Josef Ruederer
Münchener Satiren
Josef Ruederer

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Der Hohe Schein

Ein prähistorischer Epilog aus alten Urkunden gesammelt

»Wenn man im Licht und auf der Höh' so schön und heilig wird, dann sollt' man halt alleweil hinaufsteigen und nie hinunter.« So sagt das junge Landmädchen, die Mathilde Schneidhofer. Und die alte Sennerin erwidert ihr mürrisch: »Was die Stadtleut' nur davon haben von ihrer Bergrennerei! Wegen der Aussicht heißt's alleweil. Der Mensch sollt' lieber Einsicht haben. Was hat er denn von der Aussicht? Verlogenes Zeug.« Aber das junge Mädchen mit seiner linden, weichen Stimme von jugendlichem Klang weiß es besser: »Geh, Lies. Wann du droben stehst auf einem Berg und schaust hinaus in die liebe, blaue Welt, dann hast du doch eine Freud' daran.« Die Sennerin wieder will das nicht gelten lassen. »Was weit is, lügt einen an«, sagt sie, »und unser Herrgott is auch weit, aber wirst sehn, ich kriegs noch einmal raus, wie er aussieht in der Näh'.« »Grillenmahm,« lacht das junge Mädchen. Und sie geht fort und legt sich schlafen ins Gras. Zur alten Sennerin aber kommt Herr Wilhelm Horhammer, der über steile Gipfel wandert und Haeckels »Welträtsel« mit sich trägt. Den Titel des Buches bestaunt die Lies. »Aus dem Buch könnt ich rauslesen, was alles in der Welt und was hinter allem steckt?« So fragt sie, die Sennerin nämlich. Und der fremde Herr gibt ihr zur Antwort: »Nein, gute Frau, in dem Buch steht nur, daß wir nicht wissen, wie alles ist.« Dann geht er und sieht Mathilde im Grase liegen. Wie auf einer schönen Frucht der zarte Flaum der Reife, so war auf diesem schlafenden Gesicht ein Hauch von Gesundheit und unberührter Frische. Die blühenden Büsche, die ihre Brust berührten, zitterten leise, so oft sie den Atem holte, und der blaue Morgenschatten war um sie her wie ein feiner Schleier, der ein Köstliches verhüllen und dennoch zeigen möchte. Da nimmt der Fremde den Hut ab: »Kann das Leben so schön sein? So friedlich? So rein?« Und er geht weiter, den »Hohen Schein«, von dem er herabgestiegen war, im Rücken, den Hohen Schein, dem er entgegenwandert, vor sich.

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Das sind lose, zufällig aufgefundene Bruchstücke aus einem alten, alten Roman[Ludwig Ganghofer: Der Hohe Schein] . Der ist gedichtet in grauer Vorzeit von einem Manne, der tief in den Bergen lebte, am Fuß zackiger Felsschroffen, mitten im Walde. Ludwig Hofganger nannte sich der Mann, und die Hütte, die er bewohnte, die Einkehr zum fidelen Jäger. Denn dieser blonde Wald- und Naturmensch war, wie die hier abgedruckten Proben beweisen, nicht nur ein großer Dichter, er war auch ein gewaltiger Nimrod vor dem Herrn. Angetan mit einem Bärenfell um die Lenden, den Köcher auf dem Rücken, den Pfeil in der Hand, durchzog er die Wälder und spähte durch seinen Zwicker eifrig nach dem Edelhirsch, dem Renntier oder dem Bären. Kam er aber heim von der Birsch, erschöpft und hungrig, dann setzte er sich hin und dichtete um, was er eben im Walde erlebt hatte. Oder er ließ sich nieder zu fröhlichem Zechen mit seinen Kumpanen und Freunden. Deren besaß er zahllose, wie alle Leute, die dichten und bei einer schöngelegenen Jagd noch eine Kegelbahn haben. Sie gingen fortwährend aus und ein, und ob sie sich Rechtsanwälte, Hofräte, Kammersänger oder Kapellmeister nannten, ob sie Juden, Christen oder Heiden waren, ob sie einander leiden konnten oder nicht: Alle waren darin einig, daß es im ganzen Urwald keinen famoseren Kerl gebe als den Ludwig Hofganger. Der Dichter hatte nämlich eine prächtige Art, allen gerecht zu werden: er war so fabelhaft objektiv. So hegte er, trotzdem er selbst ein ausgesprochener Optimist war, doch auch eine große Achtung vor den Pessimisten. Er sagte zwar, daß er sich in ihre Weltanschauung nicht recht hineindenken könne, immerhin bemühte er sich, sie zu verstehen, vor allem seinen Hauptkumpan, den Peter Schlemihl, der nördlich der Alpen ein der Regierung schroff opponierendes Blatt leitete, den »Serenissimus«. Dieser Mann mit den wilden, langen Haaren und dem durchbohrenden Blick war ein blutrünstiger Anarchist, der nur mit dem scharf geschliffenen Messer herumlief. In früheren Jahren soll er damit sogar den Ludwig Hofganger gelegentlich bedroht haben und gar nicht so gut auf ihn zu sprechen gewesen sein, aber das ist lange her, auch sind es unverbürgte Gerüchte, und durch die Jagd und durch das Kreisen der Becher gab sich das langsam, wandelte sich nach und nach sogar in die zärtlichste Freundschaft. Außerdem war Ludwig Hofganger, wie schon gesagt, fabelhaft objektiv. So liebte er denn seine Freunde nicht minder, als sie ihn liebten. Sah er sie aber alle froh beim Mahl beisammen, den Peter Schlemihl an der Spitze, merkte er, wie sie immer mehr Met tranken und mit voller Stimme das Tru-La-La sangen, dann schlich er zufrieden hinaus in den Wald, legte sich unter eine hohe Linde und blinzelte traumverloren, wie es eben die Dichter machen, durch die feine Herbstluft der Brunftzeit nach der Höhe zu den Bergen und weiter hinauf nach dem Hohen Schein, dem er in seinem Roman ein so begeistertes Lied gesungen hatte.

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Warum er das tat? Mit einem Wort läßt sich's nicht sagen, man muß da genau unterscheiden zwischen dem, was die damaligen Völker darunter verstanden. Der Hohe Schein ist also zunächst eine edel geformte Felsspitze, die im langgestreckten Tal über allem schlichten, treuherzigen Volk der Bauern und Bäuerinnen steil zum Firmament ragt. Er ist von allen Bergen, die ihn umgeben, der höchste, ein Abschluß, eine Trutzmauer, die immer verschieden leuchtet, bei Sonnenaufgang und Untergang, im Frühling und Herbst, im Winter und Sommer, so schön, so hell, daß die Wälder oft anzusehen sind wie ein welliges Rosenfeld, auf dem alles Grün versunken liegt wie unter pupurnen Blüten. Strahlt er aber so recht wie die brennende Freude, der das junge Leben entgegengeht, dann verwandelt sich langsam die starre Felswand, sie wird etwas anderes, größeres, das Steine und Berge versetzt, sie wird zum weithin leuchtenden Licht, das in alle Welt seinen Schimmer schleudert. Der aber ist so rein, so keusch, daß alles um ihn erlöschen muß, was sonst noch strahlen möchte auf Erden. Weg über alles ungewisse Dämmerlicht, über Nebel und Schatten thront er, ein Hort, ein Sammelpunkt, ein Führer, über allen Zweiflern, Nörglern und Schwarzsehern. Es ist eben die unversiegbare Lebenskraft in den bösen Zeiten der sozialen Unruhen, des französischen Trennungsgesetzes und der allmählichen Auflösung des Dreibundes. Und er rastet und ruht nicht, der Hohe Schein, er ist bald da, bald dort, heute im Süden, morgen im Norden, am Sonntag im Westen, am Dienstag im Osten. Wo er erglänzt, wo er durchdringt, werden grüne Guirlanden gespannt und Ehrenjungfrauen gemustert, Reden werden gehalten, alle Gesichter verziehen sich zum breitesten Grinsen, alle Reichsverdrossenheit verstummt und es bleibt nur noch ein großer Segen von oben, in welcher Gestalt er immer sich neigt, ein großes, erhebendes Bewußtsein, ein stürmischer Sieg des Optimismus über den Pessimismus.

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Der uralte, oft geschilderte Kampf, der nie enden will. Unsere größten deutschen Philosophen haben ihr Herzblut an ihn gegeben. Schopenhauer, Stirner und auch (Fürst Bülow hat's wenigstens irgendeinmal gesagt) Friedrich Nietzsche haben in Bänden zu beweisen gesucht, daß diese nach Leibniz beste aller Welten nichts weiter ist als ein graues, ödes Jammertal. Haben sie etwas erreicht damit? Man darf diese Frage vom Standpunkt der heutigen offiziösen Weltanschauung getrost verneinen. Was heißt im Grunde alles Wissen? Was ist der Weisheit letzter Schluß? An einer Stelle steht man ja doch vor der Mauer und weiß genau so viel wie zuvor. Ja, man berechnet die Größe der Planeten, man durchleuchtet den Körper mit Strahlen, man weiß, daß die Spermatozoen die Menschen erzeugen. Aber warum dies ist und wer es erstehen ließ: das soll einer erklären. Freilich leben wir im Zeitalter der Technik, des Verkehrs und der Wissenschaft, aber wir sehen auch in neuerer Zeit wieder, wie das von Gott gewollte Forschen der Menschen sich immer inniger an die erhabenen Gedanken seiner Schöpfung schließt. Dankbar blicken wir heute zurück, denn die starren Gesetze, womit menschliche Unduldsamkeit einst die ja auch vom Staat in gewisser Weise genehmigte freie Forschung zu knebeln vermeinte, haben sich gelöst zu einem edleren, harmonischen Bande. Wir erkennen heute im helleren Licht eine doppelte, göttliche Offenbarung: in der Verstandeskraft und im Gemütsleben des Menschen. In jener wurzelt der Forschungstrieb, in diesem der Glaube. Darum hat heutzutage nicht nur Herr Geheimrat Slaby Recht, sondern auch die prächtige alte Sennerin, die wir im ersten Kapitel des »Hohen Scheines« bereits kennen gelernt haben, wenn sie in ihrer derben, herzgewinnenden Art über den populärsten aller Zweifler, über Ernst Haeckel und seine »Welträtsel« mit befreiender Grobheit die lapidaren Worte spricht: »Wenn er nix weiß, der Lapp, weswegen schreibt er denn da so ein Endstrum Buch? Da bin i grad so gscheid wie der.«

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Alle diese großen Gewißheiten, alle diese Errungenschaften der prähistorischen Zeit, der damaligen Kultur und der staatlich geprüften Wissenschaft wollte nun der Hohe Schein in ein Museum zusammenfassen und diesem Museum in Form eines Prachtbaues persönlich nach Bierheim stiften. Das war eine ansehnliche Niederlassung, ein stattliches Pfahlbauerndorf von fünfhunderttausend Einwohnern, im Süden des Reiches, zu Füßen der Alpen. Wer diesen Namen im Ortslexikon sucht, findet ihn nicht mehr. Längst hat ihn, wie das Dorf, die Zeit mit dem Meer verschlungen. Nur dunkle Sagen melden noch aus der Urnacht, daß die Bierheimer Menschen waren, die breitspurig über den Bürgersteig tappten, immer nach links auswichen, den Schutzmann Schandi nannten und deshalb für äußerst gemütlich galten. Auch rühmt man ihre Ehrfurcht vor reichlichem Essen und nicht minder ihre Begeisterung für Bier- und Kaffeehäuser. Ihre Straßen waren, der damaligen Zeit entsprechend, in einem Urzustand von Dreck, ihre Frauen waren dagegen um so sauberer. Und was ein richtiger Bierheimer war, hatte stets eine ausgesprochene Vorliebe für große Geweihsammlungen. Daß sie fortwährend Bilder kauften, wird allerdings bestritten, doch scheint sich zu bestätigen, daß sie Maler und Bildhauer wenigstens nicht des Burgfriedens verwiesen. Handel trieben sie so gut wie gar nicht; den Nationalökonomischen Jahrbüchern zufolge muß aber eine ziemlich rege Fremdenindustrie bestanden haben, die in kräftiger Exploitierung des Einzelindividuums wie der Massen bestand. Die zahllosen Feste, die Bierheim veranstaltete, kamen dabei in bester Weise zu Hilfe, denn der Umsatz in Ansichtskarten und Laugenbretzeln stieg um solche Zeit ebenso wie der Absatz an Met und welschen Getränken, die krachten, wenn man die Flaschen aufmachte.

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Hoch über all diesem friedlichen Treiben, hoch über Bierheim und hoch über dem umliegenden Lande regierten die Wolken, die lieben, schöngeformten Wolken in olympischer Ruhe und Behaglichkeit. Sie lagerten seit Urzeit darüber, und weil sie schon gar so lange da waren und gar nicht mehr weggingen, weil sie friedlich zusammensaßen wie eine große Familie in einem Haus, nannte man sie unsere Wolken oder das angestammte Wolkenhaus. Denn die Bierheimer hingen an ihnen und ehrten sie bei jeder Gelegenheit, wo sie sich zeigten. Sie gaben ihnen Namen und hatten ihre Lieblinge darunter, so zum Beispiel eine, die sie ihrer großen, männlichen Erscheinung wegen den Alfonsi nannten. Der nahm nämlich manchmal die Form eines Gespannes an, vor das er zwei, drei und manchmal auch vier Pferde setzte, aber nicht neben, sondern hintereinander. Wenn das die Bierheimer sahen, freuten sie sich kindisch und schrieen aus vollen Kehlen: »Jessas, da Alfonsi kimmt!« Das ärgerte die anderen Wolken, die keine so gefälligen Formen aufzuweisen hatten, sondern ihr Geld lieber zusammensparten. Als sie nun hörten, daß ihnen der Hohe Schein demnächst seinen Besuch abstatten werde, hatten sie eine unsinnige Freude, weil sie gewiß waren, daß nun wenigstens einmal lauter Hurra geschrieen werde als beim Alfonsi. Außerdem liebten sie den Hohen Schein und ließen sich gern von ihm wo hineinleuchten. Denn wenn er kam, durften sie immer auseinandertreten und Platz machen; sie konnten in Wohlgefallen zerfließen, was ihnen natürlich äußerst willkommen war. Darum pumperten sie jetzt vor lauter Jubel im Himmel droben nur so herum und trafen alle möglichen Vorbereitungen. Sie ließen das Wolkenhaus putzen, bestellten Keller und Küche und gaben dem Bürgermeister den Auftrag, die Bürger gut darauf vorzubereiten. Denn so schrecklich sie sich freuten: bei den Bierheimern waren sie der Sache nicht so ganz sicher. Darum hieß es Vorsicht und Klugheit anwenden.

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Dafür war nun der Bürgermeister der richtige Mann. Er galt als geborener Diplomat, dem der Ministerstuhl winkte, war ganz und gar Geheimer Hofrat, geadelt, mit Orden besät, daß es ihm zum Hals, zu beiden Ärmeln und zur Hose heraushing, konnte also die denkwürdige Sitzung einleiten, über die wir noch das Protokoll besitzen. Dieses gibt, in Runenschrift abgefaßt, einen hochinteressanten Einblick in die damalige Geisteswelt.

Bürgermeister (indem er auf das Podium tritt): Meine lieben Freunde und Mitbürger! Wir haben heuer in unserer lieben Stadt den Fasching gehabt, den Salvator und den Maibock, wir haben das Schützenfest gehabt, den landwirtschaftlichen Viehversammlungsverein und den Schusterbubeninnungskongreß. Jetzt ist kaum das Oktoberfest vorbei; da hab' ich mir halt gedacht, 's wär doch ganz fein, wenn wir in diesem vom lieben Gott so reich gesegneten Jahr noch etwas hätten zum frohen, einträglichen Abschluß.

Bürger Schöps und Trottelberger (beide Gemeindebevollmächtigte und unverfälschte Nachkommen der großen Vorfahren, die Richard Wagner aus Bierheim hinausgeworfen haben): Ha, ha, er war it g'schleckat, da Bürgamoaschter, ha, ha, ha.

Bürgermeister (durch diese wohlwollende Ansprache sehr ermutigt): Nun, liebe Bürger, freundwillige Protektoren der Kunst und Wissenschaft, wie wär's mit einem Festzug.

Schöps und Trottelberger: Net übi, net übi.

Bürgermeister (immer lebhafter): Einem Festzug, wo alles dekoriert wird, von unseren stets hilfsbereiten, lieben, herrlichen Künstlern.

Schöps und Trottelberger (nickend): War ebbas, war ebbas.

Bürgermeister (noch lebhafter): Und im Hintergrund so etwas wie die Pinakothek oder die Schack-Galerie.

Schöps und Trottelberger: Kenna ma net, kenna ma net.

Bürgermeister: Nun, so etwas wie ein neues Museum.

Schöps (sehr verächtlich): Jeeeh, a Museum!

Trottelberger (womöglich noch verächtlicher): Wei ma so no koans hamm.

Bürgermeister: Aber bedenkt doch: umsonst, ganz umsonst.

Schöps (sehr mißtrauisch): Gwiiis? Ganz umasunst?

Trottelberger: Also, nehma ma's!

Schöps: Nehma ma's!

Bürgermeister (in Ekstase): Ihr nehmt es? Ihr weist es nicht von Euch? Oh, der Opfersinn der Bierheimer Bevölkerung hat sich wieder einmal aufs herrlichste bewährt! So darf ich Euch denn danken im Namen dessen, der es gewagt hat, Euch dieses Geschenk anzubieten, so darf ich denn danken im Namen der Vorsehung, die Euch wert gezeigt hat Eurer erhabenen Ahnen, und so darf ich denn bitten: Nehmt ihn gütig auf, wenn er hierherkommt! Denn – Bürger, faßt Euch! – es tut mir ja leid, Euch das sagen zu müssen, es schmerzt mich, Eure tiefpatriotischen Gefühle zu verletzen, aber es geht nicht anders: Bürger, er kommt persönl . . .

Hier bricht das Protokoll plötzlich ab. Unzerstörbare deutsche Reichstinte ist über alle Runen gegossen und man kann nur noch die Worte entziffern: Reservatrecht . . . 'naus damit . . . »Serenissimus« steckt's eahm scho . . . wart nur!

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Um nun allem gerecht zu werden, was damals in Bierheim geschah, um alles zu verstehen, Gegensätze, Weltanschauungen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, muß man die geistigen Kulturströmungen verfolgen, die dort zu jener Zeit sichtbar waren. Da waren zunächst die »Neuesten Runenschriften«. Eine Zeitung, die aus Holzpapier hergestellt wurde, zahllose Abonnenten hatte und im Volke so populär war, daß man sie kurzweg nur noch »d'Neiesten« nannte. Mit Recht. Denn sie galten immer als gut informiert, erschienen täglich zweimal, morgens und abends, und fuhren beständig mit grünen Automobilen herum. Für den Hohen Schein hatten sie sehr viel übrig, weshalb sie einen fortwährenden, erbitterten Kampf führten gegen die sogenannten Druiden. Das waren schwarz gekleidete, glatt rasierte Herren, die jeden Sonntag die Menge in den Tempel trieben, wenn sie nicht schon von selber hineinging, was fast immer der Fall war. Denn die Bierheimer liebten diese Druiden und ließen sich gern von ihnen die Anekdote vom luth'rischen Zipfel erzählen und auch die Geschichte von den Reservatrechten. Die bedeutet, ins Bierheimische übersetzt, so viel wie blaue Uniform, eigene Briefmarken und Raupenhelm. Eventuell auch gekränkte Leberwurst oder im umgekehrten Sinn Breiß, was so viel heißt wie Preuß oder Preuße, also etwas Verhaßtes, Widerwärtiges ausdrückt und deshalb möglichst hell ausgesprochen werden muß. Auch kann dabei auf den Boden gespuckt werden. So meinten sie wenigstens, die Druiden. Und wenn sie davon sprachen, warnten sie auch immer vor den »Neuesten Runenschriften«, die ein gottloses Blatt seien und mit den Preußen im Bunde stünden. Aber die Bierheimer hielten »d'Neiesten« weiter, ja, sie lasen sogar den »Serenissimus«, der den Druiden öfters die Zunge streckte. Als Entschuldigung führten sie dann immer an, daß er die Preußen noch besser verulke als der selige Doktor Sigl, was dann die Druiden wieder zur Absolution bewog. Während aber beide hofften, Druiden und Bierheimer, der »Serenissimus« werde auch diesmal ein Machtwort sprechen, während die »Neuesten Runenschriften« jeden Tag einen Leitartikel brachten, der zu kräftigem Hurra aufforderte, während das Rathaus noch zitterte vom wuchtigen Protest der Schöps und Trottelberger, zog plötzlich der Hohe Schein gegen alles Erwarten im vollsten Glanz durch Bierheims ungepflasterte Straßen.

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Das mag im ersten Augenblick etwas verblüffend klingen, doch findet es seine Erklärung in dem Umstand, daß es in Bierheim außer den genannten Strömungen noch eine gab, die mächtiger war als alle zusammen: die sogenannte Loabitoagg'sellschaft. Dies Wort, echt Bierheimer Ursprungs, soll mit Hilfe der modernsten Entzifferungsmaschinen eine kurze Erklärung finden. Es setzt sich zusammen aus Laib, Laibchen oder Loabl, was so viel heißt wie Weckchen, Brötchen, Knusperchen, ferner aus Teig oder Toag, aus Gesellschaft oder Sippschaft und will sagen, daß alles, was zu dieser Clique gehört, fest zusammengeknetet ist, wie der Teig der Laibchen bei der Innung der Bäcker und Müller. Man braucht gerade nicht vom ausübenden Gewerbe zu sein, um dieser Vereinigung anzugehören, vielmehr können Erzgießer, Bildhauer, Maler, Architekten aufgenommen werden, selbst Beamte, Bierbrauer und Handschuhmacher werden geduldet. Nur dürfen die zuletzt Genannten nie wagen, jemals im Hohen Rat mitzureden und gegen die eigentlichen Leiter zu sprechen. Das ist die erste Bedingung der festgekneteten Gesellschaft. Ihr Programm ist die Kunst, ihr Zweck gegenseitige Protektion. Wer nicht zu ihr gehört, wer in der großen Vettern- und Basenschaft der Bäcker und Müller nicht wenigstens einen Bekannten hat, bekommt in Bierheim nie einen Auftrag, wenigstens keinen offiziellen für Reiterstandbilder verstorbener Pfahlbauern, für patriotische Brunnen oder Staatsgebäude. Die bleiben alle in der Gesellschaft und werden dem Turnus nach vergeben , wen's halt gerade trifft. Ist ein besonderer Auftrag zu vergeben, eine ganz große Sache, bei der auch was Großes herausschaut, dann macht die Loabitoagg'sellschaft besondere Anstrengungen. Sie fragt nicht lange nach Schöps und Trottelberger, sie kümmert sich nicht viel um die Druiden, deren Tempel sie sonst mit andächtigen Sinnen besucht, sondern sie schiebt die Wolken, sie läßt einfach die Straßen dekorieren, patriotische Lieder singen, die Schäffler tanzen, die Glocken der katholischen Kirchen läuten und »z'wegn der Parität« auch die der protestantischen. Ist aber der Auftrag ganz sicher, so totsicher, daß er schon gar nicht mehr auskommen kann, dann lassen sie eine Konkurrenz ausschreiben. »Aus Koi,« wie sie unter sich sagen. Das heißt: aus Kohl, aus Scherz, aus Ulk. Par plaisanterie, sagen die immer galanten Franzosen.

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Als die Kunde vom unerwarteten Einzug des Hohen Scheins in das stille Waldtal drang, wo Ludwig Hofganger jagte, da sprach er in seiner schlichten, gewinnenden Art zu Peter Schlemihl, der gerade wieder einmal bei ihm zu Besuch war: »Da müßtest sogar du zum Optimisten werden!« Aber er besann sich bald wieder, weil er, wie gesagt, auch eine große Achtung vor dem Pessimismus hatte und überhaupt fabelhaft objektiv war. Doch plötzlich dämmerte ihm auf, daß vielleicht doch der eine oder andere Philister sein intimes Verhältnis zu solchen Gegensätzen nicht völlig begreifen könne. Darum beschloß er, den Hohen Schein den Menschen menschlich ein bischen näher zu bringen. Er nahm seine Keule, zog sein feinstes Sonntagsnachmittagsausgehfell an und wanderte mit festem Entschluß gegen Bierheim. Dort ging er durch die Straßen, schaute sich an, was Künstler gemacht hatten, die mehr auf gute Behandlung als auf hohe Bezahlung sehen, und dann ging er ohne Zaudern zum Hohen Schein. Der hatte sich in Bierheim eigentlich etwas ganz anderes erwartet und war über den großartigen Empfang so perplex, daß er diesmal gar nichts redete. Nur das eine hatte er allmählich herausgebracht, daß er das Bierheimer Rathaus das schönste von Deutschland finde. Freilich: als er den Ludwig Hofganger vor sich sah, da fand er sich wieder und begrüßte ihn so herzlich, daß nun der Dichter wieder gar keine Worte fand. Der hatte sich nämlich vorgenommen, dem Hohen Schein zu gestehen, daß er unterwegs auf verbrannte menschliche Gebeine gestoßen sei. Auch hatte er die feste Absicht gehabt, um etwas Gedankenfreiheit zu bitten, unter ausdrücklicher Betonung, daß er nicht Fürstendiener sein könne. Leider aber redete der Hohe Schein jetzt wieder, er redete fünf Viertelstunden und sagte in dieser ganz privaten Besprechung, bei der höchstens zwanzig Herren zugegen waren, daß er durch den glänzenden Empfang wesentlich jener Weltanschauung näher gerückt sei, die Ludwig Hofganger in einem seiner Romane so herrlich in folgende Worte faßte: »Mißtraue nie jemandem, laß dir niemals das Gegenteil beweisen und schweige im Walde.« Diesen Ausspruch hatte er eigens in Holz brennen lassen und erlaubte dem Dichter, davon der Öffentlichkeit gegenüber beliebigen Gebrauch zu machen.

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Welch tiefen, sympathischen Eindruck ihr berühmter Landsmann vom Hohen Scheine wieder gewonnen hatte, lasen Schöps und Trottelberger, die wackeren Bürger und Gemeindebevollmächtigten, im frisch ausgegebenen Abendblatte der »Neuesten Runenschriften«. Da waren sie erst sehr bewegt und heulten vor Stolz und vor Freude. Dann aber sagten sie wie aus einem Munde breit und bedächtig, als ob sie jedes Wort auf die Wagschale legten: »Ja, da Hofganga, unsa Hofganga!« Sie hatten nämlich drei Tage tüchtig mitgefeiert, waren von einer Begeisterung in die andere, von einem Wirtshaus ins andere und von einem Rausch in den anderen gefallen. Anfangs taten sie freilich ein bischen überrascht. Besannen sie sich recht, dann hatten sie doch gegen jede Ausgabe protestiert und sich nur zur Annahme des Museums unter Umständen bereit erklärt. Jetzt mußten sie auf einmal entdecken, daß man überall hohe Galgen errichtete, daß man die Häuser schmückte und jene schwarzweißroten Tücher zum Fenster heraushängte, die sie immer die Reichszipfel nannten. Auch das Militär machte fortwährend Parademarsch; und das schlimmste Zeichen, das es in Bierheim geben konnte: man reinigte die Straßen. Das begriffen sie nicht, aber sie merkten als feine Beobachter sofort, daß da etwas vorgehe. Und weil sie überall dabei waren, wo es was zu gaffen gab, standen sie mit auf den Straßen herum, vom Rathaus weg bis zu dem Platz, wo die Nomaden von Norden her in die Stadt zogen. Da sahen sie plötzlich wie ein Meteor den Hohen Schein kommen, und weil die anderen Hurra schrieen, brüllten sie noch einmal so stark. Denn sie zahlten prompt ihre Steuern und konnten schreien, so viel sie wollten. Mitten in der schönsten Brüllerei aber gewahrten sie hinter dem Hohen Schein und allen Wolken den Alfonsi; und da sagten sie zueinander: »Woaßt wos, jetzt schrei ma grad extra recht damisch!« Und sie schrieen, daß ihnen Augen und Zunge heraushingen. Freilich, als nun alles vorüber war, der Hohe Schein verflogen, die Kehlen heiser, die Taschen leer und der Kopf voll, da faßten sie sich an die Nase. Lange sahen sie einander schweigend an , plötzlich aber schimpften sie aus vollem Atem auf den Bürgermeister, auf die » Neuesten Runenschriften«, auf die Loabitoagg'sellschaft und am kräftigsten auf den Ludwig Hofganger. »Der mit seina Objektivität bal uns net geht,« sagten sie. Dann schüttelten sie drohend die Fäuste. Denn sie freuten sich im stillen schon, wie ihn der »Serenissimus« derbleckn werde, den G'schaftlhuber, den g'spreizten. Jede neue Nummer des bösen Blattes verschlangen sie gierig, die Wochen, die Monde, die Jahre nacheinander. Aber sie warteten vergeblich. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warten sie noch heute.

(November 1906)


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