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Zu einer Zeit, da ihm jede Möglichkeit einer Aufführung noch in nebelhafter Ferne erscheinen mußte, las Richard Wagner vor einem ausgewählten Zuhörerkreis in Berlin seine »Götterdämmerung« vor. Dabei hat er als Einleitung unter anderem gesagt: »Somit konnte es möglich werden, dem Dialoge, bei aller ihm nun geretteten Präzision, eine das ganze Drama beherrschende Ausdehnung zu geben, und dieser Gewinn ist es, was mir heute ermöglicht, ein dramatisches Gedicht, welches andererseits einzig der Möglichkeit einer vollständigen, musikalischen Ausführung seine Entstehung verdankt, nackt als solches Ihnen vorzutragen, da ich es als durchaus dialogisierte Handlung demselben Urteil unterwerfen zu können glaube, dem wir ein für das rezitierte Schauspiel geschriebenes Stück vorzulegen gewöhnt sind.«
Herr von Possart, der es liebt, sich auf Richard Wagner zu berufen, kennt ohne Zweifel diese Worte so gut wie irgend einen anderen Ausspruch des Meisters. Vielleicht waren sie ihm sogar im geheimen ein Stützpunkt, als er jetzt, wo fast dreißig Jahre seit der Grundsteinlegung auf dem Festspielhügel in Bayreuth vergangen sind, und die »Götterdämmerung« bereits in Städten wie Augsburg verhunzt wird, durch große Anschlagzettel verkünden ließ:
Vier Rezitationsabende:
Der Ring des Nibelungen.
Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend.
Wir sind es in München gewohnt, daß neue Taten unseres Intendanten mit Trompetenstößen verkündet werden. Entweder durch die Presse, die sich seit der Gründung des Prinzregenten-Theaters fast ausnahmslos auf Gnade und Ungnade ergeben hat, oder durch ihren Bezwinger persönlich. Diesmal geschah es durch beide. Ein »geschätzter Freund« der »Münchner Neuesten Nachrichten« war in der Lage, schon vorher zu verkünden, was das Hauptergebnis dieser Rezitationen sein werde: »Der monumentale Wert der Dichtung als solcher, losgelöst von Musik und allen ergänzenden Künsten der Aufführung, wird in einer Weise in Erscheinung treten, die von den meisten Hörern kaum geahnt wurde.« In ähnlichem Sinne äußerte sich der Vortragende auf dem Podium. Er wolle zum eingehenden Verständnis und zur immer größeren Popularität dieses einzigen, musikalischen Dramas beitragen. Mit dem zugrunde gelegten Worte wolle er vertraut machen, damit man bei den Bühnenaufführungen das Fortschreiten der Handlung leichter verfolgen könne. Sollte es ihm dabei vergönnt sein, aufs neue zu beweisen, daß der unsterbliche Tondramatiker auch ein großer Poet war, dann wäre die Aufgabe des Vortragenden erfüllt.
So klang es etwas gedämpfter, etwas bescheidener als in den Worten des von Herrn von Possart gewiß nicht minder »geschätzten Freundes«. Ein recht Naiver hätte allerdings fragen können, ob der Herr Intendant seine guten Absichten nicht besser durch möglichst gediegene Aufführungen des Nibelungenringes zu erreichen hoffe. Das Werk ist nun mal, wie jede Schöpfung Wagners, ein unzertrennbares Ganzes von Malerei, Dichtung und Tonkunst. Viel, sehr viel müßte hier noch daran gearbeitet werden, und zwar nicht nur in blendenden Dekorationen und farbenprächtigen Szenenbildern. Das Wort, das Herr von Possart zu Ehren bringen will, sollten zunächst seine Sänger gewissenhaft durchbilden, dann gibt sich der große, dramatische Zug des ganzen Werkes von selbst und mit ihm die Dichtung in ihrer vollen, tragischen Wucht. Stellt der unermüdliche Vortragsmeister und hervorragende Regisseur seine Energie und physische Ausdauer in den Dienst dieser Sache, dann ist das ein wirklicher Beitrag zur größeren Popularität des Musikdramas, die Rezitationen des Rings aber sind meiner Meinung nach nur ein Beitrag zur größeren Popularität des Herrn von Possart.
An einem Notenpult stehend, leitet er sie ein. Er liest den Titel, die gekürzte Beschreibung der Szenerie, dann setzt er ein mit tönendem Wagalaweia. Gleich diese ersten Naturlaute, so einzig in der Musik, zeigen das Bizarre des ganzen Unternehmens. Ein Nichts sind sie im Munde des Rezitators. Er huscht denn auch schnell über sie fort, hier scheint selbst er das Unmögliche zu fühlen. Und nun liest er weiter, er liest, nein, er spielt mit Händen, Armen, mit dem Gesicht, mit dem ganzen Körper. Stellt er die Rheintöchter dar, dann macht er kreisförmige Rumpfbewegungen, als Wotan streckt er die Arme hoheitsvoll in die Luft, als Alberich sinkt er in die Kniee, als ungeschlachter Riese torkelt er mit beiden Beinen hinter dem Pulte herum, und als Loge gestikuliert er wie ein polnischer Handelsjude. Unerträglich wird's gar, wenn die Damen zu Worte kommen. Freya, die junge Göttin, ist die affektierteste, aber auch Fricka ist alles eher als die herbe Gattin des Gottes, der sein Auge werbend um sie gegeben. In koketten Fisteltönen fragt sie, ob wohl des goldenen Tandes gleißend Geschmeid auch Frauen tauge zu schönem Schmuck, und dabei verdreht sie lüstern die Augen. Nur einmal schlägt ein kraftvoller Ton in dieses heillose Durcheinander von quieksenden und gröhlenden Stimmen: als Alberich den Ring verflucht. Bei diesem gewaltigen Ausbruch menschlicher Leidenschaft vergaß Possart seine ganze Manier. Bisher hatte er den Zwerg im polternden Tone des Schauspielers Häusser gesprochen, nun platzte er plötzlich heraus zu einem freien, hinreißenden Akkord.
Als geschlossenes Kunstwerk wirkte diese eine Stelle. Sonst drängte sich jedem, der nur etwas vertraut mit dem Tondrama ist, überall die Komposition auf, am stärksten an den zahlreichen lyrischen Stellen. Das ist freilich nicht die Schuld des Vortragenden. Hat ihn aber bei der Ankündigung dieser sogenannten Rezitationen wirklich nur die selbstlose Absicht geleitet, seine Hörer mit der Dichtung vertraut zu machen, dann mußte er sich in einfacher Weise an das geprägte Wort halten und durfte den Ring nicht als Komödie mimen.
Ich war nach diesen Eindrücken vollauf gesättigt und machte mir nur noch das besondere Vergnügen, in den Zeitungen zu lesen, mit welcher Glut Herr von Possart den ersten Akt der Walküre verkörperte, wie köstlich er das Waldweben flüsterte, und wie munter er als Vöglein auf den Zweigen der Linde gezwitschert hat.
Auch von der Begeisterung der Münchener hab ich mir Wunderdinge erzählen lassen. Je nun, der Intendant des Hoftheaters hat noch guten Kredit. Sein Publikum und seine Presse haben sich zwar früher recht schlecht gegen ihn benommen, heute würden sie selbst dann in Verzückung geraten, wenn er auf der ewigen Jagd nach neuen Überraschungen auf die reizende Idee verfallen sollte, die Elisabeth im Tannhäuser oder die Venus zu singen.
Weil sie sich aber gar so viel darauf zugute tun, daß Wagner ihr Gott ist und Possart sein Prophet, will ich ihnen zuguterletzt noch was verraten. Die am Eingang zitierten Worte des Bayreuther Meisters über die Berechtigung seiner Vorlesung sind nämlich nur eine Schlußfolgerung aus dem zuerst gesprochenen gewichtigen Satze: »Die Musik ist es nun, was uns, indem sie unablässig die innersten Motive der Handlung in ihrem verzweigtesten Zusammenhange uns zur Mitempfindung bringt, zugleich ermächtigt, eben diese Handlung in drastischer Bestimmtheit vorzuführen: da die Handelnden über ihre Beweggründe im Sinne des reflektierenden Bewußtseins sich uns nicht auszusprechen haben, gewinnt hierdurch ihr Dialog jene naive Präzision, welche das wahre Leben des Dramas ausmacht.«
* * *
So wie man's da liest, schrieb ich vor fast fünf Jahren im Berliner »Tag«. Inzwischen hat sich manches geändert. Die Leitung der Königlichen Bühnen ist an Baron Speidel übergegangen, die Kritik über die Wagner-Deklamationen ist wesentlich einfacher geworden, und Herr von Possart trägt jetzt den Parsifal vor. Unverändert blieb nur die sogenannte gute Münchener Gesellschaft, die auch dem neuesten Experimente jubelnden Beifall spenden würde, hätte nicht der Meister, das heißt der Meister des Vortrags, in Rücksicht auf die Weihe des erhabenen Werkes, sowie in getreuer Nachahmung Bayreuther Vorbilder die dringende Bitte ausgesprochen, von jeder lärmenden Kundgebung Umgang zu nehmen. Man darf also nicht einmal lachen, wenn die Blumenmädchen in allen Tönen quieksen, wenn der reine Thor sein kindliches Lallen hören läßt und Gurnemanz im Stile eines Bassisten der Provinzialbühnen gröhlt. Man muß ruhig sitzen, weil jeder schiefe Blick die andachtsvoll lauschende Menge zur Lynchjustiz triebe, man muß das Unmögliche, das hier zum Ereignis wird, über sich ergehen lassen und muß – verzweifeln?
Nein. Das wäre das Objekt nicht wert, das hier in Frage kommt. Allerdings, wer eine Pasquinade schreibt, im sichern Glauben, zu ändern, zu bessern, mag sich am nächsten Baum aufhängen. Und wer da von Hoffnung getragen ist, weil die Presse einer gefallenen Theatergröße jetzt wieder den Rücken kehrt, mag die mildere Form des Ertränkens wählen. Es bleibt auf dieser Erde immer und überall alles recht hübsch beim alten. Vielleicht ein kleiner Ruck, ein mattes Aufleuchten, ein Huschen. Aber auf solche Symptome, die mir wohlmeinende Menschen oft mit Befriedigung als Zeichen der Zeit vorhalten, gebe ich nicht einen Pfifferling. Auch darauf nicht, daß viele jetzt nachplappern, was ich über verschiedene Dinge schon viel früher gesagt habe. Denn diese selben werden dann wieder Jahre brauchen zur tiefsten Selbstverwindung, wenn die fortschreitende Zeit, sowie der reichlich vorhandene Stoff neue Verspottung neuer gewappelter Lokalgrößen und Cliquen erfordert. Sie werden auf mich schimpfen, wie sie damals geschimpft haben, im ewigen Wechsel des Mondes und in der steten inneren Wandlung aller Begriffe, denen solche Lebewesen auf unserem Planeten nun einmal ausgesetzt sind.
Nicht, als ob sie etwa der gegenteiligen Meinung wären. Ich maße mir nicht an, zu behaupten, daß, was ich in meinen Satiren sage, außer mir keiner fühle und keiner sagen könne. Tausende fühlen es, tausende sprechen es aus – im geheimen. Sie könnten's auf ihre Weise ebensogut und so schlecht vorbringen wie ich, aber die Herde ist groß und der Leithammel sind viele, so läuft man denn mit. Das ist bequemer und kostet weniger Aufregung. Auch steht man nach außen gesicherter. Man freut sich wohl, man reibt sich heimlich die Hände, wenn einer etwas aufs Dach kriegt, der als geschwollener Knallprotz herumsteigt; soll man aber Stich halten, soll man öffentlich bekennen, vielleicht gar vor Gericht, dann schwört man dreimal lieber einen falschen Eid, als einmal ehrlich zu sagen, daß, was man mit stillem Behagen las, der Wahrheit entspricht. Oder noch besser: man entzieht sich von vornherein jedweder Parteinahme.
Ja, wenn man Sachverständiger sein darf, richtiger Experte in Fragen der Kunst, der Religion und der Sittlichkeit, da prangt man in vorderster Reihe, erzählt rührsame Geschichten und bläht sich auf wie ein Pfau. Denn erstens will man von Kunst doch etwas verstehen, man wünscht als frei zu gelten im Punkte der unbefleckten Empfängnis. Und nicht zuletzt ist's eine Auszeichnung, wenn man von den in allen Witzblättern bis zum Überdruß abgehetzten Herren Bohn und Roeren für äußerst unsittlich erklärt wird. Auch hat man jene Presse hinter sich, die sich mit seltsamer Hartnäckigkeit die unabhängige nennt und jeden Seufzer eines dem Angeklagten wohlgesinnten Sachverständigen stenographisch genau so wiedergibt, wie er vor den Schranken herauskommt. Kämpft man nun gar gegen den Staatsanwalt, dann ist man des Beifalls erst recht sicher, denn da hat man alle um sich gegen den einen und braucht sich niemals zu fürchten, weil man ja selber nicht sitzen muß, wie der, dem man beisteht. Niemals aber wird man korrupt nennen, womit man selber verspezelt, versippt oder verschwägert ist.
Sie bleiben somit in Permanenz erklärt und aufs engste verbunden: die Dummheit und die Gemütlichkeit. Aber das macht nichts. Im Gegenteil, je dicker sie aufgetragen werden, um so fester beißt man hinein, um so lieber und froher. Denn was ist im Grunde Satire? Nichts weiter als künstlerische Freude an der Erkenntnis. An jener Erkenntnis, die man allein für die richtige hält, und die, aller Gegenrede zum Trotz, auch die richtige ist. Da mag man über das Ziel hinausschießen, man mag im Kleinen ungerecht sein: die große Linie steht unverrückbar fest, und hat man sie einmal gezogen, braucht man keine Motivierung, keine Zeugen, keine Sachverständigen. Man kann allein stehen, und mit dem starken Gefühl, ins schwarze getroffen zu haben, auf Gott und die Welt pfeifen. Auch auf den Staatsanwalt, behaupte ich. Der will einen freilich zwicken und zwacken, wo er nur kann. Aber einerseits ist das ein Umstand, dem wir alle gleichmäßig unterworfen sind, wie wir da schreiben, andererseits wird einem dieser unerfreuliche Beamte um so weniger ankönnen, je sicherer die Sache ist, die man vertritt. Und der Weisheit Schluß ist doch der, selbst dem Staatsanwalt noch ein Schnippchen zu schlagen. Denn über ihm und seinen Paragraphen steht jene Justiz, die von einem größeren Gesichtspunkte aus urteilt als von dem des Gesetzes, vom Gefühl und vom Standpunkte des gesunden Menschenverstandes. Das ist die Justiz aller Satiriker, die immanente Gerechtigkeit, das alte Volksgericht des Haberfeldtreibens.
Ihm möchte ich als Abkömmling oberbayrischer Bauern zum Schluß noch ein Lied singen. Es ist mir ja wohlbekannt, in welcher Weise dieser merkwürdige Brauch mit den Jahren bis zum Exzeß ausartete. Das war schließlich kein Sittengericht mehr, sondern nur noch die zielbewußte Agitation einiger Bankrotteure, die ihre eigenen, faulen Geldverhältnisse durch einen Trick nach außen zu verdecken suchten. Doch der Kern dieses Volksgerichts ist ein gesunder, eben weil es Taten zur Rechenschaft zieht, die ein Paragraph niemals erreichen kann oder manchmal auch gar nicht erreichen will. Als ich daher in diesem Herbste las, daß draußen im Isarwinkel nach langer Zeit zum erstenmal wieder tüchtig getrieben wurde und daß die Gendarmen trotz eifrigsten Suchens keinen der Missetäter erwischten, da freute ich mich von ganzem Herzen. In dieser lendenlahmen, miserabeln Zeit, wo alles auf Zehen schleicht, wo alles kuscht und lispelt, wo alles kriecht, schielt, mit Rosenkranz oder Gesangbuch einhergeht, und besonders, wo ausgesprochene Gegensätze sich auflösen in einem Dusel von Alkohol, Gleichheit und Brüderlichkeit, von Christentum, Spiritismus und Neoromantik, ist's notwendig, daß unter dem Gekrach der Dreschflegel und unter dem Ablesen von Spottliedern manchmal aufgemuckt wird. Draußen auf dem Lande der lieben Geistlichkeit und dem mehr wie dünkelhaften Beamtentum. Bei uns in der Stadt jenen Sitten und Gebräuchen, die dank der Eselsgeduld der guten Münchener erbeingesessene geworden sind.
(Dezember 1906)