dein Handwerk ziemlich verlernt zu haben. Was machst du denn? Wenn du meinen Fuß nicht fester umspannst, wirst mir die Schuhe schön zu groß machen.«

Und als ob sie ihm sein Geschäft erleichtern wollte, zog sie den Rock noch etwas in die Höhe.

»Es genügt«, rief Bastian, der umsonst seine Beklommenheit zu verbergen suchte.

Währenddessen war ein Mädchen aus der Nachbarschaft, eine Oschwaldbegeisterte, in die Stube gekommen.

»Nun«, fragte der alte Grünling, »was sagt denn eure Madlene zu dem neuesten Berufswechsel des Bastian?«

»Sie ist ganz damit einverstanden«, antwortete die Angeredete; »die Magdalene sagt, der Bastian könne auch in einem weltlichen Beruf seine Jungfräulichkeit bewahren und dadurch zu einer höheren Stufe des geistigen Lebens gelangen.«

»Und befürchtet die Magdalene, wie du sie nennst, keine Gefahr für den Bastian, wenn er den hübschen Mädchen und jungen Frauen so die Füße betasten muß, um ihnen das Maß zu nehmen? Ihr eitlen Dinger tragt jetzt die hohen Stiefelchen. Das scheint mir bedenklich. Denn wenn der Geist auch willig ist, so ist doch das Fleisch immer schwach, wie die heilige Schrift sagt, und außer dem heiligen Crispin, der noch dazu ein sehr sonderbarer Heiliger war, ist kein einziger Schuster mehr zu dieser Würde gelangt.«

Der alte Grünling hatte dies scherzend, mit gutem Humor vorgebracht.

»Jeder Mensch ist Versuchungen unterworfen«, entgegnete ihm die Fromme, indem sie auf Pauline einen unzweideutigen Blick hinwarf; »aber Gott versucht uns nicht über unsere Kräfte, und mit Hilfe der Gnade und unterstützt durch unsere Gebete wird der Bastian allen Lockungen des Satans widerstehen.«

»Daran zweifle ich nicht im mindesten«, rief Pauline lachend, indem sie aufsprang und den Bastian anfaßte, als ob sie mit ihm durch die Stube tanzen wollte.

»'s ist schade«, fügte sie mit komischer Traurigkeit hinzu, »sehr schade, ich hätt' dich gern geheiratet, Bastian.«

Mit diesen Worten verschwand sie aus der Stube. Die Fromme sah ihr mitleidig nach.

Seitdem wiederholten sich die Neckereien zwischen Pauline und dem Bastian häufiger. Die Pauline spielte dabei die Uebermütige. Der Ex-Lateiner aber machte meistens die Miene des Verlegenen, des Eingeschüchterten.

III.

Einmal nach Monaten – anfangs Juni war's – kam der alte Grünling, die Hacke auf der Schulter, seine kurze Porzellanpfeife mit dem Napoleonskopf im Mund, die Distelhäuser Höhe herunter. Er hatte Kartoffeln »gehäufelt« in den »Heiligenäckern«, und schlurchte behaglich dem Dorfe zu, das auf dem ganzen Wege sichtbar vor ihm lag.

Außer Witscht mit seinem zwiebelgestaltigen blauen Schieferturm waren noch zwei Orte sichtbar, rechts hinüber Ballenberg, ein winziges Städtchen, aber kühn auf der Höhe gelegen und von alten Burgruinen und einer Wallfahrtskapelle überragt, links hinauf Schillingshausen, das jedoch nur die Spitze seines nadelförmigen Kirchturms hinter einem kieferbestandenen Hügel emporstreckte.

Es dämmerte bereits. Im Binsenbruch, über dem sumpfigen Moor, zwischen der Schillingshäuser Höhe und dem sogenannten Roteck verdichtete die Abendkühle die aufsteigenden Dünste zu weißem Nebel. Wie ein Leinenlaken schien es darüber ausgebreitet. Nur vereinzelte junge Kiefern ragten schwarz daraus hervor, daß es aussah, als ob zwergige Kobolde, mit dunkeln Kapuzen, ihre Köpfe emporstrecken.

Die Abendglocken begannen zu läuten, zuerst die von Ballenberg, dann die von Schillingshausen, zuletzt die Witschter.

Diesmal zog der Vater Grünling seine blaue Schildkappe ab, bekreuzte sich und sprach leise den »Englischen Gruß.«

Er war gerade damit zu Ende, als hinter einer hohen Schlehenhecke hervor ein altes Weib ihm in den Weg trat.

»Geht's heimzu?« grüßte sie.

»Wohl«, sagte er.

Und sie gingen nebeneinander. Die Frau war eine Nachbarin und hieß in Witscht die Grasbärbel. »Der Markus hat gestern g'schrieben«, hub sie nach ein paar Schritten an.

»So! und ist er g'sund?«

»Das mein ich«, antwortete die Grasbärbel eifrig, »und es geht ihm sehr gut. Er ist seit Ostern G'freiter, das wird einer bei den Leib-Dragonern nicht so leicht. Aber den Markus haben sie alle gern. Und ich soll euch auch grüßen von ihm, die Pauline auch, der muß ich's aber selber ausrichten.«

Der alte Grünling hatte dagegen nichts einzuwenden. Die Grasbärbel schwieg ebenfalls ein paar Schritte lang, dann sagte sie zögernd:

»Wir waren immer gute Nachbarsleut, Hannes, oder ist es nicht so?«

»Doch, freilich, Bärbel, warum denn nicht?«

»Nun seht, ich mein halt immer, nämlich, ihr wißt, daß der Markus, weil sein Vater, mein Märtel, Gott hab ihn selig, gestorben ist, noch vor der Ernte nach Haus kommen wird.«

»Ja, ja, nun dann kriegst du es wieder besser, der Markus kann ein Stück wegschaffen.«

»Das will ich glauben«, rief die Bärbel, »'s ist kein Bursch im Dorf, so stark und so flink wie der Markus. Und die Frau, die er heimführt, wird's einmal gut haben.«

Wieder entstand eine Pause.

Dann begann die Grasbärbel mit leiser Stimme:

»Ich will euch was sagen, Hannes, aber unter uns, ich möcht nicht, daß es ein Gered gibt unter den Leuten, nur euch sag ich's. Der Markus hat seinen Narren an eurer Pauline gefressen, und er hat einen eigensinnigen Kopf; wenn er sich da was hineingesetzt hat, bringt man es ihm nicht so leicht wieder heraus. Da möcht ich nun nicht, daß er heimkommt und die Pauline ... Ihr wißt, was ich sagen will, es wird ja schon allerlei g'schwätzt, ich mein mit dem Bastian, dem Schuster. Die Leute müssen was auszumachen haben. So ein Getuschel war's auch mit den beiden immer gewesen, schon von der Schul her. Aber ich mein doch, die Pauline ist ein g'scheites Mädle und hält den Bastian nur zum besten. Die heirat doch den Schuster nicht ...«

»Ich kann nichts sagen«, brummte der alte Grünling, indem er eine mächtige Rauchwolke vor sich hinblies.

»Warum nicht?« entgegnete die Bärbel heftig. »Ihr seid doch der Vater, wenn ihr der Pauline sagt, so und so ... Ihr wißt wie's mit uns steht, unsre Aecker liegen in den gleichen Gewannen. Aber gelt, der lange Schuster flattiert den ganzen Tag um euch herum und zieht euch jeden Tag ein andres Speckschwärtle durchs Maul, indes der Markus seinem König dient und sich Ehren erwirbt. Aber er soll nur erst heimkommen, dann schaut, ob das nicht ein anderer Mann ist als dieser Kapuziner ...«

»Das sind der Pauline ihre Sachen«, unterbrach sie Grünling, »ich kümmere mich nichts drum.«

»Das glaub ich doch nicht.«

»So laß es bleiben«, sagte er trocken. »Gut' Nacht, Bärbel.«

Sie waren bei Grünlings Haus angelangt und der Alte schritt gleichmütig den Hof hinein.

Am Brunnen holte die Pauline gerade Wasser. Während sie den vollen Zuber auf den Kopf stemmte, wobei ihre kräftigen Arme, da sie in Hemdärmeln ging, den Neid der Nachbarinnen herausforderten, kam der Bastian über die Gasse.

»Bist ein Schöner«, rief sie dem grüßenden Schuster zu, »bis du zuspringst und einem aufhilfst, kann man lange warten.«

Es war die Art, in der sie gewöhnlich mit dem »Kapuziner« redete. Die Worte enthielten Vorwurf, in ihrem Klang aber lag wohlwollende Lustigkeit mit einer eigentümlichen Abdämpfung ins Weiche, die dem Bastian so wohl tat. Er wußte, nur wenn sie mit ihm sprach, zitterte dieser Ton in ihrer Rede.

IV.

Das war zur Zeit der Heuernte. Oder sie war vielmehr bereits vorüber, nur Einzelne befanden sich noch damit im Rückstand, darunter auch Grünlings. Im Brunntal standen außer den ihrigen schon alle Wiesen leer. Nun hatten sie auch heute gemäht, Paulines Bruder mit einem Taglöhner, und Pauline sollte am Nachmittag das dörrende Gras bearbeiten.

Vor dem Mittagessen schaute sie einmal zum Fenster hinaus. Da wollte es der Zufall, und nicht zum erstenmal, daß gegenüber gerade auch der Bastian das Fenster öffnete.

»Fleißig!« rief sie hinüber.

»Wie so?« fragte er.

»Im Maulaffen feilhaben.«

Und Pauline lachte.

»Scheinst nicht viel Arbeit zu haben«, begann sie ein wenig ernster, »du könntest heut Nachmittag mit mir ins Brunntal gehen und mir helfen.«

Bastian strahlte, er sagte sofort zu.

Das Brunntal war ein langgedehnter Wiesengrund mitten im hohen Eichwald. Es hatte seinen Namen von einer zerfallenen Zisterne, die, von alten Linden beschattet, einsam, wie märchenhaft, in der Mitte des Talgrundes lag und der Hagelbrunnen hieß. Der Brunnen stammte der Sage nach aus dem dreißigjährigen Krieg, wo flüchtige Einwohner des niedergebrannten Witscht sich mit ihrer geretteten Habe hier im Wald niedergelassen haben sollten. Doch auch spukhafte und wunderbare Geschichten, teils von unheimlichem, teils von anmutigem Charakter, wurden an den einsamen Brunnen geknüpft, der wasserleer stand seit Menschengedenken.

Bastian und Pauline hatten den ersten Teil ihrer Arbeit, die dörrenden Grasmahden mit dem Rechen zu wenden, verrichtet und sich am Hagelbrunnen gelagert. Bis es Zeit war, das Heu auf Haufen zu bringen, blieben ihnen mehrere Stunden.

Pauline zeigte sich halb lustig, halb nachdenklich aufgelegt, der Bastian war ganz Glück. Sie sprachen miteinander über tausend Dinge. Oder sie schwiegen und genossen stumm das Glück ihres Beisammenseins.

Eine unendliche Stille lag dann um sie. Nichts regte sich in der heißen zitternden Atmosphäre. Nur von Zeit zu Zeit gaukelten ein paar große Perlmutterfalter, sich haschend und fliehend, oder ein einsamer Trauermantel durch die duftschwüle Luft über ihnen hin. Sie kamen von dem nahen Hag und dem südlichen Waldsaum, wo weiße und rötliche Blütendolden auf hohen Stengeln ragten.

Pauline lag auf dem Rücken und manchmal schloß sie die Augen. Bastian betrachtete sie und war froh, daß er kein Kapuziner geworden.

»Was hast du jetzt gedacht?« fragte er einmal plötzlich.

Er hatte in ihrem Gesicht einen merkwürdig rätselhaften Ausdruck wahrgenommen.

»Gewiß nichts schönes«, fügte er mit ehrlichem Herzen hinzu.

»Warum?« rief sie fast betroffen, indem sie sich hastig aufrichtete.

Es war ihr in der Tat ein eigentümliches Gedankenphantom durchs Gehirn gezogen. Sie hatte sich vorzustellen versucht, wie es wohl wäre, wenn jetzt statt des Bastian der Markus neben ihr läge ...

»Warum, was soll ich gedacht haben?« fragte sie noch einmal.

»Ich weiß nicht, ich meinte nur ...«

»Nun, ich will dir's gerad heraus sagen«, erklärte sie hart, »ich hab an den Markus gedacht.«

Bastians Auge verfinsterte sich, Pauline lachte.

»Ich wollt' dich schon lang immer fragen, was du davon hältst; nämlich du weißt, daß ich den Markus heiraten soll, und nächsten Samstag kommt er heim. Was tätest du an meiner Stelle?«

»Was frägst mich, du wirst wissen, was d'willst«, stieß er hervor, und seine Stimme klang rauh und heiser. Er suchte umsonst seine Erregung zu verbergen. Dann entstand eine lange peinliche Stille.

»Wenn der dumme Brunnen nur Wasser hätt'«, seufzte Pauline nach einer Weile.

Bastian sagte nicht gleich etwas; erst nach einer Pause fragte er:

»Hast Durst?«

Mit einem erregten zitternden Ton kam's heraus, sein Gesicht hielt er abgewendet.

»Ich mein, ich müßt verschmachten«, antwortete sie seufzend.

Er erhob sich.

»Was hast vor?«

»Ich geh' in den Kohlhof, soll ich dir Milch oder Wasser bringen?«

»Nein, bleib lieber«, sagte Pauline sanft, fast bittend, »es ist ja eine ganze Viertelstunde bis zum Hof und mit meinem Durst ist's nicht so gefährlich.«

»Aber mit dem meinigen«, erwiederte Bastian kurz und schickte sich zum Gehen an.

»Du willst nicht bleiben? Nun, dann bring mir Wasser mit; aber gelt, machst nicht zu lang, daß ich nicht eine Ewigkeit allein sein muß.«

Der Ton, in dem sie dies sprach, ging Bastian durchs tiefste Mark.

Denn Pauline war während dieser Worte, zum erstenmal, rückhaltlos entschlossen, Bastian zu heiraten.

Als dieser zurückkam, fand er das Mädchen eingeschlummert.

Ihre Lage war die reizendste, die sich denken ließ. Bastian betrachtete die Schlafende. Er hatte Pauline mit solchen Augen eigentlich noch nie angesehen, es war ihm seltsam zu Mute. Dann durchschoß es ihn und durchschauerte ihn zugleich. Er hatte noch nie ein Mädchen geküßt. Wenn er's täte, müßte sich sein Schicksal plötzlich entscheiden, so oder so. Und er bückte sich über ihr Gesicht und die halbgeöffneten Lippen ...

Da schlug Pauline die Augen auf. Sie lachte ihn freundlich an, dann erquickte sie sich an dem mitgebrachten frischen Trunk.

Nach einer Weile, merkwürdigerweise, als ob ihr im Schlaf seine Gedanken offenbar geworden, sagte sie auf einmal in schalkhaftem Ton:

»Gelt, du hast noch nie geküßt, Bastian? Ich glaub als, du kannst es gar nicht ...«

Er antwortete darauf nichts, er sah mädchenhaft zu Boden. Dennoch schien's, als ob ein leichter Trotz seine Lippen kräuselte. Plötzlich packte er Pauline an beiden Oberarmen und drückte ihre Schultern gegen den Boden.

»Wenn ich's nun tue«, sprach er, mehr zaghaft als übermütig.

»Ja, wenn du gekratzt und gebissen sein willst«, gab sie lachend zurück.

»Ich bin stärker als du!«

»Laß sehen!«

»Nein, du könntest bös werden«, antwortete er gerührt, und ließ sie los. »Uebrigens habe ich dich einmal geküßt. Wir gingen noch in die Schul', im letzten Jahr war's. Wir spielten Fangens, ich haschte dich, und du wolltest dich entreißen.«

»Weißt du das noch«, fiel Pauline ihm ins Wort; »aber du hast nicht mich, ich habe dich geküßt.« Und da schlang sie den Arm um seinen Hals, als ob sie dasselbe wieder tun wollte. Doch im letzten Augenblicke schien es sie zu reuen. Bastian ergriff ihre Hände.

»Wenn du meine Frau würdest, Pauline«, sprach er leise und von mächtigem Gefühl überwältigt ... »willst du?«

»Vielleicht«, rief sie laut und mutwillig und sprang auf; »doch nun ist's Zeit zum Arbeiten.«

V.

Am Samstag darauf war der Markus angekommen. Aber erst am Sonntag morgen bekam Bastian ihn zu Gesicht. Schon lange vor dem ersten Glockenzeichen zum Gottesdienst stand der heimgekehrte Dragoner unter seiner Haustüre, und mehrere Altersgenossen sammelten sich um ihn her. Schon von weitem konnte man bemerken, daß sie den stattlichen Soldaten voller Bewunderung anstaunten. Sie musterten seine Uniform und seinen Säbel und lauschten auf seine Worte wie auf alte Wundermären.

Da erschien Pauline, zum Kirchgang bereit, unter ihrer Türe, zu der vom Hof her eine hohe Staffel hinaufführte. Sofort trennte sich Markus von seinen Freunden. Er begrüßte Pauline, reichte ihr die Hand und schickte sich an, sie auf dem Kirchweg zu begleiten.

Er hatte sich zuerst zu ihrer Rechten befunden; aber er schwenkte sich nun, mit städtischer Gewandtheit, hinterrücks um sie herum und trat auf ihre linke Seite. Pauline, die diese Höflichkeit kaum verstand, mußte lustig lachen.

Bastian stand oben am Fenster. Markus bemerkte ihn, er warf ihm einen triumphierenden Blick hinauf. Betroffen trat der Schuster von den Scheiben zurück.

In den folgenden Tagen sah er die Freundin kaum.

Aber einmal, am Abend, als er Feierabend machte und ans Fenster trat, saßen Pauline und Markus auf Grünlings Staffel, vor seinen Augen. Der Anblick gab ihm einen Stich ins Herz. Unwillkürlich mußte er denken, wie es wäre, wenn er das nun oft mit ansehen sollte. Ihn schauderte. Nur einen einzigen Trostgedanken fand er: er mußte nicht notwendig in Witscht bleiben, er konnte noch immer Kapuziner werden. Doch ward er sehr traurig bei diesen Vorstellungen.

Da sah er, wie drüben die Pauline von ihrer Schwägerin ins Haus gerufen wurde, worauf Markus, nachdem er eine Weile gewartet, sich erhob und rauchend das Dorf hinunterschlenderte. Gleich nachher kam Pauline an ihren alten Platz zurück. Bastian ging auf die Gasse hinunter.

Als Pauline ihn bemerkte, winkte sie ihm.

Das tat ihm wohl.

Sie fragte, ob er denn so viel zu tun habe, da man ihn so selten sehe.

Er hatte im Gegenteil fast gar keine Arbeit im Augenblick. Und er trug sich deshalb mit einer Absicht, die er Pauline mitteilte. Er wollte am andern Morgen, weil es gerade ein Samstag und der Tag Mariä Heimsuchung war, einen Wallfahrtsgang zur Muttergottes nach Schöntal machen. »Ich habe immer noch«, fügte er hinzu, »die berühmte Klosterkirche nicht gesehen, und Onkel Seitz sagt, das sei außer der Peterskirche zu Rom die schönste Kirche der Welt. Der Ritter Götz von Berlichingen liegt dort begraben, er ist über seinem Grab in Stein ausgehauen, wie er leibte und lebte, mit samt seiner eisernen Hand. Wer das nicht gesehen hat, müßt sich schämen, da es doch nur drei Stunden weit weg ist, sagt der Onkel Seitz. Er hat mir längst versprochen, einmal selber mit mir nach Schöntal zu gehen, wenn es mit seinem Fuß wieder besser wird, aber das kann lang dauern!«

»Das ist ein gescheiter Gedanke von dir«, entgegnete Pauline lebhaft, »weißt was, ich geh' mit, ich war ja auch noch nicht dort, und wir haben augenblicklich nichts dringendes zu tun.«

»Dummes Zeug«, rief der Bruder Johann, der hinter den beiden aus der Tür trat, »man wird gewiß um diese Zeit Wallfahrten laufen; wollt ihr, daß euch die Gäns auslachen! Der Schuster kann ja machen was er will, aber du, denk' ich, hast G'scheiteres zu tun, der Hanf im Roteck muß morgen ausgefemmelt werden.«

»Nun höre«, erwiderte die Schwester unwillig, »du brauchst nicht so zu reden und Befehlens zu spielen, grad als ob ich deine Magd wäre. Wenn ich wallfahrten gehen will, so geh ich, die Arbeit im Roteck kann auch am Montag noch getan werden.«

Und sie machte mit Bastian aus, daß sie um vier Uhr früh aufbrechen wollten und daß, wenn sie verschlafe, er ihr am Kammerfenster klopfe.

Als Bastian von Pauline wegging, war er von seinem Glückseligkeitsgefühl so berauscht, daß er tatsächlich taumelte, oder wenigstens stolperte, und fast die Treppe hinuntergefallen wäre. Diese Ungeschicklichkeit wollte er wieder gut machen und mit einem kühnen Sprung setzte er über die letzten vier Stufen hinweg. Das war man gar nicht von ihm gewöhnt.

»Was machst denn«, rief ihm die Pauline nach, »hab' acht, daß es keine schlimme Vorbedeutung wird.«

Zehn Schritte weiter begegnete er dem Markus, der am Brunnentrog das Vieh tränkte. Heute wich er ihm nicht aus; er trat ihm vielmehr entgegen und redete ihn freundschaftlich an. Aber der Dragoner, der wohl ahnte, wo Bastian hergekommen, behandelte den Schuster aufs unfreundlichste, indem er, ihn kaum beachtend, sich nachlässig den blonden Schnurrbart drillte. Es brachte den Schüchternen in die größte Verlegenheit. Zu Haus trug Bastian seiner Schwester Madlene auf, ihn um drei Uhr zu wecken, er wolle wallfahrten gehen, nach Schöntal. Daß die Pauline an seiner Wallfahrt teilnehmen werde, verschwieg er.

VI.

Während der Nacht entlud sich ein heftiges Gewitter, und als Bastian am andern Morgen, noch vor vier Uhr, auf die Gasse hinaustrat, fand er die Luft sehr abgekühlt. Es fröstelte ihn.

Er begann nun kleine Steinchen gegen Paulinens Kammerfenster zu werfen. Ein anderes Mittel, sie zu wecken, sah er nicht. Zwar lehnte in der Nähe eine Leiter am Haus. Doch dazu seine Zuflucht zu nehmen, hätte er niemals gewagt. Paulinens Fenster war ohne Vorhänge.

Indessen taten die Steinchen, so gut er auch die Scheiben damit traf, keine Wirkung, und entmutigende Zweifel beschlichen seine Seele. Ein beängstigendes Gefühl überkam ihn. Schon wurden einzelne Nachbarn wach und streckten gähnend die Zipfelmützen und die Köpfe aus den Fenstern, um nach dem Wetter zu sehen. Bastian bemerkte, wie erstaunt sie seinem Beginnen zusahen. Was werden die denken, fragte der Aengstliche sich. Bereits kamen einzelne Frühaufsteher des Weges und fragten ihn, was er wolle, und verschüchterten ihn vollends. Es fehlte nur, daß ein Zufall den Markus herbeigeführt hätte.

Bastian konnte Paulinens Schwerhörigkeit gar nicht begreifen. Doch wollte er nichts unversucht lassen. Er warf größere Steine gegen den zurückgeschlagenen Laden und machte damit ein ordentliches Gepolter, vor dem er jedesmal selber erschrak; denn er lief Gefahr, den Bruder Johann aufzuwecken, der kein Feiner war, besonders wenn ihm etwas so gegen den Strich ging wie diese Wallfahrt, die er zudem nur als einen heuchlerischen Vorwand betrachtete.

Bastian kam in immer größere Aufregung. Er ward von Wurf zu Wurf zaghafter und mutloser.

Noch einmal raffte er sich zusammen. Er warf eine umfangreiche Erdscholle, die er in Grünlings Hof entdeckte, an den Laden und verursachte damit nach seiner Meinung ein ungeheures Geprassel. Wieder ergab sich kein Erfolg.

Da wurde Bastian hoffnungslos. Und wie ein Dieb in der Nacht, schlich er sich hinweg. Er glaubte, daß ihn Pauline zum Narren gehalten habe.

Die Seele voll Traurigkeit und Scham beschloß er, seine Wallfahrt allein anzutreten. Er machte sich also auf den Weg.

Ungefähr eine Stunde Weges hatte er zurückgelegt, erst die freie Schillingshäuser Höhe hinauf, dann durch den Wald, und noch war kein einziger heller Lichtstrahl in die öde Nacht seiner Seele gefallen. Da, in einer Lichtung, setzte er sich plötzlich auf einen Markstein, stützte den Kopf in beide Hände – und weinte bitterlich. Nicht das Bild der Himmelskönigin Maria stand in seiner Seele, sondern das der Pauline Grünling; er war wie ein Verzweifelter, ein seltsamer Wallfahrer, der immer nur an das wonnige Glück denken mußte, Pauline jetzt an seiner Seite zu haben, hier und durch all die grünen Waldeinsamkeiten. Und er konnte sich nicht länger leugnen, daß seine Wallfahrt heute ganz unmöglich sei. So trat er kurz entschlossen den Rückweg an.

Nun erst hegte er zum erstenmal den Gedanken, daß vielleicht alles seine eigene Schuld sei, daß Pauline eben sehr fest geschlafen habe, und daß sie ihm wohl gar zürne, die Abmachung so schlecht eingehalten zu haben. Damit aber überkam ihn ein neues Schmerzgefühl, vermischt mit Zorn und Wut gegen sich selbst.

Wenn er erst den Sachverhalt wirklich gekannt hätte: wie enttäuscht Pauline war, daß sie nicht geweckt worden, wie verstimmt und unwillig und wie voll Aerger über den schüchternen dummen Kapuziner.

Der Bastian verfolgte unterdessen nicht mehr den Pfad, auf dem er gekommen. Er schlug einen ganz andern Weg ein. Fast schien es, als ob er sich verirrt habe.

Sein »Weg« war eigentlich sehr unwegsam, er ging durch wildes Gebüsch und Gedörn und schien eine Ewigkeit lang zu keinem Ausweg zu führen. Schon seit drei Stunden schlug sich Bastian durch das Gestrüpp – anfangs ungewiß und zögernd, dann immer eiliger, immer hastiger.

Der kühle Morgen war zum heißen Tag geworden, dem armen Bastian standen die perlenden Schweißtropfen auf der Stirn. Eine zeitlang irrte er wie durch eine Blumenwildnis. Rote und weiße Blütendolden hingen ihm hoch über den Kopf. Große bunte Falter taumelten wie trunken vor seinen Augen. Hunderte von Käfern und Fliegen schossen in jähem Schreck dem Durchdringling ins Gesicht, und dicke schwarze Waldhummeln umtosten ihn wie Posaunen des Gerichts. Endlich atmete Bastian auf.

Er trat aus dem Dickicht in einen lichteren Birkenschlag von hainartigem Charakter. Hier wuchsen reifende Erdbeeren auf dem weichen Moosboden und mischten ihre Gerüche mit dem süßen Duft des Birkensaftes. Vereinzelte wilde Rosendörner versperrten noch hie und da den Weg. Ihre zarten feenhaften Blüten zwischen den weißen Birkenstämmen erinnerten an den Anflug leisen Errötens in bleichen Jungfrauengesichtern.

Von hier sah Bastian bald hinaus ins Freie. Nicht in weites offenes Feld, nur in eine Ausrodung, die tief in den Wald einschnitt. Zunächst des Birkenschlages lagen blumige Wiesen, etwas ferner schimmerten gilbende Kornäcker. Dazwischen streckte sich ein großes langgezogenes Hanfstück.

Bastian befand sich im Roteck. Er gedachte Pauline hier zu überraschen.

Noch war sie nicht an Ort und Stelle; aber Bastian zweifelte nicht, daß sie bald kommen werde, die gestrigen Aeußerungen des Bruder Johann ließen ihm keinen Zweifel.

Der ungetreue Wallfahrer, heut nur noch ein vagabundierender Waldfahrer, wollte zuerst sehen, ehe er selbst gesehen würde. Er suchte sich zu diesem Zweck einen günstigen Platz aus.

VII.

Wo das Grünlingsche Hanfstück an die Ecke des Birkenwäldchens stieß, erhob sich eine hohe Rosenhecke; hinter ihr legte sich Bastian auf die Lauer. Es war eine merkwürdige und besonders für Bastian bedeutungsvolle Stelle. Wie am Hagelbrunnen, im Brunntal, so hatte er auch hier viele gemeinsame Stunden der Kinderzeit mit Pauline verlebt und verspielt. Er konnte noch kaum gehen, war er schon mit Grünlings ins Roteck gefahren.

Während dann die Erwachsenen draußen auf dem Acker arbeiteten, Getreide schnitten oder Kartoffeln heraushackten, Klee mähten oder Flachs rupften, kauerten sie, die Kinder, miteinander bei der »Wolfsgrube«, bauten aus umherliegenden Moossteinen Schlösser, oder pflückten Blumen und sammelten Waldschneckenhäuschen, – oder saßen reglos, still zusammengeduckt, und erzählten sich die Geschichte vom Rotkäppchen und andere.

Später, als Bastian bereits in den mittleren Kinderjahren stand, erhängte sich hier der lustige Geiger-Mathesle von Altheim und gab damit der »Wolfsgrube« für das kindliche Gefühl auf lange Zeit hinaus etwas Grausenhaftes. So wob sich an dieser Stelle, in der Erinnerung Bastians, anmutig Liebliches und Unheimliches ineinander. Es war ein Winkelchen der Welt, von dem man sagen konnte, daß Bastians Seele darin Wurzel geschlagen hatte.

»Wolfsgrube« hieß der Ort, und wirklich waren noch kufenartige Mauerreste erkenntlich. Sie mußten alt sein; denn die Wölfe waren längst aus diesen Gegenden verschwunden.

Bastian hing allerlei Gedanken nach. Auf einmal horchte er auf, man nahete.

Pauline war's. Aber nicht allein. Markus war mit ihr – –

Einen Augenblick dachte Bastian seinem Gegner den Spaß zu verderben; er wollte hervortreten und die beiden überraschen. Aber er fand den Mut nicht dazu, er blieb in seinem Versteck.

Die andern machten sich an die Arbeit. Pauline sah erst ziemlich ungnädig aus, sie schien nur halb hinzuhören, wenn Markus auf sie einredete.

Dann änderte sich ihr Betragen plötzlich und schlug in größte Liebenswürdigkeit um. Sie wurde nun ebenfalls gesprächig und scherzte und lachte. Von ihren Worten konnte Bastian nichts verstehen, aber es war ihm manchmal, als ob sie zusammen seinen Namen aussprächen und sich über ihn lustig machten.

Einigemal mahnte ihn eine innerliche Stimme, daß es stolz und männlich von ihm wäre, wenn er jetzt seiner Wege ginge. Aber er blieb.

Und er beobachtete, daß Markus seine bloß aufheiternde Rolle bereits verließ und eine andere zu spielen anfing. Zuerst waren beide, Pauline und Markus, bei der Arbeit in einem gewissen Abstand von einander geblieben; nach und nach kam Markus ihr immer näher, und nun hantierten sie so hart neben einander, daß sie sich fast bei jeder Bewegung berühren mußten.

Wenn sie sich in ihrem Tun bückten, verlor Bastian die Arbeitenden jedesmal aus den Augen; der Hanf war hoch und sie befanden sich mitten in dem Ackerstück.

Ihre Beschäftigung bestand aber darin, einzelne schon abgestandene und gelb gewordene Hanfstengel auszureißen und in Bündel zu binden. Es war das der verschriene Sünderhanf, wie die Witschter ihn heißen, nämlich die männliche Pflanze, die sonst, mit einem sonderbaren sprachlichen Mißverständnis, Femmel genannt wird, während die weibliche Pflanze Maskel heißt. Dieser Sünderhanf hatte seinen natürlichen Zweck, den weiblichen Hanf zu bestäuben und zu befruchten, bereits erfüllt; sein Dasein hatte also keinen Sinn mehr. Darum ließ die Natur ihn absterben und verderben, und wenn der Mensch ihn davor bewahren und zu seinen menschlichen Zwecken nützen wollte, mußte er ihn sammeln und einheimsen, zu einer Zeit, wo die weibliche Pflanze, um ihre Frucht auszureifen, noch lange in Saft und Fülle stand.

Als Pauline sich einmal wieder von ihrer gebückten Stellung aufrichtete, waren ihre zuvor aufgesteckten Zöpfe heruntergefallen und ihr Gesicht glühte. Zugleich erhob sie einen Büschel Hanf wie zum Schlag in die Höhe und drohte damit dem Markus, doch mehr lustig als im Ernst. Dieser ließ sich auch gar nicht bange machen, er schlang vielmehr den Arm um ihren Nacken, um sie zu küssen. Pauline entwand sich jedoch und lief von ihm weg.

»Sei g'scheit,« rief Markus ihr nach, »wohin willst?«

Sie gab ihm keine Antwort. Bis an den Anfang des Ackers lief sie und kam dann mit einem Bündel zurück, mit dem sie, an Markus vorüber, auf den Waldsaum zuschritt.

»'s wird Essenszeit sein,« sagte sie heiter; »wenn du artig sein willst, darfst du kommen.«

Er versprach es, und sie lagerten sich miteinander am Waldsaum, hart vor der Rosenhecke, kaum drei Schritte von dem spionierenden Bastian entfernt.

So nahe bei ihm lagen sie, daß sie fast seinen Atem hören mußten. Aber er unterdrückte ihn.

Hie und da entstand um ihn her durch ein fürwitziges Mäuschen oder eine verwunderte Eidechse, ein raschelndes Geräusch; er selber blieb reglos, fast atemlos, wie die heiße, glühende Mittagsluft, die draußen über der blumigen Wiese und dem verlassenen Hanfstück zitterte, schwanger von süßen aufregenden Düften.

In diesem Meer von süßem Duft, aus tausend würzigen Gerüchen gemischt, wiegten sich, wie von der Wiese aufgeflatterte Blumen, hunderte von bunten Faltern, sich fliehend und haschend, in neckischem Liebesspiel.

Und ein ähnliches Spiel begannen Pauline und Markus.

Zu ihrem Haupte aber, wo die wilden Rosen auf sie niederhingen, und um sie her, im schwellenden blühenden Thymian, führten ihnen tausende von smaragdenen Käfern und goldblitzenden Fliegen ein Konzert auf, eine summende, süße Musik, leise, unbestimmte Töne, die mit den Wohlgerüchen der Luft zu einer einzigen Empfindung zusammenschmolzen.

*

Am Morgen hatte der Bastian seinen Weg und sein Ziel gewußt, jetzt aber am Nachmittag, als er sich, gleich einem aufgescheuchten Wild, von neuem durch den Wald schlug, schien er wie in der Irre zu wandeln, wie einer, der nicht weiß wo aus und ein. Stundenlang kämpfte er wieder gegen Dornicht und Gestrüpp.

Aber er fand den Weg nicht, der aus dem Wald über die Rotecker Höhe nach Witscht hinunterführte. Er kam vielmehr weit rechts ab und gelangte auf den Moorgrund des Linsenbruchs hinaus.

Einem Menschen, der um drei Uhr morgens aufgestanden und um die vierte Stunde des Nachmittags noch nüchtern war, mochte es allmählich vor den Augen flimmern, er schien nicht mehr recht zu wissen, wo er war, nicht mehr recht zu sehen, wo er ging. Er betrat jetzt das Moor, dessen Gefährlichkeit er doch kennen mußte.

Und er schien erst gar nicht zu merken, daß er bis über die Knöchel einsank. Er wurde seine Dummheit erst gewahr, als er nicht mehr von der Stelle kam. Nun wollte er sich herausarbeiten, aber es war zu spät, all sein Bemühen hatte nur die Folge, daß er immer tiefer in den schwarzen Morast eintauchte. Es war fast, wie wenn unsichtbare unheimliche Geisterhände ihn gewaltsam in die Tiefe zögen.

Gegen Abend fanden ihn zwei Männer in einem jämmerlichen Zustand. Sie zogen ihn heraus und brachten ihn nach Hause, wo er im höchsten Fieber zu Bett gebracht wurde.

Schon in der Nacht begann Bastian zu phantasieren und man schickte nach dem Arzt. Er konstatierte eine Gehirnentzündung. Wochenlang lag der arme Schuster auf den Tod darnieder.

Doch nahm die Krankheit keinen tötlichen Ausgang. Mit dem Leben kam Bastian davon – doch nicht mit dem Verstand.

Er war das geworden, als was die Einleitung zu dieser Erzählung ihn geschildert hat, der Simulorum.

Einen Vorteil hatte dieser Zustand. Von seiner Liebe zur Kunst, der Kunst des Martin Seitz, konnte den Bastian jetzt keine Rücksicht auf die Welt mehr abhalten.

Pauline und Markus aber haben sich noch während Bastians Krankheit geheiratet und ihre Ehe ist mit vielen gesunden Kindern gesegnet worden.

Dem Markus machte der Bastian zeit seines Lebens ein finsteres Gesicht. In seiner Nähe wurde er stumm. Aber der Pauline bewahrte er die alte Freundschaft.

Er ging allmählich wieder, wie früher, täglich zu ihr hinüber. Er wiegte ihre Kinder und er schnitzelte ihnen, jedem einzeln, ein Muttergottesbild mit dem Jesuskinde, und war nur unglücklich, daß der Mann mit dem Simulor nicht kommen wollte. Da hätte er den Kindern der alten Freundin erst eine Freude gemacht, mit Kunstwerken von Simulor, mit Bildern, glänzend wie Gold, tönend wie Engelsharfen.


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