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Der Letzte von Wenkheim

I.

Es ist ein Land, das, wie man zu sagen pflegt, ein wenig außer der Welt liegt; da ich aber in ihm geboren bin, mocht ich es gern wieder einmal besuchen.

Und also kam ich eines schönen Tages auch in meinen Geburtsort Stein-am-Ahorn. Im siebenten Lebensjahre hatte ich das Dorf verlassen und es seit bald dreißig Jahren nicht wieder betreten.

Die alte Kinderheimat schien mir sehr verändert, schien mir verärmlicht und verfallen, wie ein in Not gealtertes Menschengesicht. Auch die Kirche sah sehr grämlich und verwittert drein.

Mit schmerzlicher Wehmut stieg ich langsam, vom Dorfe her, die hohe Kirchenstaffel empor, wo keiner der alten Steine mehr in gleicher Richtung mit dem andern lag und das Gras zwischen den Spalten wuchs – als ob seit Jahrhunderten niemand mehr da hinauf stiege.

Oben, im Kirchhof, der Kirchentüre schräg gegenüber, setzte ich mich auf den Mauerkranz, dicht unter der Krone der alten Linde, die von der Dorfgasse, vom Fußende der Kirchenstaffel heraufwuchs.

Ich horchte. Die unendliche Lindenkrone über mir stand in voller Blüte; Millionen Bienen durchschwirrten sie nach süßem Honig, daß es wie eine traumhaft summende geheimnisvolle Musik davon ausging. Und mein Ohr lauschte und trank sie mit seligem Behagen in sich ein, die honigsüße Musik, wie mein anderer Sinn den honigsüßen Duft, der mich umwogte. Es war mir, als schlürfe ich die zurückgebliebenen Tropfen von dem Zauber meiner ersten Jugend.

So hatte ich, vor dreißig Jahren, auch wie oft gesessen, spielend oder lesend.

Und jetzt fiel mir ein Kind ins Auge, ein Knabe von sieben oder acht Jahren. Denn meinem Sitz gegenüber, nur durch den Raum der Dorfgasse von mir getrennt, lag ein Haus, und hier am offenen Fenster saß der Knabe und schrieb seine Schulaufgaben. Dieser Anblick erinnerte mich plötzlich an das aufregendste Erlebnis meiner Kinderzeit.

*

An demselben Tische drüben war vor dreißig Jahren der Ratschreiber Mühlberger gesessen, über Grundbucheinträgen oder so etwas. Er hätte eigentlich in jener Stunde, wie andere Christenleute, der Predigt anwohnen müssen.

»Aber ist einer nur ein Dorfschreiber, gehört er schon zu den Gelehrten und braucht keine Predigt mehr,« pflegte mein Vater zu sagen.

Es mochte um die Pfingstzeit herum sein. Mein Vater predigte über das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs, er wiederholte gerade zum drittenmal den Satz: »Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.«

Und ich weiß, merkwürdigerweise, noch ganz genau, was ich mir dabei gedacht habe, wahrscheinlich gerade wegen des folgenden Schreckens, der auch den geringsten Umstand meinem Gedächtnis hell und bleibend eingeprägt hat. Ich meinte nämlich in meinen Gedanken, daß tönendes Erz, worunter ich mir etwas wie rotes Gold vorstellte, und klingende Schellen, die ich sehr lustig fand, keineswegs so zu verachtende Dinge wären, als wie der Apostel sie hinstellte.

Mein Vater dagegen hatte offenbar keinerlei Einwände wider die Vergleiche und Bilder seines Lieblingsschriftstellers. Mit dem herrlichsten Pathos klang es aus seinem Predigermunde: »Und wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht ...« Da schnitt ihm ein mächtiger Schall die Stimme vom Munde ab.

Ein Schuß war gefallen. Und der Knall hatte durch die halbgeöffnete Seitentüre so gewaltig in die Kirche hineingehallt, daß sich die ganze Gemeinde erschrocken umsah.

Mein Vater aber war erbleicht. Er hatte von seiner Kanzel aus den Baron Ulrich über die Kirchhofsmauer steigen sehen, das Gewehr auf der Schulter. Und dieser Ulrich hatte wiederholt geäußert: dem lutherischen Steiner Pfäfflein wolle er einmal zur passenden Gelegenheit das Maul stopfen.

»Mord, Mord,« schrie mein Vater, und alles stürzte auf seinen Wink aus der Kirche.

Draußen an der Kirchenmauer stand Ulrich von Wenkheim. Er hielt sein Gewehr in der Hand, er knackte noch ein paarmal wie versuchsweise mit dem Hahn; dann hing er es sich ruhig über die Schulter.

Die Bauern starrten ihn entsetzt an.

Er sagte lachend:

»Euer Schreiberlein liegt drüben in seinem schwarzen Blut, wenn ihr ihn abwaschen wollt.«

Und »Ei, du lieber Augustin« pfeifend, mit schweren Tritten, schritt er die Kirchenstaffel hinunter, niemand wagte ihn zu ergreifen.

Aber man stürmte hinüber in die Wohnung des Schreibers.

Dieser lag wahrhaftig in seinem »schwarzen Blute«, das Gesicht über und über besudelt – mit Tinte nämlich.

Der Baron hatte nicht den Ratschreiber, sondern wie es seine Absicht war, sein Tintenfaß getroffen.

Mühlberger erholte sich gerade von seiner Schreckensbetäubung, er bot mit seinem schwarz gesprenkelten Gesicht einen mehr komischen als tragischen Anblick dar.

Nur ein Glassplitter aus seinem Tintenfaß hatte ihm am linken Auge eine kleine Wunde gerissen, aus der ein paar Tropfen Blut hervorrieselten und sich mit der schwarzen Tinte vermischten.

*

Als ich gegen Abend, auf wegkürzendem Fußpfad, über die »Wenkheimer Höhe« durch ein niedriges Gehölz wanderte, dachte ich wieder lebhaft an den Holofernes meiner Kindheit, an den Baron Ulrich von Wenkheim. Denn gerade in Wenkheim wollte ich nächtigen und mehrere Tage verweilen; man hatte mir das Gasthaus »zum Lamm« daselbst als das beste der Umgegend empfohlen. Unterdessen besann ich mich wieder darauf, daß ich den Vorfall mit dem Baron Ulrich doch nicht lediglich von dem eigenen Erlebnis her zurückbehalten hatte. Vielmehr hatte ich einmal, als ich schon kein Kind mehr war, meinem Vater zugehört, der das Ereignis einem Amtsbruder erzählte.

Er schilderte den Baron als einen wüsten Schürzenjäger, vor dem auch die letzte Kuhmagd nicht sicher war, und der, wenn es sein mußte, seine Absichten mit den gewalttätigsten und brutalsten Mitteln verfolgte. Seine Opfer zählten nach Dutzenden, und mehr als einmal trugen seine Handlungen den Charakter von Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches, ohne daß ein Hahn darnach gekräht hätte. Der Fall mit dem Ratschreiber Mühlberger führte auch auf eine Mädchengeschichte zurück. Der Ratschreiber war dem Baron bei einer Verwandten hindernd in den Weg getreten, und Ulrich hatte geschworen, ihm gelegentlich einen Possen zu spielen, der ihm gedenken solle.

Und bei seinem Freund und Jagdkameraden, dem Ochsenwirt von Grünsfeld, hatte Ulrich gewettet: er wolle dem muckerischen Ratschreiber von Stein-am-Ahorn das Tintenfaß unter der Nase wegschießen.

*

Indem ich mich so auf die Erzählung meines Vaters immer deutlicher besann, merkte ich auf einmal, daß ich vom rechten Pfad abgekommen sei. Ich mochte nicht wieder zurückgehen, ich zog es vor, mich ostwärts, wo ich gegen Wenkheim hinauskommen mußte, mitten durchs Gebüsch zu schlagen. Dabei geschah es nun, daß ein wilder Rosenzweig – vielleicht weil ich ihn unter allen deutschen Sträuchern so sehr liebe – sich mit seinem scharfen hackigen Dorn in dem leichten Gewebe meines Sommerrockes verfing und ein schönes regelmäßiges Dreieck herausriß, das mir jetzt wie ein Orden, aber nicht auf der Brust, sondern auf dem Rücken herunterhing.

Als ich aus dem Dickicht heraustrat, sah ich auch schon Wenkheim unter mir liegen, wunderfriedlich hineingeschmiegt in den reizendsten Talwinkel, in einen Wald von Obstbäumen, vom ersten leisen Abenddämmern umwoben, in dem sich zahlreiche blaue Rauchsäulen auflösten. Zwei Dinge erweckten meine Aufmerksamkeit: das breite weitspurige Schloß, fast in der Mitte des Dorfes gelegen, mit großem Garten, weit in die Wiesen hinaus ausgedehnt, vernachlässigt und verwildert; – und die Kirche, außerhalb des Dorfes auf einem Hügel aufragend, mit höchst seltsamem Turm, der mich merkwürdigerweise noch einmal an meine Steiner Kinderzeit erinnerte, an den alten Schulmeister Birkhöfer, bei dem ich die Anfangsgründe der Literatur und Arithmetik studierte und der, wenn einer mit dem Einmaleins nicht auf dem vertrautesten Fuße stand, immer zu sagen pflegte: »Gelt Bübchen, bei dir sind auch fünfe grad, wie zu Wenkheim.«

Das dunkel-geheimnisvolle Wort bezog sich auf den Wenkheimer Kirchturm, der fünf gerade Spitzen hatte und noch hat.

Unten in Wenkheim fragte ich den ersten besten, ob ein Schneider im Dorfe sei, der mir meinen Rock flicken könnte.

»Sell will i meine,« sagte mein Mann, »da brauche Se nur ins Schloß zu gehe, der Baron der kann's, d. h. wenn er nicht grad zu viel im obern Stock hat, was mer freilich nit allzehäufig bei em antrifft.«

Ob denn ihr Baron ein Schneider sei?

»Oder unser Schneider ä Baron, Sie könne's nehme, wie Sie's wolle, Herr; denn Sie müsse wisse, mir Wenkheimer lasse fünft grad sein, uns is des all gleich.«

Die Narren und die Sprichwörter sterben also nicht aus in dieser Welt, dachte ich und ging meiner Wege.

Ich mochte keinen Zweiten mehr fragen. Erst im »Lamm«, nachdem ich mir Zimmer und Abendessen bestellt, wagte ich es, mein Anliegen von neuem vorzubringen. Noch ehe der Lammwirt antworten konnte, tat es ein anwesender Gast für ihn.

Da müsse man eben ins Schloß schicken, zum Baron; der sei jawohl ein großer Lump, aber auch ein geschickter Schneider und könne alles machen, wenn er wolle, und, nota bene, wenn er keinen Schnapsrausch habe.

Diesmal kam ich nicht zum Fragen. Man bemerkte mein Erstaunen und man suchte mich aufzuklären.

Und es war eine ganze Geschichte, die ich bei dieser Gelegenheit erfuhr. Denn ich verweilte wochenlang in Wenkheim und wurde in alle Verhältnisse gründlich eingeweiht.

II.

Als der Baron Ulrich sich bereits den Fünfzig zu nähern begann, indessen er immer noch sein früheres Leben fortsetzte, stach ihm eines Tags die Schönheit einer jungen Menschenblüte in die Augen und wurde ihm verhängnisvoll.

Eine Viertelstunde von Wenkheim, in demselben Tälchen, in dessen nächster Krümmung, liegt das Dorf Godramshausen. Hier wohnte, ganz außen beim Bach, in einem kleinen Häuschen, wozu ein ebenso kleines Gärtchen gehörte, eine arme Witwe Namens Elisabeth Ulmensteiner, die man kurz die Bachliese nannte.

Sie war Hebamme für Godramshausen und Wenkheim. Und sie verdiente in diesem Beruf der Hauptsache nach ihr Stückchen Brot, das zu den Lebzeiten des Herrn Ulmensteiner, des Dorfschneiders, auch nicht viel größer gewesen war. Sie besaß ein einziges Kind, ein Mädchen, wie die Mutter in der Taufe Elisabeth geheißen. Aber man nannte sie nicht Liese. Der Vater, ein gewanderter und, wie einem Schneider ziemt, für das Vornehme eingenommener Mann, konnte diese Abkürzung nicht leiden; er rief seine Tochter Elsa. Ueber diesen nie gehörten Namen machten sich die Bauern nach ihrer Art lustig. So ein fremdes Ding reizte sie. Und sie übten so lange ihren Witz daran und zwackten und kneteten an ihm herum, bis aus Elsa eine Elze und dann gar eine Stelze entstand, worauf die Bachstelze zu nahe lag, als daß man nicht mit vollen Händen danach gegriffen hätte.

Und der Name ging dem hübschen Kinde nicht übel. Als das Mädchen noch klein war, liebte es beim Gehen einen gewissen hüpfenden Wechselschritt, wobei nacheinander immer wieder der gleiche Fuß vorgesetzt wird. Sie brachte es darin zu großer Gewandtheit und Zierlichkeit, daß ein feiner Beobachter mit vergleichendem Natursinn gewettet hätte, es sei diese Bewegungsart, der sie ihren Namen verdanke. Auch wäre darin vielleicht nur ein halber Irrtum gelegen. Denn es ist wohl möglich, daß das Charakteristische dieser auf- und abwippenden Bewegung den Spitznamen des Mädchens erst befestigt hat. Die intelligenteren Bauern haben recht wohl Auge und Auffassungsfähigkeit für derartige Naturspiele; Tausende ihrer Spottnamen beweisen dies.

Im Jahre nach ihrem ersten Abendmahl kam die Bachstelze von Hause weg.

Sie sollte, trotzdem sie kein Knabe geworden war, das Geschäft ihres Vaters fortsetzen, in weiblicher Anwendung. Die Mutter brachte sie deshalb in die Kreisstadt zu ihrer Schwester Karline, die ebenfalls an einen Schneider verheiratet war und selber eine Damenschneiderei und Putzmacherei betrieb.

Später sollte dann die Bachstelze noch eine bedeutendere Lehre durchmachen. Die Mutter zweifelte nicht, daß es ihr gelingen werde, auch ihren eigenen Beruf auf die Tochter zu übertragen. Mit der feinen Handarbeit einer Kleidermacherin vertrug sich dieser am besten. Die Bachstelze hatte dann nicht nur ihr Brot, sie hatte es sogar reichlich und brauchte die reichste Bäuerin nicht zu beneiden.

Schon mit ihr, der Bachliese, hatten die Bäuerinnen allen Grund zufrieden zu sein. Und sie verweigerten ihr dies Zeugnis nicht. Sie wußten es: in wenigen Dörfern der Umgegend wurden die kleinen Menschenkinder, wenn sie aus der Finsternis ans Licht traten, mit so verständiger Sorgfalt empfangen als wie zu Godramshausen und Wenkheim.

Zwei Jahre hatte die Tochter der Bachliese bei Tante Karline zugebracht.

Und in den zwei Jahren war die blonde Else zu einem schlanken Jungfräulein von solch überraschender Jugendzartheit und lichter Schönheit erblüht, daß man vielleicht in dieser Bauernwelt von Godramshausen und Wenkheim etwas Aehnliches niemals gesehen hatte, und daß jeder betroffen stehen blieb, wo sie vorüberging, und ihr nachschaute, nicht wie einer Bachstelze, deren man täglich einige an der Dorfbrücke auf und ab stolzieren sehen konnte, sondern wie einem Vogel aus einem fremden Lande, aus einer andern Welt.

Denn Schönheit wirkt, wo sie auftritt, als Wunder.

Es gibt aber auch genug solche, denen die Schönheit nur ein Fressen ist, wie die Blumen der Wiese dem werdenden Ochsen. Und »Donnerwetter, das wäre ein Fressen,« dachte just der Baron Ulrich von Wenkheim, als er der blonden Elsa zum erstenmal begegnete.

III.

Es war eines Abends bei herbstlicher Frühdämmerung. Der Baron kehrte aus dem Godramshauser Gehölz zurück, das unvermeidliche Gewehr auf dem Rücken. Sein Pfad führte ihn quer durch das Wiesental, über einen Steg hart hinter dem Häuschen der Bachliese.

Der Steg bestand nur aus zwei aneinandergelegten Balken und einem einseitig angebrachten Holzgeländer.

Etwas mißtrauisch balancierte der Baron seinen schweren Körper über die angefaulten Stämme. Er mußte sich dabei stark bücken. Ein alter Holunderbaum hing über das Geländer, von dessen abgefallenen und zertretenen Beeren der Steg schwarz gefärbt erschien, wie von verschütteter Tinte. Er versperrte dem Baron, dem Uebergroßen, mit einem niederhängenden Ast den Weg. Und Ulrich wollte gerade über den plebeisch niedrigen Baum einen junkerlichen Fluch ausstoßen ...

Da trat Elsa aus der Türe. Sie trug ein Messer in der Hand, sie wollte in ihrem Gärtlein für die geschmälzte Abendsuppe ein wenig Schnittlauch abschneiden.

Der Baron hielt erstaunt inne.

»Donnerwetter,« rief er aus, »bist du die kleine Bachstelze?«

»Es scheint, daß ich sie immer noch sein muß,« lautete ihre Antwort.

Durch ein paar harmlose Fragen erfuhr Ulrich, daß die Elsa allein zu Hause sei.

Mehr wünschte er nicht.

Ulrich von Wenkheim war nichts weniger als ein heller Kopf. Aber den Weibern gegenüber fehlte es ihm fast nie an einem geschickten Vorwand. So zögerte er auch diesmal nur wenige Augenblicke; dann erklärte er plötzlich, die Bachstelze käme ihm gerade recht, er habe einen Dorn in den Finger bekommen, den ihre leichte Hand gewiß am besten herausgraben könne, wenn sie so gut sein wollte.

Freilich wollte das die Bachstelze.

Sie lief auch schon in die Stube nach einer Nadel. Und der Baron drückte sich an der Gartenhecke schnell eine Dornspitze in den linken Daumen.

Dann folgte er ihr ins Haus.

Drinnen war es schon dunkel.

Während Elsa die alte Oellampe anzündete, setzte sich der Baron, das Gewehr zwischen den Beinen, auf einen der wackeligen Holzstühle und sah dem Mädchen zu. Dabei durchfluteten ihn verwandte Empfindungen, wie einen alten Kater, der einem unerfahrenen jungen Mäuschen zuschaut, das harmlos aus seinem Loch hervorspaziert, um an jungen Grasspitzen zu naschen und sich das Fell an der Sonne zu wärmen; oder einen Fuchs, der an der Lücke eines Hofzaunes liegt, hinter dem ein blauweißes, rotäugiges Täubchen, Sandkörner aufpickend, immer näher herantrippelt.

Jenes Mäuschen hat noch nie Erfahrungen mit einem Kater gemacht, die hübsche Taube ahnt nicht, daß es Füchse auf der Welt gibt.

Der Baron Ulrich aber wunderte sich, daß er nicht aufsprang, um das »dumme Ding« an dem »unnötigen Lichtmachen« zu verhindern.

Als Elsa sich dem Baron näherte, um ihr Liebeswerk zu beginnen, stutzte sie einen Moment.

Ulrich verstand sie nicht.

Elsa deutete auf sein Gewehr. Das würde doch nicht geladen sein?

Da mußte der Baron lachen.

»Schaut mir die Bachstelze an,« rief er; »also vor einer Flinte fürchtet sich das.«

Und er legte die Mordwaffe beiseite.

Bei ihrem Geschäft mußte sich Elsa, um genau zu sehen, tief auf die Hand Ulrichs niederbücken. Der aber trank mit gieriger Lust ihren reinen süßen Atem und berauschte sich daran, und ihre flüchtigen Berührungen empfand er wie den Vorgenuß dessen, was er erhoffte.

Es kostete ihn große Ueberwindung, sich einstweilen damit zu begnügen. Denn im Grunde besaß Ulrich doch gar nichts von einer Katze, die sich das raffinierteste Vergnügen daraus macht, mit ihrem Opfer so lange als möglich zu spielen, die hundertmal auch um einen nicht ganz heißen Brei herumgeht, die auch beim liebsten Fressen sich erst ein halbes Dutzend mal in aller Behaglichkeit das Mäulchen leckt mit ihrer dünnen feinen Zunge, ehe sie anbeißt. Ulrich von Wenkheim war eher eine Wolfsnatur. Das rauhe, unvermittelte, das ganz brutale Zutappen stand ihm an.

Aber in der blonden Elsa ahnte er etwas, das ihn zurückhielt.

Nach glücklicher Beendigung der Operation jedoch, als die Bachstelze, mit kindlicher Freude, den »Pfahl im Fleisch« auf ihrer Nadelspitze gegen das Licht hielt, da mußte der Baron natürlich der »wohltätigen Hand« danken. Und wie mit plötzlichem und überschwenglichem Gefühl ergriff er die zarte bleiche Hand und führte sie an seinen Mund, und heftig zog er ihn an sich, den schlanken jungfräulichen Körper.

Aber Elsa riß sich los, mit einer stummen, erschrockenen Frage im Blick.

Da eben trat die Mutter in die Stube. Sie schien nicht freudig überrascht.

Der Baron erklärte kurz seine Gegenwart und verabschiedete sich mit liebenswürdiger Höflichkeit.

Zum erstenmal konnte die Bachstelze ihre Mutter nicht verstehen.

Sie vermochte in dem Besuch des Barons kein so großes Unglück zu sehen.

Dennoch wollte sie natürlich gern alles tun, damit ein derartiges Zusammentreffen sich nicht wiederhole. Und die beiden Frauen besprachen miteinander die nötigen Vorsichtsmaßregeln. Es war wie in der alten Fabel von der Ziege, dem Zicklein und dem Wolfe, und das Zicklein versprach weise zu sein und alle Vorschriften der Mutter getreulich zu befolgen.

»Donnerwetter, das wäre ein Fressen,« wiederholte beim Weggehen noch einmal der Baron Ulrich von Wenkheim. Dennoch konnte er sich, wenn er an die schöne Elsa dachte, eines gewissen dummen Gefühls nicht erwehren – eines durchaus nicht freiherrlichen Gefühls, das gewissen wohlbekannten Empfindungen verflucht ähnlich sah: z. B. denjenigen eines Arbeiters, der plötzlich einen feinen Frack anziehen und tragen soll, oder eines verhockten armen Teufels, der zum erstenmal in die vornehme Gesellschaft eingeladen wird, oder eines Bauern, der an der fürstlichen Tafel speisen darf. Denn der arme Freiherr von Wenkheim hatte tatsächlich nie an fürstlicher Tafel gespeist, trotz aller seiner Freiherrlichkeit – nicht einmal in der Blüte seiner Jugend, in der Residenz, als Leutnant beim Leibgrenadierregiment. Er hatte dort manchmal teuer bezahlt, und was ihm dann serviert worden, hatte eines gewissen Aufputzes nicht entbehrt. Er hat sich dennoch den Magen daran verdorben, der arme Freiherr!

Und nun spionierte er täglich – und nächtlich um das Nest, um das Bachstelzennest, besonders wenn er die Alte ausgeflogen wußte. Doch um etwas auszurichten, hätte er mit Hammer und Brecheisen erscheinen müssen. Denn die Bachstelze spielte meisterhaft ihre Rolle als das Zicklein in der Fabel. Das süße Ding öffnete die Türe nicht, es schaute nur durch den Spalt des Ladens und wisperte: Habt Ihr weiße Pfoten? ... Montrez-moi patte blanche, ou je n'ouvrirai point – genau so wie es heißt im Buche der Fabeln.

Aber weiße Pfoten, sagt der Fabulist, sind bei Wölfen ein selten Ding. Und der Wolf von Wenkheim konnte auch kein Mehl mitnehmen, um seine roten Pfoten hineinzutauchen, er besaß keines in seinem ganzen Vermögen; er besaß in all seinem geistigen Wesen nichts Weißes, Weiches, Feines, was das Zicklein hätte verführen können.

Helfershelfer nützten ihm auch zu nichts. Eine gewisse Barbara Kleinschmidt, eine Art Zugängerin im Schloß, die Vertraute des Barons, mußte der Bachliese den Vorschlag machen, ihre Tochter aufs Schloß zu geben, als Gehilfin der Schloßschaffnerin, des Fräulein Regine, wie man sie nannte.

Der Antrag wurde kurzerhand abgewiesen.

IV.

So verging etwa ein halbes Jahr vergebens für den Baron Ulrich, der aber, indem er sich einstweilen mit geringerer Kost begnügte, mit sehr viel geringerer, weder seine Hoffnung aufgab, noch seine Bemühungen einstellte.

In dieser Zeit kehrte er eines Tages, gegen das Frühjahr hin, bei seinem Freunde Niklas Holler ein, dem Ochsenwirt von Grünsfeld.

Niklas Holler war ein reicher Mann, der reichste der ganzen Gegend. Er sagte gern von sich, mit einem gewissen Schmunzeln: »Ich bin nur ein Bauer.« Aber da sollte man ihm widersprechen und versichern, er sei kein Bauer, er sei ein Oekonom.

Er sah in der Tat nicht wie ein Bauer aus, eher wie ein verbauerter Landedelmann. Seine hohe und mächtige Gestalt konnte sich neben der des Barons Ulrich wohl sehen lassen.

Auch die Art, wie er den Bart trug, war auffallend. Sein breites weitläufiges Gesicht glänzte in glatter bläulicher Röte; nur vor den dicken Ohren liefen zwei schmale weiße Bartstreifchen herunter, und sein Schnurrbart, fast bis zu den Nasenflügeln hin abrasiert, sah höchst seltsam aus; die steifen grauen Haare stachen wie Dörner über die Oberlippe herunter.

Die Kinder fürchteten sich vor dem Ochsenwirt, die schüchternsten sprangen davon, wenn man nur seinen Namen nannte.

Die Erwachsenen sprangen nicht davon; aber die Art, wie ihn die meisten grüßten, sah auch nicht nach Freundschaft aus.

Sein Spitzname besagt alles. Ihren Sultan hießen sie ihn, die Grünsfelder, – wonach dann Grünsfeld selber von den umliegenden Ortschaften umgetauft und die kleine Türkei genannt wurde. Den Sultan der kleinen Türkei aber kannte man auf zwanzig Stunden im Umkreis.

Der Baron und der Sultan waren Jugendfreunde. Sie hatten beide auf derselben gymnasialen Schulbank ihre Hosen verrutscht, fünf Jahre lang, der eine seine freiherrlichen, der andere seine bäuerlichen, beide mit demselben Ergebnis.

Ein solches Verhältnis pflegt immer die dauerndsten und rückhaltlosesten Freundschaften zu begründen, wenigstens Freundschaften, in denen man sich keinen Zwang vor einander auflegt.

*

Heute verweilten die beiden schon eine erkleckliche Weile im Herrenstübchen beisammen. Sie berieten über einen balzenden Auerhahn im Wald bei Hirschlanden. Der Baron war bereits beim vierten Schoppen Marbacher Roten angelangt.

Da brach plötzlich der Ochsenwirt die Gelegenheit vom Zaun. Er fiel recht eigentlich mit der Türe ins Haus.

»Mit dem Auerhahn«, rief er aus, »wird es uns halt gehen, wie dir mit deiner Bachstelze«.

»Na, brauchst nicht so zu tun,« fuhr er fort, als ihn der Baron befremdet anblickte; »brauchst nicht so zu tun, kenne den Handel schon lange«. Und er lachte boshaft. Er stemmte die beiden Ellbogen auf den Tisch und die Fäuste gegen seine festen machtvollen Backenknochen.

»Du kennst doch die Elsekirsche?«

»Ich bin weder Förster noch Gärtner.« Der Baron brummte es mit merklicher Verstimmung.

»Braucht's auch gar nicht. Die Elsekirsche kannst deswegen doch kennen. Ist ja fast ein gemeiner Waldbaum bei uns. Eine Kirsche ist's freilich nicht so recht. Sie ist, wenn man sie durchschneidet, eher einer Birne ähnlich. Aber warum die Dinge grad so oder so genannt werden, das kann man nie wissen. Das wissen die Gelehrten selber nicht. Bekanntlich hat Adam im Paradies allen Geschöpfen ihren Namen gegeben; er hat da ein bißchen viel zu tun gehabt und konnte nicht immer so genau hinsehen. Deine Else jedoch hat ihren richtigen Namen. Das ist die wahre Elsekirsche oder Elsebirne ... Wie ich das meine? Nun, heut weiß man halt wenig mehr von dieser Frucht, sie wird von den Bauern kaum mehr beachtet. Früher, noch in meiner Kinderzeit, da waren die Knollfinken fauler und ärmer und fraßen lieber Holzbirnen, als sich Edelobst anzulegen. Da mußte auch die Elsekirsche sich essen lassen. Doch so vom Baum herunter ging das nicht. Man mußte sie erst bei sich eintun und weich werden lassen. Am besten wurde die wilde Frucht – was dir noch heut alle alten Leute bestätigen können – wenn man sie in sein Bettstroh legte. Item meine ich ... aber du wirst es schon auch selber gemerkt haben« ...

»Den Teufel hab ich gemerkt,« rief der Baron, indem er seinen Schoppen austrank. »Ich pfeif dir übrigens auf deine Altweibergeschichten. Aber dein Wein ist gut, hol mir noch einen.«

Der Ochsenwirt brachte zwei Schoppen. Er stieß mit dem Baron an.

»Du bist heut nicht gut aufgelegt, lieber Utz. Mit meinen Altweibergeschichten kann ich dich ja aber verschonen.«

»Nein, sag, was du gemeint hast, ich will's jetzt wissen.«

»Nun ja, ich mein halt,« versetzte mit verschmitztem Lächeln Niklas Holler, »ich mein, mit der zweistieligen Elsekirsche mußt du's eben halt am End machen, wie's unsere Vorfahren selig mit der einstieligen gemacht haben. Noch dazu lohnt sich's mit der zweistieligen ein bißchen mehr, wie mir scheint. – Hör einmal, Utz, du hast die alte Barbara zur Bachliese geschickt; nimm mir's nicht übel, das ist grad, wie wenn der Teufel, um eine Seele zu verführen, seine Großmutter schicken tät. Warum schickst du nicht Seine Hochwürden?«

»Als ob der Pfaff mein Untertan wäre, wie in der alten Zeit, und sich so ohne weiteres schicken ließ« ...

»Wenn er dir eine Frau verschaffen soll.«

»Die Bachstelze?«

»Die Elsekirsche.«

»Du bist verrückt.«

»Dann schau du zu.«

Nach diesen Worten entstand eine Pause. Der Baron tat einen tiefen Schluck. Und in nachdenklicher Weise, wie man es an ihm nicht gewohnt war, sah er in sein Glas. Der Ochsenwirt nahm eine Prise.

»Du wirst mir noch dankbar sein, Baron,« fing er wieder an. »An eine andere denkst du doch nicht mehr, hast wohl nie daran gedacht. Möcht dir auch, nimm mir's nicht übel, keine große Wahl bleiben. Also greif zu. Bedenke, du kommst in die Jahre, wo einem im Bett leicht die Knie kalt werden im Winter. So nimm halt eine Wärmflasche. Kannst sie ja so billig haben. So spottbillig. Für nichts. Für einen leeren Namen. Für den Namen »Ehefrau«, den du nicht vorher beim Goldarbeiter und Juwelenhändler zu kaufen brauchst. Die Menschen sind einmal so: wirf ihnen ein paar schöne Namen hin, so, ist es, wie wenn du ihnen Sand in die Augen streuest. Greif zu, leg die Elsekirsche in dein Bettstroh«.

Ulrich von Wenkheim war immer nachdenklicher geworden. Er blieb jetzt stumm. Nur mit einer Handbewegung bestellte er sich noch einen Schoppen.

Als er sich endlich verabschiedete, kehrte er sich auf der Staffel noch einmal um:

»Natürlich hast du recht, Niklas, ich gehe morgen früh zum Pfarrer.«

Also wurde diese Heirat beschlossen, nach dem siebenten Schoppen Marbacher Roten, beim Ochsenwirt zu Grünsfeld, genannt der Sultan der kleinen Türkei.

V.

Zu Godramshausen, in dem Häuschen am Hollerbach, draußen am Steg, saßen in der Nachmittagsstunde des folgenden Tages Mutter und Tochter bei der Arbeit. Die Bachliese strickte Fersen in alte Strümpfe, Elsa nähte an einer neuen Kirchenhaube für Fräulein Therese, die Pfarrköchin von Wenkheim.

Die Frauen führten dazu ein Gespräch von recht heikler Natur.

Es handelte sich, wie schon oft, um die Amtsnachfolge der Alten.

Die Mutter litt an einem Fußübel, sie war während des letzten Winters dreimal verhindert gewesen, ihrer Pflicht nachzukommen. Sie drang deshalb seit einigen Wochen ernstlich in die Frauen, eine Nachfolgerin zu wählen, und sie schlug ihre Tochter vor, womit sich alle Beteiligten einverstanden erklärten.

Nur einmal trat ein peinlicher Augenblick ein. Bei der Schmiedin zu Godramshausen. Die Veranlassung gab die alte Mutter des Schmieds. Während zwanzig Jahren, auch wenn sie ihre Kinder im Schoße trug, hatte diese Frau mit ihrem Manne am Amboß gestanden und den großen Hammer geschwungen. Nun mischte sie sich von ihrem Ofensessel aus auch in den Rat ihrer Schwiegertochter mit der Bachliese. Sie liebte die Elsa, sie war voll Lobes für sie. Aber gerade deswegen deuchte sie die Sache nicht eben ganz richtig.

»Mir gefällt's nicht,« sagte sie zur Bachliese, »mich dauert deine Lisbeth, die ist nicht wie andere, sie hat so was, so ... ich weiß nicht, wie ich sagen soll, es ist schad um sie.«

Der Mutter fiel eine harte Aufgabe zu. Sie mußte ihr Kind endlich aufklären. Dabei zeigte es sich nun, welche Folgen es hat, wenn man Natürliches nicht von vornherein als einfach natürlich zu betrachten gelehrt wird.

Das an sich Unschöne erschreckte Elsa nicht als solches. In ihrem Gemüt mischten sich gleich alle Schauer der Religion in die Sache. Ihre Phantasie war zu sehr von religiös gefärbten Märchenvorstellungen genährt, war zu sehr von dem hochgeheiligten Jungfräulichkeitskultus ihrer Kirche beeinflußt. So vermochte sie alle Natur, worüber die Scham, oder die Zweckmäßigkeit, oder auch die Dummheit einen Schleier gedeckt hatte, nur noch unter der entsetzlichen Schreckgestalt der Sünde zu erblicken.

Elsa wurde unsäglich traurig. Sie fand der Mutter gegenüber keine Worte. Sie widersetzte sich nicht, sie verstummte einfach.

Nur Aufschub hätte sie gern gewünscht.

Die Mutter wollte ihr das ausreden. Wenn Aussicht auf eine Heirat in ein paar Jahren vorhanden wäre, da könnte man so lange warten. Aber woher solle einem so blutarmen Mädchen ein Mann kommen. Später, ja, wenn der reichlichere Verdienst da sei. Denn diese Männer heute lassen sich lieber von einer Frau ernähren, wenn's not tut, als umgekehrt.

Noch einen guten Grund wußte die Mutter. Einen sehr ernstlichen. Die Gefahr wegen des Barons. Dieser Mensch mußte ein armes Mädchen in schlechten Ruf bringen, selbst wenn es brav blieb ...

Bei diesem Punkt war die Mutter angelangt, da tat sich die Türe auf, und vor den beiden Frauen erschien der Pfarrer Fleuchaus von Wenkheim. Fast erschrocken fuhren Mutter und Tochter in die Hohe. Da Hochwürden mit der Mutter allein zu sprechen wünschten, schickte die Bachliese ihre Tochter in die Kirche.

Es war Feierabend; Elsa hatte ohnedies zur Beichte gehen wollen.

*

Am Beichtstuhl mußte Elsa lange warten. Fünf bis sechs erwachsene Mädchen gingen ihr vor. Sie mochten, wohl mit schwerem Herzen, starke Sünden beichten, die sie doch nicht zu unterlassen willens waren. Elsa kam plötzlich der Gedanke: du solltest es dem Kaplan sagen.

Aber der Kaplan beruhigte sie keineswegs. Er erklärte, nicht ohne mystisch-mysteriöse Wendungen: Eine Sünde sei es nicht geradezu. Doch eine Jungfrau, das Wort im höheren geheimnisvollen Sinne der heiligen Kirche genommen, unterstünde besonderen Gesetzen, die es ihr verböten, in einen Beruf einzutreten, der die heilige jungfräuliche Keuschheit und Reinheit schädigen, wenn nicht gar zerstören müsse. Allerdings gelte dieses strengere Gesetz nicht für jedes, sondern nur für Auserwählte, für besonders Begnadete ...

Der Kaplan Firnhaber kannte sein Beichtkind, als er so zu ihm redete.

Ganz bestürzt und verwirrt kam Elsa zu Hause an.

Da erfuhr sie die Sendung des Pfarrers Fleuchaus. Die geheimen seelischen Beängstigungen Elsas begünstigten in wirksamster Weise die Absichten des Barons. Elsa floh förmlich hinein in diese unerwartete Ehe. Sie floh hinein wie in ein Asyl. Denn sie floh vor einem Schreckgespenst.

Dennoch hatte Elsa gegen diese Ehe ein heimliches Bedenken, um das niemand wußte, weder Mutter noch Beichtvater, ein sehr eigentümliches Bedenken.

*

Als die sechs- bis siebenjährige Bachstelze bei dem alten Schulmeister Wieland das Abc lernte, saß sie, nur durch ein schmales Zwischengänglein getrennt, neben einem etwas ältern Knaben, der bereits in die Geheimnisse des Schriftwesens eingeweiht war und dem nun der Schulmeister oftmals die Nachbarin Bachstelze zur Unter-Instruktion zuwies. Sie paßten zu einander. Sie gehörten beide nicht nur zu den Armen, zu den ganz Armen, sie entbehrten außerdem einer gewissen bäuerischen Derbheit und hatten, sowohl in ihrer körperlichen Bildung wie in ihrer Gemütsart, etwas Sanftes und Weiches. Ja, sie waren von einer Zartheit, die bei dem Knaben fast an Kränklichkeit grenzte. Auch in geistiger Rührigkeit und Gewecktheit stimmten sie überein.

Da wurde leicht aus dem kleinen Hilfslehrer ein Freund.

Der Knabe hatte schönes feuerrot leuchtendes Haar und ein bleiches feines Gesicht, in dem das dünnrückige Näschen mit leicht zuckenden Flügeln besonders zierlich hervorstach. Schon durch seine Haarfarbe war er auffallend genug. Aber ebenso sehr machte er sich bemerklich durch seinen Anzug, der meist eine höchst komische Mischung darbot aus bäuerlichen und städtischen Bestandteilen.

Der Rothaarige war kein Godramshäuser Kind. Seine Mutter, Ulrike Lorum, war von Wenkheim. Sie diente in der Residenz und hatte den Sohn bei ihrer Schwester Anna, der Frau des Polizeidieners Anton Grimmer zu Godramshausen, in Kost und Wartung getan.

Ungefähr seit einem halben Jahre dauerte das Lehrverhältnis des roten Ulrich zur blonden Bachstelze. Um diese Zeit wurde Ulrich ganz und gar verwaist. Seine Mutter verschwand und verscholl; ihre Beiträge zum Unterhalt des Kindes hörten auf. Diese sollten also von der Gemeinde Wenkheim geleistet werden. Infolgedessen wurde der Knabe dem katholischen Waisenhaus in Walldürn übergeben, wo die Gemeinde Wenkheim, vermöge eines Legats ihrer freiherrlichen Familie, das Recht auf einen halben Freiplatz besaß.

So verließ Ulrich Lorum Godramshausen, um einstweilen nicht wieder zurückzukommen.

Elsa Ulmensteiner sah ihn dennoch wieder – damals, als sie in die Kreisstadt zu ihrer Tante Karline in die Lehre kam. Bei der Tante selbst, in deren eigenem Hause, fand sie ihren ehemaligen Lehrer.

Und er wurde es jetzt von neuem.

Er wurde ihr Lehrmeister im Handwerk, wo er wieder zwei Jahre voraus hatte, und er wurde es noch in manchen andern Dingen. Er lehrte sie Verschiedenes.

Er lehrte sie vor allem die Liebe.

Die Liebe, wie er sie selber verstand, wie sein eigener männlicher Lehrmeister sie ihn gelehrt hatte, nämlich Friedrich Schiller in seinen Gedichten und Dramen.

Der arme Schneiderlehrling las wahrhaftig Schiller. Für einen hellen Kopf hatte er schon in der Abc-Schule zu Godramshausen gegolten, in dem Schwesternhaus zu Walldürn wurde er auch nicht verkannt; man benützte hier seinen Lesetrieb zur Ausbildung einer mystischen Schwärmerei, wofür Ulrich solche Anlagen zeigte, daß man ihn schon für einen kleinen Heiligen ausgab.

Und mit derselben inbrünstigen Andacht warf er sich später auf Schiller, der ihm eines Tages durch Zufall in die Hände geriet.

Ulrich Lorum, noch ganz kindliche Unschuld, im Moralischen wie im Geistigen, fand keinen wesentlichen Unterschied im innersten Gedankengehalt seiner früheren und seiner gegenwärtigen Lektüre. Er fand sie eher in vollkommener Uebereinstimmung. Stellten doch beide gleichermaßen »die Welt« hin als etwas dem höheren geistigen Leben feindselig Entgegenstehendes. »Das ist die Welt: für Thoren und Narren gelten ihr die, so der Herr selig preist«, hatte er damals gelesen. Und jetzt in seinem Schiller fand er: »Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen«.

»Die Welt«, las er früher, »gehört den Kindern der Welt; die aber Kinder Gottes sind, trachten nicht nach ihr, eingedenk der Worte ihres Herrn und Meisters: Mein Reich ist nicht von dieser Welt«.

Dasselbe sagt ihm nun Schiller, nur mit ein bißchen anderen Worten:

»Nicht dem Guten gehört die Erde;
Er ist ein Fremdling, er wandert aus
Und suchet ein unvergänglich Haus.«

Längst hatte dem roten Ulrich jemand gefehlt, um seine heimliche Schwärmerei mit ihm zu teilen; in der blonden Bachstelze fand er endlich eine gelehrige Schülerin. Ihr hielt er nun seine Vorlesungen, er verkehrte das alte bekannte Wort in: Duo faciunt Collegium ...

Und er wandte es überall an. Er las ihr vor, wo sie sich nur einen Augenblick allein finden konnten, in der Bodenkammer, in der Laube hinter dem Hause, draußen am Feldrain und Waldsaum, und hinter Hecken und Steinwällen.

Er las ihr alles, den ganzen Schiller, doch nach und nach wählte er mit Vorliebe die Stellen, die von Liebe handelten. Denn unus cum una non dicunt Pater noster. Er hatte bis dahin seinem Schiller alles aufs Wort geglaubt; nun aber fing er an, etwas in sich selbst zu empfinden. Ja, es dauerte nicht allzulange, da gab ein gewisser Glanz in Elsas Augen ihm die Gewißheit, daß auch sie es »im innern Herzen spürte«.

Als heiligen Bund der Seelen verkündigte der Dichter ihnen die Liebe, und in diesem Sinne ward sie lebendig in ihren jungen reinen Herzen.

Ulrich Lorum hatte seine Lehrzeit beendet, er blieb als Geselle – für den geringsten Lohn. Sein Drang, die Welt zu sehen, dem er oft in großen Worten Ausdruck verliehen, schien plötzlich verstummt. Doch war diesmal leider der Zug des Herzens nicht des Schicksals Stimme. Das Geschäft des Meister Strümpfel ging schlecht um diese Zeit, Lorum wurde trotz seiner geringen Lohnansprüche zuletzt entlassen.

*

Ulrich und Elsa mußten sich trennen. Und Ulrich Lorum erdachte eine feierliche und hochpoetische Abschiedsszene, wie sie seinem Geschmacke entsprach. Er kannte das Lied: »Am Brunnen vor dem Thore, da steht ein Lindenbaum«. Er hätte kein deutscher Jüngling und Mitglied des Gesangvereins »Frohsinn« sein müssen. So sang er es oft genug, jede Woche mindestens einmal, vierstimmig im Chor, und es lebte in ihm, wenigstens seiner Stimmung, seiner schmerzlich süßen Melodie nach – wenn er auch die Worte niemals recht auswendig wußte, deren Sinn ihm sogar immer etwas dunkel und unverständlich erschien. Doch er konnte Tränen in die Augen bekommen, wenn er sang:

Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht,
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.

Nun stand aber just das Haus des Meisters Strümpfel ganz in der Nähe des alten städtischen Torbogens. Und weder der Brunnen noch die Linde fehlten. Zwar wie man sie sich im Liede vorstellen mag, sahen sie nicht aus. Der Brunnen, ein Produkt der neuesten deutschen Industrie, war aus Gußeisen und kaum einen halben Meter hoch; er stand hart an der Gosse und sein Wasser rauschte nur, wenn man mit einiger Kraftanstrengung auf den Kolben drückte, und auch dann erst nach einiger Zeit. Zu dem Brunnen paßte die Linde. Der kühnste Dichter hätte von ihr nicht zu sagen gewagt: »Und ihre Zweige rauschten«. Denn es war erst eine daumendicke Rute, gesetzt vor einem halben Jahr, gestiftet vom Gesangverein »Frohsinn«.

Diesen durch die Poesie des Volksliedes geweihten Ort erwählte Ulrich für seine Abschiedsszene. Er war natürlich überzeugt, daß seine Lage mit dem Liede übereinstimmte, wenn er sich auch gleich die Worte des Gedichtes noch nicht allzu genau angesehen hatte. Mit etwas, das man jede Woche ein paarmal heruntersingt, kann einem das leicht geschehen.

Die blonde Bachstelze machte erst verwunderte Augen bei Ulrichs Vorschlag; allein sein Blick und der Ton seiner Worte gaben ihr zu verstehen, daß es sich für ihn »um Tod und Leben handle«. Da willigte sie zögernd ein und versprach Schlag Mitternacht zur Stelle zu sein.

Und hier geschah es. Zur Mitternachtsstunde. »Am Brunnen vor dem Tore«. Hier, indem sie sich zum letztenmal sahen, sprachen sie es aus, er ein wenig pathetisch, seine Worte mit Schillerschen Floskeln untermischt, sie mit einfacher schmerzlich seliger Rührung: daß sie sich liebten, und daß sie sich treu bleiben wollten, ewig.

Dazu legten sie, wie zum Schwur, ihre Hände ineinander.

Den Kuß kannten sie noch nicht. Um auszudrücken, was in ihnen vorging, brauchten sie ihn auch nicht. Nur ihre Seelen hatten sich gefunden und einen Bund geschlossen, ihre Körper wußten nichts davon.

*

Vierzehn Tage nach seiner Abreise schrieb Ulrich Lorum den ersten Brief, – mit einer Handschrift voll weitausgeschweiften steifen Schnörkeln, mit einem Text voll Schillerzitaten. Er schrieb darauf noch mehrere, in größeren und kleineren Zeiträumen, aus verschiedenen Städten.

Sie glichen sich im Anfang sehr. Nach und nach erschienen sie seltener und nahmen dann plötzlich einen andern Ton an.

Ulrich hatte unterdessen neue Lehrmeister gefunden. In Büchern und in Kameraden. Elsa wurde zuerst in Religionssachen auf eine Veränderung aufmerksam; sie gewann den Eindruck, als ob Ulrich nicht mehr zur Kirche ginge, als ob er, mit Wohlgefallen, religionsfeindliche Schriften lese.

Und er schien sich groß und bedeutend in seiner neuen Lebensauffassung.

Er hatte in der Tat manches seither gelernt. Er wußte nun, daß andere junge Leute, die nebeneinander leben und sich lieben, ihre jungen Tage nicht mit Schillerlektüre hinbringen. Er wußte, daß man das sehr dumm fand, daß man darüber lachte. Und er fing schon selber an, sich, wie er früher war, für einen großen Esel zu halten.

Er ließ in seinen Briefen an Elsa solche Gedanken durchblicken: Reflexionen über versäumtes Glück, über ungenützte Jugend, über unglaubliche kindische Albernheit.

Die Bachstelze verstand ihn nicht.

Seine Briefe wollten ihr aber gar nicht mehr gefallen. Das schrieb sie ihm.

Er aber fand Geschmack an seiner Renommisterei. Er schrieb ihr noch deutlicher. Da wurde die Bachstelze stutzig und antwortete überhaupt nicht mehr. Damit hörte dieser briefliche Verkehr auf, ungefähr ein Jahr vor Elsas Heirat.

*

Die Werbung des Barons hatte vier Wochen vor Ostern stattgefunden; die Hochzeit feierten sie am Dienstag auf den Weißen Sonntag. Sie feierten sie glänzend, dörflich zwar, als Bauernhochzeit, aber in großem Stil. Die Umwandlung der Bachstelze in eine Baronin von Wenkheim sollte sich, als ein großes Ereignis, groß und feierlich aussprechen; das ganze Dorf wurde geladen.

Das Geschlecht derer von Wenkheim war sehr alt. Nicht umsonst trug es den Namen des Dorfes. Dieses hatte der Familie eben immer gehört, von Anfang an, bis über die Kreuzzüge zurück. Man konnte sich kaum eine größere Ahnenreihe denken. Zwar die Geschichte, oder was man so nennt, meldete von keinem den Namen, wußte von keinem eine Tat; in den Familienregistern aber standen sie alle sorgfältig verzeichnet, die Hanse und die Heinze, die Jörge und die Dieter, die Kunze und die Utze. Und wie sie alle hießen. Und die Register meldeten von jedem nur Rühmliches, von keinem eine Mißheirat.

Ulrich von Wenkheim bedachte dies wohl, und daß er der erste sei, der ein Verbrechen begehe an dieser heiligen Ueberlieferung der Familie. Um so eifersüchtiger drang er auf die Entfaltung äußeren Glanzes. Wurde er doch in seiner eigenen Schloßkirche getraut, wie er sich ausdrückte. Die Wenkheimer Kirche steht nämlich heute auf der Stelle der alten mittelalterlichen Burg des freiherrlichen Geschlechts. Der Kirchturm ist sogar noch ein Rest davon. Um ihn einigermaßen kirchlich zuzustutzen, vielmehr zuzuspitzen, hat man ihm seine originelle Bedachung mit den fünf Spitzen gegeben, die die Wenkheimer nun in Gottesnamen immer grad sein lassen müssen.

Ulrich von Wenkheim bestellte sich zu seiner Vermählung in seiner Schloßkirche ein hochfeierliches Levitenamt, die ganze Geistlichkeit des »Landes« dazu aufbietend. Eine solche Herrlichkeit war lange nicht gesehen worden. Es war aber auch noch nicht vorgekommen, daß ein Baron von Wenkheim eine Bachstelze zur Schloßherrin erhob, dergleichen war man bisher nur in Märchen zu hören gewohnt. Da strömten aus fremden Dörfern viele Menschen herbei. Die meisten hatten die Bachstelze noch nicht zu Gesicht bekommen, die mußten sich doch bei dieser Gelegenheit den Wundervogel ansehen.

Der Baron aber konnte sich einbilden, daß alles nur ihm zu Ehren komme, als sein untertäniges Volk, ganz wie in der alten Zeit.

Auch der »Burgpfaff« hielt sich unter solchen Umständen zu einer besonderen Leistung verpflichtet; er entschloß sich, gegen seine sonstige katholische Gepflogenheit, zu einer großen Festtrau-Rede. Der Pfarrer Fleuchaus sprach über das Wort: »Ehen werden im Himmel geschlossen«. Er führte aus, daß gerade bei der gegenwärtigen Ehe, die außer aller menschlichen Berechnung gelegen, das Sprichwort sich in auffallendster Weise bewahrheitete.

Niklas Holler, der Ochsenwirt von Grünsfeld, der Sultan der kleinen Türkei, saß als Zeuge mit im Chor, dem Brautpaar gegenüber; er warf dem Baron einen verstohlen lächelnden Blick zu. Die beiden wußten besser, wo diese Ehe beschlossen worden.

*

Etwa anderthalb Jahre waren seit der Hochzeit des Barons Ulrich verflossen. Da erschien in Wenkheim eines Tags ein Fremder; der sah, für die Wenkheimer, so auffallend vornehm aus in seinem ganzen Aeußern, daß er, im Vergleich zu Ulrich von Wenkheim, mindestens für einen jungen Grafen oder Prinzen gehalten wurde.

Er begab sich auch schnurstracks auf das freiherrliche Schloß. Der Baron war abwesend. Er verlangte die gnädige Frau zu sprechen.

Die junge Schloßherrin ließ kaum auf sich warten. Sie trug, wie immer, ein sehr bescheidenes, ein sehr einfaches Hausgewand, das zu ihrem feinen schlanken Wuchs und ihrer schönheitsvollen Bildung fast in rührendem Widerspruch stand; denn Elsas Schönheit hatte sich seit ihrer Heirat erst recht ausgewachsen. Nur über ihrem schmalen intelligenten Gesichte lag es wie ein Anflug von krankhafter Blässe.

Die Baronin fragte den Fremden nach seinem Begehr. Er antwortete nicht, er trat nur mit einer Art schmerzlichen Gebärde, die er auf dem Theater abgesehen haben mochte, der schönen jungen Frau einen Schritt näher.

»Ulrich!« stieß sie hervor.

Sie hatte ihn erkannt, den Kameraden von ehemals, von dem sie über drei Jahre nichts gehört, der ihr aber trotzdem nie ganz aus dem Sinn gekommen war, weder im Wachen noch im nächtlichen Traum; ihn, dem sie, in jenem romantischen Auftritt am Brunnen vor dem Tore, ewige Treue gelobt und von dem sie sich nachher verlassen und vergessen geglaubt: ihn, Ulrich Lorum. Er stand vor ihr, und er machte ihr bittere Vorwürfe über ihre Treulosigkeit. Bitter-schmerzlich stand es ihm im Gesicht und kam's ihm vom Munde, nicht mit strenger harter Anklage, sondern eher weich und wehmütig, beschuldigend zwar, doch mehr sich selber und sein eigenes Geschick beklagend.

Und er machte Eindruck.

Das sah er, und süße Hoffnung erwuchs ihm daraus.

Ulrich Lorum sah mit seinem Besuche zunächst eines erreicht: er hatte der alten Freundin aufs Gewissen einen Stein gewälzt, unter dem die Arme nun seufzte.

Damals, nach Ulrichs letzten Briefen, jenen Briefen voll Frechheit und Schamlosigkeit, hatte Elsa zuerst aufgehört zu antworten, nachdem ihre liebevollen sorglichen Vorwürfe unbeachtet geblieben waren. Und Elsa hatte alles zwischen ihnen für gelöst und aufgehoben betrachtet.

Heute aber sprach auf einmal alles zu seinen Gunsten. Was er damals in seinen Briefen schrieb, hatte er vielleicht nicht einmal verstanden. Oder es mochte eine vorübergehende Verirrung gewesen sein, eine augenblickliche Wirkung böser Kameradschaft, eine Art Ueberrumpelung seiner unbewachten Jugend.

Und nun hatte er auf ihr Wort vertraut. Er war gekommen, es einzulösen. Und sie hatte es gebrochen. Sie konnte sich denken, welche schmerzliche Enttäuschung das für ihn sein mußte.

Sie fühlte sich tief im Unrecht.

Und in ihrem Gehirn erwachte plötzlich, blitzartig, das Bewußtsein, daß sie Ulrich Lorum einzig geliebt habe, nicht nur damals in ihrer schönen Zeit, der Zeit der Schillerlektüre, sondern auch später, und immer, ja daß sie ihn noch liebte, heute mehr denn je. Darum sprach alles Denken ihres klugen Kopfes zu Gunsten des ehemaligen Kameraden; darum brauchte dieser nur zu erscheinen, um alle Bedenken gegen ihn in ihrer Seele auszulöschen, um für immer in ihrer Phantasie zu stehen mit dem heiligenden Schein des Märtyrertums.

*

Ulrich Lorum kam, wie er sagte, schnurstracks von Hamburg. Er war, ganz als vornehmer Herr, in einem Stadtwagen durch Godramshausen gefahren, ohne anzuhalten, bis vor das Häuschen am Hollersteg, wo die Bachliese wohnte. Es kostete ihn einige Mühe, sich der Liese ins Gedächtnis zu rufen, die einst nahe daran gestanden, den verwaisten und verlassenen Knaben in Pflege zu nehmen. Fünfzehn Gulden jährlich hatte sie verlangt. Dem Gemeinderat zu Wenkheim hatte die Summe zu hoch geschienen. Und dieses ehemalige Gemeindekind stand nun als Stadtherr vor ihr, in unglaublichem Glanz der Mode, mit zitronengelben Handschuhen, mit weiten gestreiften Manschetten, handbreit unter dem Aermel hervorragend, von talergroßen goldenen Knöpfen zusammengehalten, mit einem blitzenden Stein an der goldenen Uhrkette, mit funkelnder Busennadel, mit Lackschuhen an den Füßen.

Ihre Verwunderung war groß.

Aber dann kam das Erstaunen an ihn. Mit ungeheuchelter Bestürzung hörte er die Neuigkeit, die seiner harrte.

Die Mutter Liese mußte ihm alles eingehend berichten. Er selber schwieg von seinem früheren Verhältnis zur Bachstelze.

Und die Liese bot ihm, wenn er bleiben wolle, den Giebelraum als Wohnung an – Elsas Kammer und Bett.

Er wollte gern.

Drüben im Schloß zu Wenkheim schob er diese Nachricht bis zuletzt auf. Und als er sie dann brachte, tat er es mit einem so rührenden, so sentimentalen, mit einem so süß-schmerzlichen Augenaufschlag, daß es die junge Frau mit einem fast schauernden Gefühl überlief.

*

Ulrich Lorum machte sich nun schnell bekannt in Godramshausen und in Wenkheim. Er verkehrte selbstverständlich in der Gesellschaft der Honoratioren, die ja auch im kleinsten Dorf nicht fehlen. Es gehörten dazu die Geistlichen, die Schullehrer, die Schultheißen und Ratschreiber, der Krämer Alletag von Wenkheim, der Holzhändler Uhlig von Distelhausen, der Steuerperäquator Heinzelmann von Hinterwinkel; denn sie bildeten aus mehreren Dörfern eine Gesellschaft.

Aber in Wenkheim kamen sie zusammen, im »Lamm«, im hintern Herrenstübchen. Der Baron Ulrich selber gehörte dazu – wenn er nicht bei seinem »Spezel« in Grünsfeld saß.

Und Ulrich Lorum galt nicht umsonst für einen intelligenten Kopf. Er kam auch nicht umsonst »schnurstracks« aus Hamburg. Die alten »Herrn«, geistliche und weltliche, mußten zugeben, daß sie von ihm manches hören konnten, was sie nicht wußten, und sie gestanden es ihm gern zu.

Gutmütig und gutwillig ließen sie ihn gelten als Löwen des Tages. Er gefiel ihnen.

Er gewann ihre Herzen vor allem durch die Politik. Denn auch sie fehlte seit einiger Zeit nicht mehr in der sonst so idyllischen Welt. Es gab bereits Parteien. Nur waren diese insofern eigentlich nichts Neues, als, in der ganzen Gegend, alle Protestanten zur liberalen, zur nationalliberalen, und alle Katholiken zur ultramontanen Partei gehörten, mit jenen wenigen Ausnahmen, die von je als Aufgeklärte oder »Freigeister« bezeichnet worden waren und die auf sechs katholische Dörfer kein halbes Dutzend ausmachten.

Die Stammgäste des Wenkheimer Herrenstübchens aber waren keine Aufgeklärte und keine Freigeister. Ulrich Lorum gewann ihrer aller Gunst. Er zeigte sich als eifriger Anhänger der katholischen Gesellenvereine. Er kam gern auf dieses Thema. Und er hielt dann lange zusammenhängende Reden über die religiöse und politische und soziale Bedeutung dieses Vereinswesens. Er verstand zu reden. Er ließ die Pfarrer mit ihrem Latein weit hinter sich zurück, die ihm aber deswegen nicht neidisch wurden. Denn er erwies ihnen alle Ehrerbietung. Er tat es in gewandteren und gebildeteren Formen als irgend jemand. Kein Mensch in Wenkheim oder Godramshausen verstand es, so tief ergeben den Hut zu lüften wie Ulrich Lorum, ganz abgesehen davon, daß die meisten gar keinen auf dem Kopfe trugen.

Ulrich Lorum verschmähte auch nicht den Verkehr mit den jungen Burschen. Diesen pflegte er besonders an Sonntagen. Und bei solchen Gelegenheiten ließ sich aus seinen Reden manches heraushören, womit er im Herrenstübchen des »Weißen Lamm« zurückhielt. Er ließ dann merken, daß er mit der Haltung der katholischen Gesellenvereine doch nicht ganz einverstanden sei, daß manches daran sich ändern müsse, wenn die Arbeiter sich nicht von der Sache abwenden sollen.

Wie immer, las er viel; wo er ging und stand: in dem kleinen Gärtchen am Hollersteg, auf Feld- und Waldwegen, im »Weißen Lamm«, wenn er allein saß. Nicht mehr Schiller las er, sondern Zeitungen und Broschüren, in allen möglichen Farben und Formaten.

Seine Bekannten meinten, er wolle sich dauernd in Godramshausen oder Wenkheim niederlassen, und sie trugen ihm Arbeit an. Er lehnte aber ab; es falle ihm nicht ein, ein Bauernschneider zu werden.

Nur für den Baron übernahm er die Anfertigung eines Jagdanzugs, aus Gefälligkeit, und auch dem Pfarrer Fleuchaus wollte er gern eine Soutane machen.

Aber drängen ließ er sich mit diesen Arbeiten nicht, er nahm sich Zeit. Dafür versprach er auch, rechte Kunstwerke zu liefern. Das Jagdkleid des Barons brachte er hundertmal zum Anpassen, zufällig immer, wenn der Baron gerade auf der Jagd herumstreifte, oder in Grünsfeld mit seinem Freunde Niklas Holler beim Marbacher Roten saß.

Kapitelüberschriften im Buch falsch gezählt, VI. fehlt. Re

VII.

Sehr schnell überzeugte sich die Schloßherrin von Wenkheim, zu ihrem tiefen Leid, von der großen Veränderung Ulrich Lorums seit jenen schönen Tagen ihrer gemeinschaftlichen Lehrzeit. Wie sie ihn damals gekannt hatte, so hätte sie ihn noch gewünscht, so fromm, so sanft, so schüchtern. Sie hätte sich dann ehrlich freuen können auf seine Besuche, sie, die immer allein war. Man hätte die alten Tage wieder erneuert, glücklich und froh.

Aber Ulrich Lorum war nicht mehr der Mensch, mit dem sie einst die »Glocke« und »Kabale und Liebe« gelesen; er war ganz der, wie er sich ihr später in seinen Briefen geoffenbart. Sie hatte es befürchtet. Und es tat ihr unendlich weh. Denn sie liebte ihn.

Gegen ihren Willen. Ihre Liebe war stärker als sie selbst.

Aber noch etwas war in der jungen Frau unüberwindlich stark: ein Ekel, ein Abscheu, eine Empörung. Und Ulrich Lorum ahnte nichts.

Es war aber damit ein seltsames Ding.

Eine schlummernde Kraft der Jungfrau war in der jungen Frau nicht zu gesundem blühendem Leben wachgerufen, sondern war nur erschreckt und tiefer in sich zurückgescheucht worden. Nicht der lebenweckende Wein der Liebe hatte ihr die Lippen genetzt, sondern der erkältende Gifttrank des Ekels.

Und so war etwas Dunkles in dem jungen Weibe so stark, daß Ulrich Lorum zuletzt durch seine bloße Gegenwart alle Liebe in ihrem Herzen auslöschte, die doch in seiner Abwesenheit immer wieder mit neuer Gewalt ihr Recht forderte.

Aber Ulrich Lorum ahnte nichts. Ulrich Lorum kannte Elsa nicht. Und seine Leidenschaft machte ihn vollends blind, er täuschte sich gänzlich über die Wirkung seines Vorgehens.

Es mußte zum äußersten kommen. Elsa drohte ihm mit dem Baron. Der sei zu allem fähig. Und das Wort »Hundspeitsche« fiel in der Aufregung. Nicht als ob Elsa dachte, ihre Drohung je wahr zu machen. Die ehemalige Bachstelze wäre dessen nie fähig gewesen. Aber in der Notwehr greift der Mensch zu jeder Waffe.

Die Drohung genügte diesmal auch, sie übte eine überraschende Wirkung. Finster, mit der Miene des Tiefbeleidigten, ging Ulrich Lorum von ihr. Am andern Tage hieß es, er sei abgereist. Da er zu keiner Seele von seiner Reise gesprochen hatte, verwunderte sich alles und man redete einige Tage lebhaft über das unerwartete Ereignis. Dann aber sprach man wieder vom Wetter wie überall und zu aller Zeit. Der Schneider Lorum war abgetan.

Nicht so für die junge Schloßherrin. Für diese hatte Ulrich bei der Mutter einen Brief hinterlassen. Er fing so an: »Ich gehe. Ich gehe, weil ich Dir nicht Gelegenheit geben will, Deinen Freund, den Genossen Deiner schönsten Tage, mit der Hundspeitsche aus Deinem Hause jagen zu lassen. Vor diesem schändlichen Verbrechen will ich Dich bewahren. Es ist genug, daß Du mir Deine heiligsten Schwüre gebrochen hast, was ich Dir verzeihe, denn Du bist ein Weib. Schiller sagt: ›Weib, Dein Name ist Schwachheit.‹ Und doch hatte ich gerade von Dir gehofft, daß Du mir mehr seiest als ein Weib. Zu meinem Freund und Kameraden habe ich Dich machen gewollt. Ich habe Dich geliebt. Ich liebe Dich noch. Deinetwegen gehe ich. Ich möchte nicht, daß Du Dich durch eine unwürdige Handlung beschimpfest, Dich, die Du immer der Abgott meiner Seele sein und bleiben wirst. Der Mann ist noch schwächer als das Weib; er liebt das Weib, das ihn verrät. Deinetwegen gehe ich. Was hätte es mir gemacht, wenn jener mir mit der Peitsche oder Flinte entgegen getreten wäre; nur ein Wort hätte ich ihm ins Angesicht zu schleudern brauchen und die Waffe der rohen Gewalt wäre seiner Hand entfallen. Aber ich gehe. Weißt Du noch, wie wir im Schiller die Jungfrau von Orleans lasen? Nun sage ich: Ulrich geht, und niemals kehrt er wieder.«

In diesem Tone ging es weiter, und daran schloß sich die abermalige Versicherung, daß er ihr keine Vorwürfe mache, aber die Verantwortung für sein künftiges Leben wälze er auf sie ab. Wenn er nun wirklich ein verkommener Mensch werde, ihre Schuld sei es. Er fluche ihr nicht, aber sein Schutzengel, wenn es einen gibt, wird ihr vielleicht fluchen müssen am Tage des Gerichts ...

Mit diesem religiösen Trumpf schloß seine Epistel.

Elsa wäre vielleicht intelligent genug gewesen, das Gemachte und Unwahre dieses Briefes zu begreifen, wenn sie Ulrich Lorum nicht geliebt hätte. Aber sie liebte ihn. Und darnach fiel die Wirkung seines Schreibens aus.

Vor allem vernichtete Elsa den Brief nicht. Sie schloß ihn in eine geheime Lade, wo sie ihre Heiligtümer aufbewahrte, die spärlichen und armen Erinnerungszeichen früherer Zeit: ein Kindergebetbüchlein, das arme Kränzlein, mit dem man sie am ersten Kommuniontag geschmückt, ein paar zierliche Schühlein von rotem Stoff, die ersten, die man ihr gekauft und die kaum abgenutzt waren. Andere Schätze besaß sie nicht.

Oft in ihrer Einsamkeit nahm sie den Brief heraus und las ihn, zum hundertstenmal. Er war mit der Zeit fleckig geworden von den Tropfen, die darauf fielen.

Und die arme Frau quälte sich mit Vorwürfen.

*

Ein trauriges Ereignis entriß sie ein wenig dieser Selbstqual. Der Baron Ulrich erlitt eines Tages einen Schlaganfall, der die vollständige Lähmung seiner ganzen rechten Seite nach sich zog. Er wurde dadurch fast unbeweglich, er sah sich für immer ins Zimmer gebannt.

Wenn er nur einen Schritt machen wollte, mußte ihn jemand stützen, und er verlangte, daß Elsa ihm nicht von der Seite weiche.

Und Geduld besaß er auch keine, der Mann, der nie im Hause gelebt, dessen Leben die Ungebundenheit selber war, in des Wortes verwegenster Bedeutung.

In ihrer Not verfiel Elsa auf den Gedanken, dem Baron vorzulesen, um ihn, wenn nicht zu erbauen, so doch zu zerstreuen. Er mochte aber von allem nichts wissen. Sie sollte ihn, verschonen mit dem Zeug.

Dabei wollte er bersten vor Mißmut und Langerweile. Er kannte nur eine Zerstreuung: seine arme Frau zu mißhandeln. Und zuletzt kam er selber aufs Lesen zurück.

Er bezeichnete seiner Frau einen Kasten in einer verlassenen Kammer. Dort lagen die alten Kalender, ein hoher Haufen, er erinnerte sich, als Junge darin geblättert zu haben. Von diesen Geschichten solle sie ihm vorlesen.

So saß denn die junge Frau neben dem Lehnstuhl des Gelähmten und las die alten Kalenderhistörchen, von den albernsten, die man sich denken kann. Und die allerrohesten, die auf grobe Hänseleien und derbe Spaße hinausliefen, gefielen ihrem Manne am besten.

Unwillkürlich dachte sie an die Zeit zurück, wo sie mit Ulrich Lorum zusammen die »Jungfrau von Orleans«, die »Maria Stuart« und die Szenen von »Max und Thekla« gelesen, hinter dem Hause in der alten Gaisblattlaube, in der verlassenen Bodenkammer, am Feldrain unter wildem Rosengebüsch, auf den moosigen Steinwällen des Kunibergs, auf einsamen Waldwegen.

Damals, das war ein anderes Leben. Und Ulrich Lorum ward in ihrer Phantasie wieder der unschuldige junge Mensch aus jenen Tagen, mit der knabenhaften Schüchternheit, mit den großen reinen Augen, aus denen er sie so hell anblickte.

So las sie Tag für Tag, die albernen Schnurren und Anekdoten. Aber ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit, bei Ulrich Lorum, dem Freunde ihrer jungen Tage.

Wenn ihren Mann eine böse Laune anfiel, gab er ihr rohe Stöße und jagte sie hinweg. Und rief wieder nach ihr. Und machte ihr einen Auftritt, daß sie nicht wußte wo ein und aus. Und lachte gleich darauf unbändig über einen gemeinen Bauernscherz.

Dann starb der Baron Ulrich im zweiten Jahre seiner Krankheit, und ließ sie allein zurück in dem weitläufigen freiherrlichen Schlosse, allein mit der alten Regine, deren Taubheit jeden Verkehr unmöglich machte. Die Mutter in Godramshausen war schon im Winter zuvor ihrem Beinübel erlegen.

Da gab es talauf talab keine einsamere Menschenseele als die junge Schloßherrin von Wenkheim. Den Tod ihres ungeduldigen und rücksichtslosen Gatten mochte sie als eine Erlösung empfinden; aber indem die junge Frau damit jeder Pflicht ledig wurde, verlor sie auch alles, was ihr Leben seither, wenn auch in unerfreulicher Weise, ausgefüllt hatte.

Gern hätte Elsa nun darnach gegriffen, was sie einst von sich abgewehrt. Die Nachfolgerin ihrer Mutter war noch nicht bestimmt. Und die Tochter hätte sich gern um das Amt beworben, in dem sie, wie sie nun wohl einsah, so viel des Guten stiften konnte.

Aber dem widersetzte sich der Pfarrer Fleuchhaus. Ihr verstorbener Mann, wenn man ihn fragen könnte, würde dazu niemals seine Einwilligung geben, er würde im Gegenteil einen solchen Schritt auffassen als eine Beschimpfung seines Andenkens; ihre heiligste Pflicht aber sei die Ehrung des Verstorbenen. Darum werde sie gewiß von ihrem Vorhaben abstehen.

Und Elsa fügte sich der geistlichen Autorität.

Sogar die Mutter hatte vor ihrem Ende, ohne es zu wollen, der armen Baronin einen üblen Streich gespielt. Sie hatte ihr Häuschen an einen jungen Schuhmacher verkauft, der um diese Zeit aus der Fremde heimgekehrt war. Elsa würde sich glücklich geschätzt haben, hätte sie jetzt wieder ganz als Bachstelze in das enge trauliche Gehege ihrer Jugend zurückkehren dürfen. Die weiten Schloßräume und der verwahrloste Park machten ihr die nichtige Armseligkeit ihres zwecklosen Daseins um so fühlbarer.

Die ganze brüchige Schloßherrlichkeit gehörte ihr ja doch nicht, sie wohnte darin doch nur wie eine Geduldete. Im Grunde gehörte ihr gar nichts, soviel wie nichts. Die geringste Bäuerin war reicher als die Frau Baronin von Wenkheim.

Elsa hatte sich nie um die Vermögensumstände des Barons gekümmert. Vielleicht hatte überhaupt niemand darum gewußt, außer einem, außer dem Sultan der kleinen Türkei, dem Herrn Niklas Holler, Ochsenwirt zu Grünsfeld. Er war dem Baron Ulrich noch etwas anderes gewesen, als Freund und Jagdgenosse. Ihm hatte der Baron nach und nach seine beiden Pachthöfe zu Brunnacker und zu Hirschlanden verpfändet, die letzten der ehemals weitausgedehnten Familienbesitzungen, die einzigen, die Ulrich noch ererbt hatte.

Der Baron, der sehr erbaulich, sehr christlich, sehr standesgemäß starb, hinterließ auch ein standesgemäßes Testament. Darin vermachte er »Schloß und Park zu Wenkheim, nebst den dazugehörigen Grundstücken daselbst dem katholischen Waisenhaus Sankt Joseph in Walldürn, damit arme verlassene Kinder daraus eine leibliche Wohltat und christliche Erziehung genießen sollen, solche, die ohne die christliche Barmherzigkeit beides entbehren müßten«. »Also verfüge ich,« lautete die Testamentsstelle, »daß es zur Ehre Gottes und seiner Heiligen gereiche und meiner armen Seele zum ewigen Heil, wie ich im Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit und die blutigen Verdienste meines am Kreuze gestorbenen Erlösers gläubiglich hoffe, Amen.«

Seine hinterlassene Witwe hatte er nicht vergessen, sie sollte bis zu ihrem Tode in der Nutznießung jener Besitztümer verbleiben.

Um ihrem Bedürfnis nach irgend einer Beschäftigung zu genügen, beschloß Elsa, ihr ehemaliges Handwerk wieder aufzunehmen, sie trug sich den Frauen als Schneiderin an. Allein den Bäuerinnen stak das Untertänigkeitsgefühl gegenüber dem freiherrlichen Geschlechte von Jahrhunderten her unausrottbar im Blute. Sie empfanden vor der Schloßwitwe, obwohl diese einst weniger als ihresgleichen war, eine unüberwindliche Scheu, und nur selten entschloß sich jemand, der früheren Bachstelze eine Arbeit aufzutragen.

Unterdessen verstrich dennoch die Zeit, Jahr um Jahr. Die einsame Bewohnerin des Wenkheimer Schlosses suchte und fand Trost in der Frömmigkeit, die ihr von Kindheit auf natürlich war, und die sie nun immer mehr auch in ihren äußern Formen fleißig übte, also, daß sie ihr gewissermaßen eben auch als Mittel der Unterhaltung und des Zeitvertreibs diente.

Zu manchem konnte die Frömmigkeit gut sein. Aber für Elsas beunruhigtes Herz bildete auch sie zuletzt kein genügendes Mittel, sie vermehrte sogar die Unruhe und Qual dieses Herzens. Denn alle Selbstquälereien der einsamen Frau entsprangen aus dem Gedanken, einen Menschen durch lieblose Behandlung vielleicht ins zeitliche und ewige Verderben gestoßen zu haben.

Oft, wenn die einsame Schloßfrau lange in einem frommen Buche gelesen hatte, geschah es, daß sie die heilige Lesung plötzlich auf die Seite legte. Dann nahm sie einen alten Brief aus der Lade. Sie wußte seinen Inhalt auswendig. Aber sie las ihn dennoch, von Anfang bis zu Ende. Sie las ihn zweimal, dreimal. Dann legte sie auch dieses Schriftliche neben sich hin zu dem umgeklappten »Seelentrost« oder wie sonst ihr Andachtsbuch gerade hieß. Oder die Hände, die das Papier hielten, sanken in den Schoß, und die Einsame saß wie geistesabwesend, ihre Augen schauten ins Leere.

Mit selbstquälerischen Gedanken dachte sie an ihn.

VIII.

Und dann, eines Tages, stand er vor ihr.

Nicht im Geist. In voller Leiblichkeit.

Im Geist, in der Phantasie, hatte sie ihn genug gesehen, täglich und stündlich. Dennoch erkannte sie ihn jetzt nicht.

Der Leibhaftige vor ihr glich auch kaum dem Bilde, das in ihrer Seele lebendig war. Er sah mehr als heruntergerissen aus, jedes Stück an ihm war ein schmutziger Lumpen. Seine Schuhe hatten Löcher und sein schmieriger Hut saß ihm zerknittert im Genick. Und Elend und Verworfenheit war es, was seine unsauberen und verfallenen Hände redeten und sein stummer verkniffener Mund, seine mißfarbige spitzige Nase, seine verwüsteten Schläfen, seine schmutzig verklebten roten Haare, seine hohlen Augen mit den schweren schlaffhängenden Lidern. Und ein entsetzlicher Duft und Dunst ging von ihm aus.

Ein höhnisches Lachen aber kam aus seinem Munde.

»Hoho, bist erschrocken? Ich bin dir zuwider ... Riechst mir das Zuchthaus an ... Kannst ja nach der Hundpeitsche greifen ... Ist aber nicht nötig, werde dich nicht lange inkommodieren. Bin nur auf der Durchreise. Dein sauberer Baron ist krepiert ...«

Elsa fiel ihm ins Wort.

Was sie sprach, wußte sie in ihrer Verwirrung und Bestürzung selbst nicht recht. Sie hatte Mühe, ihre Worte hervorzubringen. Als ob ihr etwas die Kehle zuschnüre. Sie wußte auch kaum, was in ihr vorging. Es war aber, wie wenn ein lang gehegtes süßes Gefühl, zart geartet, ganz aus dem Gemüt und der Phantasie erwachsen und der Frömmigkeit verwandt, heilig und engelhaft schön, überfallen und erstickt würde von etwas Garstigem, Entsetzlichem, Ungeheuerlichem. Es war, wie wenn etwas Heimlich-Lebendiges in ihr überwältigt und vernichtet werden sollte. Und sie fühlte sich erschüttert im Innersten. Sie sank auf einen Stuhl, und ein Strom heißer Tränen brach aus ihr hervor.

Ulrich Lorum hatte sich ebenfalls zum Sitzen niedergelassen, er starrte blöd auf die Weinende hin. Die Tränen brachten Elsa Erleichterung, sie erholte sich und wurde ruhiger. Dann schnellte sie mit einem plötzlichen Ruck vom Stuhle empor.

Das war der äußere Ausdruck eines innerlichen Willensaktes. Sie wußte jetzt, was sie wollte. Noch könne alles wieder gut werden. Wenn nur Ulrich bleiben und von neuem ein ordentlicher Mensch werden wolle.

Aber Ulrich Lorum machte keine Miene darnach. Er wartete dafür mit hochtrabenden Redensarten auf. Er sprach von dem heiligen Gut der Freiheit, von der Unverkäuflichkeit des freien Menschen. Er zitierte: »Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittere nicht.« Es war ihm gleichgültig, ob das Zitat mit seinen eigenen Worten einen Zusammenhang hatte oder nicht.

Er gefiel sich einmal in solchen Reden. Und er fand dazwischen Worte, deren jedes die ehemalige Freundin gleich einem Dolchstich in Herz und Gewissen traf. Sie beschwor ihn unter Tränen. Und ihre flehentlichen Bitten waren seiner Eitelkeit ein süßer Kitzel. Er feierte Triumphe, aber er ließ sich nichts anmerken, er blickte in finsterem Hohn, er ließ sie den Kelch der Verzweiflung bis auf die Hefe trinken.

Zuletzt aber zeigte er sich gerührt und willigte in alles ein.

*

Im Schloß sollte Ulrich aber nicht bleiben, das wollte Elsa nicht, sie besorgte ihm selber ein Zimmer im Dorf.

Und das Arbeiten sollte er wieder lernen. Elsa stellte ihm die Garderobe des Barons zur Verfügung, daß er sich zunächst selber einen passenden Anzug zurechtschneidere. Noch andere Arbeit trug sie ihm auf. Man stand vor Ostern, und es war hergebracht, daß von den Kindern, die zur ersten Kommunion gingen, die vier ärmsten, zwei Knaben und zwei Mädchen, auf dem Schlosse gekleidet wurden. Diesen Brauch hatte Elsa, obgleich selber arm, nicht eingehen lassen und sie übte ihn auch dieses Jahr wieder. Die Kleider für die Mädchen verfertigte sie wie immer mit eigener Hand; die Bekleidung der Knaben übertrug sie Ulrich Lorum. Bestellungen aus dem Dorfe und der Umgegend kamen hinzu. Und alles ging gut.

Dann war's am Sonntag Jubilate. Die Predigt war beendet, die gottesdienstlichen Verkündigungen verlesen, und der Priester kam zu dem Kapitel, das manche Gemeindeglieder, ihrer Frömmigkeit unbeschadet, mehr zu interessieren pflegte, als der ganze übrige Gottesdienst, zu dem Kapitel, das da anhebt: Zum heiligen Sakrament der Ehe haben sich versprochen ... Und das diesmal fortfuhr: Der Schneidergeselle Ulrich Lorum, unehelicher Sohn der ledigen Ulrike Lorum, Dienstmagd aus Wenkheim, und Elisabeth, Freifrau von Wenkheim, verwitwete Gemahlin des Hochseligen in Gott ruhenden Freiherrn Ulrich von Wenkheim, Tochter des ... und so weiter.

Am Dienstag vor Pfingsten schlossen sie die Ehe.

*

So gegen ein Jahr lang nahm sich Ulrich zusammen. Nicht daß er dem gewohnten Schnaps in dieser Zeit entsagt hätte, aber er trank ihn wenigstens verstohlen und mit Maß. Aber nach und nach wurde dieses Maß immer größer. Und bald tat er sich auch nicht mehr den geringsten Zwang an. Warum auch? Dazu war er nicht Baron geworden, wie er ja allgemein hieß. Auch nicht um zu arbeiten.

Er rühmte sich gern, er besitze ein Atelier – wie er es nannte –, daß sich kein Schneider im ganzen neuen deutschen Reiche mit ihm messen könne; denn er hatte seinen Arbeitstisch im großen Saale des Schlosses aufgestellt. Aber er saß doch lieber am Wirtstisch. Sein Saal war ihm zu einsam, er hatte hier niemand um sich, der ihn bewundern konnte. Die Ahnenbilder an den Wänden, die Freiherren und Freifrauen von Wenkheim, machten allerdings verwunderliche Gesichter, doch das genügte ihm nicht. Dieses Gelichter war so steif, so stumm, das sagte nicht jeden Augenblick »Herr Baron« zu ihm. Und so feierlich sahen sie aus. Er schämte sich vor ihnen. Sie schienen ihm Vorwürfe zu machen, daß er ihr Andenken schände durch gemeines Handwerk. Er wollte ihrer nicht unwürdig sein ...

In den Wirtshäusern fand er sich besser an seinem Platz. Hier fühlte er sich ganz als Baron, denn nur hier hörte er sich so nennen. Und das hatte er nötig. Er hätte sonst daran zweifeln können, seine Würde war noch so jung.

Und nur im Wirtshaus kam seine Schauspieler-Eitelkeit auf ihre Rechnung. Hier konnte er Reden halten. Reden zu halten aber gehörte notwendig zu seinem Glücke. Das war einmal sein Talent, das durfte er nicht brach liegen lassen.

Hätte er aus dem Schloß sein Gefängnis machen sollen? Da wäre er ein Narr gewesen. Dazu war er nicht Baron geworden.

Die arme Elsa bekam dies täglich zu hören. Und noch andere, bösere Dinge. Für ihre Liebe, ihre frühere und spätere, hatte er keine Erkenntlichkeit. Vielmehr wuchs in ihm ein unverständlicher und unheimlicher Groll gegen das arme Weib. Es war, als ob von ihrer gemeinsamen Vergangenheit alles ausgelöscht wäre aus seinem Gedächtnis, mit Ausnahme eines einzigen Wortes, jenes unbedachten, jenes Wortes der Notwehr. All ihre Liebe, all ihre Opfer galten für nichts. Nichts blieb ihr vermerkt, als jenes Wort. Täglich, stündlich, mußte sie's hören. Ob er torkelnd im Rausche kam, oder ob er nüchtern an einer Arbeit saß, voll giftiger Ungeduld; ob sie eine Ermahnung wagte, oder ob sie schwieg: er hielt ihr in allem nur das eine Wort entgegen, das Wort von der »Hundspeitsche«.

Damit, sozusagen, peitschte er ihre Seele, täglich, stündlich. Er kannte die Wirkung seines Marterwerkzeugs, er gebrauchte es ohne Unterlaß ... Die arme Bachstelze!

*

Von verschiedenen Seiten hörte ich die Geschichte. In verschiedener Darstellung. Und von allen interessierte mich die des »Barons« nicht am wenigsten. Durch seine eigene Erzählung gewann seine Gestalt erst die volle Rundung. Was er erzählte, war sehr charakteristisch; wie er es erzählte, war es noch mehr.

Und natürlich schloß er seine Erzählung – er hatte unterdessen sechs Glas Zwetschgenwasser getrunken – mit einer philosophischen Betrachtung. Ich hatte darauf gewartet.

»Sehe Sie, mein Herr,« begann er, indem er seine Stimme feierlich erhob, und seinen Jargon aus fränkischem Dialekt und einzelnen norddeutschen Endungen und Wendungen dem Schriftdeutsch so viel als möglich annäherte, »sehe Sie, so spielt das Leben mit dem Menschen, wie die Katze mit der Maus. Und spielt so lang, bis es ihn auffrißt, den einen früh, den andern spät. »Der Held dringt kühn voran, der Schwächling bleibt zurück«, sagt Schiller. Kein Mensch aber kann wissen, was das Leben mit ihm vor hat. Er muß mit sich machen lassen. Er muß, sag ich Ihne. Das ist mein Grundsatz: er muß fünf grad sein lassen, wie die Wenkheimer. Ich wollte eine Schneidermamsell heiraten und ein kleiner Meister werden. Das Leben hat es nicht gewollt. Das Leben aber ischt stärker als der Mensch; denn das Leben ist das Ewige, sagt schon Darwin. Wir armen Menschen wissen weder Babylon noch die Löwengrube, und gleich dem Propheten Habakuk ergreift uns das Leben am Schopf und führt uns hin, wohin wir sollen. Und sagt kein Wort dabei – Sie lächeln, mein Herr – und sagt kein Wort dabei, sag ich Ihne. Nur denjenigen, den es zum Großen bestimmt hat, gibt es ein Zeichen. Mich hatte es zum Baron von Wenkheim ausersehen, darum hieß ich schon in der Wiege Ulrich ... Darum hieß schon meine Mutter Ulrike ...«

Er war sicher, daß man ihn bewundern müsse, wenn er so sprach. Dennoch blinzelte er mich fast mißtrauisch an.

»Sie denke vielleicht, ich sei ein Lump«, unterbrach er sich dann plötzlich, »Sie habe Recht, ich denke es manchmal selber. Warum bin ich aber auch der letzte Baron von Wenkheim geworden? Als erster wäre ich ein Held gewesen, so gut wie ein anderer. Der Letzte ist immer ein Lump ...«

Ich lächelte zustimmend, bezahlte dem letzten Baron von Wenkheim einen letzten Schnaps und ging hinaus, die Seele voll trauriger Gedanken über Menschenglück und Menschenlos.


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