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Drei Töchter nannte er sein eigen, der Droschkenkutscher Pechtl mit der Unglücksnummer dreizehnhundertdreizehn. Drei Töchter und drei elende Klepper im Stall, einen Fuchsen und zwei Rappen, dürre Schindmähren, die er bei einer Versteigerung in der Artilleriekaserne um einen Spottpreis erstanden hatte. Nicht aus Not etwa, o nein, Vater Pechtl hatte sich im Laufe der zweiundzwanzig Jahre, die er nun schon in München herumkutschierte, eine beträchtliche Summe zusammengefahren und galt als einer der wohlhabendsten Fuhrwerkbesitzer der ganzen Stadt. Aber er sagte sich ganz richtig: »Was brauche ich gute Pferde? Die andern Kutscher haben auch keine bessern. Man darf das Publikum nicht verwöhnen. Meine Viecher gehören noch immer zu den elegantesten der Stadt – also, warum unnötiges Geld zum Fenster hinauswerfen? Dummheit!« Mochten neidische Spitzbuben die Tiere für häßlich erklären, so viel sie wollten, das war Vater Pechtl ganz verdammt gleichgültig.
Zu seiner Ehre muß es aber gesagt werden: Die Töchter waren schöner als die Pferde, viel schöner, es waren sogar bildsaubere Frauenzimmer, die Fanni, die Linni und die Kathi. Freilich daraus machte sich nun Vater Pechtl so viel wie gar nichts. Schönheitssinn besaß er weder für Tiere noch für Menschen.
»Bal' wir nur g'sund san,« war sein drittes Wort, und gesund waren die Töchter, das sah man an ihren rosigen Backen, und gesund waren die Pferde. Die hätten überhaupt gar nicht mehr krank werden können. Über solche Kleinigkeiten waren die abgerackerten Mähren längst hinaus. Man brauchte sie nur am Droschkenstand zu sehen, wie sie dastanden mit den tief herabhängenden Köpfen und den zusammengeknickten Zickzackbeinen, auf denen der dürre Körper wie ein aufgespannter Mehlsack hing.
Aber welch ein ander Bild, sobald sie sich in Bewegung setzten! Da wurden sie munter, und diese innere Glückseligkeit, diese Freude am Dienste zeigten sie durch ein fideles Kopfnicken an, das sie zum Gaudium aller Straßenbummler auch dann beibehielten, wenn sie etwas ähnliches wie schärfere Gangart anschlugen. Da blieben oft alle Leute stehen und sahen ihnen lachend nach.
Nicht so erfreut waren darüber die glücklichen Fahrgäste, die durch das fortwährende Schütteln beinahe seekrank wurden, doch verstand es Vater Pechtl ganz vorzüglich sie zu beruhigen, wenn sie sich etwa unterfingen über die elende Beförderung durch den fußtiefen Straßenkot Klage zu führen. Dann wandte er sich mit zinnoberrotem Gesicht zurück und forderte den Herrn da drunten sehr barsch auf, erst zu bezahlen und dann auszusteigen, wenn es ihm zu langsam ginge. Denn wer seine Pferde beleidigte, beleidigte ihn. Die Tiere waren sein Stolz. Geputzt waren sie aber auch, daß man alle ihre Knochen zählen konnte. Und erst das Zaumzeug und die Droschke mit den grünsamtenen Sitzen. Da gab es schon nichts! Vater Pechtl war ein alter Soldat und hielt auf peinlichste Sauberkeit.
Und wie er im Stall und bei seinem öffentlichen Auftreten, so hielt es Mutter Pechtl daheim in der blanken Wohnung. Es war ein Vergnügen in diese weißgetünchten Zimmer mit den einfachen, saubern Möbeln und den hellen Vorhängen zu blicken. Da duldete Mutter Pechtl kein Stäubchen.
An der gut gekleideten Frau, die immer ihre schwarzseidene Haube trug, konnte man sehen, woher die Schönheit der Töchter stammte. Sie stellte heute noch etwas vor mit der vollen Figur, den feinen Linien im Gesicht und vor allem mit den braunen, ausdrucksvollen Augen. Die verrieten noch das ehemalige Temperament, unter dem Vater Pechtl einst genug zu leiden hatte, wie man sich in der Nachbarschaft zuraunte. Jetzt kam ihm darüber nur noch selten ein galliges Wort, höchstens so ab und zu mal, wenn sich die älteste seiner Töchter, die schwarze Fanni, nicht ganz gebührlich benahm.
»Euer Mutter is auch kei' gute g'wesen,« brummte er dann, aber er beruhigte sich schnell wieder, denn es hatte keine Gefahr mehr, die Zeit war längst vorbei. Jetzt hielt Mutter Pechtl von früh bis spät bald eine geweihte Medaille, bald einen Rosenkranz in den Händen und betete, daß es für drei Familien ausgereicht hätte. Die ganze Wohnung hatte sie mit Votivtafeln und Kruzifixen austapeziert, und alle freie Zeit brachte sie in der Kirche zu. Hatte sie am Morgen ihrem Gatten die Brennsuppe gekocht und ihn zum frohen Beginn des Tagewerks mit Weihwasser besprengt, dann ging sie in die Frühmesse und blieb lange aus. Des Nachmittags wanderte sie wieder auf ein Stündchen ins Gotteshaus, und abends, so kurz vor dem Dunkelwerden, erstattete sie dem lieben Herrgott noch eine kurze Abschiedsvisite. Bei diesen Gängen mußte sie immer eine ihrer Töchter begleiten, und in letzter Zeit tat das fast immer die Lina oder Linni, wie man sie im Hause nannte. Fanni, die älteste, hatte Vater Pechtl vor kurzem an einen Kupferschmied ganz gut verheiratet, und Kätchen, die jüngste, besuchte noch eine Fortbildungsschule.
Also traf es die Linni, und dem kaum zwanzigjährigen Mädel bedeutete der Kirchengang jedesmal eine hohe Freude. Sie betete gern und schien in ihrer Art noch eifriger bei der Sache als die alte Frau, bei der das Rosenkranzabzählen und Vaterunseraufsagen schon mehr zur sinnlosen, mechanischen Übung geworden war.
Linni war eben wirklich fromm.
Wenn sie am frühen Morgen in der ehrwürdigen Kirche der »frommen Brüder« kniete, und die Wachskerze ihr feingeschnittenes Antlitz beschien, da war es, als sei ein leibhaftiger Engel herabgestiegen und hätte sich hineingesetzt, mitten unter die plumpen Weiber und die zahnluckigen, alten Männer, die dampfend ihren Odem von sich gaben. Aber sie hatte keine Augen für ihre Umgebung. Mit verklärten Blicken sah sie auf zu den verschiedenen Schutzheiligen an den Seitenwänden, am liebsten aber zu der gütigen Muttergottes, die hoch über dem Hauptaltar thronte und gnadenspendend auf die Betende hernieder zu lächeln schien. Wie weltentrückt weilte Linni vor ihr, alles andre war für sie verschwunden. Manchmal bewegte sie wie in seliger Verzückung den kleinen Mund, der nun völlig den übermütig spöttischen Ausdruck verloren hatte, den er manchmal zeigte, wenn die Kleine auf der Straße ging. In der dämmrigen Kirche mit den schweren, silbernen Ampeln, dem roten ewigen Lichte, den dampfenden Weihrauchfässern und den goldgefaßten Reliquien war eben das fröhliche, muntere Geschöpf, dessen Lachen alle entzücken konnte, eine andre. Versunken in ihren Gott, bot sie mit den inniggefalteten Händen ein verklärtes Bild reinster Tugend.
»Und vergib uns unsere Schulden!«
Das war ihr liebstes Gebet. Hundertmal konnte sie's aufsagen nacheinander, denn Linni hielt sich selbst für eine schwere Sünderin, der der Himmel gar vieles zu verzeihen hatte. Demut und Ergebenheit – daraus setzte sich ihre Andacht zusammen.
Am innigsten aber betete sie, wenn der Pater Sylvester die Messe las. Das war ein korpulenter Mann mit freundlichem Gesicht, einer riesigen Glatze und einem braunen Vollbart, der fast bis zu dem härenen Gürtel herabreichte. Für den hatte Linni eine ganz besondre Verehrung, und seine Anwesenheit machte ihr die Kirche förmlich zum Himmel. Ging die Sakristeitür auf, und er kam herein mit dem Kelch in der Hand, dann durchfuhr sie ein freudiger Schreck, und sie lenkte ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Altar, wo er die Messe zelebrierte. Schritt er aber wieder hinaus langsam und gemessen wie ein Kirchenfürst, dann senkte sie das Köpfchen gar tief auf die Brüstung des Betstuhls herab und blieb noch eine gute Weile in tiefen Gedanken.
Der Pater Sylvester war Linnis Beichtvater. Gleich dort links am Altar des heiligen Antonius stand sein Beichtstuhl, und da wartete Linni regelmäßig alle vier Wochen des Sonntags vom frühesten Morgen an, um die erste zu sein. Für keinen Preis der Welt hätte sie sich diesen Ehrenplatz streitig machen lassen. Und Pater Sylvester kannte sein Beichtkind. Als ob er wüßte, daß sie sich heute wieder auf ihrem Posten einzufinden hatte, begrüßte er sie im Vorbeigehen mit einem leichten Kopfnicken, das für die andern kaum sichtbar war. Sie aber, die glückliche Linni, bemerkte es wohl, und ermutigt ließ sie sich nun vor ihm auf die Knie nieder. Ihr Seelsorger zog den grünen Vorhang zusammen, und nun legte sie ihr frisches, reizendes Mündchen ganz dicht an sein Ohr, so recht dicht, denn was sie ihm zu sagen hatte, gehörte nicht für die andern. Die konnten nun lange warten und zuschauen, wo es nichts zu sehen gab.
Pater Sylvester nahm es nämlich genau und pflegte erst Absolution zu erteilen, wenn alles gründlich durchgegangen war. Oft wunderten sich die Leute, daß er gerade bei Linni seine sonst so laute, sonore Stimme zu einem geheimnisvollen Wispern herabdämpfte, das sich gar eigentümlich anhörte. Die hübsche Person mußte wohl recht schwere Sünden auf dem Herzen haben. Aber wenn man sie dann heraustreten sah mit den sanftgeröteten Wangen, den niedergeschlagenen Augen, wie das Bild der Keuschheit selbst, dann dachte man nicht mehr so Arges und verzieh ihr die lange Verzögerung. Die schritt doch wirklich einher wie eine Entsündigte: frei von Fehl und Makel. Einen Augenblick sah ihr der Pater immer selbst nach, ehe er dem nächsten Beichtkind Audienz gewährte. Und dabei geschah es, daß er manchmal den Kopf schüttelte und sich die Stirn trocknete. Auch warf er wohl einen seltsamen Blick zu dem heiligen Antonius hinauf, ehe er von neuem seines schweren Amtes waltete.
Und so ging es nun schon eine geraume Zeit. Pater Sylvester wußte noch genau, wann und wie die kleine Person bei ihm auftauchte, trotzdem der Zudrang des weiblichen Geschlechts zu seinem Beichtstuhl ein ganz riesiger war; aber Linni wußte es noch besser, aus guten Gründen. Der Tag war ein Wendepunkt in ihrem Leben, und noch auf dem Sterbebette wollte sie seiner gedenken, so schrecklich stand er ihr heute noch in der Erinnerung.
Sie beichtete nämlich früher bei dem frommen Pater Jakobus, einem leberleidenden, wortkargen Manne, der seinen Beichtstuhl neben dem Altar des heiligen Ignatius von Loyola, also dem Pater Sylvester gerade gegenüber, verwaltete. Wenn sie ihn nur sah, den hagern, großen Priester mit dem gelben Gesicht und den stechenden Augen, mußte sie der schrecklichen Angst gedenken, die er ihr damals eingejagt hatte. Und sie war doch an der ganzen Geschichte fast schuldlos gewesen. Das war ihr der einzige wahrhafte Trost in den zahlreichen Stunden, wo sie sich jenes schreckliche Ereignis vergegenwärtigte, das in der Familie des Droschkenkutschers eine ganze Revolte hervorgerufen hatte.
Dicht neben der vierstöckigen Mietskaserne am Ende der Stadt, wo ihr Vater wohnte, lag ein großer Park mit schmiedeeisernen Gittern umzäunt. Darin stand eine feine, herrschaftliche Villa. Sie hatte früher sehr reichen Bürgersleuten gehört, und bei dieser Familie war Vater Pechtl viele Jahre Kutscher und Hausmeister gewesen. Dort hatte er auch einen hübschen Brocken Geld verdient und was zurückgelegt, ehe er auf eigene Rechnung fuhr. Deshalb bewahrte er seiner Brotherrschaft auch fortwährend eine dankbare Erinnerung und geriet ganz außer sich, als das Haus eines unschönen Tages glattweg verschenkt wurde. Und an wen verschenkt wurde? Man höre! An die altgewordene Mätresse des einzigen Sohnes seiner ehemaligen Dienstherrschaft. Die schlaue, geriebene Person hatte sich nicht abschütteln lassen, als ihre Reize verblaßten, sondern ihrem langjährigen Liebhaber, diesem stadtbekannten Geldmann und Wüstling, so lang zugesetzt, bis er ihr endlich das Wohnhaus seiner Eltern mit dem ganzen Park rechtsgültig verschreiben ließ.
Vater Pechtl war außer sich. Viel hätte nicht gefehlt, und er wäre hingegangen zu dem leichtsinnigen Herrn, um ihm energische Vorstellungen zu machen. Denn der ehemalige, treue Kutscher galt heute noch etwas. Darum hätte er gern gefragt, warum der gnädige Herr noch solche Dummheiten begehe, wo er doch schon über das Schwabenalter hinaus sei.
Aber die erste Aufregung schwand, und Vater Pechtl beruhigte sich mit der Zeit. Das gnädige Fräulein – so wurde die Geliebte des flotten Lebemannes in der Nachbarschaft genannt – gab nämlich gleich nach ihrem großartigen Einzug mit Doppelbett und Papagei seinen Kindern Arbeit in Menge. Und die Hauptsache: sie zahlte ganz ausgezeichnet. Da mußte man doch auch nicht so sonderbar sein. Was ging einen die Sache an. Vater Pechtl hörte zu schimpfen auf, und die Mädchen arbeiteten Tag und Nacht. Beide konnten brillant schneidern, ganz besonders Linni. Die entfaltete einen Geschmack im Zuschneiden und Arrangieren, daß sogar die verwöhnte Mätresse aufs angenehmste überrascht war und ihr Bestellung auf Bestellung gab. Nun löste sich die ganze sittliche Entrüstung der Familie in eine große Freude über den hohen Verdienst auf, der durch Linni ins Haus kam. Sie wurde der Liebling der Eltern und nähte sich die Finger wund.
Dabei verstand es aber das kleine, schicke Frauenzimmer sich selbst anzuziehen, daß es ein Staat war. In ihrer Zufriedenheit schenkte ihr die reiche Gönnerin regelmäßig die Kleider, die sie selbst nur ein paarmal getragen hatte, prächtige Stoffe neuester Mode, und daraus zauberte sich die niedliche Schneiderin im Handumdrehen Toiletten hervor, die entzückend an dem jugendfrischen, abgerundeten Körper saßen. Und wie frisierte sie erst die feinen, aschblonden Haare! Die kleinen Händchen steckten die dicken Flechten in anmutigen Verschlingungen ganz allerliebst zusammen, immer neu und eigen im Geschmack. Mit Gott und der Welt zufrieden lachte sie dann in den Spiegel hinein, denn sie konnte nicht glauben, daß eine feine Frisur und ein elegantes Kostüm in Widerspruch stünden mit ihren religiösen Pflichten. Die kamen dabei doch nicht zu kurz, wenn sie wie eine Dame aus der Gesellschaft in feinster Toilette über die Straße ging.
Und spazieren ging Linni recht gern und recht oft, sobald sie nur Zeit hatte. Sie wollte doch auch zeigen, was sie leisten konnte in ihrer Kunst. Mochte man sie nur betrachten von oben bis unten, sie brauchte es nicht zu scheuen. Alles stand ihr vortrefflich. Das feine Kleid mit den weiten Ärmeln, der elegante Hut, der enganliegende Lederstiefel und das zierliche, goldene Kettchen um das hübsch geformte Gelenk. Ein nobler Seidenschirm und ein feiner Überwurf vollendeten das reizende Bild des kleinen, koketten Rackers. Da hätte mal einer behaupten sollen, daß das die Tochter eines Droschkenkutschers war, die alles, was sie am Leibe trug, von den seidenen Strümpfen an bis zu den feinen Spitzen an der Halskrause regelmäßig geschenkt bekam. Der wäre schön ausgelacht worden!
Linni merkte gar wohl, wie sie die Blicke der Männer mit großem Behagen, die der Damen mit schlecht verhaltenem Ärger verfolgten, und sie verstand es trefflich, in ihren duftigen Schleier hineinzulächeln, ohne dabei auch nur ein bißchen nach rechts oder links zu spähen. Das brauchte sie nicht. Sie hatte jene Augen, die immer gerade auszublicken scheinen, und die dabei doch alles bemerken, was auf der Straße passiert. Wie oft war sie schon angesprochen worden! Von Herren natürlich, und immer des Abends. Dabei lächelte sie dann wieder ganz eigentümlich, bog den Kopf auf die Seite und eilte so schnell davon, daß der verblüffte Verehrer wie ein begossener Pudel dastand und fest überzeugt war, eine Mordsdummheit gegen eine sehr feine Dame begangen zu haben.
»Bleib' alleweil brav,« sagte ihr die Mutter, »die Mannsleut taugen alle nichts.«
Dies Wort beherzigte sie, wenn sie auch ganz gern einmal einen Blick geworfen hätte in die fremde, vornehme Welt, die ihr mancher der eleganten Herren zu verheißen schien. Aber in diesen seltsamen Reiz der Neugier mischte sich auch eine geheime Furcht, denn sie wußte ganz gut, was einem Mädchen ihrer Herkunft dort bevorstand, und der Gedanke war ihr schrecklich. Trotzdem ging sie öfter in die Stadt als sie es nötig hatte. Das Spiel mit dem Feuer machte ihr Spaß. Sie wollte ja brav und fromm bleiben, aber die Herren so ein ganz klein wenig an der Nase herumzuführen, das war doch schließlich keine so große Sünde. Auffällig trieb sie es ja nicht, im Gegenteil! Über ihr ganzes Wesen war die feinste Zurückhaltung, die vornehmste Ruhe gebreitet. Aber grade darin lag vielleicht die geheime Herausforderung, von deren unfehlbarer Macht sie mit pfiffiger Gewißheit überzeugt war, weil sie die Wirkung ja immer beobachten konnte.
Eines Tages kam aber doch einer, der sich nicht narren ließ wie die andern. Und das geschah im Winter, als Linni in der Dämmerung vor der schimmernden Auslage eines pompös erleuchteten Juwelierladens stand. Da fühlte sie plötzlich, daß hinter ihr wieder einer wartete. Zuerst regte sie das nicht auf, denn das war gar nichts Außergewöhnliches, aber als sie sich zum Weitergehen anschickte, merkte sie zu ihrem Schrecken, daß der hochgewachsene Herr mit dem grauen Vollbart, den frechen Augen und dem feinen Pelz der Liebhaber des gnädigen Fräuleins war, und jetzt verlor sie ihre Haltung. Zitternd eilte sie davon. Er aber, wie der Wolf, der die Beute gewittert hat, ihr immer nach. In ihrer Angst stürzte sie in eine menschenleere Straße, um dort vielleicht ungestört zu bleiben. Weit gefehlt! Schon ging er dicht hinter ihr, und bei einer neuen Biegung des Weges gesellte er sich leicht grüßend an ihre Seite, indem er die übliche Frage an sie richtete, ob er vielleicht den Wegweiser spielen dürfe.
Sie antwortete nicht, sondern lief was sie konnte, aber der Zudringliche war gut um einen Kopf größer als sie und hielt Schritt. Erst war Linni außer sich über diese Frechheit, als sie aber der Behausung ihrer Eltern immer näher kamen, fing die Sache an, sie zu amüsieren, denn sie glaubte zum Schlusse dem gefoppten Liebesritter einen feinen Streich zu spielen, wenn sie ihm lachend die Wohnung seiner Mätresse zeigte und dann schnell in ihr Heim huschte. Aber da hatte sie sich in ihrem Begleiter gründlich verrechnet! Der vornehme Herr bat sie ganz spöttisch, ihn mit seiner Drachenburg zu verschonen, und erst als sie sich jetzt in gerechter Entrüstung als Pechtls ehrliche Tochter legitimierte, stutzte er einen Augenblick und sah sie scharf an.
»Sakrament,« rief er, »der alte Pechtl versteht's. Also du bist die zweite?«
Linni erbebte bei dieser unverschämten Anrede, aber sie traute sich nichts zu sagen, denn vor ihr stand der frühere Brotherr des Vaters, der heute noch brillant zu verdienen gab und dessen Name immer nur mit Verehrung genannt werden durfte. Ihr Schweigen ermutigte ihn, er trat näher, und vor dem Haus ihrer Eltern forderte er sie ganz gelassen auf, in seine Wohnung in die Stadt zu kommen, er wolle ihr was zeigen. Ehe sie erwidern konnte, hatte er sie schon beim Arme gepackt, und nun zog er das zitternde Mädchen in eine belebtere Straße, wo er sie hastig in eine Droschke steckte.
Das gab ein schreckliches Wiedersehen mit den armen Eltern am selben Abend! Vater und Mutter tobten wie besessen herum und brüllten die Wände an. Er holte die Peitsche, sie sämtliche Rosenkränze von den Wänden, und nun widerhallte das Zimmer abwechselnd von Flüchen und Stoßgebeten, die kraus durcheinander wirbelten. Nur Fanni, die damals noch nicht verheiratete, verhielt sich ganz still und sah drein, als wäre ihr das weiter nichts Neues. Und als sie mit der völlig gebrochenen Linni zu Bett ging, flüsterte sie der ganz Entsetzten ins Ohr, daß es ihr mit dem Liebhaber des gnädigen Fräuleins ganz genau so ergangen sei. Auch sie hatte er von der Straße mitgenommen und mit Schimpf und Schande beladen den Eltern zurückgesandt.
»Das is halt amal unser Schicksal,« meinte sie ganz gelassen.
Linni weinte laut.
»Sei still,« beruhigte Fanni, »es hilft ja doch nix.«
Sie deutete auf das schlafende Kätchen.
»Die kriegt er auch noch,« sagte sie fest.
In Linni bäumte sich alles auf:
»Aber z'erst erschlagt ihn der Vater,« rief sie trotzig.
»Der Vater?«
»Ja, er hat mir's selber g'sagt.«
»O mei, Linni, da hat's gute Weg',« meinte Fanni traurig.
Und sie behielt recht. Vater Pechtl lief zwar am andern Morgen in seiner ersten Wut zum gnädigen Fräulein und verriet ihr alles. Als er aber merkte, daß sie die Sache garnicht so sehr erregte, verfaßte er einen fein stilisierten Drohbrief an seinen ehemaligen Gebieter, und als darauf gar nichts erwiderte wurde, schrie er noch ein paar Tage im Hause herum von Vergeltung und Rache. Allmählich aber wurde er ruhiger und schließlich sprach er nicht mehr davon. Was konnte man auch tun? Einen Prozeß oder eine Klage anstrengen, das lohnte die Sache nicht, denn einmal mußte es das Mädel doch treffen, und außerdem – es schien nun eben so bestimmt, daß seine Töchter der Reihe nach dem gnädigen Herrn zum Opfer fielen. Vater Pechtl war Fatalist. Er fügte sich ins Unvermeidliche und nahm den Fall gelassen. Ein Verhältnis seines Kindes mit dem raffinierten Genußmenschen hätte er freilich nie geduldet. Doch daran war auch gar nicht zu denken, denn der alte Wüstling rechtfertigte den erfreulichen Ruf, den er in der ganzen Stadt genoß: Alle Blumen, die er auf seinen Wegen fand, rücksichtslos zu pflücken, um sie dann gleichgültig beiseite zu schleudern, das galt sozusagen als eine berechtigte Eigentümlichkeit, als eine Art liebenswürdigen Vorrechts überall, wo man seinen Namen in den Mund nahm. Vor weiteren Nachstellungen brauchte Vater Pechtl wegen seiner Linni also nicht bange zu sein, und Kätchen war ja noch so jung. Auf die wollte er übrigens aufpassen wie der Löwe auf sein Junges, denn ein drittes Mal sollte sich der verdammte Schürzenjäger so etwas nicht herausnehmen, eher schlüge er ihn in Stücke.
Vorerst fuhr er ihn aber noch spazieren, so oft er's verlangte, oder er stand sofort hilfsbereit auf, wenn er von dem Bedienten des gnädigen Fräuleins mitten in der Nacht geweckt wurde, um den flotten Lebemann nach einer wüsten Orgie in die Stadt zu befördern. Bekam er doch dafür immer zehn Mark bezahlt, und das war schließlich auch nicht zu verachten, meinte der kluge Droschkenkutscher ganz richtig.
Auf wesentlich andre Art fand sich Mutter Pechtl mit der Sache ab. Ihr machte das Ereignis einen niederschmetternden Eindruck, sie weinte Tage und Nächte fort. Vor allem sah sie darin ein eigenes Verschulden. Sie hatte auf das Mädchen nicht genügend acht gegeben und nun kam die schwere Heimsuchung Gottes. Drum nahm sie die Niederträchtigkeit des alten Roués als gnädige Fügung von oben, und zugleich als Mahnung, noch mehr zu beten als sie bisher getan. Linni war nicht fromm genug gewesen. Oft drei Tage nacheinander hatte das Mädchen keine Kirche besucht. Das mußte anders werden. Tags darauf wurde um vier Uhr aufgestanden und zur Kirche der »frommen Brüder« gewandert.
Da lag nun das hübsche Kind am frühsten Wintermorgen auf den eiskalten Altarstufen und weinte bitterlich. Daneben kniete mit krampfhaft gefalteten Händen die Mutter, stier zur Decke blickend und eifrig die Lippen bewegend. Zum steten Gedächtnis an den schrecklichen Vorfall hatte sie eigens eine dicke Wachskerze gestiftet, die am Hochaltar brannte. Dumpf und schwer legte sich's da auf das junge Geschöpf. Aber das Furchtbarste kam erst noch. Das war der Sonntag, wo die entsetzliche Sünde gebeichtet werden mußte. Schon zwei Nächte vorher konnte die Ärmste nicht schlafen vor banger Erregung, und als sie endlich durch Schnee und Nacht zur Kirche schlich, da verging ihr der Atem vor Angst. Das riesige Tonnengewölbe mit den wogenden Schatten flößte ihr Grauen ein. Alle Formen verschwanden in der gähnenden Finsternis, und die flackernden Lichter auf den Altären irrten wie arme Seelen im Jenseits umher.
Und erst die Beichte selbst! In Todesängsten wankte sie zu Pater Jakobus hin. Als sie aber aus dem Beichtstuhl trat, war sie fassungslos und blickte umher wie eine Verdammte. Der Priester hatte ihr die Absolution verweigert, als sie ihm das Gräßliche gestand. Was soll sie nun anfangen? Zu ihrer Mutter, die regungslos am Hochaltar kniete, traute sie sich nicht zu gehen! Nicht absolviert! Wenn das die alte Frau erführe, das Herz müßte ihr brechen. Linni zitterte bei dem Gedanken, und in ihrer Hilflosigkeit fing sie laut zu schluchzen an vor Verzweiflung und Jammer. Das sah ein Mütterchen, das sie mit gutmütigen Augen schon lang beobachtet hatte. Die Alte ging bereits fünfzig Jahre zu den »frommen Brüdern« und wußte Bescheid; drum erkannte sie sofort, wo das arme Mädel der Schuh drückte, faßte sie freundlich bei der Hand und wies mit verständnisvollem Augenzwinkern auf die gegenüberliegende Seite, zum Altar des heiligen Antonius.
»Da gehen S' hin, Fräulein,« sagte sie. »Da sitzt der Pater Sylvester, der kennt sich in solchen Sachen viel besser aus.«
Erst hielt Linni die Alte für schwachsinnig, denn es wollte ihr nicht einleuchten, daß der liebe Herrgott durch seine Diener auf der rechten Seite der Kirche andres Gericht halten ließ als auf der linken, aber die freundliche, sichere Art der alten Frau wirkte so überzeugend, daß sie endlich mit bebendem Herzen den letzten Versuch machte.
Und siehe da! Das Mütterchen hatte nicht gelogen. Auf dieser Seite ging die Sache wie geölt. Pater Sylvester nahm es zwar sehr gründlich und fragte sie aus, daß sie sich fast zu Tode schämte, aber er gab ihr nach halbstündigem, heißem Examen und nach Auferlegung einer gehörigen Buße die ersehnte Absolution und hieß sie in Frieden von dannen ziehen.
Auch empfahl er ihr, von jetzt an alle vier Wochen zur Beichte zu gehen, und zwar immer beim Altar des heiligen Antonius. Das hätte er gar nicht nötig gehabt. Vom Augenblick der Freisprechung an gehörte das Mädchen mit überströmenden Gefühlen ihm allein. Pater Sylvester ward Linnis Abgott, und so kam es, daß sie die Frömmste der ganzen Kirche wurde und den Tag kaum erwarten konnte, wo sie dem geliebten Beichtvater wieder ihr Herz ausschütten durfte.
*
Der fromme Mann merkte das gar wohl und nahm sich seines neuen Beichtkindes mit aller Wärme an. Er hatte eine leichte Aufgabe. Die Kleine war äußerst gefügig und stand im Anfang noch so sehr unter dem Eindruck der erlittenen Schande, daß er ihr selbst Mut zusprechen mußte, als sie immer noch zaghaft tat und an ihre Freisprechung kaum glauben wollte. Sie war ja das arme Opfer, die Verführte, mit der der Herr noch ein besonderes Mitleid empfinde, und alles in allem – so schlimm sei die Sache ja doch nicht gewesen, daß man den ganzen Himmel in Bewegung setzen müsse. Freilich dürfe es kein zweites Mal vorkommen, das ja nicht, aber schließlich sei es wohl andern auch schon passiert. Pater Sylvester redete da aus einem langen Leben und einer reichen Erfahrung, wie er ihr mehrmals versicherte. Drum solle sie nur nicht kleinmütig sein, sondern fleißig beten, alle Schüchternheit ablegen, und ihrem Beichtvater jederzeit ein offenes Herz entgegenbringen. Das offene Herz betonte er ganz besonders, der gute Pater Sylvester, und zwar jedesmal, ehe sie ihre Beichte begann.
So erwachte denn Linni unter seinem Zuspruch aus der furchtbaren Betäubung. Die erste Scheu wich, und je öfter sie kam, desto größer wurde ihr Vertrauen, desto inniger beichtete sie. Pater Sylvester fand mit der Zeit, daß ihr gut zuzuhören sei, und mehrmals ertappte er sich dabei, daß er das Ohr fester an das trennende Gitter des Beichtstuhls drückte, als es sein vortreffliches Gehör eigentlich erforderte. Dabei wurde ihm oft recht seltsam. Das Mädel verstand nämlich ihre Sünden herzusagen wie keine andre. Wo sie das nur gelernt hatte? So mit ganz eigentümlichen Tönen und Seufzern, recht langsam und zögernd, dann machte sie auch wieder eine Pause, bis sich ein neues Geständnis ihrem Busen entrang. Und bei jeder Beichte wurde das toller, die Stimme wurde immer wärmer und flötender, fast zärtlich, so daß sich Pater Sylvester oft fragen mußte, ob denn das wirklich eine Sünde war, was sie eben gesagt hatte. Teufelsmädel! Manchmal wurde er ganz verlegen und vergaß in seinen eigentümlichen Gedanken die Strafpredigt aufzusagen, als sie geendet hatte. Zugleich konnte ihm nicht entgehen, daß die Kleine immer sicherer wurde. Ja, einmal kam es ihm sogar vor, als ob sie eine gewisse Gewalt über ihn besäße, weil er in ihrer Gegenwart seine ganze Beredsamkeit verlor, die ihm sonst den Frauen gegenüber nicht abzugehen pflegte. Darüber erschrak er fast und nahm sich vor, das nächste Mal gehörig los zu poltern. Aber, sobald sie in den Beichtstuhl trat mit dem bewußten, sanften Blick und sich demütig als armen, sündigen Menschen anklagte, war es mit allen Vorsätzen vorbei: Er saß ihr waffenlos gegenüber und mußte geduldig zuhören. Noch niemals hatte ihn ein Frauenzimmer so ganz außer Fassung gebracht, und mit Entsetzen entdeckte er, daß sich die kleine Person auch außerhalb des Beichtstuhls in seine Gedanken schlich. Das mußte aufhören!
Als treuer Diener der Kirche nahm Pater Sylvester seine Zuflucht zum Gebete. Er klagte sich der Sünde an, diesen kleinen Teufel selbst beschworen zu haben, und gelobte feierlich vor dem heiligen Antonius Buße zu tun, auf daß der Satanas wieder von dannen ziehe.
Wo sie früher gebeichtet habe, fragte er dumpf am nächsten Sonntag.
»Beim Pater Jakobus,« kam es schüchtern zurück.
Bei dem? Pater Sylvester holte tief Atem. Ob sie nicht wieder zurückgehen wolle, forschte er weiter. Aber kaum hatte er ausgeredet, als die Kleine bitterlich zu schluchzen begann.
Pater Sylvester hätte aus Stein sein müssen, um sie jetzt davon zu schicken. Er brach sein Gelübde und neigte sich väterlich zu ihr, indem er sie herzlich beruhigte.
Damit fing aber auch die alte Pein wieder von vorn an und wiederholte sich regelmäßig jeden Monat. Wenn sie nur mehr zu beichten gehabt hätte! Ein paar recht schwere Sünden! Als ihr eigener Beichtvater war Pater Sylvester so unchristlich, solch frevlen Wunsch zu äußern, nur um ihr gehörig die Leviten lesen zu können. Denn manchmal wurde es ihm bedenklich eng und schwül in seinem Kasten. Aber, was sie immer vorbrachte, das war ja so harmlos, daß er nicht viel sagen durfte. So ein hübsches Mädel! War denn das möglich! Pater Sylvester dachte an seine eigene Jugend. Er war ein flotter Studiosus gewesen und kannte den Rummel, ehe er vor fünfundzwanzig Jahren diese Weltabgeschiedenheit aufsuchte. Drum wollte er nicht daran glauben, daß diese kleine Person nichts auf dem Gewissen trage, als immer den langweiligen Jähzorn, ein paar kleine Gotteslästerungen, einige undankbare Gedanken gegen Vater und Mutter und höchstens einmal ein bißchen Eitelkeit. Er hätte ganz gern wieder von intimeren Dingen gehört, wo er, der erprobte Seelsorger, seinen praktischen Rat erteilen konnte. Doch damit war es endgültig vorüber. Die Buße und Reue, die er gepredigt hatte, schien auf guten Boden gefallen zu sein und treffliche Früchte zu tragen.
Hatte sie denn wirklich keine Liebe? Dann konnte dem Pater Sylvester die jetzige Jugend von Herzen leid tun! Da wäre er schon ein andrer gewesen! Ja, heute noch mit seinen vierundfünfzig Jahren – aber halt, was waren das für sündige Gedanken? Hastig zog der fromme Pater den Rosenkranz aus der Kutte und dachte wieder an Linnis Seelenheil.
Ein einziges Mal hatte sie ihm etwas erzählt von einem Mechaniker, der im Hause der Eltern logierte, sogar Wand an Wand mit ihrem Dachstübchen. Das war ihm verdächtig vorgekommen, denn der junge Mann pflegte bei Pechtls oft ganze Abende zu sitzen, der Mutter das Garn zu halten und der Linni Geschichten zu erzählen. Und weil er bare fünftausend Mark Vermögen hatte und durch eine kleine Tür direkt in Linnis Stube gelangen konnte, fürchtete Pater Sylvester so mancherlei. Als er aber hörte, wie gleichgültig sein Beichtkind über den guten, dummen Kerl redete, da sah der vielerfahrene Praktiker ein, daß er sich gründlich getäuscht hatte und sann auf andres. War es der Mechanikus nicht, wer war es dann? Denn daß sie ihm etwas verheimlichte, stand für ihn fest. Schon an ihrem Benehmen glaubte er das zu merken. Denn trotz Holzwand und Gitter fühlte er ganz deutlich, daß sie etwas erregter wurde. Was war also los?
Ganz unvermutet sollte er hinter ihre Schliche kommen, als er eines Tages mit dem Sanktissimum zum Versorgen ging. Da sah er sie zum erstenmal auf der Straße. Er durfte nicht auf die Seite blicken, aber so viel merkte er doch, daß sie sehr fein gekleidet war, als sie mit einem anmutigen Knix tief errötend in die Knie sank und sich bekreuzigte. War es nur Zufall, daß gleich drei Schritte weiter ein flotter Kavallerieleutnant des Weges kam? »Nein,« schrie es grimmig in Pater Sylvester. Das war der Liebhaber. Was denn sonst? Ein Buntrock natürlich, kein Mechaniker, da fallen ja alle Weiber herein. Pater Sylvester wurde sehr böse. Vielleicht hatte er doch zu gering von der jungen Generation gedacht? Der Leutnant wenigsten schien die Sache gut zu beherrschen, und die elende Heuchlerin hatte ihren Beichtvater gar schändlich hinter das Licht geführt. Aber sie sollte ihm nur wiederkommen! Diesmal fand er schon die rechten Worte für dieses Engelsgesicht, das nur die Larve war für Lüge und Verstellung.
Und sie kam, andächtig und unschuldsvoll wie immer. Kaum aber waren die Vorhänge zusammengezogen, da bat Pater Sylvester sehr entschieden um Aufklärung, wer der Offizier gewesen sei, und als sie auf seine heftige Anrede sehr verlegen wurde, stellte er Kreuz- und Querfragen, daß sie flehend die Hände hob und alles gestand. Aha, jetzt kam es heraus! Jetzt konnte sie die Wahrheit sagen, die verstockte kleine Person. Also drei Wochen lief ihr dieser Leutnant schon nach? Das war ja recht nett. Und sonst war nichts passiert? Wirklich nichts? Ganz und gar nichts? Er drohte mit dem Finger und gab ihr zu bedenken, daß er für sie der Stellvertreter Gottes auf Erden sei, dem sie alles erzählen müsse.
Nun ja, gesprochen hatten sie sich auch schon, so zwei-, drei- oder auch viermal – Linni wußte es eben nicht mehr so genau, wie sie jetzt laut weinend versicherte.
Doch der Stellvertreter Gottes fühlte diesmal keine Rührung, sondern fragte unbarmherzig weiter. Linni wurde feuerrot. Nein, nein, sie war brav geblieben. Was dachte denn der Pater Sylvester von ihr? Eifrig wehrte sie ab, als er jetzt sehr barsch in sie drang, ob sie etwa das gräßliche Ereignis vom vorigen Jahre schon vergessen habe. Alles eher, Linni wußte es noch sehr gut, aber, du lieber Gott, schließlich war dieser Vorfall doch auch schon in jene Ferne gerückt, aus der man immer ruhiger beurteilt und sogar ein erlebtes Unglück in milderem Lichte sieht. Linni wunderte sich selbst, daß sie so leicht darüber hinweg gekommen war, aber hatte nicht Pater Sylvester ihr so lange zugeredet, einen Schleier darüber zu breiten, bis es ihr endlich nach heißen Kämpfen gelang?
Mit Erstaunen machte sie eines Tages an sich selbst die Entdeckung, daß die Furcht, die man eigentlich von rechtswegen vor der Wiederkehr einer solchen Katastrophe bei Tag und Nacht empfinden müsse, immer geringer wurde. Gott mochte ihr diesen Leichtsinn verzeihen – sie fürchtete sich fast gar nicht mehr. Aber daran war sie doch nicht schuld, das kam so ganz von selbst, mitten in Andacht und Buße, der Linni wie keine zweite oblag. Was konnte sie also dafür? Sie betete doch das ganze Jahr von früh bis spät, unter den purpurroten Baldachinen des Pfingstfestes, unter den zartgrünen Birken der schwüldämmrigen Maitage, vor den violett verhangenen Altären der Fastenzeit und vor den weißen Totenkreuzen auf schwarzen Bahrtüchern. Sie opferte, gab Almosen, schrieb Kaspar, Melchior, Balthasar mit geweihter Kreide auf alle Türen und verbrannte Räucherwerk an hohen Kirchenfesten. Und doch – aus all den Farben und dem würzigen Dufte zog es ihr nicht mehr wie klösterliche Verwesung mit Buße in Sack und Asche durch den Sinn, sondern leuchtend mit den sinnlichen Freuden des Daseins. Sie war ja noch so jung! Und da nach dem stillverlebten Winter der erste, warme Frühlingstag ins Land zog, kleidete sie sich nur so zum Versuch wieder einmal kokett und zierlich wie früher, und wagte sich tiefer in die Stadt hinein, die sie so lang gemieden hatte. Da war ihr's, als freuten sich alle Menschen über sie wie über die wiedergeschenkte Sonne, so freundlich lachte sie alles an. Das tat doch wohl nach so langer Zeit! Einige Male wiederholte sie den Besuch, aber dann gab es viel zu tun für Fannis Hochzeit, am meisten für das gnädige Fräulein. Die hätte ihr inzwischen so viele neue Kunden verschafft, daß Linni kaum genug schneidern konnte. Sie verdiente immer mehr und konnte sich kleiden, so fein sie nur wollte. Und für schöne Kleider gab sie ihr Leben her, wie sie lachend versicherte. Mit ihnen und mit Pater Sylvester meinte sie bis ans Ende der Welt gehen zu können.
Vielleicht hatte sich der wackere Beichtvater Ähnliches gedacht, weil er gar so giftig tat und sich kaum beruhigen konnte über ein paar harmlose Spaziergänge mit einem Leutnant. Jedenfalls war er sehr aufgeregt. Nur ihre schamlose Eitelkeit hatte das Unglück verschuldet. Kein Wunder, daß die Leute ihr nachliefen, wenn sie so auffallend gekleidet über die Straße ging!
Linni nickte seufzend, als aber Pater Sylvester auf den frechen Leutnant zu schimpfen begann, da bat sie ihn flehentlich, aufzuhören, denn der junge Offizier hatte sich ihr in einer Weise genähert, die ihm von vornherein die größte Achtung zusicherte. Deshalb ließ sie ihn nicht beleidigen oder gar mit dem abgelebten Wüstling vom Nachbarhause vergleichen. Nein, das verbat sie sich. Der Herr Leutnant war Kavalier durch und durch und hegte die edelsten Absichten. Das glaubte die gewitzigte Linni sicher zu wissen. Sehr dezent hatte er angebändelt, Schritt für Schritt, ohne die Kleine zu erschrecken. Kein rohes Wort kam über seine Lippen. Auch behandelte er Linni ausschließlich als Dame, immer sehr fein und respektvoll, nahm auf jeden ihrer Wünsche die peinlichste Rücksicht und scheute sich sogar nicht, mit dem distinguiert gekleideten Fräulein in Uniform zu gehen. Vor allem schonte er ihren religiösen Sinn und bekannte sich selbst als gutgläubigen Christen. Leider war er Protestant, ein Umstand, den Pater Sylvester gar nicht genug hervorheben konnte. Eine Wirkung vermochte er damit freilich nicht zu erzielen. Die Kleine war so innig wie sonst und nahm am Schlusse mit demutsvollem Blick einen der weißen Beichtzettel entgegen, von denen sie jetzt schon eine ganze Sammlung besaß, aber sie sündigte weiter, das heißt, sie ging nach wie vor mit ihrem Herzallerliebsten, trotz der fortwährenden Warnung des Paters spazieren, und nach zwei Monaten harten Ringens kam sie richtig wieder an wie damals, als sie dem Altar des heiligen Ignatius den Rücken gewandt hatte.
Eine nette Bescherung! Pater Sylvester fuhr nicht schlecht in seinem Beichtstuhl herum. Also, das war das Ende seiner heißen Bemühungen! Wehe, dreimal wehe! Er war wirklich wütend und schimpfte Stein und Bein. Alle seine salbungsvollen Sprüche vergaß er, roh und derb kamen die Worte heraus, manchmal sogar ein Fluch dazwischen, weil man ihm die Kleine abspenstig gemacht hatte. Das ärgerte ihn am meisten. Auf den Leutnant war er fast noch wütender als auf das Mädchen, und in seinem furchtbaren Zorne vergaß er sich sogar so weit, daß er den nichtsnutzigen Burschen unter Verletzung des Beichtgeheimnisses anzuzeigen drohte. Der arme Pater! Seine Wut nützte ihm nichts, das Malheur war einmal geschehen, und es blieb ihm nur noch das eine, sich durch Fragen allerintimster Art ein bißchen schadlos zu halten. Grausam quälte er Linni, bis sie ihm auch das letzte erzählt hatte. Dann erst erteilte er die Absolution, aber nicht feierlich wie sonst, sondern knurrend und brummend. Vorher hatte er ihr noch die sofortige Auflösung dieses schamlosen Verhältnisses zur Bedingung gemacht und eine Buße vorgeschrieben, an der sie vier Wochen zu arbeiten hatte, das schlimme Frauenzimmer. Nicht einmal weinen konnte sie diesmal. Die war auf dem besten Weg, eine ganz verstockte Sünderin zu werden. Auch einer Aufrichtung, eines Trostes schien sie gar nicht zu bedürfen. Der gute Pater rechnete eben nicht damit, daß die Kleine ganz närrisch war vor lauter Verliebtheit, und bei all seinen finstern Ermahnungen an nichts andres dachte als an ihren Fritzel. So hieß der Leutnant.
Auf einer Landpartie waren die Flammen ineinandergeschlagen, aber diesmal war sie nicht so verzweifelt nach Hause gekommen, sondern mit einem feinen Lächeln auf den Lippen, das ein wonniges Geheimnis barg. Vater und Mutter konnten ungestört die Abendruhe genießen, und als Linni zu Bett ging, nahm sie oben in ihrem Stübchen eine Photographie heraus, die sie stürmisch liebkoste. Daß solch ein Glück überhaupt möglich war, das hatte sie nie gedacht. Sie lachte und weinte in einem Atem vor jauchzender Freude. Es war die erste Liebe des jungen Geschöpfes, die jeden Gedanken an die begangene Sünde vollständig verdrängte. Erst am andern Morgen wurde es Linni bange. Nicht vor der Sünde, an die konnte sie auch heute noch nicht recht glauben, aber vor der Beichte ängstigte sie sich. Was würde Pater Sylvester sagen? Der fromme Mann stand ihrem Herzen fast ebenso nahe wie Fritzel, und es kam ihr vor, als hätte sie gegen ihn eine Art Treubruch begangen. Aber er war ja so gut, so lieb, so edel! Lange konnte er ihr nicht zürnen. Und wenn er jetzt, nach dem reumütigen Geständnis, auch ein bißchen wetterte, er meinte es nicht so bös. Das merkte sie, als er ihr beim Abschied wieder die Absolution gewährte. Und das blieb halt doch die Hauptsache für ein frommes, strenggläubiges Mädchen.
Freilich, wenn sie an die Zukunft dachte! Ob er dann wohl auch noch so gut und nachsichtig wäre, wenn vielleicht die Sünde wieder Macht über sie gewänne? Sie hatte ja nicht die Absicht, sich noch einmal zu vergehen – beileibe, nein. Aber was weiß man denn? fragte sie mit einem holden Seufzer und lächelte wieder ganz eigentümlich. Jedenfalls hoffte sie das Beste von ihrem geliebten Beichtvater, und im Vertrauen auf seine unendliche Güte nahm sie acht Tage später ein neues Rendezvous mit dem Leutnant an.
Jetzt wurde es aber dem Pater Sylvester doch zu dumm. Die letzte Buße war kaum heruntergebetet und schon kam das Mädchen mit einem neuen Sündenfall daher. Er schimpfte wie nie zuvor und sagte ihr sehr bestimmt, daß er im Wiederholungsfalle einfach die Absolution verweigern werde, die er ihr nur ausnahmsweise noch einmal zuteil werden ließe. Verdammtes Mädel! Ob das wohl glaubte, ihn als guten, dummen Kerl nach Belieben drehen und wenden zu dürfen?
Es schien fast so, als ob sich diese düstere Vermutung bewahrheiten sollte.
Mit seinem Beichtstuhl glaubte Pater Sylvester in die Erde sinken zu müssen, als sie vier Wochen darauf wieder mit neuen Bekenntnissen zu ihm kam. Ja, sogar noch schlimmer als vorher hatte sie's getrieben. Aber dafür war es nun auch endgültig vorbei mit der Geduld ihres würdigen Beichtvaters. Alle guten Dinge sind drei – das Maß war voll. Er achtete nicht mehr auf heiße Tränen und Versprechungen, sondern rückte mit seinem Ohre weit von ihr weg, um nicht mehr so schamlose Sünden zu hören, und wies sie endlich barsch hinaus mit der Bemerkung, daß sie für immer den Klauen der Hölle verfallen bleibe. Als sie aber in ihrem Jammer nicht gleich gehen wollte und verzweifelt ihre Finger in das eiserne Gitter grub, ließ er einfach das nächste Beichtkind auf der andern Seite eintreten. Das überstieg ja alle Begriffe! Die Sünde war zu groß, zu frech, zu schnell wiederholt, und obendrein verspürte er gar keine Lust immer anzuhören, wie glücklich sie bei diesem dummen Laffen von Leutnant war. Drum hinaus mit ihr! Mochte sie sehen, wo sie ankäme.
Das gleiche überlegte sich Linni. Totenbleich war sie aus dem Beichtstuhle gewankt, wie damals bei Pater Jakobus, und nun weinte sie so laut und bitterlich vor dem heiligen Antonius, daß es durch die dichten Vorhänge zu Pater Sylvester dringen mußte. Aber das war alles umsonst.
Linni wartete mehrere Stunden. Eines nach dem andern betrat den Beichtstuhl, jedes ging erleichtert von dannen, nur sie allein sollte keine Gnade finden. Pater Sylvester war doch recht grausam. So schön war alles eingeteilt gewesen, und waren auch dann und wann ein paar tüchtige Gewitter herniedergegangen, im stillen hatte sie doch gehofft, daß er sich so nach und nach an ihre Liebe zu Fritzel gewöhnen werde. Ach, wie reizend wäre es gewesen, so ein recht inniges Verständnis mit den guten Menschen, mit Fritzel und mit Pater Sylvester, jedem von beiden sein reichlich Teil zugemessen! Mehr hätte Linni ja gar nicht verlangt. Und nun mußte sie sehen, daß sie sich gründlich verrechnet hatte. Ihr Beichtiger wollte nichts wissen von dem schön geträumten Trio. Er würdigte doch gar nicht, wie ihr ums Herz war, sonst hätte er nie verlangen können, daß sie mit Fritzel brechen sollte. Mit Fritzel, mit dem prächtigen, immer vergnügten, herrlichen Menschen! Wenn Pater Sylvester jetzt schon so streng war, was sagte er denn, wenn einmal der Karneval kam, wo Linni gar lustig herumtanzen wollte. Es dämmerte ihr so etwas auf, als ob sie für diese berauschende Zeit doppelte Nachsicht und milden Zuspruch nötig hätte, denn ohne Beichte konnte sie nun einmal nicht leben.
Aber wie fängt man das an? Von Pater Sylvester war nichts mehr zu hoffen, und wenn sie noch zwanzig Stunden wartete. Das ärgerte Linni. Sie mußte absolviert werden, koste es was es wolle. Der hartherzige Mann da drüben sollte nicht triumphieren.
Eilig trocknete sie ihre Tränen und sah sich in der Kirche um. Ein hilfsbereites Mütterchen war diesmal nicht zur Stelle, aber die vorzügliche Praxis der alten Frau war Linni in gutem Gedächtnis geblieben. Ein pfiffiges Lächeln umspielte ihren Mund. Da ragten ja noch zehn Seitenaltäre zur Höhe, und unter jedem saß ein Beichtiger wie zur Auswahl. Die konnte man mal der Reihe nach durchgehen, von oben bis unten, und dann wieder von unten bis oben, oder zur Abwechslung mal im Zickzack von einem Ende zum andern, dann brauchte man den Pater Sylvester nicht mehr.
Das war ein guter Gedanke! Linni erfaßte ihn schnell und ging gesenkten Blickes zum nächsten Altar. Dort thronte in starrer, aufrechter Haltung der siebzigjährige Pater Eusebius, ein würdiger, schwerhöriger Greis, der die Sache mit ein paar unverständlich gemurmelten Worten abzumachen pflegte. Erwartungsvoll trat Linni zu ihm, und sie hatte die Freude, nach einer ganz kurzen Beichte gerade in dem Augenblick entlassen zu werden, als Pater Sylvester eben seine Sitzung beendete. Er blickte sonderbar drein, als er den Beichtzettel in ihrer Hand gewahrte. Mochte der sich ärgern! Ganz recht geschah ihm! Jetzt war sie auch einmal grausam. Und in ihrer Schadenfreude gab sie dem Fritzel noch am selben Tag ein Stelldichein, bei dem es lustig herging. Warum auch nicht? Sie hatte jetzt den bequemsten Beichtvater, und außerdem standen ja noch neun Seitenaltäre in der Kirche der »frommen Brüder«!
*
»Fräulein Linni! … Fräulein Linni!«
»Was gibt's denn?«
»Ach, bitt' schön, bleiben S' noch a bissel steh'n.«
Ärgerlich drehte sie sich um. Es war auf der dunklen Haustreppe, die sie eben herniederstieg, um zu dem gnädigen Fräulein zu gehen. Denn sie sollte die Wintertoiletten anmessen.
»Ach, Sie sind's, Herr Killmoser,« sagte sie gedehnt, als erkenne sie erst jetzt den Herrn, der ihr so hastig nachgeeilt war.
Daß sie der langweilige Mechaniker immer verfolgen mußte! Der Mensch war so zudringlich geworden in letzter Zeit. Sie wußte es ja, er war in sie bis über die Ohren verliebt, aber sie konnte doch nichts dafür, wenn diese stürmische Begeisterung, die sich oft in läppischen Kundgebungen äußerte, nur eine einseitige blieb. Er war ja zu häßlich, und gegen Fritzel – na, sie wollte ihren Geliebten nicht durch unpassende Vergleiche verletzen.
»Was wollen S' denn?« fragte sie unwillig. »Ich hab' jetzt keine Zeit.«
Verlegen stand der kleine Mann vor dem vollen, schönen Mädchen. Er trat einen Schritt vor, dann wieder einen zurück, hüstelte ein paarmal, und endlich griff er bebend nach ihrer schmalen Hand, die in feines Leder gehüllt war.
»Fräulein Linni … ach, es ist ein großes Glück, daß ich Sie einmal treff' … ich will's Ihnen aber endlich sagen, ich … ich möcht' Sie heiraten.«
Linni mußte sich ihren zierlichen Muff vor den Mund halten, um ihm nicht ins Gesicht zu lachen. Heiraten! Den kleinen Troddel da? Der heutige Tag fing ja lustig an.
»Sonst nix mehr,« kicherte sie.
Der Mechaniker wurde sehr traurig. Er meinte die Sache tiefernst, und nun fand er auf seinen wohlgemeinten Antrag, den er monatelang vorbereitet hatte, nur Hohn und Spott.
»So müssen S' net reden, Fräulein Linni … hören S' mich erst amal an,« bat er ganz verschüchtert.
Und nun begann er umständlich sein Programm auseinanderzusetzen. Sie könnten doch beide ganz gut zusammen leben und sich ehrlich durchschlagen ohne Mangel zu leiden, er mit seinem guten Auskommen und seinem hübschen Vermögen, sie mit ihrer Schneiderei. Ob Fräulein Linni das nicht auch glaubte?
Ja, wenn es ihr darum wäre, das könnte sie freilich, aber dafür bedankte sie sich. Sie wollte anders leben als der Herr Mechaniker meinte, und wollte lustig sein. Eine solche Philisterehe fand sie immer noch, wenn sie alles durchgekostet hatte, aber jetzt wies sie diesen Gedanken zur größten Enttäuschung des unglücklichen Verehrers mit beiden Händen von sich und stürmte singend die Treppe hinab. Das wäre nicht übel! Nur keine Ketten, keine Langeweile und kein schläfriges Nebeneinandervegetieren mit der stumpfsinnigen Zufriedenheit ihrer Schwester Fanni. Die hatte sich geduldig einpacken lassen. Aber der Linni fiel das nicht im Traum ein. Sie war selbständig und verdiente sich ihr Geld, darum wollte sie auch noch ihr Leben genießen. Lachen wollte sie, und so was verlernt man schnell an der Seite eines dicken Kupferschmieds oder eines dürren Mechanikers. Einen flotten Leutnant am Arme ging es schon besser. Also, fort mit dem ledernen Brautwerber, der ihr doch nur eine spaßhafte Figur war. Den ganzen Tag mußte sie über ihn lachen.
Als sie aber wieder nach Hause kam, fiel sie aus allen ihren Himmeln. Der Mechaniker war zu ihren Eltern gegangen und hatte um sie angehalten. Frohlockend teilte es ihr Vater Pechtl mit. Der praktische Mann hatte das günstige Angebot besser erwogen als seine leichtsinnige Tochter und nach genauem Rechnungsüberschlag seine endgültige Zustimmung gegeben.
Linni wurde kategorisch erklärt, daß sie den Mechaniker lieben und in sechs bis acht Wochen auch heiraten werde.
Die Kleine kannte ihren Vater zu gut und widersprach nicht. Aber schnurstracks schoß sie mit zorngeröteten Wangen in ihr Stübchen hinauf und klopfte an der Tür des ungestümen Werbers.
»Herr Killmoser,« sagte sie mit fester Stimme, als sie dem erschrockenen Menschen gegenüberstand. »Herr Killmoser … Sie haben doch um mich ang'halten …«
»Fräulein Li…«
»Hören S' auf,« sagte sie, »ich weiß alles. Das war gemein von Ihnen.«
Er traute sich nicht zu antworten.
Linni trat näher zu ihm.
»Jetzt will ich Ihnen 'was sagen, Herr Killmoser! Wenn mich der Vater dazu zwingt, sag' ich auf'm Standesamt nein. Da haben S' meine Hand drauf! Wenn Sie aber Ihren Antrag zurücknehmen und geduldig warten wollen, bis mir's paßt, dann … dann will ich mir's überlegen. So, jetzt wissen S', wie S' dran sind.«
Allerdings, das wußte der arme Mechaniker. Linni hatte so klar und entschieden gesprochen, daß er ihr alles zutraute. Was blieb ihm übrig? Er mußte zu Vater Pechtl gehen und dem erzürnten Droschkenkutscher erklären, daß er sich übereilt habe und doch nicht ans Heiraten denke. Das gab eine grimmige Feindschaft. Der völlig zerknirschte Liebhaber wurde mit argen Grobheiten zur Tür hinausgewiesen, und Vater Pechtl bedauerte nur, daß ihm nicht das Haus gehörte, in dem er mit Frau und Töchtern wohnte, sonst hätte er den wortbrüchigen Burschen noch heute auf die Straße gesetzt. So aber mußte er's mit ansehen, daß sich der arme Teufel verzweiflungsvoll an das letzte klammerte, um Linni nahe zu sein und die Dachstube auch ferner bewohnte.
Die Kleine lachte sich ins Fäustchen. In ihrer unsinnigen Freude über den gelungenen Streich betete sie am Sonntag in der Kirche mit dankerfülltem Herzen drei Rosenkränze für die glückliche Errettung aus großer Gefahr. Gleichzeitig klagte sie sich im Beichtstuhl mit tiefer Reue der Schuld an, daß sie den Vater und den Mechaniker verhetzt habe, wofür sie die eintönige Absolution, wie immer, erhielt.
Bei ihrem neuen Beichtvater ging es überhaupt famos. Die Sünde, von der er nicht freisprach, hätte man erst noch erfinden müssen. Was hatte ihm Linni in den letzten Monaten nicht alles herbeigetragen. Der gute Pater Sylvester wäre ja vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen! Um die geheimen Zusammenkünfte zu ermöglichen, fand sie stets einen pfiffigen Vorwand der leichtgläubigen Mutter gegenüber, wenn sie des Nachmittags zu Fritzel in die Stadt ging. Bald war es eine Bestellung in einem Modegeschäft, bald der Besuch bei einer Freundin, bald hatte sie bei dem gnädigen Fräulein zu tun.
Und die Mutter glaubte ihr alles. Wanderte doch ihre Linni jeden Morgen zu den »frommen Brüdern« und betete dort so andächtig wie in den frühesten Tagen ihrer Kindheit. Mehr verlangte Frau Pechtl nicht. Tiefer blicken war nicht ihr Fall, weder zu Hause noch in der Kirche. Sonst hätte ihr gar manches auffallen müssen, vor allem Linnis Betragen gegen Pater Sylvester. Die Kleine pflegte sich nämlich stets so zu knieen, daß er sie sehen mußte, denn seine Grausamkeit konnte sie ihm noch nicht verzeihen. Dafür hatte sie ihn doch viel zu lieb gehabt, mehr als er's verdiente. Unwillkürlich rief sie sich die weihevollen Stunden zurück, die sie dort in dem reichgeschnitzten Beichtstuhl voll hingebenden Vertrauens verlebt hatte. Aber dann unterdrückte sie schnell dieses auftauchende Gefühl einer falschen Reue und blickte dem vorüberschreitenden Pater fast herausfordernd ins Gesicht. Er sollte es nur merken, daß sie ihn nicht mehr brauchte, und wenn er sich giftete, dann war es seine Schuld. Warum hatte er sie fortgeschickt?
Linni sah ganz richtig. Der gute Pater ärgerte sich wirklich. Tausendmal hatte er seine Heftigkeit verwünscht, und wenn ihm noch Haare auf dem kahlen Schädel geblieben wären, er hätte sie einzeln ausgerissen wegen seiner Dummheit. Dem Glauben und der Kirche war ja Genüge geschehen, aber was blieb denn ihm? Er wollte doch auch leben und ein bißchen Freude haben auf dieser trostlosen Welt. Drum brauchte er manchmal so was Anschmiegendes und Molliges in seiner Nähe, das ihm den asketischen Dienst seines Ordens etwas erleichterte. Immer noch hatte er's verstanden, sich zur rechten Zeit eine innige Zuhörerin zu sichern, die sich seiner besondern Aufmerksamkeit zu erfreuen hatte. Aber alle waren von Linni verdrängt worden. Und jetzt? Da saß er nun und konnte den Schaden besehen. Wer kam denn zu ihm? Bettelvolk, dumme gleichgültige Weiber, bleichsüchtige keusche Jungfern vom Tugendbund, dann und wann ein Dienstmädchen, aber niemals mehr eine Linni. Die war fortgeflattert wie eine schillernde Libelle und kehrte nicht wieder.
Bei dem alten Eusebius hatte sie sich niedergelassen, der alles stumpfsinnig absolvierte, ob es ein böser Gedanke oder ein Ehebruch war. Pater Sylvester empfand eine schreckliche Wut gegen den würdigen Mitbruder. Daß man den schwachsinnigen Greis überhaupt noch ein so wichtiges Amt wie die Beichte versehen ließ, begriff er nicht. Dem Prior wollte er Vorstellungen machen, und ging es da nicht, dann dachte er den Fall im Konvent zur Sprache zu bringen. Freilich, ob ihm das sein verlorenes Beichtkind zurückführte? Das glaubte er selbst nicht. Er wurde ganz melancholisch, und in seiner Verzweiflung über die entwichene Linni begann er seine väterliche Gunst einer üppigen Metzgerin zuzuwenden, die so manche Sünde in dem rundlichen Busen barg. Es war freilich keine Linni, dazu fehlte der derben Person mit den frechen Gesichtszügen und den schwammigen Backen so ziemlich alles, aber immerhin war es mehr wie nichts. Pater Sylvester gewöhnte sich an ihr kreischendes Geschwätz und fand sie mit der Zeit ganz erträglich.
Mit Entrüstung mußte nun Linni eines Morgens bemerken, daß sich ihr ehemaliger Beichtvater über ihren Verlust auf ganz besondere Weise zu trösten suchte. Von diesem Tag an war es um ihre Ruhe geschehen. Sie kannte die dicke Metzgerin ganz gut, noch besser aber die zahllosen galanten Abenteuer, deren sie von allen wahrhaft frommen Betschwestern in und außer der Kirche beschuldigt wurde. Und mit so einer schamlosen, nichtsnutzigen Person konnte sich Pater Sylvester befreunden? Ja, er scheute sich nicht einmal, seine Gunst ganz offen zur Schau zu tragen, daß es allen Leuten auffiel. Da mußte der eingebildeten Metzgermeisterin natürlich der Kamm schwellen. Wie sie frech und hochnäsig an ihr vorüberging, die dumme alberne Gans, wenn sie aus dem Beichtstuhl trat, als ob sie so recht bissig sagen wollte:
»Da schauen S' her, Fräulein Linni! Gelt, jetzt wundern S' Ihnen, daß andre Leut' auch was gelten beim hochwürdigen Herrn.«
Und Pater Sylvester selbst? Hatte er jetzt nicht immer ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, sobald er Linni auf den Altarstufen bemerkte? Oh, der harte, der unbarmherzige Mann!
Diese verworfene Sünderin, die ein regelrechtes Verhältnis mit einem ersten Münchener Knallprotzen unterhielt und sich schamlos vor aller Welt benahm, die konnte er natürlich freisprechen, aber ein armes Mädel, das sich aus selbstloser Liebe einem verschuldeten Leutnant hingab, das mußte er von sich weisen. Linni lachte bitter. Warum sie sich eigentlich noch ärgerte? Sie hatte sich doch losgesagt von dem gottlosen Pater und brauchte ihn ja nicht mehr. Also, weshalb rannte sie denn immer noch zu seinem Altar? Weshalb lauerte sie denn stundenlang auf den Augenblick, wo das fette Frauenzimmer mit dem kolossalen Gebetbuch in den Beichtstuhl plumpste? Weshalb denn? Das konnte ihr doch alles gleichgültig sein. Dort drüben wartete ja der milde Eusebius auf sie, ihr gut verwendbarer Beichtvater. Sie brauchte nur hinzugehen und ihm alles zu sagen, was sie bedrückte. Warum tat sie's denn nicht? Ach, sie wußte es ja nur zu gut! Was verstand der alte, halbtaube Mann von einem jungen, trostbedürftigen Herzen? Der konnte wohl absolvieren, wenn sie ihm mit einem tüchtigen Stoß an das Gitter zu verstehen gab, daß das Sündenregister wieder heruntergesagt war, aber raten, helfen, beistehen und zusprechen – wie es Pater Sylvester immer so vortrefflich verstanden hatte –, das konnte er nicht, der starre, wächserne Greis mit den erloschenen, milchweißen Augen.
Linni wurde sehr unglücklich. Ihre Liebe zu Fritzel litt unter einer nervösen Unruhe, die auch dem galanten Liebhaber nicht verborgen blieb und einen trüben Schatten warf auf die sonst so frohen Zusammenkünfte. Sie lachte nicht mehr, manchmal schrieb sie ihm sogar ab und wanderte dafür in die Kirche. In ihrem Jammer suchte sie alle Schutzheiligen der Reihe nach auf und betete lange.
Doch auch dieser unmittelbare Verkehr mit dem Himmel schien vergebens zu sein. Wo sie saß, wo sie stand, wo sie kniete – immer wieder mußte sie hinüberblicken zum heiligen Antonius, und gewahrte sie dort am Sonntag die dicke Metzgerin, dann half ihr die ganze Zuversicht zu sämtlichen Heiligen nichts mehr. Manchmal ließ sie die gefalteten Hände auf den Betstuhl herabfallen und starrte gedankenlos die Wände hinauf. Da kam sie sich zum erstenmal vor als eine Ausgestoßene, und nun erwachte in ihr ein verzweifelter Schmerz über das verlorene Glück und grimmiger Haß gegen die heuchlerische Rivalin. Wenn sie der nur was antun könnte! Die auserlesenste Bosheit wäre ihr grade gut genug gewesen. Aber sie war machtlos, denn die beiden verstanden sich von Tag zu Tag besser. Immer länger blieb die gemeine Ehebrecherin im Beichtstuhl, immer vergnügter schien Pater Sylvester zu schmunzeln, als dächte er nicht mehr im Traum an sein ehemaliges, geliebtes Beichtkind, das abgehärmt in einer fernen Ecke der Kirche kniete und verzweifelt die Hände rang.
Das ertrug sie nicht, das mußte anders werden, das mußte aufhören, sonst ging sie zugrunde.
»Fritzel,« sagte sie bebend zu ihrem Geliebten, »Fritzel, so geht's nimmer weiter.«
Er faßte sie teilnahmsvoll bei der Hand.
»Kind, Kind, du bist ja ganz närrisch seit ein paar Wochen.«
»Ich kann nimmer beten,« stöhnte sie ganz verzweifelt.
Vergebens suchte er sie zu beruhigen. Sie hielt sich beide Ohren zu, als er von ihrer Liebe zu reden begann, und schließlich erklärte sie ihm ganz entschieden, daß sie ohne den Pater Sylvester nicht leben könne.
Nun wurde er aber ärgerlich.
»So'n Unsinn,« platzte er heraus.
»Fritzel, sag' das net noch mal.«
»Is ja dummes Zeug,« rief er wütend. »Läßt dir den Kopf verdrehen von so 'nem dicken Bonzen.«
Sie sah ihn starr an:
»Du, ich hab' dich bis jetzt für strenggläubig g'halten.«
Unwillig winkte er ab:
»Is ja gut,« rief er, »is ja gut, aber du sollst wieder lustig sein und mit mir gehen.«
»Keinen Schritt mehr, eh' mir nicht der Pater Sylvester …«
»Dummes Zeug! Gib mir 'n Kuß, du Prachtmädel, du, und lach' endlich mal wieder.«
Heftig schlug sie ihm auf die ausgestreckte Hand.
»Lass' mich aus,« schrie sie drohend.
»Aber Kind …«
»Fritzel, ich sag' dir's, eh' ich net wieder mit mein'm Pater Sylvester geredt hab', darfst mi net anrührn.«
Das war ihm denn doch zu bunt. Er nannte sie eine abergläubische Person, die ihn nie geliebt habe, und schließlich begann er gotteslästerlich auf alle Pfaffen zu schimpfen.
»Ich kenn' dich ja net wieder,« rief sie entsetzt.
»Ach, bleib' mir vom Hals mit dieser Gesellschaft,« tobte er.
»Fritzel, is das dei' letztes Wort?«
Noch einmal bezwang er sich:
»Linni, was hast du denn?« fragte er ruhiger. »Jetzt, vor dem Fasching kommst du mit der dummen Geschichte daher. Mädel, sei doch nicht albern!«
Auf den Karneval hatte sie sich unsinnig gefreut, aber Pater Sylvester stand ihr doch noch näher.
Er mußte lachen:
»'s is zu dumm,« rief er.
»Was?« rief sie erregt.
»Ach, die ganze Affäre! Weißt du was? Wir fahren zum Maskenball und lassen den biedern Pater …«
»Wenn du so red'st, dann geh ich,« sagte sie.
Jetzt war er mit seiner Langmut zu Ende.
»Na, dann geh und laß dich einsalzen, trauriges Frauenzimmer!«
Sie eilte wie besessen nach Hause. Oben in ihrer Kammer warf sie sich auf das Bett, ohne Mantel und Hut abzulegen. Dann schluchzte sie laut. Jetzt war alles vorbei, alles – alles. Wem sollte sie denn ihr Leid klagen? Ihren Eltern? Da wäre sie gut angekommen, und Kätchen, der kleine Backfisch, verstand so etwas doch noch nicht. Linni stieß es auf und nieder. Ganz verzweifelt vergrub sie ihr nasses Gesicht in die Kissen.
Da plötzlich klopfte es an der Seitentür, erst ganz leise und schüchtern, und als Linni immer noch nicht hörte, etwas stärker.
»Käti, bist du's?« fragte Linni ohne aufzustehen.
»Nein, ich bin es, Fräulein Linni,« kam es aus der Nebenkammer.
Der Mechaniker und immer wieder der Mechaniker.
»Entschuldigen Sie, ich wollt' bloß fragen, was Ihnen fehlt,« wisperte er.
Linni rührte sich nicht von der Stelle und unterdrückte einen neuen Tränenstrom.
»Es ist schon gut, Herr Killmoser,« sagte sie krampfhaft.
»Kann ich Ihnen net was helfen?«
Der – und ihr helfen! Das konnte nur einer, und der tat es nicht, sondern stieß sie hochmütig hinweg aus seiner geweihten Nähe. Er hatte eine andre gefunden und brauchte sie nicht mehr.
Und nun weinte sie die ganze Nacht durch bis zum frühen Morgen. Da stand sie auf und ging mit der Mutter in die Kirche, mehr aus stumpfer Gewohnheit als mit gläubigem Bewußtsein, denn was sie dort suchte, begriff sie eigentlich selbst nicht recht. Beim untersten Altar fing sie an gedankenlos die Gebete aufzusagen, und dann rückte sie mit klopfendem Herzen Schritt für Schritt näher zum heiligen Antonius. Der sollte ja in seiner Jugend auch kein Guter gewesen sein, wie man immer erzählte. Ängstlich blickte Linni zu ihm empor. Aber das anbrechende Tageslicht zeigte ihr auf dem großen Bild einen würdigen, ernsten Mann mit verklärten Zügen, der, das Jesuskind auf seinen Armen, himmelwärts blickte und so gar nichts von einem flotten Leben verriet. Linni ließ sich auf die Knie nieder und sah ihn unverwandt an. Sie wagte nicht rechts und links zu blicken, obgleich es da immer hin- und herging, in fortwährendem Kommen und Gehen. In ihr Ohr drang es von Gebeten, und nun tönte in kurzen Pausen ihr eine Stimme ins Ohr, die ihr Blut heftiger kreisen ließ.
Jetzt aber war es auf einmal ganz still geworden. Auch ging niemand mehr an ihr vorüber. Und doch wußte Linni, daß sie noch nicht allein war. Sie senkte den Kopf und blickte ein wenig nach der Seite. Da durchfuhr sie ein freudiger Schreck. Dort in seinem Beichtstuhl saß der Pater Sylvester ganz allein. Die Vorhänge waren zurückgeschlagen, und sein breites, rundes Gesicht blickte freundlich auf die schöne, reuige Büßerin. Lag es nicht in seinem Blicke, wie eine gütige Aufforderung herbeizukommen und sich aller Sünden zu entladen?
Ach, der gute, der liebe, der herrliche Mann!
Linni sah ihm innig in die Augen, wie um Verzeihung flehend. Dann erhob sie sich langsam, wankte einige Schritte näher, faltete die Hände und stürzte weinend vor ihm nieder.
*
Winter, Frühling und Sommer zogen dahin in einförmigem Leben. Vater Pechtl fuhr jeden Morgen ins Geschäft, Mutter Pechtl betete fleißig, Kätchen, die ein allerliebstes Ding geworden war, zog lange Kleider an und verließ die Schule, der Mechaniker hüpfte immer noch aussichtslos um die schneidernde Linni herum, und die dicke Metzgerin war in Acht und Bann getan.
Mit hellem Jubel hatte der gütige Pater die Wiedergekehrte empfangen, und Linni lohnte ihm seine Gnade durch innige Andacht und Hingabe. Sie lebte nur noch für ihn allein. Aus dem tiefgefühlten Bedürfnis nach gediegener Aussprache hatte sie zur namenlosen Freude der frommen Mutter ihre Beichtgänge verdoppelt und wanderte nun alle vierzehn Tage zu Pater Sylvester. Dieser Sonntag bedeutete dann für beide ein hohes Fest verklärtester Freude und Seligkeit.
War es doch bei dem makellosen Leben des Mädchens kaum mehr eine Beichte zu nennen, was sie noch zusammenführte, sondern ein ganz vertrautes Viertelstündchen des süßesten Geheimnisses, das nun beide umspann, denn Linni erzählte ihm alles, und Pater Sylvester überkam es mit einer prickelnden Freude, wenn er sich sagte, daß er jetzt über das Mädchen schrankenlos gebieten konnte. Sie gehörte ihm allein. Alle ihre Verehrer, alle Stutzer und Leutnants hatte der einfache, alternde Mann in der braunen Kutte aus dem Felde geschlagen, und nun regierte er mit Weisheit und Überlegung, aber auch mit Liebe, mit recht viel Liebe – die verdiente das reizende Mädel. Er wurde ganz gerührt, wenn er an sie dachte, und sein breites Vollmondsgesicht glänzte mit der riesigen Glatze in den sanften Tönen einer lauen, angenehmen Frühlingsnacht, die in alle Herzen Weichheit und Milde senkt. Der sündenbeladenen Menschheit schenkte er Gnade mit vollen Händen, so daß sich sein Ruf immer weiter verbreitete, und manch neues, hübsches Frauenbild vor dem Gitter seines Beichtstuhls erschien.
Doch für Linni hatte das keine Gefahr. Seinem Liebling bewahrte er ängstlich die Treue, und wären die holden Schönen alle in der gleichen verlockenden Tracht, wie damals vor seinem Altarheiligen, dem guten Antonius, erschienen – er hätte sie schnöde von dannen gewiesen und ihrer Wollust gespottet. Treue gegen Treue, das war sein Hauptprinzip. Und die Kleine war ihm treu.
Erst neulich hatte sich's wieder glänzend erwiesen. Sie war zu ihm gekommen mit einer jener Gewissensfragen, auf die niemand bessere Antwort zu geben verstand als der vielbewährte Orden der »frommen Brüder«, am trefflichsten natürlich der kundige Pater Sylvester, der feine Kenner der Frauen und Mädchen.
Herr Killmoser, der Mechaniker, hatte ihr abermals einen Antrag gemacht, diesmal sogar noch stürmischer als zuvor. Was sie tun sollte, hatte Linni gefragt. Pater Sylvester hatte reiflich erwogen, und ihr am Schluß in eindringlicher Weise die Ablehnung geraten, indem er sie auf den Apostel Paulus und andre würdige Kirchenväter verwies. Aus ihren warmen, fast heftigen Dankesbezeugungen hatte er wohl gemerkt, wie gut er wieder das Richtige getroffen hatte.
Als aber der Sommer vorüber war, und die Kleine sich mit der kälteren Jahreszeit immer heftiger an das trennende Gitter des Beichtstuhls schmiegte, als ob sie friere, da stieg in Pater Sylvester mit einem Male die beängstigende Frage auf, ob er sich damals nicht doch vielleicht getäuscht habe. Denn jetzt wurde Linni immer erregter, und ihr Atem drang so heiß zu dem frommen Pater herüber, daß ihm noch ganz anders zu Mute wurde, als in der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit ihr. Ängstlich trocknete er sich den Schweiß von der Stirn, seinem Beichtkind aber empfahl er Ruhe und fleißiges Beten zur unbefleckten Jungfrau Maria. Aber er merkte bald, daß seine Mittel nicht verfingen. Immer leidenschaftlicher wurde das Mädchen. Barg sie vielleicht wieder eine sündige Liebe? Beim Leben ihrer Mutter versicherte sie ihm das Gegenteil. Ja, sie weinte sogar vor Entrüstung über solch eine Zumutung, die in seinem Munde sehr verletzend klang. Sonderbar! So ein Fall war ihm noch nicht vorgekommen. Pater Sylvester fürchtete für ihre Zukunft. Am fernen Himmel meinte er wieder ein Gewitter zu sehen, wie damals, als sich ihr der leichtsinnige Leutnant näherte, und der treffliche Kenner der Frauen und Mädchen glaubte daher der drohenden Gefahr am besten zu begegnen, wenn er die Kleine zur Beruhigung der Seele von jetzt an für jeden Sonntag zur Beichte bestellte. Dann würde sich die Sache schon geben.
Zu seinem Erstaunen mußte er einsehen, daß auch dieses Mittel seinen Zweck verfehlte. Die Kleine war ja wie vom Teufel besessen und führte sich immer toller auf. Pater Sylvester wurde irre an sich selbst.
»Heiliger Antonius, steh mir bei,« stöhnte er, wenn Linni manchmal ihr Gesicht an das Gitter drückte, daß sich das Eisen verbog. Wie soll das noch enden? Schließlich war er doch auch nur ein Mensch.
Noch einmal nahm er seine Kraft zusammen und mahnte zur Tugend. Und als es damit auch nicht gehen wollte, zog er sich eigens in seine Klosterzelle zurück und überlegte, wie dem Mädchen zu helfen wäre. Was konnte man beginnen? Seine ganze, langjährige Praxis ließ der fromme Mann bedächtig an sich vorübergehen, Fall für Fall erwog er reiflich, und endlich ging er alle Gebräuche der Kirche durch, die man auf ähnliche Gefahr anwenden konnte. Anfangs war alles umsonst, und manchmal schien es ihm, als müsse sein überhitzter Schädel zerspringen, der sich für das Wohl der armen Linni in furchtbaren Qualen zermarterte.
Doch der heißen Mühe folgte der Lohn auf dem Fuße. Zwei Tage hatte Pater Sylvester gerungen, am dritten – es war das Fest der heiligen drei Könige – ging er mit hocherhobenem Haupt aus seiner Zelle wieder heraus. Jetzt hatte er's gefunden. Eine Teufelsaustreibung – das war es! Für diese Spezialität genoß der Orden der »frommen Brüder« einen besondern Ruf. Pater Sylvester hatte vor Jahren selbst eine solche vorgenommen an einer ganz verstockten Sünderin, und zwar mit bestem Erfolge. Und er glaubte sich dieser riesigen Aufgabe auch bei Linni gewachsen, um so mehr, als die Kleine gewiß äußerst willig wäre und ihm das harte Amt nach Möglichkeit erleichterte. Die heilige Zeremonie erforderte nämlich einen ganzen Mann voll Tatkraft und Intelligenz. Drei Wochen lang mußte er Tag und Nacht ohne jede Assistenz vor dem Lager der Sünderin wachen und beten, dann gab es noch eine große Feierlichkeit in der Kirche, und schließlich noch zwei Jahre hindurch allwöchentlich einen Besuch im Hause, damit der böse Feind nicht wiederkehrte.
Ja, so konnte dem Mädchen geholfen werden. Es bedeutete ein großes Opfer, aber was tat Pater Sylvester nicht alles für sein geliebtes Beichtkind! Unverzüglich dachte er ans Werk zu gehen, und gleich am nächsten Sonntag wollte er die glückliche Linni davon benachrichtigen, daß sie höchster Gnade teilhaftig werden sollte. Wie er sich auf diesen Augenblick freute! Und als sie endlich in den Beichtstuhl trat, empfing er sie in einer feierlichen Stimmung wie nie zuvor.
Aber was war denn das? Die Kleine schien ja wie umgewandelt! War das wirklich Linni, die wilde, stürmische Linni? Ganz sanft und demütig redete sie mit gesenkten Lidern, und ihr ganzes Wesen war weich und biegsam wie Wachs. Pater Sylvester wurde es schwül. Gleich beim ersten Ton ihrer Stimme hatte er nichts Gutes geahnt, und als er jetzt hastig weiterforschte, gestand sie mit erlöschender Stimme das Gräßliche.
Auf den Maskenball war sie gegangen bei Nacht und Nebel, der ehelustige Mechaniker hatte die Schlüssel dazu geliehen, damit sie unbemerkt von den ahnungslosen Eltern die Hintertreppe benutzen konnte. Und dort, im Ballsaal, hatte sie einen Studenten aufgegabelt, einen blutjungen Kerl, dem sie die schwerverhaltene Leidenschaft eines ganzen Jahres im ersten Sinnenrausch schenkte.
Pater Sylvester schwindelte es. Zu welch hoher Tat war er für sie bereit gewesen, und nun mußte er diesen Lohn empfangen. Oh, es war schändlich! Ein Hagelwetter von Strafreden ließ er herniedergehen auf die sündige Kleine, die nun mit einem Schlage, auch ohne das erprobte Mittel der Teufelsaustreibung, so sanft und ergeben geworden war wie eine fromme Taube. Die Verräterin! Auf alle seine Vorwürfe hatte sie nur einen seltsam fragenden Blick, den der gute Pater Sylvester nicht verstand. Stöhnend wandte er sich hin und her. Sein Latein war zu Ende bis auf den Spruch der Absolution, den er wütend heruntersagte. Dann schloß er sich wieder in seiner Klosterzelle ein und hieb mit den Fäusten gegen die kahlen Wände.
Die undankbare Kleine aber, der er solch eine unermeßliche Wohltat zugedacht hatte, ging achselzuckend von dannen und trieb ihr Techtel-Mechtel mit dem Milchgesicht unbeirrt weiter. Ein rasender Taumel hatte sie gepackt, als die lockende Tanzmusik aus den hellerleuchteten Vergnügungspalästen auf die beschneiten Straßen drang. Da hatte sie's nicht mehr ausgehalten in der stillen Wohnung. Sie war in die Stadt gegangen und hatte sich ein feines Kostüm gekauft, dann war sie hingefahren in die festlichen Räume, und den ersten besten im Ballsaal hatte sie unter den Arm genommen. Sie mußte einmal tanzen und Champagner trinken, sie mußte sich austoben und die Nächte herumtollen von einem Parkette zum andern.
Denn tanzen konnte sie fast ebenso feurig wie beten. So mit drei Sätzen durch den spiegelglatten Ballsaal dahinfliegen, dann ein paar Gläser von dem eiskalten, köstlichen Trank hinuntergießen! Und dazu war ihr der kleine Student grade recht. Den konnte sie kommandieren, daß er sich genau so benahm wie sie es wollte, denn sie bezahlte ja auch für ihn. Hatte sie ihn dann den ganzen Abend wie eine Rasende durch den Saal gerissen, dann nahm sie ihn her und herzte ihn wie eine Puppe.
Der kleine Kerl war ganz in ihrer Gewalt. Sie machte ihm Geschenke, sie sagte ihm, wie er sich zu benehmen hatte und schrieb ihm seine Kleider vor wie ihrer Schwester Kätchen, der vertrauten Mitwisserin an ihren nächtlichen Ausflügen, der sie zum Danke für ihre Verschwiegenheit die feinsten Toiletten zurechtschneiderte. Denn Kätchen sollte auch etwas spüren von dem lustigen Leben, das der tanzenden Linni ein so unsägliches Vergnügen bereitete.
Weniger Spaß bot es freilich dem armen Mechaniker in der Dachstube, der sich in den schlaflosen Nächten dümmer als der gefoppte Harlekin vorkam. Nur Linnis energische Drohung, von den Eltern fortzuziehen und eine eigene, ungestörte Wohnung zu mieten, hatte ihn vermocht, der liederlichen Person den Durchgang durch sein keusches Schlafgemach zu gewähren. Jedesmal aber, wenn sie tief in der Nacht glühend nach Hause kam, schwor er sich, daß es diesmal das letzte Mal sein solle, wo sie seine Geduld auf die Probe setzte. Und doch gab er ihr den Schlüssel immer wieder und hoffte seufzend von der Zukunft.
Ohne daß er es wußte, sollte er plötzlich einen Bundesgenossen gewinnen, der sich energisch für seine Interessen ins Zeug legte.
Der gute Pater Sylvester hatte nämlich aus den immer tolleren Beichten seines gefallenen Lieblings mit Sicherheit entnommen, daß er damals eine kapitale Dummheit begangen hatte, als er Linni die Heirat mit dem Mechaniker mißriet. So, wie sie es jetzt trieb, durfte es nicht mehr weiter gehen. Das Mädchen wechselte ihre Liebhaber wie die Kleider. Den kleinen Studenten löste ein Leutnant ab, diesen ein junger Kaufmann, und einen Abend hatte sie sich sogar wieder mit dem Fritzel eingelassen, den dann in angenehmer Abwechslung und Reihenfolge ein Maler vertrieb. Pater Sylvester wollte an den Wänden hinaufgehen. In seine knollige Nase stieg der betäubende Duft eines ganzen Parfümerieladens, wenn Lilli in den Beichtstuhl trat, und obendrein konnte er wohl merken, wie die Kleine immer frecher wurde.
Jüngst hatte er ihr in seiner Verzweiflung wieder gedroht, sie von dannen zu weisen, wenn sie den sündigen Lebenswandel fortsetzte, aber sie hatte seine Drohung mit einem impertinenten Kichern beantwortet und mit den Lippen geschmatzt, daß es fast wie ein Kuß geklungen hatte. Oh, sie sollte nur nicht zu viel auf seine Nachsicht bauen!
Unter furchtbaren Drohungen befahl er ihr, das schamlose Spiel mit dem Mechaniker einzustellen, den Schlüssel zurückzugeben und den braven Mann zu heiraten.
Aber Linni lachte ihn heimlich aus. Diese plötzliche Sinnesänderung ihres wackeren Beichtvaters amüsierte sie köstlich. Da müßte er sich schon eine Dümmere suchen, die so eine Absicht nicht merkte! Nein, nein! Der gute Pater Sylvester sollte sie nur immer hübsch brav absolvieren für die Sünden des Karnevals, dazu war er ja da, aber mit unpassenden Heiratsgedanken sollte er sie freundlichst verschonen. Das verstand er nicht. Und sie besuchte auch ferner die Bälle.
Der arme Herr Killmoser wand sich in Qualen, und als Linni gegen Ende des Faschings eines Abends zu ihm ins Zimmer huschte, um wieder einmal seine unendliche Güte zu beanspruchen, da war er am Rand seiner Ausdauer angelangt.
Zitternd sah er sie an, wie sie sich im Vollbesitz ihrer Reize siegesgewiß vor ihm wiegte und die langen Handschuhe zuknöpfte. Sie trug ein scharlachrotes Kostüm mit kurzen Ärmeln, das nur bis zu den Waden reichte und auf Brust und Rücken weit ausgeschnitten war. Ein kolossaler Hut mit koketter Feder thronte über der reizenden Frisur, und die zierlichen Füße mit den schwarzseidenen Strümpfen steckten in spitzen Atlasstiefelchen. Lange betrachtete sie der Mechaniker. So hatte er sie noch nie gesehen, und es überkam ihn mit einer wilden, seltsamen Aufregung, die wohl närrisch anzusehen sein mußte, denn Linni fing bei ihrer Arbeit auf einmal laut zu lachen an.
»Warum lachen Sie, Fräulein Linni?« fragte er verlegen.
»Ach, nix,« wehrte sie ab. »Lassen S' mich jetzt 'naus, und geben S' mir den Schlüssel.«
Er trat vor die Tür.
»Fräulein Linni,« flehte er. »Gehen S' net fort … heut' net!«
Überrascht hob sie den Kopf.
»Sind Sie verrückt, Herr Killmoser?«
»Nein … nein … ich hab' Sie halt gern, und ich möcht' Sie bitten …«
Er legte seine Hand auf ihre bloße Schulter.
Doch sie schlug ihn mit dem Fächer sehr heftig auf den zitternden Arm.
»Was möchten Sie mich bitten? Können Sie das net sagen, ohne daß S' mich anpacken?«
Er wurde sehr böse.
»Es ist schauderhaft, was Sie für einen Lebenswandel führen,« sagte er entrüstet.
»Geht Sie das was an?«
»Als Ihren zukünftigen Bräutigam …«
»Bräutigam!« Sie mußte furchtbar lachen.
»Sind S' doch still,« wisperte er und deutete auf die Tür zu ihrem Zimmer.
»Is mir ganz gleich,« sagte sie laut. »Mei' Schwester is net zu Haus und' mei' Vater auch net, aber wenn's auch alle daheim wären und könnten uns hören, nachher ging i halt morgen auf und davon … So, wollen S' mir jetzt den Schlüssel geben oder net, Herr Killmoser?«
Er öffnete ihr. Hätte er die Mutter herbeigerufen, es wäre Linni wirklich ganz gleichgültig gewesen. Einmal mußte es ja doch herauskommen. Ja, in letzter Zeit wartete sie sogar mit einer nervösen Spannung auf den Augenblick, wo sie die alte Frau bei der Heimkehr mit gerungenen Händen vor dem leeren Bette fände. Dann mußte sie eben am andern Morgen mit ihrer Nähmaschine von dannen ziehen, denn die letzten drei Faschingstage wollte sie tanzen und tollen, daß es wieder ein volles Jahr ausreichte. Da ließ sie sich nichts einreden von Vater und Mutter. In der langen Fastenzeit war ja reiche Gelegenheit zu ausgiebiger Buße, und Linni freute sich jetzt schon darauf, wenn sie sich nach den irdischen Genüssen wieder den himmlischen Freuden zuwenden und ihre ganze Seele aufs neue dem Pater Sylvester schenken durfte. Gleich am Aschermittwoch wollte sie in sich gehen und eine umfassende Generalbeichte ablegen.
Und auf solch löblichen Entschluß hin sündigte sie an diesem Abend noch einmal über die Maßen. Wie ein Spielball flog sie von Arm zu Arm, und in feurigen Wendungen, Brust an Brust geschmiegt, sauste sie an den Paaren vorbei, daß ihr Gesicht zu glühen begann unter der schwarzsamtenen Maske. Neckend zupfte sie alle Bekannten an Frack und Weste, und schauten die erstaunt auf sie hernieder, dann hetzte sie wie losgelassen durch den heißen Ballsaal dahin, indem sie ein paar Masken zu Boden rannte und ein schallendes Gelächter ausstieß. Wie Wasser goß sie den Champagner hinunter, und niemals hatte sie wütender geküßt als am Schlusse, wo sie mit einem jungen Kavalier auf schwellendem Divan beisammensaß und übermütige Witze riß.
Erst kurz vor Tagesanbruch, als jeder Nerv noch an ihr zitterte von dem durchlebten Genuß, schickte sie sich zur Heimkehr an und stieg in eine Droschke. Und da, auf der kalten, endlosen Fahrt kamen ihr stolze Gedanken über den herrlichen Abend.
Sie war doch eigentlich ein Mordsmädel! Alle Männer neigten sich vor ihr wie vor einer Königin, jeder suchte ihr eine Ehre, eine Liebe zu erweisen und legte sich demütig zu ihren Füßen nieder. Sie aber trieb mit jedem lustigen Schabernack, wie es ihr paßte, suchte sich den hübschesten heraus, versetzte ihm wieder einen Tritt, wenn sie seiner überdrüssig war und ließ sich dann von der Kirche in Gnaden die Absolution für alles erteilen. Ha, ha, ha, ha! Pater Sylvester! Wenn er sie jetzt sehen könnte, der fromme, keusche Mann, in dem ausgeschnittenen Kostüm! Ein Hauptspaß wäre es schon. Was der wohl für Augen machte? Linni dachte sich diese Szene wunderbar aus, und sie war sogar so boshaft zu glauben, daß die Absolution in diesem Kostüm spielend von statten ginge. Hellauf mußte sie lachen in der finstern Droschke.
Ja, sogar als sie die Hintertreppe hinaufstieg, lachte sie noch. Ein neuer Gedanke war ihr plötzlich durch den Kopf gefahren. Wie? Wenn sie jetzt dem Mechaniker einen Streich spielte, sich auf sein Bett setzte, und, wenn er recht toll wäre, wieder hinausspränge? Das könnte noch einen hübschen Abschluß geben. Abgemacht! Jetzt stand sie oben und drehte den Schlüssel herum. Lächelnd öffnete sie die Tür, aber im selben Augenblick erschrak sie furchtbar.
Das Zimmer war hell erleuchtet. Auf dem Tischchen brannte eine Lampe, und das Bett war leer. Aber dort in ihrer Kammer hörte sie plötzlich mehrere Leute sprechen, und darunter erkannte sie deutlich die Stimmen des Vaters und des Mechanikers. Auch Kätchen hörte sie jetzt klagend dazwischen schreien. Linni stand das Herz still. Jetzt wußte sie, daß alles verloren war. Der Mechaniker hatte sich für ihre Grausamkeit gerächt und hatte geplaudert.
»Auch recht,« dachte sie und wankte zur Tür.
Aber noch einmal hielt sie ein, denn nun war es ihr plötzlich, als ginge ihr ganzes Begriffsvermögen in Scherben und Trümmer. Das war ja die Stimme Pater Sylvesters! Unwillkürlich griff Linni nach der Stirn. Sie wachte doch, und trotzdem hörte sie ganz deutlich jetzt in der Nacht und hier in ihrer Wohnung das sonore Organ ihres Beichtvaters. Das war entweder ein höllischer Spuk, oder es mußte etwas ganz Gräßliches geschehen sein.
Halb ohnmächtig drückte sie die Klinke herab, und was ihr erst wie ein Fiebertraum erschienen war, stand nun als leibliche Wirklichkeit vor ihr. Einen Augenblick noch konnte Linni bemerken, wie das würdige Gesicht des frommen Paters aus den Fugen zu gehen drohte, als er sie jetzt in dieser Toilette hereintreten sah, dann aber fühlte sie nur noch die Faustschläge, die der Vater in Gegenwart ihres Verehrers, ihres Beichtvaters und ihrer verzweifelten Schwester auf sie niedersausen ließ.
»Da schau an,« schrie er und deutete auf Kätchen, »da schau her, da is dei Opfer, du mißratenes Frauenzimmer, du!«
Linni begriff wohl seine Schläge, seine Reden verstand sie nicht und ließ alles geduldig über sich ergehen. Erst dann, als der Priester dem wütenden Vater in den Arm fiel, kam sie etwas zu sich und klammerte sich an Pater Sylvester. Würdig nahm er sich ihrer an und führte sie langsam zurück in das Zimmer des Mechanikers, wo er mit ihr allein blieb.
Und dort erzählte er ihr alles. Kätchen war dem Liebhaber des gnädigen Fräuleins richtig ebenso zum Opfer gefallen wie ihre Schwestern. Alle Wachsamkeit des strengen Vaters hatte nichts genützt, und gestern abend, da war es geschehen. Ganz geknickt war sie spät in der Nacht heimgekehrt, zum Jammer der verzweifelnden Mutter, die nun zu allem Überfluß auch noch Linnis Fehlen bemerkte, und über so viel Unglück in eine Aufregung geriet, daß Vater Pechtl einen Wahnsinnsausbruch befürchtete und den Mechaniker zu Pater Sylvester sandte. Ihm, dem frommen Mann, war es auch bald gelungen, die alte Frau zu beschwichtigen.
Linni weinte bitterlich.
»Wo ist die Mutter?« fragte sie endlich.
Pater Sylvester trat näher zu ihr.
»Sie schläft,« sagte er sanft, »und wenn du brav bleibst, wird sie auch bald wieder ganz gesund werden.«
Er war ihr ganz nahe gerückt und hatte seine Hand auf ihren vollen Arm gelegt.
»Gelt, Linni,« sagte er, »jetzt bleibst du auch brav! Du gelobst es mir!«
Sie nickte schluchzend und setzte sich. Voll treuer Seelsorge rückte er neben sie und redete ihr eine volle Stunde lang herzlich zu. Dabei vergaß er nicht seine ernsten Ermahnungen mit entsprechenden Bewegungen zu begleiten, denn die goldenen Worte sollten auf das tieferschütterte Beichtkind nachhaltigen Eindruck hervorrufen. Und als er endlich Vater Pechtl und Herrn Killmoser nicht länger mehr warten lassen konnte, drückte er die Kleine bei der letzten, dringendsten Ermahnung noch fester an sich, indem er seinen Arm um ihre Taille legte.
»Weis' ihn jetzt nicht mehr ab, den armen Mechaniker,« sagte er freundlich. »Tu ihn heiraten, und versäume die Beichte nicht!«
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Linni folgte seinem Rate. Der feine Lebemann spendierte eine schöne Aussteuer, das gnädige Fräulein schenkte gar reichlich dazu, und im Frühling fuhr Vater Pechtl, mit allem ausgesöhnt, seine zweite Tochter und den strahlenden Mechaniker zur Kirche der »frommen Brüder«. Dort am Altar des heiligen Antonius knieten sie nieder.
Pater Sylvester segnete sie ein und blieb auch später Linnis Beichtvater.
Diese beiden Erzählungen sind dem Band »Tragikomödien« entnommen.
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