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Vom Festland weg hatte er mich über den See getragen, der breite Fischernachen mit den unförmigen Rudern und den zusammengelegten Netzen. Eine stille, heitre Fahrt am wolkenlosen Morgen. In weitem Bogen war der Kahn gestrichen durch die sonnenbeglänzte Fläche, vorüber an Dörfern und Wäldern, an Buchten und Inseln, langsam und feierlich wie zur Kirche an hohem Festtag. Hinter sich hatte er eine breite Furche gezogen in das ruhige, klare Wasser, daß die dunkle Spiegelung der buschigen Ufer auf Augenblicke in sanfte Bewegung geriet. Jetzt aber ist er festgefahren in den blanken Kies eines schattigen Eilands. Durch seine ausgefahrenen Weidenringe hängen die Ruder herab, auf seinem Boden staut sich trübes Wasser von den Netzen hereingeschleudert, und an die grauen Flanken weht der Mittagwind zarte, verklingende Wellen.
Dicht neben dem verwitterten Fahrzeug sitze ich selber. Der stämmige Arm einer weitgeästeten Uferweide, der wagrecht über das durchsichtige Wasser reicht, dient mir als Ruhepunkt nach der langen, sonnigen Fahrt. Still und verborgen ist's hier. Kein Laut auf der Insel, kein Laut auf dem See, den kein Nachen durchmißt. Mir zu Füßen schnellen die Fische herum, über mir im mattgrünen Blätterwerk des Baumes huscht es auf und nieder von zuckenden Strahlen der sonnendurchleuchteten Wellen, und vor mir verliert sich die ungeheure Fläche des Sees mit schillernden Fluten hinaus in sehnsuchtsweite, unendliche Ferne. Mittagdunst lagert darüber. Der dunkle Streifen im Norden ist die einzig sichtbare Grenze zwischen Himmel und Wasser: sonst fließt alles eintönig zusammen ins müde Blau des brütenden Sommertages. Nur dort, zuseiten meines Eilands, mitten im glühendsten Sonnenbrand, liegt eine niedre Insel, ohne Baum, ohne Strauch, und hinter ihr baut sich's zur Höhe vom nahen, ansteigenden Ufer in weiten, goldenen Ährenfeldern, auf Hügeln und Vorsprüngen, immer steiler und steiler, zu zackigen Gipfeln und Rücken. Eine lange, trotzige Kette, vom blauen Dufte des schimmernden Sees in täuschende Ferne gerückt.
Ich schaue und schaue, als sähe ich sie heute zum erstenmal, die ganze Pracht, die um mich gebreitet liegt. Wohl und friedlich zieht's durch die Brust mit dem feinen, summenden Stimmungsakkord, der wie Harfenton über dem Wasser ruht. Tiefer lehn' ich den Körper zurück zum Stamme der Weide, und meine Arme breit' ich aus auf die nächsten, bergenden Äste. Köstliche Ruhe! Vor meinen Augen zittert die Luft. Die verlassene Insel mir gegenüber ist von warmen Strömen umzogen und scheint sich zu bewegen wie ein Trugbild, das die Hitze hervorzaubert. Dort kam ich heute herauf und kehrte Bergen und Festland den Rücken. An der äußersten Landzunge der Insel, wo das Schindeldach einer baufälligen Hütte wie schmelzendes Silber blendet, bog ich um die Ecke und erblickte mein Ziel.
Der ganze, weite See auf einmal erschlossen bis in die fernsten Ufer, und mitten in ihm wie eben dem Wasser entstiegen das schmale, langgestreckte Eiland mit den grauen Häusern, den mächtigen Linden und dem niedern Kirchturm mit der wackligen Kuppel. Wie verträumt liegt sie vor mir, diese kleine, stille Welt, auf dem glänzenden Spiegel. Ein buschiger Kranz von Schilf und Weiden ist um sie geflochten wie ums Haupt einer schlafenden Nixe. Hoch vom Wasser ragt er empor zu den Giebeln der Häuser und schlingt sich entlang der schützenden Mauer ums alte Kloster der heiligen Ursula.
Lange hab' ich gehalten, lange hab' ich hinübergeschaut.
Beide Ruder lagen im Boot, und nun ging es planlos über den See dahin. Ich aber wandte keinen Blick von dem nahenden Eiland. Nach vielen Jahren sah ich es wieder, und ich meinte, wie ich ihm so entgegenschwamm im leuchtenden Wasser, jeden Augenblick müßte ein Laut zu mir herüberdringen durch die Stille des Morgens, ein voller Ton aus jener Zeit, wo ich als junger Bursche glückselige Stunden da drüben verlebte. Aber nichts regte sich weit und breit als das glucksende Wasser unter dem Kiel meines Schiffes. Erst hörte ich's kaum, aber plötzlich klang es aus der Tiefe herauf wie erzählend und flüsternd aus entschwundener Zeit. Von einem Tage plauderte es, der so sonnenbeglänzt war wie der heutige. Und nichts war ihm verborgen, nichts war ihm verschwiegen, dem einzigen, vorlauten Zeugen. Weißt du's noch? Weißt du's noch? Immer schmeichelnder, immer wärmer dringt es ans Ohr. All die Schönheit und Sommerpracht, all das Herzen und Küssen jener stürmischen Stunden rief es mir wieder zurück. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte ihm zuhören. Langsam ließ ich mich schaukeln im Kahn, näher und näher zur grünenden Insel. Alles, was Gegenwart bedeutet, löste sich los und blieb weit zurück hinter dem treibenden Nachen wie Berge und Festland, dort aber aus Linden und Büschen tat sich Vergangenes auf mit der ganzen Kraft einer schönen, großen Erinnerung.
Wie es da mit einem Schlage lebendig ward auf der glitzernden Fläche! Nachen auf Nachen seh' ich herankommen, eine lange Reihe, bunt geschmückt mit wehenden Fähnlein und grünen Girlanden. Allen voran ein massiges Schiff mit weit entfalteten Segeln. Dort spielt eine Musikbande fröhliche, lockende Weisen. Und von Kahn zu Kahn pflanzt es sich fort in schallenden Juchzern bis hinauf zu den Hügeln des Festlands, wo die frohe Gesellschaft herabzog. Laut und übermütig schwirrt es durch die Luft, und drüben die Insel erwidert mit krachenden Böllerschüssen.
Manches Boot beginnt zu schwanken unter den ausgelassenen Sprüngen munterer Burschen. Dann flattert es jedesmal hoch im Morgenwinde von langen, seidenen Bändern um Hut und Schultern, und die Mädchen fahren mit lautem Kreischen an die goldenen Hauben. Gleich darauf aber jubeln sie alle wieder in den lachenden Tag hinein und schwingen die Arme. Das ist ein Winken, ein Grüßen, ein Necken und Scherzen!
Nur dort, im letzten Nachen, sitzt eine, die tollt nicht, sondern bleibt ruhig und gelassen in all dem schmetternden Übermut. Ihre bloßen Arme hängen in den Schoß herab, und die dunklen Augen heben sich mit sanftem, verschleiertem Ausdruck vom Nachen weg über den See. Auch sie trägt die Tracht der übrigen Mädchen, ein schwarzsamtenes Mieder mit seidenem Umschlagtuch, einen hellblauen Rock, der die kleinen Füße freiläßt, und reiches Silberbehäng um Hals und Handgelenk. Aber durch die schwarzen, vollen Haare schlingt sich ein Schmuck, der keine der andern ziert, ein feingebundener Kranz von weißen Orangenblüten.
»Hochzeiterin, schöne Hochzeiterin!« tönt es von dem großen Boote, das dicht vor ihr fährt. Die Brautjungfern sind's, ein Dutzend blühender, froher Gesichter. Feldblumen und Rosen werfen sie dem Mädchen entgegen, daß es leuchtend auf Schiff und Wasser herniederfällt.
»Glück auf! Glück auf und frohe Fahrt!«
Sie nickt ihnen freundlich zu, und ihre feinen Wangen färben sich tiefer.
»Wo ist der Hochzeiter?« necken die Brautjungfern wieder.
Ein schallendes Hallo von einem andern Schiffe antwortet ihnen. Dort hebt man einen jungen Kerl vom Boden, dem der erste Flaum hervorsprießt.
»Da ist er … Da ist er, da habt ihr den Hochzeiter!«
Und die Mädchen lachen und winken hinüber zu dem hochgehaltenen Burschen. Der scheint mit seinem derben Schädel und den festen Knochen schon eher aus dem Seegau zu stammen als die junge Hochzeiterin mit den wohlgepflegten Händen. Mag ihr die Tracht auch noch so hübsch zu Gesicht stehen, sie bleibt doch immer eine zarte Erscheinung, während der Bräutigam in dem hellbraunen Anzug mit den goldenen Knöpfen wie ein echter Bauer aussieht. Das paßt ihm alles wie angegossen, von den langen Beinkleidern weg bis zu dem dunklen Filzhut, den er jetzt vom Kopfe nimmt und hoch in der Luft schwenkt. Einen langgezogenen Juchzer schickt er herüber zu den Mädchen und ruft sie scherzend bei ihren Namen. Keck und herausfordernd wiegt er sich auf dem wackligen Sitze, daß den Burschen unter ihm fast der Atem vergeht. Doch das kümmert ihn nicht. Wie faulen Bedienten zerzaust er ihnen die Haare, und mit verwegenen Augen grüßt er zur Hochzeiterin hinüber. Dann aber läßt er einen Blick über den See gleiten, als wäre er hier im weiten Umkreis der alleinige Herr und Gebieter.
Der glückliche Bursche! Immer muß ich ihm nachblicken, wie er so dahinzieht mit der singenden Menge in Farben und Blumen zur gastfreien Insel. Längst ist mein Nachen auf den Kies gefahren, längst ist der Mittag angebrochen und viele Stunden ruh' ich schon unter der Weide, aber immer noch verfolg' ich den frohen, übermütigen Kerl auf Schritt und Tritt. Beim Mahle seh' ich ihn sitzen neben seiner Hochzeiterin, unter den hohen Linden seh' ich ihn tanzen, und dann ertapp' ich ihn wieder mit ihr unten am Ufer, als der schwüle Sommerabend mit violetten Schatten herabsinkt über Berge und See. Ich brauche nur die Augen zu schließen vor den zuckenden Sonnenstrahlen, und jede Minute jenes Tages steht deutlich vor mir, denn ich selber war ja der Bursche, den sie damals zur Hochzeit fuhren!
Was mich mit einem Male wieder hierher trieb auf das stille vergessene Eiland, ich weiß es selber kaum! Wie oft schon bin ich am Ufer des Sees entlang gefahren und hab' gleichgültig vorbeigeschaut oder die ziehenden Wolken über dem Wasser verfolgt – heute konnt' ich es nicht. Ein plötzliches Verlangen, ein Zufall oder eine Marotte – was es war: ich sprang aus dem Zug und steuerte nach der Insel, die ich nicht mehr betreten hatte seit jenem Augenblick, wo ich nach verrauschtem Feste mit meiner Hochzeiterin in den Nachen stieg, um hinauszufahren in die sternklare Nacht.
Nun hab' ich sie alle wiedergesehen, die Stätten froher Erinnerung! Vom Ufer weg bin ich hinaufgegangen die sanfte Anhöhe zu dem Frauenkloster, vor dem Wirtshaus hab' ich gesessen auf den schattigen, langen Bänken, und den grünen Tanzplatz unter den Linden hab' ich besucht. Aber alles von damals verweht und verschwunden bis auf die letzte Spur. Kein Ton mehr von dem rauschenden Jubel, dem Übermut und der zügellosen Freiheit. Ganz verwundert starrten sie mich an, die stillen Plätze, daß von der frohen Gesellschaft noch einer wiederkehrte und sich des Tages erinnerte, da stürmische Wallungen und erbitterte Kämpfe verliebter Buben über die einsame Insel hinwegbrausten. Und als ich das ganze Eiland noch einmal durchwanderte und zwischen aufgespannten Fischernetzen und summenden Bienenkörben dahinschritt, da schien es aus jeder Ecke fast spöttisch herauszuklingen:
»Nun? So allein heut', stolzer Hochzeiter? So allein? Wo bleibt denn die Hochzeiterin?«
Ja, ihr habt gut fragen! Auch die Hochzeiterin ist verschwunden auf Nimmerwiedersehn. Wer weiß, ob sie sich überhaupt noch entsinnt, daß sie einstmals im Brautschmuck den See herauffuhr und den kecken Gruß des übermütigen Burschen mit leuchtenden Augen entgegnete? Wer weiß?
Der Mann, der da heute wiedergekehrt ist, glaubt es nicht mehr, und wenn ihm die Weiden und Wellen dort unten alle die stammelnden Worte und brennenden Küsse wieder herbeiwehen möchten aus weiter Vergangenheit. Er glaubt es nicht mehr und schüttelt lachend den Kopf. Über all diese himmlischen Torheiten ist ein halbes Menschenalter dahingegangen, und so manches graue Haar hat sich eingeschlichen an Scheitel und Schläfen. Da gibt man dem Zweifel schon leichter Gehör als mit zwanzig Jahren, wenn man ein schönes Mädel im Arme hält und von einer jauchzenden Menge zum Hochzeiter erhoben wird.
Aber lache und höhne so viel du nur willst, der Erinnerung kannst du nicht mehr entwischen. Kein Leugnen hilft und kein Sträuben, denn das Geplauder am sonnigen Ufer klingt zu verführerisch. Was will der Spott über den dummen, unreifen Buben? Schön war es doch, wunderschön! Wie der flimmernde See zieht sie leuchtend an mir vorüber, vom heitern Anfang bis zum heitern Ende, die Geschichte vom Hochzeiter und von der Hochzeiterin.
*
Seltsam genug leitet sie ein, weitab von der traumverlorenen Insel mit einem großen, spannenden Roman, wie ihn die Söhne und Töchter der guten Familien so gern lesen.
Ein altes Schloß mit weiten Mauern und hohen Zinnen taucht auf aus der Ferne. Romantisch liegt es, wie alle Schlösser der Phantasie und der Jugendromane, auf steilem Fels, und einen stolzen, hochtrabenden Namen trägt es. Düster umranken es die braunen Herbstwälder, über die der rauhe Nordwind hinwegstreicht. Durch die schweren Butzenscheiben eines gotischen Erkers leuchtet die Abendsonne in ein hohes, ernstes Gemach mit grünsammetnen Vorhängen, tiefen Nischen und einem großen Kamin, in dem ein Feuer brennt. Und in der offenen Glastür, die auf den hochgelegenen Balkon hinausführt, steht eine Dame in tiefer Trauerkleidung. Sie war von hoher imponierender Gestalt und konnte für schön gelten, obwohl sie den Höhepunkt des Lebens bereits erreicht hatte. Das tiefe Schwarz des Anzugs, der Kreppschleier über der Stirn deuteten auf den schweren Verlust, den die Fürstin Baryagowski erst vor kurzem in dem Tod ihres Gatten erlitten hatte, aber vergebens suchte man einen Schimmer vergossener Tränen in diesen harten, energischen Zügen. Baryagowski, der arme, polnische Edelmann, war ihr zweiter Gatte gewesen, ihn hatte sie aus Liebe geheiratet, ihrem ersten Mann, einem bürgerlichen Fabrikanten, der schon lange im Grabe ruhte, war sie nur aus zwingenden Vernunftgründen zum Altare gefolgt, um ihre Familie vor dem drohenden Zusammenbruch zu retten.
Jetzt aber wandte sie sich langsam in das hohe Gemach zurück:
»Boleslaw,« sagte sie zärtlich, »Boleslaw, tritt näher!«
Ein junger Mann von einundzwanzig Jahren ging auf sie zu und küßte ihr respektvoll die Hand. Mit stolzen Blicken sah die Fürstin auf ihren Sohn. Eine stattliche, vornehme Erscheinung war der junge Herr mit den schwarzen Haaren, dem bleichen, edlen Gesicht, das im vollsten Sinne des Wortes schön genannt werden konnte.
»Wo ist Magda?« fuhr die Fürstin freundlich fort.
Auf Boleslaws feinem Gesicht stieg eine Wolke auf.
»Ich weiß nicht, Mama, wo deine Nichte sich herumtreibt. Vielleicht kann dir Waldemar Auskunft geben.«
Bei dem Namen Waldemar zuckte die Fürstin zusammen. Er war ihr ältester Sohn, der Sprosse jener unglückseligen ersten Ehe und der alleinige Erbe der unermeßlichen Millionen ihres verstorbenen Gatten, den sie noch im Tode verachtete.
»Waldemar,« sagte sie streng. »Tritt näher.«
Und wieder ging ein junger Mann auf die Fürstin zu, der aber ganz anders aussah als der bleiche, edle Boleslaw. Wenn man die beiden Brüder zusammen sah, konnte man zweifeln, daß sie Söhne einer Mutter seien. Wirre, hellblonde Locken umflatterten Waldemars Löwenhaupt, das alles andre als schön zu nennen war. Ein zurückschreckender Ernst thronte auf der granitnen Stirn, und aus den tiefblauen Augen schoß ein phosphoreszierender Blitzstrahl heraus, der jeden zu durchbohren drohte, der ihm zu widersprechen wagte.
»Waldemar,« begann die Fürstin wieder. »Wo ist Magda? Gib Antwort!«
Ein höhnischer Zug spielte um Waldemars Lippen.
»Da mußt du Boleslaw fragen! Er nennt ja Magda seine Verlobte.«
Der junge Fürst hob drohend die Faust.
»Und wenn sie meine Braut wäre?«
Wie ein gereizter Tiger wand sich der blondhaarige Waldemar.
»Eher erwürg' ich euch, eh' ihr ins Brautbett steigt.«
»Waldemar! Pfui! Redet man so zu dem Bruder?« rief die Fürstin.
»Laß ihn, Mutter,« höhnte Boleslaw. »Einmal muß es ja zum Kampfe kommen.«
»Nein, keinen Streit!« donnerte die Fürstin. »Waldemar, du gehst auf der Stelle, und du, mein Sohn,« wandte sie sich innig an Boleslaw, »besänftige dich!«
Doch der junge Fürst hörte nicht. Er stürzte dem Bruder nach, und als er ihn im Burghof, den die Mondsichel gespenstig beleuchtete, nicht fand, setzte er sich auf seinen schnaubenden Rappen und durchjagte die Fluren bis in die finstere Nacht.
Waldemar aber lag zu Magdas Füßen tief im Wald in einer einsamen Försterei, wo schlichte, brave Menschen wohnten, die ihm bis in den Tod ergeben waren. Erregt sah das bleiche, wunderbare Mädchen mit ihren tiefschwarzen Augen auf den rasenden Jüngling herab. Ihre herrliche, biegsame Figur bebte in innerem Kampf, und die schmelzenden Lippen zuckten leise. Sie haßte ihn tödlich, aber sie fürchtete ihn auch und wagte nichts zu erwidern, als er ihr immer aufs neue mit brennenden Schwüren seine Liebe beteuerte. Aber während sie zitternd vor ihm saß, ging plötzlich die Tür auf, und herein stürzte der junge Fürst, dem der alte, biedere Förster mit entsetztem Gesichte folgte.
»Ha,« tobte Boleslaw. »Hab' ich dich endlich, Magda, du treulose, du? Jetzt aber soll Waldemar vor deinen Augen sterben.«
Und wie ein Blitz flog der feinpolierte, silberne Revolver aus der Tasche. Aber die junge Gräfin sprang auf und deckte mit ihrer herrlichen Figur den Angegriffenen. In einen lauten Schrei klang ihre ganze Liebe zu Waldemar aus, über die sie sich jetzt plötzlich klar wurde, als sie sein teures Leben bedroht sah, und dieser Schrei brachte den jungen Fürsten ganz außer sich. Er drückte ab, aber statt seines Bruders traf er Magda, die sterbend zusammenbrach. Als er aber das Opfer seiner Wut vor sich im Blute schwimmen sah, stürzte er verzweifelt von dannen. Wenige Tage darauf endete er im Kampfe für sein schönes Vaterland bei einem polnischen Aufstand.
Waldemar aber kniete lange bei der Schwerverletzten und streichelte ihre Wangen. Seine ganze Starrheit war gewichen, er war ein andrer Charakter geworden, ein guter, edler Mensch.
»Mein Weib, mein Weib,« stammelte er, »mein geliebtes Weib! Du wirst genesen zu einem schönen, neuen Leben.«
Und dank der vortrefflichen Kunst des alten Doktors der nahen, großen Stadt erholte sich Magda und zog drei Wochen später auf dem alten, romantischen Schloß als glückliche Herrin ein.
*
»Warum heißt du nur nicht Waldemar?« fragte mich meine Hochzeiterin oft, als sie etwas über fünfzehn Jahre zählte und auf der Welt nichts höher verehrte als diesen dreibändigen Roman eines illustrierten Familienblattes.
»Ja, warum heißt du nicht Waldemar? Es ist zu schade! Josef ist doch gar zu scheußlich.«
Ich wollte es zwar nicht Wort haben, aber sie ließ sich nicht irre machen.
»Ach was,« sagte sie schnippisch. »So heißt ja jeder Hausknecht, jeder Packträger.«
Recht hatte sie schon. Ich selber fluchte oft im geheimen über den unglückseligen Einfall meiner Eltern, ihren einzigen Sohn auf den gleichen, sanften Schutzheiligen zu taufen, dem alle meine Vorfahren väterlicherseits bis zu mir herab ihren Namen entlehnt hatten. Damit war ich ein- für allemal bei den Damen unmöglich gemacht. Josef! Josef! Es klang gar nicht gut. So solid, so brav, so unschuldig! Waldemar hätte mir auch viel besser gefallen. Das war ein Name, der mit Flötenklängen von schönen Lippen kommen mußte. Aber was war da zu machen? Ich durfte mich doch nicht umtaufen lassen, und einen meiner andern Namen konnte ich erst recht nicht verwenden, denn mit dem zweiten hieß ich Anton, das wäre womöglich noch schlimmer gewesen, und mit dem dritten Heinrich. Der sanfte Heinrich! Du lieber Himmel!
Aber die Kleine wurde ernsthaft.
»Heinrich, Heinrich! … Wart' mal, das ist gar nicht so schlecht. Da könnte man ja Heinz draus machen, und das klingt ganz fein, ganz flott, fast ritterlich.«
Das leuchtete mir ein. Ich war nicht wenig stolz auf den neuen Namen und suchte meinen Eltern nahe zu legen, daß Heinz viel schöner klinge als Josef. Aber ich erzielte nur das Eine, daß mich mein Vater statt des heißerstrebten Heinz einen dummen Esel nannte und mir gründlicheres Studium des Cicero empfahl. Er sah es überhaupt nicht gern, daß ich so viel mit dem Mädchen verkehrte. Zur Kinderzeit sei das ganz anders gewesen, aber jetzt käme der Ernst des Lebens, da müßten die albernen Spielereien ein Ende haben.
Mit dem Heinz war es also nichts. Sehr verstimmt teilte ich's meiner Hochzeiterin mit.
»Schade,« meinte sie achselzuckend. »Aber die Eltern wollen ja nie hören. Ich kenne das schon.«
»Weißt du, was mir ein Trost ist?« fragte ich nach einer düstern Pause.
»Nun?«
»Daß du wenigstens auch so heißt wie ich selber.«
Das nahm sie krumm.
»Ich? Wie denn?«
»Na, nach meinem zweiten Namen wenigstens.«
»Bitte sehr! Ich heiß' Netty.«
»Also Antoinette! Und ich Anton.«
»Das ist was ganz andres.«
»I wo, das ist dasselbe.«
»Nein, nein. Du bist ungalant!«
Wenn ich nicht Tränen sehen wollte, mußte ich einlenken.
»Vielleicht hab' ich mich doch geirrt, Netty.«
»Das wäre auch sehr ungezogen von dir,« sagte sie. »Antoinette klingt sehr schön, wenn auch vielleicht nicht so großartig wie Magda.«
»Ja, das ist allerdings ein heroischer Name.«
»Findest du nicht, daß er mir brillant paßte?«
»Versteht sich.«
»Nicht wahr? Ich muß ihr ja doch auch so ein bißchen ähnlich sehen, wenigstens kommt mir's nach der ganzen Schilderung fast so vor.«
Selbstverständlich bejahte ich, weil ich schon lange wußte, was ihr dieser Vergleich für ein Vergnügen bereitete.
Sie klatschte in die Hände.
»Ach, weißt du, ich könnte mir's ausspinnen grade so herrlich wie in dem Roman. Das wunderbare Schloß mit seinen Schätzen, mit den Gräben, mit der Zugbrücke, mit seiner grandiosen Umgebung und so ganz drin in Wäldern. Ach, das wär' fein!«
»O ja,« seufzte ich.
»Und dann abends,« fuhr sie lebhaft fort, »so auf dem Söller sitzen und Gesellschaften empfangen, das wäre mein Höchstes.«
»Nicht wahr?«
»Na, ich krieg's schon noch mal so,« meinte sie wichtig.
»Wie denn?«
»Sehr einfach! Ich brauche ja nur einen Mann zu heiraten, der solche Schlösser besitzt.«
Ich besaß zwar solche Schlösser nicht und hatte auch keine Aussicht, je eins zu bekommen, recht beschaulich dachte ich mir's aber doch, als nobler Gutsherr die Felder zu besichtigen, auf die Jagd zu gehen und abends dann mit einer schönen, jungen Frau, die von aller Welt so interessant gefunden wurde, am Kaminfeuer zu sitzen und in lässig vornehmer Haltung den blauen Dunst einer Havanna zur reichgeschnitzten Decke des hohen Gemachs zu blasen. So hatte es ja auch in dem Roman gestanden, dem ich die gleiche Verehrung schenkte wie meine reizende Jugendfreundin.
Es war doch ein mächtig empfundenes Werk, eigentlich viel zu schön für diese nüchterne, prosaische Welt, in der wir zu leben verdammt waren. Viermal hatte ich's schon gelesen, und besonders die lässig vornehme Haltung hatte mir immer am meisten imponiert. Ich sagte es auch zu Netty. Da lachte sie aber laut.
»Ach, gar keine Idee! Das geht ja Boleslaw an, aber nicht dich, im ganzen Leben nicht!«
»Warum denn?«
»Boleslaw hat das Lässige, das Vornehme, das Edle an sich, nicht Waldemar. Schon sein Name ist fabelhaft interessant.«
»Aber er geht doch schließlich zugrunde.«
»Das ist gerade das Riesige. Verstehst du denn das nicht? Er ist Aristokrat durch und durch, das ist sein Gegensatz zu Waldemar, der eigentlich nur den wunderschönen Namen hat.«
»Und doch liebt Magda den Waldemar, sonst stürzte sie sich doch nicht vor die Pistole.«
Netty sah mich überlegen an und lächelte.
»Ein Frauenherz könnt ihr Männer eben niemals ergründen.«
»Aber, Netty ich …«
»Ach, du am letzten, du guter Josef, du.«
Niemals hatte ich meinen Namen drückender empfunden als in diesem Augenblick, wo sie ihn mir mit solchem Hohn an den Kopf schleuderte.
»Du, diesen Ton verbitt' ich mir,« rief ich drohend.
»Bravo, bravo,« lachte sie, »jetzt bist du der Waldemar!«
»Ach, der tritt ganz anders auf.«
»Nein, nein, ich denk' ihn mir genau so, wie du jetzt eben dreingeschaut hast. Aber zum Boleslaw, da fehlt dir schon alles, schon zuerst …«
»Was?« fragte ich begierig.
»Du bist doch lang nicht so schön.«
Da konnte sie recht haben. Sie sah mich pfiffig an.
»Weißt du,« begann sie sehr langsam, »weißt du wer der Boleslaw ist? Ganz und gar, Zug für Zug, alles paßt großartig.«
»Wer denn? Wer denn?«
»Der Siegfried, dein Freund!«
Dieser Vergleich ärgerte mich wütend.
»Gibt's nicht,« rief ich trotzig.
Sie lächelte wieder:
»Jawohl, der hat dieses interessante, blasse Gesicht mit den merkwürdig tiefdunklen Augen und den schwarzen Haaren. Außerdem ist er Aristokrat von Geburt aus einem riesig edlen Grafengeschlecht.«
Stimmte alles, Wort für Wort, aber zugeben durfte ich's nicht.
»Doch, doch,« sagte sie sehr entschieden, »es ist schon so. Den Siegfried kann ich mir ganz genau vorstellen, wie er von seiner uralten Stammburg herab auf dem schnaubenden Roß in den Tod sprengt.«
Das könnte ich mir nun wieder nicht vorstellen, meinte ich bissig. Diese hochadelige Familie war nämlich samt ihren Schlössern so verschuldet, daß sie kaum genug zu leben hatte, geschweige denn gar ein Pferd kaufen konnte für den alleinigen Erben des erlauchten Namens.
»Pfui, wie garstig,« rief Netty, »du hast eben gar keine Poesie.«
Jedenfalls nicht für die Reitkünste dieser adeligen Herrschaften. Sonst war ich schon öfters den Musen nahegetreten und hatte Gedichte verfertigt, die sogar Netty sehr schön fand. Schüchtern erlaubte ich mir, sie daran zu erinnern. Aber sie achtete nicht darauf.
»Ich sag' dir,« fuhr sie eifrig fort, »die Familie ist so vornehm, daß sie nur auf Herzensadel sieht.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, daß sie jederzeit eine Verbindung ihres Sohnes mit einer Dame aus nichtadeligen Kreisen gestatten würde, natürlich vorausgesetzt, daß die Braut eben ein weibliches Wesen ist, das an Geist und Schönheit alles andre überragt.«
»So?« fragte ich sehr spöttisch.
»Ja, darauf kannst du Gift nehmen.«
»Netty, das steht, glaub' ich, in unserm Roman.«
»Nein, das steht nicht drin,« sagte sie heftig, »das hab' ich mir selbst zurecht gelegt.«
»Aha, aha! Jetzt versteh' ich!«
»Nichts verstehst du, gar nichts, du garstiger Mensch! Du wirst freilich nie ein wirklich großes Frauenherz erobern!«
Mit dieser Prophezeiung schied sie von mir, denn die Ferien waren wieder einmal zu Ende. Die begeisterte Verehrerin Boleslawscher Schönheit mußte in das Kloster zurück, wo sie erzogen wurde, ich selbst aber ging wieder in das Gymnasium. Meinem Freunde bestellte ich ihren letzten Gruß zwar nicht, den sie mir im geheimen noch zugeflüstert hatte, als ich sie mit ihrer Mutter zum Bahnhofe geleitete. Auch sagte ich ihm kein Wort von seiner täuschenden Ähnlichkeit mit dem jungen, schönen Fürsten, als wir wieder gemeinsam die schmutzige Schulbank drückten und aus Leibeskräften von einander abschrieben. Dagegen sah ich ihn mir um so öfter von der Seite an, wenn der Herr Professor volltönende Weisheit vom Katheder rasseln ließ. Und da mußte ich der fernen Netty noch mehr recht geben. Er glich dem interessanten Polen gar auffallend. Die Augen fand ich zwar etwas zu schläfrig, wenn er in seine Hefte stierte, aber jetzt, wo ihn der Lehrer aufruft und ihn die Hexameter hersagen läßt, da wächst er heraus, da bekommt er etwas von dem zum Tode bereiten Jüngling, der die Verschwörer ermutigt. Zum Glück bleibt er stecken und kriegt eine Strafe zudiktiert. Nachsitzen muß er, weil er schlecht gelernt hat. Da fällt er auch gleich wieder zusammen und sieht eigentlich recht schlapp aus. So wenn ihn Netty mal beobachten könnte! Vielleicht legte sich dann ihre flammende Begeisterung für den edlen Jüngling ein bißchen!
Übrigens, was ging es mich an? Laß sie doch schwärmen, so viel sie will, das kann mir doch gleich sein, ganz gleich. Ich liebte sie nicht, ich besaß keinerlei Ansprüche auf sie, und was uns früher einmal vor vielen Jahren verbunden hatte, das war ja allerdings recht schön gewesen, aber es war auch längst vorbei und vergessen. Kindertorheiten, über die man heute lächelte. Inzwischen war sie eine junge Dame, ich ein junger Mann geworden, und von den einstigen Scherzen war keine Rede mehr. Je länger ich darüber nachdachte, um so sicherer konnte ich mir sagen, daß unsere Beziehungen wohl herzlich vertraut, aber niemals von dem durchdrungen wurden, was man in Wirklichkeit Liebe nennen kann. Nein, das war ganz was andres. Das mußte vom Himmel kommen, so ganz plötzlich, ganz unvermittelt, mit einem ungeheuren Schlage, den man Jahre noch spürt, zündend und sengend, die innersten Tiefen zerwühlend. So hatte ich's in den Romanen gelesen, so hatte ich's in Lustspielen gesehen, so dachte ich mir's selber, und so erwartete ich sie und wunderte mich oft, daß sie mich noch nicht gepackt hatte, denn, mein Gott, ich war doch schon siebzehn Jahre alt und dabei höherer Gymnasiast. Manchmal wurde mir ganz bange, und ich legte mir die Frage vor, ob ich nicht im Grunde vielleicht eine zu kalte Natur sei. Es wäre mir schrecklich gewesen, denn ein Leben ohne Liebe dachte ich mir entsetzlich. Auch hatte ja so ziemlich jeder meiner Freunde bereits seine Flamme. Also warum denn ich nicht? Ich suchte immer danach, aber bei Netty war es entschieden nicht das Richtige, der große, aufrüttelnde Schlag hatte mich niemals in ihrer Gegenwart durchfahren, und außerdem lief sie ja dem bleichen Boleslaw nach. So etwas hätte ich schon gar nicht mehr vertragen! Abgeleckte Butterbrote mochte ich nicht. Das Mädchen, das ich einmal liebte, durfte vorher niemals mit einem andern kokettiert haben, ich selber mußte der Allererste sein, dem sie ihr Herz schenkte, anders tat ich's nicht. Mich wegwerfen, niemals! Immer die Cour schneiden und die ewige Anbetung mitmachen wie die zahllosen Verehrer Nettys, meine Herren Kollegen und Freunde, dazu schien ich mir viel zu gut. Außerdem brauchte ich's nicht. Ich hatte auch meine Beziehungen zu verschiedenen, sehr feinen jungen Damen, die mich alle sehr hochschätzten. Also warum der Netty den Hof machen? Sie war ein süperbes Weib, das einen berauschen konnte, bei Gott, sie war schön, schön in des Wortes tiefster Bedeutung! Glücklich der Mann, der sie besitzen durfte! Ja, mein Freund Siegfried hatte immer Dusel gehabt. Ganz von selbst flogen ihm die Herzen entgegen, und besonders die interessanten Weiber, die schwarzen und blassen, hatten's mit ihm am schärfsten. Bei Blondinen stellte ich schon eher meinen Mann. Liebreiz und Anmut schätzte ich höher als diese lockenumwallten Magdagesichter mit den strengen Linien, wenn ich auch deren Vorzüge durchaus nicht verkannte. Darum hatte es mich eigentlich gewundert, als Netty an mir und Waldemar so viel Verwandtes entdecken wollte, denn bis dahin hatte ich mir meine Frau mit dem langen, goldenen Haare der Walküre gedacht, groß, schlank, nicht zu üppig und mit jenen graublauen Augen, die so seelenvoll ins Innerste des heißgeliebten Gatten zu dringen vermögen. Jakobine, die uns grade gegenüber wohnte, war mir das Muster dafür gewesen. Ihr fielen die herrlichen Haare ganz aufgelöst wie einer Königin über Schultern und Rücken herab, und ich blickte ihr oft lange nach, wenn sie mit der schwarzen Hängemappe, auf der mit goldenen Lettern das eine vielsagende Wort »Musik« gedruckt stand, ins Pensionat wanderte. Eine berückende Frauengestalt!
Einmal hatt' ich mit ihr Theater gespielt und mich so lebhaft in meine Rolle hineingedacht, daß ich meinte, jetzt sei unfehlbar die Liebe über mich gekommen. Ich prüfte mich ängstlich den ganzen Abend und glaubte meiner Sache ziemlich sicher zu sein. Zur Bekräftigung aß ich mit ihr ein Vielliebchen auf du und du, und am andern Morgen begann ich eigens ein schwungvolles Gedicht an meine Angebetete. Mit meinem Herzblut und lila Tinte schrieb ich's auf feinstes Elfenbeinpapier in großen, lateinischen Buchstaben:
Ach, süße Jakobine
Mit deiner Engelsmiene,
So rein, so schön, so hold,
Mit deinem goldnen Haare,
Dem strahlend' Augenpaare
Berückst du alle Welt!
Ach, wenn es dir gefällt,
Dann neig', du Feengleiche,
Herab aus deinem Reiche
Der höchsten, liebsten Huld
Dich gnädig meiner Schuld,
Weil ich dich innig liebe
Aus reinstem Herzenstriebe,
Mit aller Kraft der Sinne,
Mit treuer, hehrer Minne,
Und wenn die ganze Welt
Noch heut in Trümmer fällt.
Wer mich nach diesen Versen nicht für ein dichterisches Talent erklärte, dem konnte ich nur mein herzlichstes Bedauern über seine Dummheit ausdrücken. Einen ganzen Sonntag hatten sie mich gekostet, nun sandte ich sie mit einem Veilchensträußchen wohlverpackt durch eine Freundin an Jakobine. Aber da kam die tragische Wendung. Die Elende war die Gabe nicht wert, sie zeigte das Gedicht ihrem Vater, und der, ein starrer Regierungsrat vom Scheitel bis zur Sohle, sandte gemeinerweise Blumen und Verse mit einem sehr deutlichen Schreiben an meinen Vater. Glücklicherweise roch ich den Braten und fing den Uriasbrief noch rechtzeitig an der Haustür ab. Die hinterlistige Art meiner Verehrten sowie das schroffe Vorgehen ihres nichtswürdigen Vaters wehten alle Liebe im selben Augenblick gründlich hinweg, und ich nahm mir vor, niemals in Beamtenkreise zu heiraten. Der Horizont dieser Gesellschaft war entschieden zu sehr begrenzt. Donnerwetter! Ich hatte doch auch noch andre Beziehungen und treuere Freundinnen als die falsche Jakobine! Da war Hermine mit dem feinen Madonnengesicht und dem sanften Schmelz ihrer ganzen Erscheinung. Auch die Töchter des Löwenapothekers, die jeden Sonntag mit einigen Herren meines Alters zu uns kamen, gaben mir genügend Stoff über die eheliche Verbindung mit einer Blondine nachzudenken. Diese liebenswürdigen Mädchen vermochten allerdings nicht den fesselnden Reiz auszuüben wie eine Jakobine, aber sie betrugen sich immer sehr aufmerksam gegen mich, und, was für meine Person hauptsächlich ins Gewicht gefallen wäre: ich hätte bei einer solchen Heirat das Ideal einer Schwiegermutter bekommen, denn bei der Frau Apothekerin galt ich schon von Kindheit an ungemein viel. Obendrein waren ihre Töchter sehr nachgiebig, und das brauchte ich besonders. Meine Gefährtin mußte ein ruhiges, sanftes Wesen sein, die verzehrende Leidenschaft einer Netty konnte mir gefährlich werden, konnte mich aufreiben.
Aber was halfen mir alle diese günstigen Vorbedingungen? Die Liebe wollte sich nicht einfinden. Vielleicht stellte ich zu große Anforderungen? Oder hatte es doch eine tiefere Bedeutung, daß ich oft in der besten Unterhaltung mit einer meiner angebeteten Freundinnen ganz plötzlich wieder auf die schwarze Netty zurückgeführt wurde, auf dieses dämonische eigentümliche Wesen? Wie froh war ich, daß sie nicht in meiner Nähe weilte, denn ihre Erscheinung erregte mich, obwohl ich ihr kühl bis ans Herz gegenüberstand. Es war zu lächerlich! Ich hatte doch schon einmal mit ihr völlig gebrochen. Ein ganzes Jahr waren wir in bitterster Feindschaft aneinander vorübergegangen, ja, wären nicht unsere Eltern befreundet gewesen, wer weiß, ob wir uns auf diesen furchtbaren Krach hin je wieder angeredet hätten, so grimmig haßten wir uns. Und jetzt konnte ich kaum schlafen, wenn ich hörte, Netty werde in zwei Tagen aus dem Kloster zurückkehren! Ich ärgerte mich über diese Charakterlosigkeit, die schon an Dummheit grenzte, ja, manchmal geriet ich sogar in heillose Wut und hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt ob meiner Schwäche.
Tausendmal hatte ich mir schon gewünscht, ein Mädchen zu erringen, das mich von diesem unheimlichen Zauber erlöste, ja, alle meine vergeblichen Brautwerbungen bedeuteten im Grunde nur einen einzigen, krampfhaften Versuch, der Netty zu entwischen, aber kaum erblickte ich sie, dann war ich schon wieder verloren und konnte oft lange nicht das richtige Wort finden. Sie verstand es, einen so sonderbar anzureden.
»Nun wie geht's den schönen Freundinnen? Was machen Jakobine, Hermine, Bertchen? Alle wohl? Hast du nicht wieder so ein schönes Gedicht gemacht?«
Wie sie nur immer alles erfuhr?
»Nun, so erzähl' mir doch!« fuhr sie fort. »Was treiben die Holden?«
Tat ich dann auch noch so gleichgültig, sie war immer argwöhnisch und neckte mich so lange, bis ich wieder den schändlichen Verrat an meinen sämtlichen künftigen Frauen beging und ihr versicherte, daß ich mich den Teufel drum kümmerte.
»Warum sagst du mir denn das alles?« fragte sie spöttisch. »Du kannst doch lieben, wen du willst.«
»Das schon …«
»Ich bin doch nicht deine Herrin.«
»Nein, nein, aber … aber …«
»Nun?«
»Ach, wir haben doch diese herrliche Jugend verlebt!«
Auf einmal hatte ich mich, ohne es zu wollen, ins Feuer geredet. Alle meine Blondinen waren verschwunden: ich sah nur die Zeit, wo ich Arm in Arm mit ihr in die Schule wanderte.
»So, du denkst noch daran?« fragte sie langsam.
»Glaubst du im Ernst, Netty, ich könnt's vergessen?«
»Ach, wer weiß?«
»Nein, nein, ich geb' dir mein Wort, mein heiliges Ehrenwort.«
»Mit gutem Gewissen?«
»Netty, beleidige mich nicht! Ich werde doch mein Ehrenwort nicht leichtsinnig verpfänden.«
»Nun ja, ich glaub' dir's schon. Übrigens wär's ja gleichgültig.«
»Natürlich; was soll das heute noch, wo wir erwachsen sind?«
Das war garstig gesprochen, aber so redete sie immer, wenn ich auf die herrlichen Tage zurückkam.
»Wenn's dir auch nichts mehr gilt, mir ist diese Erinnerung unauslöschlich, so wahr ich dein Freund bin und so wahr ich dich lieb hab'.«
Da sah sie mich mitleidig an:
»Guter Josef, was redest du da? Freundschaft und Liebe, das sind zwei grundverschiedene Dinge, die mußt du nicht in einem Atem nennen.«
Da hatte sie freilich recht. Aber was brauchte sie immer so höhnisch zu reden?
»Es war ja ganz nett,« fuhr sie gelassen fort, »es war auch schön, aber wer in aller Welt besinnt sich denn noch auf so was? Es ist ja eine Ewigkeit her.«
»Ja, man wird eben älter.«
»Nicht wahr? Aber da hast du's, daß es nur eine Freundschaft ist, die uns verbindet, nichts weiter. Denn die Liebe kennt keine Jahre und keine Entfernung. Die Liebe ist von ewiger Dauer.«
Wenn ich nur gewußt hätte, was ich ihr antworten sollte! Aber ich stand immer da wie der Klown im Zirkus, wenn er eine Ohrfeige bekommen hat. Und es gab doch mal eine Zeit, wo ich um eine Gegenrede gar nicht verlegen tat. Als wir noch Kinder waren, da schwätzte ich so leicht mit dem Mädchen, da spielte ich so vergnügt mit ihr draußen in dem dichtverwachsenen Garten an der alten Stadtmauer, und weder sie noch ich dachten an feingedrechselte Redewendungen. Ja, ja, das war doch noch schöner! Jeden Tag, wenn die Sonne schien, kam sie angesprungen aus ihrer Schule, und ich sehe sie heute noch in dem flatternden, blauen Waschkleidchen, mit dem großen, gelben Strohhut, auf dem Rücken den Lederranzen, in der Hand das rote Netz mit dem Spielball. Nun flog die ganze, eingepackte Wissenschaft mit einem Satz auf den Boden, daß die Schiefertafel krachte, und unter lautem Jubel begann ein Haschen und Verstecken, ein Tollen und Springen bis zum Sonnenuntergang. Im feurigen Wettlauf hetzten wir die Wege ab und überschlugen uns lachend an den Abhängen und Böschungen, oder wir verfolgten eine quieksende Katze mit Steinwürfen bis über die Mauer hinaus und kletterten auf die Obstbäume, daß die Blüten den Rasen beschneiten.
Hielten wir dann wieder ausgiebige Rast unter schattigen Büschen, dann wurde gemeinsam das Vesperbrot eingenommen. Mit glühendem Gesichte saß die Kleine neben mir, ihre Augen glänzten, ihr Atem ging noch heftig von dem Hetzen und Stürzen, und die erst so feingebrannten Löckchen hingen weit in die freie, offene Stirn herein, aufgelöst von der Wärme des frischen Geschöpfes. Nun biß sie die Frucht an, daß der Saft herausspritzte und reichte sie ihrem Spielgefährten als kleine Eva in dem herrlichen Garten, der uns Kindern zum wirklichen Paradies wurde.
Aber auch Tränen setzte es wohl mal ab. Der rohe Bengel benahm sich ungalant gegen das zarte Mädchen und wußte nicht, was sich schickte. Doch das ging vorbei wie ein Frühlingsgewitter, und gleich darauf lachte wieder die Sonne. Ein paar herzhafte Küsse nach viertelstündigem Schmollen, und mit nassen Augen und lachendem Munde wurde dem bösen Jungen wieder Verzeihung gewährt unter der strengen Bedingung, daß er bis zum nächsten Male ganz brav sein sollte. Nur wenn wir allein waren, kam es manchmal zu solchen Zwistigkeiten, spielten des Löwenapothekers rotwangige Töchter oder gar meine Freunde und Schulgenossen mit uns, dann hielten wir beide zusammen wie die Kletten und ließen die andern unsere Macht fühlen. Am meisten den Siegfried, den jungen Grafen, der damals noch nicht zum interessanten Boleslaw vorgerückt war, sondern für uns den willkommenen Prügeljungen abgeben mußte. Netty neckte ihn beständig ob seines verschlossenen, linkischen Wesens. Ja, einmal war sie sogar so boshaft, ihm lachend ins Gesicht zu schleudern, er sei ein Judenjunge, weil er Siegfried heiße und schwarze Haare habe. Das nahm er höllisch übel. Entrüstet floh er unsere Gesellschaft, und wenige Tage später erschien bei Nettys Vater ein dürrer, hagerer Herr in Gehrock und roten Glacéhandschuhen, der dem erstaunten Manne des langen und breiten vornäselte, daß sein Stammbaum bis zu den Kreuzzügen zurückreiche. Netty bekam was Tüchtiges ab und mußte demütige Abbitte leisten für den Judenjungen, der nun wieder als junger Graf mit neugeputztem Wappenschild seinen triumphierenden Einzug in den Garten hielt. Aber trotz der feierlichen Entschuldigung ließ die Kleine das Hänseln nicht. Daß der Spielgenosse gepetzt hatte, ärgerte sie, und jung Siegfried mußte ihre Rache fühlen, wenn auch solch böse Vergleiche von jetzt an gemieden wurden. Mir konnte das ganz recht sein, denn ich fuhr nicht übel dabei. Je schlechter sie ihn behandelte, um so fester schloß sie sich an mich an, und ich war boshaft genug, sie in ihrer Grausamkeit noch zu unterstützen. Immer redete ich ihr das Wort, mochten sie noch so unrecht haben, und als sie den Siegfried einmal bei einem Streit energisch beim Schopfe packte, eilte ich dienstfertig herbei und verklopfte dem brüllenden Jungen obendrein noch sein Fell mit einem pfeifenden Haselnußstecken. Meine schöne Freundin ließ ich nicht im Stiche, das hatte ich ihr schon oft mit heiligen Eiden gelobt, und ich glaubte mich noch viel stärker gegen sie als treuer Ritter verpflichtet, als unsere gegenseitige Neigung eines Tages durch einen Vorfall gesteigert werden sollte, der auf Netty und mich einen gewaltigen Eindruck ausübte und das Band, das uns beide umschlang, zu einem unlöslichen machte.
Das geschah im Mai, im wunderschönen Monat Mai. Wir waren beide mit der Fronleichnamsprozession gegangen, ich als Lateinschüler der untersten Klasse im langen, schwarzen Anzug, mit heller Krawatte und dunkler Schirmmütze, die Kleine im kurzen, weißen Kleide, das Haar zu Locken gebrannt, ein Körbchen mit blaßroten Rosen in den Händen. Im Vollgefühl unserer Würde kehrten wir in das Haus meines Vaters zurück, wo es zu Ehren des hohen Festtags die üblichen Bratwürste mit Bockbier gab, und da ließen wir uns denn von der großen Gesellschaft gebührend bewundern. Die ganze Vettern- und Basenschaft war mit einigen Freunden der Familie da versammelt, auch Nettys Eltern fehlten nicht. Alle Lorgnons richteten sich auf die beiden Kinder, als sie nun Hand in Hand zur Tür hereingingen.
»Reizend, ganz reizend,« wisperte es. »Schaut nur die Haltung von dem Buben an. Ja, und erst die Kleine! Herzig, ganz herzig! Der Stolz von den zwei'n! Der reinste Hochzeiter und die reinste Hochzeiterin!«
So leise sie auch gesprochen waren, die letzten, verhängnisvollen Worte, wir beide hatten sie doch deutlich gehört. Verlegen lachten wir uns an.
Alles klatschte in die Hände und drehte sich zu der hübschen jungen Frau, die uns feierlich zusammen gegeben hatte.
»Nun ja, warum denn nicht?« rief sie lachend. »Das ist leicht möglich. Die zwei passen doch famos zusammen.«
Meine Mutter fand es für gut, diese Unterhaltung damit abzubrechen, daß sie jedem von uns eine große Bratwurst in den Mund steckte, aber mein gut gelaunter Vater, dieser Abgott Nettys, zog die Kleine zu sich, indem er ihr unter dem Jubel der ganzen Gesellschaft einen Kuß gab als künftiger Schwiegervater.
Und damit segnete er vor aller Welt das Bündnis ein, das von den ersten Jahren an zwischen Kindern und Eltern als eine Art stillschweigenden Übereinkommens gegolten hatte.
»Die zwei kriegen sich einmal,« hatte man oft gescherzt, wenn man uns spielen sah, und die Eltern fragten sie lachend, wann denn die Hochzeit stattfinden sollte. Das war natürlich immer ein schlechter Witz gewesen, aber von heute an, wo man die beiden Kinder in den festlichen Kirchenkleidern öffentlich verkündete, war die Sache offiziell vollzogen, wenigstens für Netty und mich. Ich betrachtete sie als meine Gemahlin und erhob im Nebenzimmer, wohin uns die immer sorgliche Mutter geführt hatte, mein volles Glas auf gute Ehe und langes Leben.
Meine angebetete, kleine Frau erwiderte mit einem zärtlichen Kusse. Ihr hat die Sache nicht minder eingeleuchtet, und nun entwarf sie, dicht an meine Seite geschmiegt, köstliche Pläne für die Zukunft. Vor allem überraschte sie ihren eben angetrauten Gatten mit einer freudigen Nachricht, daß sie schon in der allernächsten Zeit ein kleines Kind bekommen werde. Jawohl! In zwei Wochen sei ihr Namensfest, und dazu hätte sie sich's gewünscht. Leider könnte es kein Junge sein, das sein nun mal verpaßt, sie hätte sich ausdrücklich ein kleines Mädchen bestellt. Natürlich, wenn sie die leiseste Ahnung gehabt hätte von der plötzlichen Vermählung, dann hätte sie wohl Rücksicht genommen, denn die Väter setzten sich's nun mal in den Kopf, als erstgebornes einen Thronerben zu haben, aber jetzt sei es eben, wie gesagt, leider zu spät. Das brachte sie alles so wunderbar heraus, daß ich in heiliger Rührung einen zärtlichen Kuß auf die reine Stirn der werdenden Mutter drückte und ihr tief in die schönen, dunklen Augen sah. Auch sie lächelte mich ganz glücklich an.
»Freust du dich?« fragte sie leise.
Was sollt' ich ihr antworten? Ganz närrisch ergriff ich ihre Hand und legte meinen Arm um ihre Schulter.
Draußen stieß die Gesellschaft an und lacht laut durcheinander, wir aber blieben so sitzen in einer Ecke des braunsamtenen Sofas, eng verschlungen, die ganzen glücklichen Stunden, die man uns schenkte. Zu Anfang sprach keins mehr ein Wort. Jedes empfand den feierlichen Ernst des bedeutsamen Vorgangs, ja Netty hatte sogar Tränen in den Augen, als sie ihr Lockenhaupt mit dem zarten Rosenkränzlein an meine Schulter lehnte. In diesem Augenblick nahm ich mir vor, ganz überwältigt von frohen Gefühlen, dieses teure Wesen, das nun ganz mir gehörte, zu verteidigen bis an mein Ende.
Erst dann, als die Mutter wieder ins Zimmer trat und uns Süßigkeiten brachte, löste sich das Schweigen, und wir gedachten wieder des Lebens. Wir entschlossen uns nach langem Überlegen, das kleine Sommerhäuschen unseres Gartens als ständige Wohnung zu beziehen. Netty versprach mir, eine hübsche Aussteuer mitzubringen, von den feinsten Vorhängen bis zum letzten Kehrbesen und Nudelbrett.
»Du kennst doch meine neue Küche?« fragte sie. »Eine gute Hausfrau muß selber wirtschaften und darf nicht alles dem Personal überlassen.«
»Richtig! Die Dienerschaft, die hätten wir ja bald vergessen! Woher bekommen wir die?« Auch da wußte die praktische Gattin sofort wieder Bescheid.
»Wir brauchen eine Köchin, eine Zofe und einen Bedienten,« sagte sie wichtig.
»Ja, aber wer …«
»Nur ruhig, das hab' ich mir alles überlegt. Als Köchin engagier' ich mir eine von den Töchtern des Löwenapothekers, als Zofe vielleicht die Hermine, wenn sie sich gut führt …«
»Und zum Bedienten?« fragte ich ungeduldig. Ein teuflischer Plan wurde in mir wach, aber ich wagte ihn selbst nicht auszusprechen.
Sie sann ein bißchen nach. Plötzlich aber sprang sie in die Höh und packte mich beim Rocke.
»Zum Bedienten?« rief sie übermütig lachend. »Da nehm' ich den Siegfried, ja, ja, den Siegfried! Und den nenn' ich dann Jean! Ha, ha, ha!«
Ausgelassen hüpfte sie um mich herum. Ich klatschte laut in die Hände. Das war ja auch meine Absicht gewesen. Hurrjeh! Der Herr Graf als Lakai, als Jean! Mir imponierte das ganz außerordentlich. Wenn er nur auch so einfältig wäre, die Stelle anzunehmen, meinte ich.
»Der soll sich unterstehen,« sagte Netty mit blitzenden Augen und riß mich ein paarmal im Kreise herum.
Aber so ganz wollte es mir doch noch nicht recht in den Kopf, die Sache mit dem Personal. Es konnte lästig werden und uns stören in Augenblicken, wo wir allein sein wollten.
Wieder lachte sie herzlich.
»Dafür lass' nur deine Frau sorgen. Ich schick' sie zur rechten Zeit schon wieder davon, und Sonntags haben sie ja ohnehin ihren Ausgang.«
Nun war ich wieder beruhigt und konnte mich von Herzen des jungen Glückes freuen, das wir noch am selben Abend da draußen an der alten Stadtmauer unter dunklen Kastanien und alten Buchen erreichten.
In den ersten Tagen gab es zwar eine kleine Ehestandszene, die aber schnell wieder beglichen wurde. Ich hatte nämlich dummerweise geglaubt, ein junger Ehemann müßte auch was vorstellen im Leben und einen Beruf ausüben, der ihn sicher ernährte. Darum rückte ich mit einem großen Kaufladen an und putzte fein säuberlich seine Tonnen und Tabaktöpfe in der edlen Absicht, mich als Spezerei- und Kolonialwarenhändler aufzutun. Aber da kam ich bei meiner Hochzeiterin schön an. Ganz außer sich geriet sie über diese wahnsinnige Idee, wie sie's nannte. Einen Kaufmann! Ja, wenn sie das gewußt hätte, dann wäre sie diese Verbindung nie eingegangen. Ob ich wohl dächte, daß sich so ein Pfeffersack, so ein Krämer, so ein schmieriger Schubladenzieher je einen Grafen als Bedienten leisten könnte? Pfui, dreimal pfui über einen solchen Geschmack!
Ganz bestürzt fühlte ich mich zum erstenmal von der kleinen Person geschoben und selbst ein bißchen als Bedienten. War es vielleicht doch kein bloßes Phantasiegebilde, das ewige Schreckengespenst vom Pantoffel in der Ehe?
Ich liebte meine Hochzeiterin viel zu innig, um lange darüber nachzugrübeln. Gehorsam warf ich den Kaufladen zum Fenster hinaus und eröffnete zwei Tage später mit Zustimmung der Netty eine ausgedehnte Praxis als geheimer Medizinalrat und Universitätsprofessor. Leicht und schmerzlos hatte sich dies schnelle Umsatteln vollzogen und, seltsam genug, für einen Professor schien es, nach Nettys friedvollem Schweigen zu urteilen, durchaus entsprechend zu sein, daß ihm ein Graf die Gänge besorgte, die Stiefel putzte und die Besuche anmeldete.
Denn auch solche bekamen wir im Laufe der nächsten Monate, von gleichalterigen Herrschaften sowohl, wie wir immer sagten, einmal sogar von einer Erwachsenen. Und dieser letzte Besuch sollte unserm jungen Hausstand recht gefährlich werden.
An einem heißen Sonntagnachmittag war es. Ich ruhte im Schatten einer Akazie und las ganz vertieft in einem Buche. Nicht weit von mir saß Netty vor unserm Häuschen und wiegte das Kind. Hoch über die glückliche, junge Mutter wölbten sich die alten Stämme zu einer undurchdringlichen Kuppel, so daß nur wenige Sonnenstrahlen über den tiefgrünen Rasen dahinhuschten. Aller Lärm von der Straße her war verstummt, in breiter, sommerlicher Ruhe lagerte der verborgene, lauschige Garten. Da tönte plötzlich ein lautes Gelächter aus den nahen Gebüschen. Ich fuhr zusammen, denn mir hatte es zuerst gar nicht gut geklungen, fast höhnisch und frech. Und weil ich nichts mehr haßte als wohlfeilen Spott über unser Spiel, das wir tiefernst nahmen, drehte ich mich mit hochrotem Gesicht nach der Stelle, wo das Lachen geklungen hatte. Aber im selben Augenblick kam ich mir doch als der dümmste Kerl vor. Das war ja Tante Mali, dieselbe freundliche junge Frau, die am Fronleichnamstag aus uns beiden ein glückliches Paar gemacht hatte! Dort stand sie am Rande der Böschung, unsere gütige Wohltäterin, und lachte schon wieder, daß die weißen Zähne blitzten. Netty war schon auf sie zugesprungen, und nun blieb ich auch nicht mehr zurück, sondern küßte ihr eifrig die Hände.
»Wollte mich nur mal nach euch umsehen,« sagte sie sehr liebenswürdig und ließ ihre großen, braunen Augen über den Garten gleiten. Dann machte sie einige Bemerkungen über unsere famose Einrichtung und sah freundlich bald auf Netty, bald auf mich.
»Das ist ja ein herrlicher Spielplatz,« meinte sie.
»Gelt, Tante?«
»Da könnt ihr tüchtig herumspringen.«
»Das tun wir auch jeden Tag,« sagte Netty.
»So, jeden Tag seid ihr hier?«
»Das glaub' ich,« fiel ich ihr ins Wort, »so gehört sich's doch auch für Mann und Frau.«
Sie lächelte:
»Also geht's gut in der Ehe?«
Wir wußten ihr gar nicht genug zu erzählen von unserm Glücke.
»Und ihr bleibt euch treu?«
»Fürs Leben, Tante, fürs Leben!«
»Nun ja, spielt nur so fort, dann wird es schon einmal Ernst werden.«
Daß ein Erwachsenes so mit uns redete, war eine Auszeichnung, die wir zu würdigen wußten. Ich empfand sie vielleicht noch tiefer als Netty, denn ich sah dankbar zu der großen, vollen Frau empor, so daß sie mich nachdenklich betrachtete und endlich sagte:
»Warum schaust du mich so an?«
»Weil du so gut mit uns bist,« stotterte ich verlegen, denn ihre Augen hatten etwas ganz seltsames.
Sie lächelte:
»So, deshalb?«
»Freilich, Tante Mali,« mischte Netty sich jetzt ein, »es ist sehr lieb von dir, daß du dich unserer erinnert hast.«
»Aber ich werde doch meinen Hochzeiter und meine Hochzeiterin nicht vergessen,« scherzte sie.
»Eben, das ist so lieb,« meinte Netty wieder, »du bist die einzige, die uns ernst nimmt von den alten Herrschaften.«
Flüchtig sah Tante Mali auf die Kleine. Ihr Lächeln war auf einmal verschwunden, ihre Lippen verzogen sich, und täuschte ich mich nicht, dann entfloh ihrem Mund etwas Ähnliches wie »frecher Pams«. Ich sah mit Entsetzen, welch argen Verstoß meine junge Frau gegen guten Ton und Sitte begangen hatte und suchte mit weltmännischer Gewandtheit alles wieder gut zu machen. Aber gleich nach den ersten Sätzen merkte ich, daß ich uns beide nur noch tiefer hineinritt. Das böse Wort war einmal gesprochen, und ich konnte nichts mehr verbessern, wenn ich auch eifrig versicherte, daß wir unter dem sogenannten Alter nichts andres verstünden als Ehrfurcht vor Leuten, die eben wirklich älter wären, wenigstens älter als wir selbst. Tante Mali gab keine Antwort, sondern sah mich nur immer durchbohrend an. Um einen letzten Versuch zu machen, bot ich ihr in meiner Verzweiflung die Patenschaft bei unserm noch ungetauften Kind an, aber da verdarb ich es wieder mit Netty, die mir vor Tante Mali einen festen Stoß in die Hüfte versetzte. Jetzt wußte ich rein nicht mehr, was ich sagen sollte. Jedes meiner Worte, so gut beabsichtigt, verwandelte sich auf meinen Lippen zu einem scharfen, zweischneidigen Schwert, und so stand ich denn tiefunglücklich zwischen den beiden, die auch die Sprache verloren zu haben schienen. Es waren peinliche Minuten, und mir fiel eine Last vom Herzen, als Tante Mali endlich ihre Augen von mir hinwegwandte, noch einmal den ganzen Garten forschend hinabblickte und dann von dannen ging. Sie reichte Netty dabei kaum die Hand, nur ich durfte mich merkwürdigerweise größerer Gunst erfreuen, denn an der Gartentür, wohin ich sie als galanter Hausherr geleitete, gab sie mir noch einen herzhaften Kuß und nannte mich einen guten Jungen. Jetzt meinte ich natürlich, es sei alles wieder gut und war ganz erstaunt, als ich bei meiner Rückkehr die Kleine ganz aufgelöst in Schmerz und Tränen vorfand. Unser armes Kind war auf die Erde geschleudert und streckte alle viere von sich.
»Netty, was gibt's denn?«
»Das ist schändlich, ganz schändlich!« rief sie.
»Aber Tante Mali hat's ja nicht so gemeint.«
»Ach! Du verteidigst sie?«
»Na, wenn sie nun auch so was gesagt hat …«
»O, davon red' ich gar nicht einmal, am gemeinsten war ihr Benehmen.«
»Wieso?«
»Meinst du, ich hätt's nicht gesehen, wie sie dir den unverschämten Kuß gegeben hat? Und wie sie dich erst angeschaut hat! Was hat sie denn hier zu suchen?«
Mein Staunen wuchs ins Grenzenlose. So etwas hatte ich nicht für möglich gehalten!
»Netty,« sagte ich ganz fassungslos, »wenn mich eine alte Dame anschaut, das macht doch nichts.«
Sie weinte immer weiter. Das Mädchen war mir ein großes Rätsel.
»Lass' dir sagen, Netty, du darfst Tante Mali …«
Da gab sie mir wieder einen Stoß, und ihr nasses Gesicht verzerrte sich in bockbeiniger Wut.
»Nenn' sie doch nicht Tante, die freche Person! Sie ist ja weder mit dir, noch mit mir verwandt, Gott sei Dank, nicht ein bißchen ist sie's, nicht einmal von der hundertsten Suppenschüssel.«
»Aber wir haben sie doch immer Tante geheißen.«
»Ich nenn' sie nicht mehr so, ich schau' sie überhaupt nicht mehr an, ich mag sie nicht mehr.«
»Aber warum denn?«
»Sie ist falsch und hinterlistig.«
»Woher weißt du das?«
»Heut' hab' ich's gesehen.«
»Wo denn?«
»Hier, auf der Stelle.«
»Ja, wie denn, sag' mir nur, wie?«
»Das verstehst du nicht, wenn ich's auch sage.«
Nein, das verstand ich wirklich nicht. Diese Eifersucht war ja lächerlich, das überstieg meine Begriffe. Wenn sie mich bei der Köchin, bei der Zofe ertappt hätte, oder bei einer Freundin ihres Alters, dann hätte ich ihre Wut begreiflich gefunden, aber wenn mir Tante Mali nicht einmal mehr einen Kuß geben durfte, dann konnte Netty ja auch mit meiner Mutter Skandal anfangen. Ich sagte ihr nicht, daß ich ihr Benehmen sehr unversöhnlich fand, sondern hob die Puppe vom Rasen und hielt ihr vors Gesicht:
»Schau da, Netty, unser Kind!«
Rührte sie dieser Anblick nicht, dann war sie eine Rabenmutter. Und richtig, sie stieß es heftig von sich.
»Ich mag's nicht mehr sehen.«
Das wurde mir aber doch zu viel.
»Schäm' dich, Netty, schäm' dich, du hast kein Herz.«
Halb traurig, halb trotzig ergriff sie das rechte Bein der Puppe.
»Die Kleine kriegt ja den Blutsturz,« mahnte ich.
Nun packte sie ihren Pflegling beim linken Fuß, und gleich darauf fing sie wieder laut zu weinen an, ganz unglücklich und schmerzzerrissen. Das rührte mich so, daß sich bald darauf auch meine Tränendrüsen in Bewegung setzten, und heulten wir gemeinsam eine Viertelstunde in allen Tönen.
Mit dem ersten Duft war es vorbei, für immer vorbei seit jenem Unglückstage. Wir kamen wohl noch im Garten zusammen und fuhren die Puppe im Kinderwagen spazieren, wir nannten uns auch ferner noch Mann und Frau und schritten Arm in Arm die Promenaden entlang, aber wir spielten eben, was wir früher gelebt hatten. Es war nicht mehr das Rechte, und wenn wir sie noch fortsetzten, die große Kinderei, so taten wir's mehr, um uns nicht lächerlich zu machen vor den andern. Verborgen blieb es ihnen ja trotzdem nicht, was mit uns vorgegangen war. Die nächsten Tage sollten es uns schon zeigen. Das Dienstpersonal wurde rebellisch. Die Köchin kündigte den Dienst, die Zofe wurde immer frecher, nur der Jean, der gute Jean, war noch grade so willig wie früher, wenigstens schien es so. Er tat seine Schuldigkeit, obwohl ihn die andern aufhetzten und ihn einen dummen Burschen nannten, weil er sich alles gefallen ließ von einer Herrschaft, die schon dicht vor dem Bankerott stand.
Aber auch ihm sollte ich gar bald auf niederträchtige Schliche kommen. Sein ganzer Diensteifer war bare Heuchelei, denn ich ertappte ihn, als er Netty mit der ganzen Unverschämtheit zudringlicher Domestiken einen Kuß anbot. Sie wies ihn entrüstet zurück, und ich prügelte den frechen Burschen zum Garten hinaus. Dann eilte ich zu den andern zurück und suchte unsere Autorität wieder herzustellen. Alles vergebens. Die frechen Mädchen lachten mich aus, ja, die Köchin drehte mir sogar eine lange Nase und rief höhnisch:
»Ach Gott, der Herr Hochzeiter, der gnädige Herr Hochzeiter.«
Nun war es ganz aus. Die schöne Zeit kehrte nie wieder, denn es schien, als hätten alle Winde diese spöttische Verdrehung des einst so heiligen Wortes weit in die Welt getragen, damit ein jeder seine frechen Augen unter gemeinem Gekicher auf unser schönes Geheimnis richte. Wo ich hinkam, in die Schule, auf den Turnplatz oder in die Kirche, tönte er mir überall entgegen, der verzerrte Name, aus dem ungewaschenen Munde so manches frechen Bengels, und öfters riefen mich auch Erwachsene dabei:
»Buberl, wann heiratst denn?« fragte mich einer.
Und das war sogar der Mann von Tante Mali, ein Kunstmaler mit braunem Vollbart und braunem Sammetjacket.
Das war kaum mehr zu ertragen, und ich wurde noch unglücklicher, als ich merkte, daß es meiner armen Hochzeiterin um kein Haar besser ging in der elenden Welt. Ganz verzweifelt fiel sie mir um den Hals, da sie einmal des Abends in unsern Garten schlich.
»Mit den Fingern deuten sie auf mich,« schluchzte sie.
»Wer denn?«
»Alle Mädchen und die Tochter vom Pedell hat sogar gesagt, ich sei der Verdammnis verfallen, weil ich mich mit einem Mannsbild eingelassen hab'.«
Hätte ich nur die Erlaubnis bekommen, diese nichtsnutzige Bande in Grund und Boden hauen zu dürfen!
»Sei gut, Netty,« flüsterte ich, »deswegen spielen wir zwei ja doch ungeniert weiter.«
»Nein, nein.«
»Warum denn nicht? Jetzt wirtschaften wir eben ohne Personal, denk' mal, das ist ja doch noch viel schöner. Da sollen sich dann die andern grün und blau ärgern.«
Sie schüttelte traurig den Kopf und begann noch stärker zu weinen.
»Was hast du denn?« fragte ich besorgt.
»Es ist vorbei mit uns.«
»Vorbei?«
»Ja … nächste Woche, da … da … soll ich … ich ins Kloster.«
Mir wurde es Nacht vor den Augen. Also das hatten die Barbaren, diese grausamen Eltern, dem armen Kinde noch aufgespart! In trübselige Mauern wollte man Netty sperren – ich konnte es kaum fassen.
»Wie … wie kommt denn das, Netty,« flüsterte ich.
»Ach, die Mama hat's schon lang vorgehabt, vorgestern war sie dort im Kloster und da, da … da haben sie mich angenommen.«
Jetzt aber gärte es mächtig in mir.
»Glaubst du, daß ich das leid'? Ich sag' dir, ich leg mich vor die Lokomotive.«
Sie streichelte zärtlich meine Backen.
»Nein, tu's nicht, ich bitt' dich drum.«
»Doch, doch, ich tu's!«
»Ich bitt' dich, der Papa, der ist im stande und läßt den Zug trotzdem abfahren.«
»Dann red' ich noch mit deinem Papa.«
»Der hört nicht mehr.«
»Macht nichts, macht nichts.«
Flehend hob sie die Hände:
»Bitt' schön, nicht!«
Ganz ratlos legte ich meinen Arm um sie und wanderte mit ihr den dämmernden Garten ab. Ein trauriger Gang, ohne Lachen, ohne Worte. Die welken Blätter der Kastanienbäume brannten wie lodernde Flammen uns zu Häuptern, und das abgefallene Laub der Büsche und Sträucher raschelte auf den weitverzweigten Kieswegen mit eigentümlichen Lauten unter unsern Tritten.
Wir gingen dicht aneinander gelehnt, aber jedes blickte wie betäubt in eine andre Richtung. Der nahe Abschied lag drückend auf uns. Erst vor unserm Häuschen hielten wir ein und betrachteten gleichzeitig noch einmal diese Stätte entschwundener Herrlichkeit. Ein trostloser Anblick! Die treulose Dienerschaft hatte sich verlaufen und Haus und Herrschaft ihrem traurigen Schicksal überlassen. Türen und Fenster standen offen und auf dem Boden, wo der Staub fingerdick ruhte, lag es bunt umher von zerbrochenen Küchengeschirren, von schmutziger Kinderwäsche, von Schürzen und Kleidern. In der leeren Badewanne jedoch, die auf einem zerfetzten Rohrstuhl stand, saß unser Kind, nackt und unversorgt, der Kälte preisgegeben.
Da packte uns beide ein furchtbarer Jammer. Laut weinend fielen wir uns in die Arme, und hier im Angesicht des einstigen Glückes, das nun die Menschheit so grausam zerstört hatte, gelobte ich meiner Hochzeiterin mit bebender Stimme und heißen Küssen unverbrüchliche Treue bis übers Grab hinaus. Dem armen, mutterlosen Kinde versprach ich ein Vater zu sein, wie man einen bessern nicht finden sollte. Heute noch wollte ich's zu mir nehmen, das teure Vermächtnis meiner scheidenden Netty, und wie meinen Augapfel wollte ich's behüten. Dann besann ich mich, daß ich der Mann sei, der jetzt Mut und Entschlossenheit zeigen müsse, um der Geliebten den Abschied nicht noch schwerer zu machen.
Ich trocknete meine Tränen und gab ihr beide Hände. Lange hielt ich sie fest, und immer näher zog ich sie heran, bis ich ihren Atem spürte.
»Geh' nur ins Kloster,« sagte ich, »wir schreiben alle Tage zweimal, früh und abends.«
Sie nickte mir zu und küßte mich:
»Du behältst mich lieb?«
Zur Beteuerung hatte ich die Hand aufs Herz gelegt und fest in ihre Augen geschaut.
Sie lächelte glückselig.
»Das ist recht, ach, das ist schön – jetzt reis' ich ruhig.«
»Das kannst du, Netty! Und weißt du, wenn wir endlich einmal fertig sind mit der dummen Schule und mit dieser scheußlichen Jugendzeit, wenn man uns nicht mehr Bub und Mädel heißen darf, sondern Herr und Fräulein, dann geh' ich 'nauf zu deinem Papa und halt feierlich um dich an in Frack und Zylinder.«
»Ja,« rief sie freudig, »dann können wir wirklich heiraten?«
»Die paar Jahre warten wir halt noch in Gottes Namen, es macht ja am Ende nichts. Ich bleib' ja doch dein Hochzeiter.«
»Und ich deine Hochzeiterin.«
Ein letzter Kuß noch, ein letzter Händedruck und wir gingen auseinander.
*
Durch die Blätter der Weide dringt es zu mir mit sanften, wehmütigen Klängen. Von der Klosterkirche kommt sie herüber, die einfache Melodie, verschwimmend wie aus unendlichen Fernen, und tief in den See summt sie hinein in die kräuselnden, lispelnden Wellen, weich und gedämpft wie ein Lied vom Scheiden und Gehen. Die Orgel spielt's und Kinderstimmen singen's nach in ernsten, getragenen Rhythmen.
Noch einmal ruft es mir alles zurück von dem trübseligen Herbstabend: Den letzten Blick, das letzte Lebewohl und die Tränen der Kleinen, dann aber, als es immer noch weiter klingt, so traurig und klagend, da dämmern düstere Tage empor, die dem Abschiede folgten. Und nun ist mir's, als zöge es schneidend vom Wasser herauf, als fiele das Laub der Bäume und Büsche auf Ufer und Wellen und als hüllten sich Berge und Buchten in graue, dampfende Nebel. Erloschen die Sonne, verschwunden die Farben, zu Eis erstarrt die Fluten um Schilf und um Nachen. Tiefe Stille über der Landschaft, aber ein hartes, grausames Schweigen ist es, nicht die gesättigte Ruhe des Sommers mit den vollen Atemzügen der fruchtreifen Erde. Schwer und beängstigend zieht sich's hinab von der ganz erstorbenen Insel über den weißgrauen See zu toten Gestaden.
Und dort seh' ich einen herumwaten in fußtiefem Schnee, einen jungen Kerl, ratlos und hilflos. Ganz verzweifelt sucht er das Ufer ab, aber wo er anklopft, an verschneiten Höfen und Hütten, wird er ausgelacht von Bauern und Knechten, denn niemand ist so unvernünftig, den hergelaufenen Stadtbuben über den halbgefrorenen See zu fahren, wonach er immer verlangt. Die Zähne schlagen ihm scharf aneinander und die blauen Hände hat er in beide Taschen gesteckt, denn er friert, der kleine Bursche, und fühlt sich nicht wohl in der Fremde. Seine erste Reise ist es, die er allein unternimmt, und die bekommt ihm übel genug. Ihn drückt ein knurrender Magen und ein schlechtes Gewissen, denn er hat nichts gegessen den ganzen, langen, traurigen Tag, und obendrein ist er am frühesten Morgen durchgebrannt vom Hause der Eltern. Soll nun die ganze Mühe wirklich umsonst sein, soll er sein Ziel nicht einmal erreichen, das alte Kloster, wo sie wohnt, der all die Angst und die geheimnisvolle Flucht gegolten hat? Nein, er muß hinüber, und wenn es sein Leben kostet, denn in seiner Brusttasche trägt er ja, wohlverwahrt, einen schöngeschriebenen Brief, den er manchmal herausholt und immer wieder überfliegt, obwohl er ihn schon hundertmal gelesen hat.
»Eine schwere Mitteilung habe ich Dir zu machen, mein Bester,« hieß es da gleich auf der ersten Zeile. »Aber ich kann nicht anders. Diesen Brief bringt Dir heimlich die Hermine, die mich mit ihrer Mutter besuchte. Mir ist es so traurig, seit ich Dich nicht mehr gesehen habe, aber doch ist es hier lieb und schön, was mir ein großer Trost ist, so daß ich ganz bleiben möchte, weil ich gern hier bin. Wer weiß, wie es mit uns Zweien werden würde? Das ist alles so unsicher. Ich habe auch schon viele neue Freundinnen, die Sophie, die Elise und andere. Mein Ideal aber ist die brave Schwester Gervasia. Dieselbe ist zu gut mit mir und nimmt sich meiner besonders an. Wir beten immer den ganzen Tag, und möchte ich selbst so werden wie sie und am liebsten ganz hier bleiben und nicht mehr in die Welt gehen. Und das würde für uns beide das Beste sein, so sehr lieb ich Dich gehabt habe. Ich glaube nicht, daß ich meinen Entschluß noch ändern werde, so sehr leid es mir für Dich tut, Du armer, verlassener Junge. Dagegen will ich Tag und Nacht für Dich beten, das verspreche ich Dir.
Herzlichen Gruß!
P. S. Hermine weiß nicht, daß ich Klosterfrau werde, sage ihr nichts, sie schwätzt. Auch den andern sage nichts, es ist alles noch strenges Geheimnis. Verbrenne diesen Brief sofort und schreibe mir ja nie wieder, denn die Schwestern waren sehr böse über Deine vielen Briefe. Nun, lebe wohl, der Bogen ist zu Ende und muß ich leider schließen.«
Es war der einzige Brief, den sie ihm geschrieben hatte, dem traurigen Buben, seit der Abschiedsstunde vor dem verlassenen Häuschen. Der einzige Brief, trotz aller heiligen Schwüre, und der war so furchtbar, daß der erschreckte dumme Kerl sich am andern Tag mit ein paar gepumpten Kröten in die Bahn setzte, um das Kloster zu erreichen und die Treulose in dem furchtbaren Augenblicke vom Altar hinwegzureißen, wo sie den Schleier nehmen wollte. Eine böse Reise, diese winterliche Fahrt durch das kalte, unwirtliche Land. Der kecke Abenteurer sah die Welt zum erstenmal in ganz anderm Lichte, und so mancher schöne Traum ging unrettbar verloren, während der keuchende Zug in den finstern Morgen hinausfuhr. Schon gleich am Bahnhof gab es die erste Enttäuschung. Wie war das so kalt, so abweisend in der bereiften Halle, alles in Dampf und Nebel gehüllt, die Leute so grob und kurz angebunden. Dann dieses endlose Dahinrollen in dem dumpfen Coupé, wo qualmende Viehtreiber gemeine Reden führten, und gar erst die Ankunft auf der dichtverschneiten Station, das Herumirren, das Suchen, die lauernden Blicke der Gefragten, und schließlich nach stundenlangen Kämpfen die trostlose Gewißheit, daß das Kloster trotz aller Anstrengungen unerreichbar blieb hinter den kreisenden Nebeln, die gleichmäßig See und Insel bedeckten. Das war ein harter Schlag, aber noch nicht der bitterste des ereignisvollen Tages. Denn als es zu dämmern begann über den weiten Schneefeldern und der kleine Kerl ganz ermattet wieder zum Bahnhof wankte, da fing ihn auf der dunklen Straße ein Landgendarm ab, der ihm seine unverlangte Begleitung bis zum Zuge schenkte und ihn peinlich verhörte. Erst nachdem er Namen und Wohnort der Eltern sorgfältig notiert hatte, ging der Grünrock wieder von dannen und ließ den jungen Strolch, den er noch ganz besonders der Wachsamkeit des Schaffners empfohlen hatte, mit einem nagenden Bewußtsein nach Hause fahren.
Nun war es auf lange vorbei mit dem Hochzeiter und mit der Hochzeiterin.
Die schreckliche Heimkehr bereitete diesen Phantasien vergangener Kinderjahre ein jähes Ende, und der schwergekränkte Vater machte dem elenden Landstreicher auf besondere Weise begreiflich, daß er nichts weiter sei als ein fauler Schuljunge, der unter sehr strenge Fuchtel, aber nicht vor den Traualtar gehörte.
Es kam eine schlimme, traurige Zeit. Kein lautes Wort durfte gesprochen werden im Hause, die Türen wurden geschlossen, als läge eines auf Leben und Tod, und über die Gänge und Treppen huschte man dahin wie auf Gummisohlen. Ein Wintertag löste den andern ab, und manchmal zog es so kalt durch die stillen, weiten Räume wie über den verschneiten See an jenem Tage, den mir die wehmütige Weise ins Gedächtnis zurückgerufen hatte.
Immer noch zittert er nach in mir, der ernste, summende Ton der Orgel, mit feinen Schwingungen gleitet er fort durch trübe, vergessene Zeiten, und stärker schwillt er über den See hinaus, als sie jetzt alle wieder lebendig werden, die Stunden des verzweifelten Wartens und der bangen Sehnsucht nach Frühling und Sonne. Ein Wiedersehen, nur ein einziges Wiedersehen! Das träumte ich mir, wenn ich in meiner Stube saß und über die aufgelegten Bücher hinweg an die grauen Wände des Hofes starrte. Diese frohe Zuversicht hatten mir alle Strafen des Vaters nicht rauben können, und es war, als fühlte der Himmel selbst Mitleid mit mir, nachdem mich die Menschen alle verlassen hatten. Er sandte mir einen wirklichen Engel in Gestalt von Tante Mali, der von meiner Hochzeiterin so schwerverkannten, edlen Frau.
»Sei nur gut,« flüsterte sie mir eines Abends beruhigend zu. »Die Netty bleibt nicht im Kloster. Ich weiß es. Sie kommt schon wieder und dann arrangier' ich alles, und wenn dein Vater auch noch so bös ist.«
Die Gute! Ich erzählte ihr alles, was ich auf dem Herzen hatte, und das war nicht wenig.
Lächelnd hörte sie mir zu:
»Sag' nur nie den andern etwas,« warnte sie mit erhobenem Finger.
Ich wäre ja lieber gestorben! Überdies bestand auch keine Gefahr. Jede Geselligkeit war mir streng untersagt, mein Vater bewachte mich ängstlich wie der Wärter seinen Gefangenen. Tante Malis Sorge war also unbegründet.
Nur einmal vergaß ich ihre Warnungen und platzte los. Das war in der Schule. Der Herr Professor hatte es nämlich für gut befunden, mich nach der Rückkehr von der unglückseligen Reise zum abschreckenden Exempel auf eine eigene Strafbank zu setzen, und dorthin richteten sich jedesmal die hämischen Blicke meiner Mitschüler, wenn ich in die Klasse trat oder aufgerufen wurde. Hohn und Spott warfen sie dem Verlassenen hinüber, und das ganz verschnitzte, elende Möbel, auf dem ich meine Glieder kaum zurechtlegen konnte, nannten sie immer: die Ehestandskutsche.
»Flott fährt er daher, der Herr Hochzeiter,« hieß es.
Dieser Name war mir aufgeprägt, wie dem Sklaven das Zeichen seines Herrn.
Lange trug ich diese niederträchtige Schändung, aber eines Nachmittags, als sie wieder alle um mich herumstanden und mir die Zunge streckten, schwand mein Langmut.
»Geht fort von mir,« rief ich drohend.
Die Antwort war ein dröhnendes Gelächter. Ich zitterte vor Wut. Am stärksten empörte mich, daß mein Freund Siegfried, dieser ehemalige Bediente, sich besonders unter den Brüllern hervortat. Dieser rachsüchtige Freund! Das war ihm jetzt eine willkommende Gelegenheit, mir alles heimzuzahlen.
»Schaut ihn nur an,« rief er spöttisch, »der möcht' sich gar rühren!«
»Der Tropf, der nichtsnutzige,« lachten die andern.
»Von der Bank sollt ihr weggehn,« schrie ich außer mir.
Nicht einer achtete auf meine Worte. Der Siegfried aber zog einen Schuljungen zu sich und wies ihn höhnisch auf mich.
»Gelogen hat er auch,« kicherte er. »Renommiert hat er. Das Mädel hat ihn gar nie gemocht. Er hat sich nur 'rangedrängt.«
Ich trat aus dem Verschlag heraus, meiner kaum mehr mächtig.
»Das nimmst du zurück,« sagte ich.
»Keine Ahnung,« lachte er.
»Ich rat dir's im guten. Die Netty hat nur mich geliebt, aber nie einen andern.«
Mit brüllendem Gelächter fiel der ganze Chor der Buben ein:
»Nur ihn geliebt … nur ihn geliebt … habt ihr's gehört? Netty hat nur ihn geliebt … So ein Hanswurst! Der muß zum Theater!«
Jetzt ging ich direkt auf den Siegfried los.
»Nimm das zurück, was du gesagt hast,« tobte ich.
»Fällt mir nicht ein,« antwortete er. »Das Mädel hat sich gar nichts aus dir gemacht. Mich hat sie abgebusselt, so oft ich's verlangt hab.«
Im nächsten Augenblicke wußte ich nicht mehr, wo ich hinschlug mit beiden Fäusten, nur das eine merkte ich an dem mörderischen Wutgeheul, daß meine Hiebe trefflich sitzen mußten. Der hereinstürzende Lehrer machte dem Skandal ein Ende und stellte sodann von seinem hohen Sitz im tiefsten Tone sittlicher Entrüstung fest, daß ich dem Siegfried das linke Auge halb eingehauen und einem andern Buben die Nase breitgeschlagen hatte. Die Verletzten ließ er zum Brunnen, den Attentäter in den Karzer führen, und die Folge dieses tieferschütternden Vorfalls, wie der Herr Lehrer die Prügel nannte, war für den bösen Jungen, daß es noch trauriger, noch stiller um ihn wurde wie zuerst. Aber je mehr sich meine Aussichten vergrößerten, in allernächster Zeit von der Schule gejagt zu werden, je trostloser sich das Leben im Hause gestaltete, je strenger mein Vater verfuhr, um so eifriger nährte ich meine Hoffnung auf bessere Tage. Einmal mußte es ja anders werden, und das Wiedersehen sollte mich dann für alle Unbill reichlich entschädigen.
Tag für Tag malte ich sie mir aus, diese große Stunde, und die schnöde Welt ließ mir ausgiebig Zeit, mich entsprechend darauf vorzubereiten. Denn als der Sommer mit den Ferien wiederkehrte und meine Kameraden ihre Mappen in die Ecken warfen, um sich der Freiheit zu freuen, kam Netty nicht einmal nach der Stadt, sondern fuhr von der Insel weg eine kurze Strecke aufs Festland hinüber zum nahgelegenen Landgut ihrer Eltern. Ich aber blieb hübsch zu Hause bei Büchern und Heften. Keine Erholung, kein Wiedersehen gab es für den enttäuschten Buben, und so ging es fort, lange schreckliche Jahre, eine Ewigkeit für ein liebendes Menschenherz. Wir sahen uns nicht mehr, wir schrieben uns keine Briefe, wir hörten nichts voneinander, und die schönen Tage der Kindheit traten immer mehr in die Ferne. Kaum wußte ich, ob Netty noch daran dachte. Zur Anfang trug ich es standhaft, denn ich hoffte es noch zu ertrotzen, als sich aber jeden Sommer alles genau wiederholte, so eintönig und aussichtslos wie vorher, da entschloß ich mich endlich in meinem schweren Kummer, Tante Mali danach zu fragen, die mich ganz vergessen zu haben schien. Schüchtern wagte ich es, sie an ihr schönes Versprechen zu erinnern. Aber gleich das erste Wort verriet mir nichts Gutes.
Sie zuckte die Achsel und meinte, sie sei völlig machtlos, etwas für mich zu tun.
»Deine Eltern wollen es nicht, daß ihr zusammenkommt, und Nettys Eltern auch nicht.«
»Nur einmal, Tante Mali, nur einmal …«
»Es geht nicht.«
»Bitte! Bitte! Jetzt kommen wieder die Osterferien. Über vier Jahre haben wir uns nicht gesehn!«
Tante Mali wurde ungeduldig.
»Wie soll ich denn das anfangen?«
Ich hätte ihr schon zu Hilfe kommen können, denn in so mancher schlaflosen Nacht hatte ich jede Möglichkeit erwogen. Nun wagte ich kaum den Mund aufzutun.
»Nun, so red' doch,« befahl sie unwillig.
Umständlich setzte ich ihr's auseinander. Auf dem Lande sollten wir uns treffen, denn Tante Mali besaß eine feine Villa gleich neben dem Gute von Nettys Eltern. Dort könnte ich die Kleine ja wiedersehen und wäre es nur auf eine Stunde.
Die schöne Frau sah mich mit eigentümlichem Lächeln an:
»Schau, schau, wie fein gesponnen! Du bist ein ganz raffinierter, kleiner Kerl! Wo hast du denn das alles gelernt?«
Ihre Freundlichkeit gab mir neuen Mut.
»Laß mich hinauskommen, Tante,« flehte ich. »Bitte!«
Nun lachte sie laut:
»Bist du verrückt? Das gibt's nicht, im ganzen Leben nicht.«
»Weil's nicht geht.«
Es ginge schon, meinte ich, denn der Vater verreise auf vierzehn Tage.
»Und deine Mutter?«
Mit ihr hoffte ich schon eher fertig zu werden.
»Nicht übel,« zürnte Tante Mali. »Weißt du was? Ich habe Wichtigeres zu denken. Meinen Landaufenthalt mag ich mir nicht mit solchen Dummheiten verderben.«
Und sie blieb unerbittlich trotz meiner Vorstellungen.
Mit dem Letzten zerfallen, an das ich noch geglaubt hatte, setzte ich mich wieder an meine Arbeit und kaute verzweifelt an der Feder. Mir war dieses Leben so verhaßt, so widerwärtig mit seiner Falschheit und den ewigen Enttäuschungen, daß ich den Tod mit Freuden begrüßt hatte. Was hatte ich noch auf der Welt zu suchen? Nichts mehr, mein Dasein war vernichtet, vor mir lag eine trostlose Zukunft, voll Jammer und Elend.
»Wenn ich nur nicht geboren wäre,« sagte ich leise vor mich hin und verfluchte den Unglückstag, der mich das Licht dieses irdischen Jammertals hatte erblicken lassen. O Schicksal, grausames Schicksal! Es war zum verrückt werden. Tante Mali hatte mich hintergangen und ihr Wort gebrochen, meine einstigen Freunde flohen mich wie einen Aussätzigen, und auch sonst nirgends ein teilnahmsvolles Herz, denn die Töchter des Löwenapothekers, mit denen ich manchmal aus besonderer Gnade spielen durfte, konnte ich schon deshalb nicht leiden, weil ich den finstern Argwohn hegte, mein Vater habe diesen Verkehr nur angezettelt, um meine Gedanken von Netty auf andre Mädchen zu lenken. Aber das sollte ihm nie gelingen, niemals, und wenn er mich bei den Haaren vor das Standesamt zerren wollte. Ich heirate nur eine oder keine. Ihr hatte ich Treue gelobt und diesen heiligen Schwur erneuere ich gleich am ersten Feiertage wieder draußen im Garten vor unserer Abschiedsstelle, meinem Vater und Tante Mali zum Trotz.
»Dir gehör ich,« lispelte ich dabei, »und wenn es mein Leben kostet.«
Dann warf ich mich auf den Rasen. Mein Gesicht verbarg ich in den beiden Armen, und nun ließ ich unter strömenden Tränen meine Gedanken zur fernen Insel eilen, zu Netty. Am Ufer sah ich sie stehen mit einem weißen, wehenden Tuche, und da wünschte ich mir, mitten im See zu schwimmen durch Wellen und Winde zur Geliebten hinüber. Mochte die Kraft auch erlahmen in der ungeheuren, sturmgepeitschten Fläche, mochte ich dabei auch zu Grunde gehen, was lag mir noch daran? Mein Leben war verwirkt, und ich hätte es gern dahingegeben in diesem letzten Kampf um die eingekerkerte, duldende Netty. Ja, ich wünschte mir umzukommen in dem rasenden See! Dann hätten sie vielleicht Reue empfunden, diese grausamen Eltern und die wortbrüchige Tante, wenn sie mich gesehen hätten, wie mich die Wellen als entstellte Leiche ans Ufer spülten, blaß und aufgeschwemmt, über mich die Geliebte geneigt, die in furchtbare Klagen ausbrach und das Haar zerraufte. Aber jetzt war es natürlich zu spät, jetzt konnten sie mich nicht mehr ins Leben zurückrufen, diese Weisen und Klugen, und für den grenzenlosen Jammer des verzweifelnden Mädchens wußten sie keinen Trost mehr.
Ich wurde sehr traurig. Mein schreckliches Ende tat mir selbst so leid, daß es mir fast das Herz abpreßte. Gar nicht genug konnte ich mich bedauern, denn fortwährend sah ich mich als Leiche herumschwimmen und hörte Nettys Wehgeschrei. Auch unsere Eltern weinten wieder, aber mit ihnen empfand ich kein Mitleid. Sie hatten es nicht besser gewollt, nun mochten sie freudlos zu Grabe gehen auf ihre alten Tage, ohne Stütze, ohne Hilfe, das war die gerechte Strafe.
Immer unglücklicher wurde ich, immer zorniger, je länger ich darüber nachdachte. Die niederträchtige Bosheit meines Schicksals empörte mich so, daß ich mit beiden Fäusten ganze Grasbüschel aus der Erde riß. Ich mag wohl keine freundlichen Augen dabei gemacht haben, denn unsere Gartenkatze, die mir von weitem bei dieser anregenden Arbeit zugesehen hatte, floh entsetzt von dannen. Während ich aber dem hüpfenden Tiere nachsah, hörte ich plötzlich in den nahen Gebüschen Menschen reden. Das wunderte mich, denn um diese späte Stunde kam nur noch selten jemand in den Garten, aber gleich darauf überzeugte ich mich, daß es kein Irrtum war. Dort, an der kurzen Lichtung erschien eine stattliche Dame an der Seite eines Herrn, der den Arm um ihre Hüfte gelegt hatte. War das nicht Tante Mali? Freilich, jetzt erkannte ich sie. Und der Herr neben ihr, das war doch ihr Mann, wie? Natürlich, wer sollte es denn sonst sein? Er hatte ja einen braunen Vollbart und drückte die Tante so zärtlich an sich, das war schon Onkel Ralph! Aber je länger ich hinsah, um so fremder kam er mir vor, und jetzt, wo er ihr sein Gesicht zuwendet, da merke ich ganz deutlich, daß es nicht ihr Mann ist, sondern ein Herr, den ich noch niemals gesehen hatte. Freilich glaubte ich bald wieder, daß ich mich doch geirrt hätte. Es mußte ja Tante Malis Gatte sein, war überhaupt nicht anders möglich, denn während das Paar so langsam zum Tore hinwandert, küßt er sie plötzlich, wie sich eben nur Mann und Frau küssen können. Und doch hätte ich sofort jeden Eid geschworen, daß es nicht der gemütliche Maler der Madonnenköpfe und Schlachtenbilder sei, der da neben der schönen Frau einherging. Nein, nein, er war es auch nicht. An einem untrüglichen Zeichen hatte ich's gemerkt. Onkel Ralph hatte krumme Beine, womit er immer geneckt wurde, während dieser Herr wie eine Königskerze gewachsen war. Außerdem trug der Fremdling einen ganz schwarzen, fein zugespitzten Bart und einen Kneifer, also von einer Ähnlichkeit war keine Spur.
Eine seltsame Aufregung überkam mich, und ich fragte mich selbst, warum ich denn nicht auf Tante Mali zuging und ihr die Hand gab. War es Verlegenheit oder Dummheit, was mir die Kehle zuschnürte? Ich wußte es nicht, nur das eine merkte ich, daß in dem dämmernden Garten etwas vorging, was nicht für die Welt bestimmt schien. Ob sich die beiden wohl auch Arm in Arm auf offener Straße zeigten? Das mußte ich erfahren.
Ich schlich ihnen vorsichtig nach, und hinter einer Hecke verborgen sah ich, wie der feine Herr seine Begleiterin noch einmal küßte und dann eilends den Garten verließ. Aha! Sie gingen nicht zusammen! Das reizte mich doppelt und in gerechter Vergeltung für ihr gebrochenes Wort wünschte ich der zurückgebliebenen Tante aus meinem Verstecke heraus einen recht freundlichen guten Abend.
Aber im selben Augenblick bereute ich es wieder, denn ich sah mit Entsetzen, was ich angerichtet hatte. Tante Mali war so maßlos erschrocken, daß ich glaubte, sie müsse tot vor mir niederfallen.
»Tante … Tante!« rief ich im ersten Schrecken. »Sei mir gut, sei mir gut.«
»Wa … was willst … was willst du da?« schrie sie außer sich.
Ich rang die Hände.
»Sei mir nicht bös,« bat ich zitternd in meiner furchtbaren Angst.
»Läufst du mir nach?« fragte sie mich ganz fassungslos.
»Ach, was denkst du? … ich war nur zufällig da, und … und …«
Wenn mir nur was Passendes eingefallen wäre!
Nun erholte sie sich wieder.
»Komm mal her,« sagte sie nach einiger Überlegung, »da zu mir her.«
Sie packte mich beim Arm und ging heftig atmend an meiner Seite in den Garten zurück.
»Jetzt will ich sehen, ob du ein verständiger Junge bist,« begann sie nach einer langen Pause, »ob man dir ein wichtiges Geheimnis anvertrauen kann.«
»Das kannst du, Tante.«
Sie blieb stehen und sah mich scharf an.
»Weißt du, wer der Herr ist, den du gesehen hast?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Nun, dann sollst du's erfahren. Das ist der jüngere Bruder meines Mannes. Er war viele Jahre in Indien verschollen. Du kannst dich seiner doch noch besinnen?«
Ich hatte zwar niemals von einem solchen Bruder das Geringste gehört, aber ich bejahte ängstlich, weil ich mich vor ihr fürchtete.
»Nun gut,« fuhr sie befriedigt fort, »der ist heimlich nach Europa wiedergekehrt, ganz heimlich, denn kein Mensch darf etwas davon erfahren. Hörst du? Keine Seele! Am wenigsten mein Mann. Der haßt ihn, weil er in seiner Jugend dumme Streiche gemacht haben soll. Verstehst du das?«
Was hätte ich nicht alles verstanden?
»Siehst du,« fing sie wieder an, »mir hat sich der arme Mensch anvertraut, und ich will versuchen die beiden im Laufe der Jahre zu versöhnen.«
Zu einem so löblichen Vorhaben erlaubte ich mir von Herzen Glück zu wünschen.
Sie blieb stehen und sah mich wieder so seltsam an wie damals im Sommer, als ich neben ihr und Netty stand.
»Du sagst es niemand? Keinem Menschen? Versprich es mir!«
Ich nickte stumm und gab ihr die Hand. Da zog sie mich mit beiden Armen an ihre Brust und neigte ihr Gesicht herab. Dann gab sie mir einen Kuß, der mir alles Blut in die Wangen trieb. Diesmal hätte ich Nettys Eifersucht begriffen! Es war an derselben Stelle, wo ich meiner Hochzeiterin Lebewohl gesagt hatte, und diese Erinnerung regte mich nicht minder auf als meine Unbeholfenheit, mit der ich willenlos in den Armen der schönen Frau blieb.
»Niemand sagst du's,« flüsterte sie noch einmal. »Niemand, wenn du Tante Mali lieb hast.«
»Ich sag' nichts,« brachte ich endlich hervor.
Sie küßte mich noch stürmischer als zuvor.
»Du sollst auch deinen Lohn haben,« sagte sie freudig. »Jetzt darfst du Netty wiedersehen, und zwar gleich! In ein paar Tagen reisen wir.«
War das nicht ganz närrisch? Was ich mir ersehnt hatte vier lange, qualvolle Jahre, worum ich gebettelt hatte mit Tränen und Flüchen, nun sollte es plötzlich in Erfüllung gehen, und in diesem gewaltigen Augenblick, wo mir die Himmelsbotschaft verkündet wird, stehe ich linkisch da und weiß kein Wort zu sagen.
Tante Mali ließ mich langsam los aus ihren Armen.
»Du freust dich nicht einmal?« forschte sie.
O ja, ich freute mich, aber ich weiß nicht, kam mir das alles zu unerwartet, hatte ich mir diese Botschaft ganz anders gedacht oder war ich zu sehr überwältigt von den seltsamen Eindrücken der letzten Stunde – ich konnte ihr nicht so danken, wie ich es gestern noch fertig gebracht hätte. Da wäre ich ihr gewiß an den Hals gesprungen vor innerer Glückseligkeit. Jetzt aber gingen mir immer noch ihre heißen Küsse und der geheimnisvolle Bruder aus Indien im Kopfe herum.
»Du bist ja ein lieber Verehrer,« scherzte sie. »Schau, schau, so treulos!«
Und wieder bekam ich einen ihrer durchdringenden Blicke ab.
»Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll,« meinte ich schüchtern.
»Nun, das wird sich schon geben, wenn du sie wiedersiehst. Also es bleibt dabei! Laß mich nur alles besorgen und rede nur ja kein Wort von meinem unglücklichen Schwager.«
Noch einmal gelobt' ich ihr das in beide Hände.
»Dann ist's gut,« sagte sie aufatmend. »Nun freu' dich aber auch wirklich, mein Junge, freu' dich!«
Ich freute mich. Ich freute mich wirklich die nächsten acht Tage. Erst überlegte ich mir, wie Netty wohl aussehen möchte, was wir wohl alles zusammen redeten, und dann erwog ich die Geschenke, die ich ihr mitbringen wollte. Ich konnte mich doch nicht lumpen lassen. Auch die Puppe, die ich bis jetzt als teures Andenken sorgfältig verwahrt hatte, dachte ich einzupacken, falls Netty Lust hätte, das schöne Spiel noch einmal aufzunehmen. Aber diesen Gedanken gab ich bald wieder auf. Denn so was mochte sich vielleicht für die Kleine geschickt haben, ein erwachsener Mensch war darüber hinaus, und ein solcher mußte ich wohl sein, sonst hätte mir Tante Mali wohl schwerlich ein so riesiges Geheimnis anvertraut und mir ihre ganze Zuneigung geschenkt. Sonderbar! Ihre Küsse brannten mir jetzt noch auf den Lippen mit ganz eigentümlichen Nachgeschmack und ihre geheimnisvolle Erzählung wollte mir trotz aller Freude auf Netty nicht aus dem Sinne. Dieser seltsame Schwager aus Indien! Was war das für eine merkwürdige, interessante Erscheinung! So oft ich ausging, suchte ich alle Straßen nach ihm ab, denn zu gern hätte ich ihn mir genauer angesehen auf seine brüderliche Ähnlichkeit mit Onkel Ralph, über die mir trotz der feierlichen Versicherung Tante Malis manchmal beengende Zweifel aufstiegen. War er vielleicht gar nicht ihr Schwager? Nun, jedenfalls mußte er doch ein ganz ungewöhnlicher Mensch sein, dieser dämonische Fremde. Ja, ich hätte viel darum gegeben, wenn ich dahinter gekommen wäre, so eifrig beschäftigte mich sein plötzliches Auftauchen und sein vertrautes Benehmen gegen die Tante, die mir nun vollends das größte Rätsel blieb.
Ich betrachtete sie seit jenem Abende nur noch mit scheuer Bewunderung. Sie hatte für mich etwas Unheimliches, und ich fragte mich oft mit bangen Schauern, wie das noch enden möchte? Freilich konnte ich dabei auch ein pfiffiges Lächeln nicht zurückhalten, denn ich kam mir höllisch gescheit vor, auf so feine Art hinter ein Geheimnis gekommen zu sein, dessen Verrat der guten Tante doch sicher sehr unangenehm gewesen wäre. Sonst hätte sie wohl ihre Gesinnung nicht so schnell geändert und mir plötzlich versprochen, was sie mir noch vor kurzer Zeit in übelster Laune rundweg verweigerte. Ja, ja, sie hatte in mir wohl den Mann gesehen, der ihr wirklich gefährlich werden konnte!
Selbstredend war ich weltläufig genug, sie meine Übermacht niemals fühlen zu lassen. Ich erwähnte jenen ereignisvollen Abend mit keiner Silbe mehr, und als ich bald darauf in ihrer Begleitung aus dem Bahnhof fuhr, da mußte ich an mich halten, um ihr nicht vor Freude wieder einen Kuß zu geben, denn diese Art der Dankesbezeigung schien mir bei meiner schönen Gönnerin die einzig richtige zu sein.
Und ich war ihr ja wirklich verpflichtet! Jetzt, wo sich das weite, sonnige Land zu beiden Seiten auftat, stieg die Erinnerung an Netty wieder herauf, und ich ärgerte mich, daß ich die Puppe nicht doch eingepackt hatte, um das alte Spiel mit der reizenden Hochzeiterin aufs neue zu beginnen. Das gab eine andre Reise wie damals im Schnee mit den qualmenden Viehtreibern. Rasend ging es dahin, wie beflügelt von froher Erwartung. Aus der Maschine flatterten feine Wölkchen zum klaren Himmel hinauf, und immer näher kamen wir der schimmernden Alpenkette. Abwechselnd sah ich bald auf Tante Mali, bald auf die Felder hinaus, und als ich endlich in weiter Ferne den blauen Streifen des Sees erblickte, da wäre ich am liebsten zum Wagen hinausgesprungen, denn ich meinte, so schneller ans Ziel zu gelangen als der sausende Zug, der mir plötzlich zu langsam fuhr. Singend hüpfte ich zwischen den Bänken herum, und in meinem namenlosen Glücke mußte ich hell auflachen, wenn ich mir sagte, daß ich mir einmal gewünscht hatte, als aufgedunsene Leiche in dem großen Wasser herumzuschwimmen, das sich jetzt von Ort zu Ort breiter entfaltete.
»Tante, Tante, wann sind wir da?«
Es war noch eine starke Geduldsprobe. Als wir aus der Bahn stiegen, gab es ein langes Warten und dann eine weite Fahrt in holpriger Landkutsche die Ufer entlang. Erst nach einer Stunde wies mich meine Begleiterin mit vielsagendem Blick auf die ansteigenden Höhen.
»Da geht's hinauf und oben wartet sie auf dich.«
»Du hast ihr's geschrieben?«
»Na, das versteht sich.«
Also Netty wußte von meiner Ankunft! Das machte mich noch wilder.
»Wie lange dauert's noch?«
»Eine halbe Stunde.«
Eine Ewigkeit für den ungeduldigen Jungen, der sich vorgenommen hatte, das Mädel halbtot zu küssen.
»Bleib doch endlich sitzen,« sagte Tante Mali ärgerlich.
»Ich kann nicht anders.«
»Na, da geh' doch zu Fuß, du bist meiner so schon überdrüssig.«
»Aber Tante …«
»Ich merk's ja! Jetzt gilt nur noch Netty was, und bei der ersten besten Gelegenheit verrätst du ihr auch meinen armen Schwager.«
Diese Zumutung beleidigte mich tödlich. Kannte sie mich noch nicht besser? Vor Wut schlug ich mit geballter Faust auf meine Knie.
»Nein, nein. Ist ja schon recht,« lachte sie begütigend.
Aber ich war noch nicht so schnell zur Versöhnung geneigt. Erst nach einem herzhaften Kusse zog ich wieder freundlichere Saiten auf und gab ihr die Hand.
»Ja, so etwas lasse ich mir eben nicht gefallen, das ist eine Beleidigung.«
»Bist du ein Giftnickel,« scherzte sie. »Es war ja gar nicht so gemeint. Du sollst deine alte Tante nur auch ein bißchen lieb behalten neben deiner angebeteten Netty!«
»Das tu' ich gewiß.«
»Dann ist es ja gut.«
Wir fuhren wieder schweigend dahin.
»Na, das kann ein Fest geben,« meinte die Tante nach einer Pause.
Ich grinste mit dem ganzen Gesichte.
»Da wird wohl wieder Hochzeiter und Hochzeiterin gespielt?«
»Das versteht sich, Tante.«
Sie lachte: »Hab ich's doch gleich gesagt!«
»Aber warum denn auch nicht?«
»O, meinetwegen, aber jetzt ist's schon etwas gefährlicher, und außerdem weiß ich nicht, ob Netty noch will.«
»Netty, wieso?«
»Hm … ich dachte nur – übrigens, halt, da kommt sie uns ja entgegen!«
»Wer kommt?« fuhr ich empor.
»Netty.«
»Kutscher, Kutscher, halten Sie doch! Wo kommt Netty?«
»Da schau hinauf.«
Ich blickte mit offenem Mund in die angegebene Richtung. Allerdings, es kam ein weibliches Wesen die nächste Anhöhe herab, aber das war doch nicht die Erwartete. Dieses große Fräulein mit dem eckigen, schwarzen Kleide, dem pfirsichroten Schal über den Schultern, dem großen, goldenen Kreuz auf der Brust und den weißen, faltigen Strümpfen? Das sollte meine reizende Hochzeiterin sein, mit der ich im Garten so oft gespielt hatte?
Kaum erkannte ich sie wieder. Alles schien mir verwandelt an ihr. Die Arme waren so lang geworden, die einst so zierlichen Füße bedeckten große, plumpe Schnürstiefel, und auch das Gesicht hatte sich etwas verändert. Stärker und unförmiger war es geworden wie die ganze Figur, nur die Augen blickten noch immer so träumerisch. Nicht einmal der scheußliche Filzhut mit dem schwarzen Sammetbande, dieses Ungeheuer, das wie eine umgestürzte Waschschüssel auf ihre einfach frisierten Haare gestülpt war, hatte sie entstellen können.
Sprachlos starrte ich sie an. Wie eine Heilige erschien sie mir fast, wie ein Wesen, das mit den Freuden dieser Welt abgeschlossen hatte, um sich langsam auf die himmlischen in frommer Demut vorzubereiten. Ihre Haltung war ernst und würdig. Ohne jede Übereilung schritt sie auf den Wagen zu, dann klappte sie ihren weißen Sonnenschirm zusammen und küßte mit einer höflichen Verbeugung meiner hohen Gönnerin die Hand.
»Mein Herzchen,« rief Tante Mali, »mein Herzchen! Nun, was sagst du, daß ich dir den mitgebracht habe?«
Jetzt erst gingen Nettys Augen langsam zu mir empor, der ich immer noch aufrecht im Wagen stand und nicht wußte, ob ich meine Mütze herunterbehalten oder wieder aufsetzen sollte.
»Grüß Gott,« sagte sie ruhig und freundlich, indem sie mir die Hand emporreichte.
Ich war ganz verdutzt. Sollte ich Sie oder Du sagen? Ich wußte es nicht.
»Habe die Ehre,« stotterte ich mit brennrotem Gesicht und einer linkischen Verbeugung.
Dann bedeckte ich mein Haupt und suchte vergebens nach einem geeigneten Platze für meine Hände, die mir beide höchst überflüssig vorkamen.
Tante Mali wurde ungeduldig.
»Ihr seid mir die Rechten,« rief sie entrüstet. »Hab' ich euch zusammengeführt, daß ihr dasteht wie zwei Strohpuppen? Marsch! Marsch! vom Wagen herunter, du ungalanter Bengel, du!«
Ich stieg aus der Kutsche heraus, so umständlich wie ein Bergsteiger, der den schwierigsten Felsen herabklettert.
Lachend sah mir Tante Mali zu.
»Wißt ihr was? Ich will nicht länger lästig fallen! Ich fahre voran und ihr zwei könnt zu Fuß gehen.«
»Aber nein, Tante, nimm uns doch mit,« bat ich dringend. »Es ist besser so.«
»Warum denn?«
»Wir … wir kommen doch viel schneller hinauf! Nicht wahr, Netty?«
Das feine Institutsfräulein stand unbeweglich mir gegenüber auf der andern Seite des Wagens.
»Mir ist alles recht,« sagte sie achselzuckend.
»Ach, ihr seid undankbare Menschen,« rief die Tante.
Dann gab sie dem Kutscher das Zeichen zur Abfahrt. Ein Peitschenknall, ein heftiger Stoß und ich stand meiner ehemaligen Hochzeiterin auf Wagenbreite gegenüber. Ihre Augen waren so ruhig und sicher auf mich gerichtet, daß ich sehr verlegen einen Fuß bald vor, dann wieder zurückschob und nach einer Minute peinlichen Wartens dem sausenden Fuhrwerk nachblickte, wobei ich endlich die geistvolle Bemerkung machte, Tante Mali sei doch eine treffliche Frau.
Netty hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
»O gewiß,« sagte sie, »das ist sie.«
»Nicht wahr? … nicht wahr? … ja … ja, ja, das find' ich auch.«
»Daran habe ich niemals gezweifelt,« sagte sie lächelnd.
Nun, ich wollte sie nicht gleich in der ersten Stunde mit fatalen Erinnerungen belästigen!
»Du bist groß geworden, Netty,« meinte ich nach langer Pause.
»Aber nicht schöner, willst du wohl sagen?«
Ich wehrte ab, aber sie machte eine nachlässige Bewegung.
»Laß das! Ich weiß es selbst am besten, daß ich mich nicht embelliert habe.«
Also ein bißchen eitel war sie doch geblieben, trotz der strengen, klösterlichen Erziehung. Völlig schien sie dem Leben noch nicht entsagt zu haben. Das freute mich wieder und ich fühlte mich ermutigt, ihr ein kleines Kompliment zu machen.
»Du hast mich falsch verstanden, Netty, du bist nicht nur größer, nein, auch viel schöner bist du geworden.«
»Ich versichere dich.«
»Hör auf,« unterbrach sie mich heftig. »Übrigens können wir hier nicht bis zum Abend stehen bleiben.«
Ich stimmte ein gezwungenes Gelächter an.
»Das mein' ich auch.«
»Wollen wir den Fußweg gehen?«
»Ganz wie du willst.«
Wir verließen die Straße und gingen langsam hinauf durch welliges Land, zwischen zarten, keimenden Saaten. Sonne, überall Sonne, nur manchmal ein Busch, eine Birke, ein Apfelbaum, sanft überhaucht vom ersten duftigen Grün.
»Es ist schön hier,« sagte ich endlich.
»O ja, ganz hübsch.«
»Der Frühling ist überhaupt eine himmlische Zeit.«
»Sehr fein! Das stimmt.«
Wir schritten wieder weiter, sie voran, ich dicht hinter ihr. Vergebens marterte ich mein Gehirn. Was sollte ich reden, was sollte ich erzählen? In der Stadt auf der Fahrt hatte ich tausend Dinge gewußt und jetzt brachte ich nichts über die Lippen. Ich konnte nichts anderes tun, als mechanisch ihr nachwandern den langen, einsamen Weg, der sanft in die Höhe stieg.
Da plötzlich zog es durch die lauwarme Luft wie Glockenton. Ich wandte mich um. Unter uns lag der See, eine große, unbewegliche Fläche, und in ihm spiegelte sich eine Insel, klar und durchsichtig, daß jedes Fenster der Kirche, jede Knospe der kahlen Büsche im dunklen Wasser zu sehen war.
»Das ist wohl dein Kloster?« fragte ich.
Sie nickte stumm. Wie festgebannt sah sie hinüber.
»Weißt du, Netty,« sagte ich bewegt, »daß ich mir einmal fast die Augen herausgeschaut hab' nach dieser Insel?«
»Wieso denn?«
»Hat dir niemand davon erzählt?«
»Nein.«
»Auch Tante Mali nicht?«
»Nein, nichts.«
»Nun, das war damals, als du mir diesen unglückseligen Brief geschrieben hast – du weißt schon.«
»Ach so!« sagte sie gleichgültig. »Reden wir lieber nicht davon.«
»Nicht reden?«
»Nein, mir ist solch eine Unterhaltung ganz exekrabel.«
»Netty!«
»Gewiß.«
»Aber ich hab' ja die Tante eigens gebeten, daß sie uns …«
»Und ich habe der Tante ausdrücklich geschrieben, daß ich nur in eine Unterredung willige, wenn wir gar nicht mehr anfangen von den dummen Kindereien.«
»Dumme Kindereien?« schrie ich entsetzt. »Netty, wenn du ahntest, was ich damals alles deinethalben erduldet habe!«
»Ach, laß das!«
»Wenn du wüßtest, wie ich gelitten habe, diese entsetzlichen Jahre.«
»Glaub' dir's ja,« sagte sie heftig. »Aber jetzt sind wir doch darüber hinaus.«
»Hinaus? Wieso?«
»Möchtest du vielleicht wieder so jung werden?«
»Nun also, ich danke auch bestens dafür, drum wollen wir doch ruhen lassen, was glücklich vorbei ist.«
Ich blickte sie an, als rede sie eine Sprache, von der mir jeder Laut fremd und neu war.
»Ich will ja nicht, daß wir noch einmal spielen wie früher,« begann ich endlich. »Aber wir dürfen doch darüber reden, besonders über das Schreckliche, was ich alles erleben mußte.«
Nun lachte sie gar.
» Mon dieu, so schlimm wird's wohl nicht gewesen sein.«
»Ja, du kannst leicht lachen, du hast's nicht durchgemacht.«
Das stieß ich mit tiefem Grolle hervor, denn ihr Benehmen regte mich allmählich auf und enttäuschte mich bitter. Was hatte ich alles erwartet von dieser Stunde? Wo blieben die feurigen Küsse, die mich entschädigen sollten für die ausgestandenen Qualen, die zärtlichen Namen, die mir die Schimpf- und Spottrufe meiner elenden Kameraden vom fluchbeladenen Haupte nehmen sollten? Nichts von alledem! Sie schämte sich jener herrlichen Zeit, die feine, wohlerzogene Dame da drüben, und vielleicht wäre sie mit Abscheu von dem verwegenen Landstreicher zurückgewichen, wenn er es nur gewagt hätte, die geheiligten Fingerspitzen ohne besondere Ursache zu berühren. Ganz zerknirscht ging ich neben ihr, mir waren die Worte ausgegangen. Am liebsten wäre ich auf und davon gelaufen und hätte mich jammernd in eine Höhle zu wilden Tieren geflüchtet, so elend war mir zu Mute.
Und sie, die Grausame, spürte kein Mitleid mit mir. Heiter und ruhig, als ob nichts vorgefallen wäre, sah sie zu mir herüber, und als sie mein Schweigen endlich zu langweilen schien, sagte sie ganz ungezwungen, ja fast spöttisch:
»Du mußt mir nicht böse sein, aber schau, ich kann's nun einmal nicht glauben, daß es dir gar so schlecht ergangen sein soll.«
»So – so?«
»Du hast doch deine Freunde gehabt.«
Meine Freunde! Bei diesem Worte mußte ich hell auflachen.
»Nun freilich,« sagte sie betreten. »Verkehrst du denn nicht mehr mit dem Siegfried?«
Holla! Wie kam sie auf den? Das war doch gelungen! Nun, ich wollte sie tüchtig bedienen.
»Nein,« sagte ich derb. »Mit einem solchen Hallunken wollte ich nichts zu tun haben.«
»Hallunken? Erlaub mal!«
»Nichts anderes! Sein Name ist ausgestrichen bei mir!«
»Warum denn?«
»Frag mich nicht … frag mich nicht … ich könnte dir sonst was Böses erzählen.«
»Was Böses?«
»Jawohl, gerade dir!«
»Sag's doch!«
»Nein, das gehört auch zu dem, was du nicht wissen willst – und sag ich dir das eine nicht, sag ich auch das andere nicht. Einen Charakter muß der Mensch haben.«
»Hat er denn was verbrochen, der arme Kerl?«
»Er ist kein armer Kerl, er ist ein gemeiner Kerl.«
» Fi donc, das ist nicht wahr!«
Diese Verteidigung meines Todfeindes, der Nettys Ehre so gering angeschlagen hatte, raubte mir alle Besonnenheit.
»Weißt du, was er über dich gesagt hat?«
»Nun, nun sag's, sag's schnell!«
»Du liebtest ihn.«
Wenn ich auf einen wütenden Zornesausbruch gerechnet hatte, sollte ich gleich gründlich enttäuscht werden. Sie verfärbte sich zwar ein bißchen, aber gleich darauf bemerkte sie im Tone christlicher Versöhnungsmilde:
»Das nehme ich ihm weiter gar nicht übel.«
Ich blieb stehen. Mit jedem Schritte bröckelte ein kostbares Stück ab von der herrlichen Vergangenheit, von der fröhlichen Jugend, die wir gemeinsam verlebt hatten, und ich fürchtete mich mit ihr noch weiter zu wandern, um nicht das Letzte zu verlieren, was mir an Netty noch teuer war.
Aber sie merkte von alledem nichts.
»Dort sieh' hin,« sagte sie gelassen. »Da liegt unser Dorf.«
Wir standen auf einem weiten Hofplateau. Hinter uns die leuchtende Ebene mit dem mächtigen Seespiegel und dort, wohin Netty den Finger streckte, am Abhang beschneiter Felsen und Klüfte, freundliche, stille Gehöfte, die eine Burg mit hohen Zinnen und Türmen weit überragte.
»Siehst du das Schloß?« fragte Netty.
Ich gab keine Antwort.
»Das gehört meiner edlen, mütterlichen Freundin,« fuhr sie unbeirrt fort, »einer sechzigjährigen Baronin, die heute noch wunderbar schön ist.«
»Hm.«
»Auch sehr vornehm ist sie und einen Sohn hat sie, der immer sehr galant ist.«
»Ach, was?«
»Jawohl. Er unterhält sich am liebsten mit mir, obwohl er schon fast dreißig Jahre alt ist.«
»Warum sagst du mir denn das alles?«
»Es fiel mir nur ein, weil wir von Siegfried sprachen, der doch auch adlig ist. Da lag es doch sehr nahe.«
»Freilich, sehr nahe, sehr nahe.«
»Allerdings.«
»Also, so feinen Verkehr habt ihr jetzt auf einmal?«
»Nicht auf einmal! Behüte! Das geht schon ein paar Jahre so in den Ferien. Denn der Herr Baron ist nicht der einzige, der bei uns aus- und eingeht. Da ist ein Assessor, ein Bauamtsassistent und sogar ein Leutnant.«
»So?«
»Freilich und wir sind immer so vergnügt in den Ferien, daß ich selbst nicht mehr in die Stadt gewollt habe.«
Jetzt war es entschieden! Eine hochnasige Kokette hatte das Kloster aus ihr gemacht, eine kühle Weltdame, die meine aufopfernde Liebe niemals verdient hatte. Die besten, edelsten Herzen hatte ich von mir gewiesen, ja bei manchem Kusse Tante Malis war ich züchtig errötet, weil ich immer nur an sie gedacht hatte, an die hinterlistige Schlange, die sich unterdessen famos amüsierte und meine goldene Treue mit schnödestem Undank lohnte.
Aber warte, du Elende! Nur jetzt keine Schwäche, jetzt keine Nachgiebigkeit, kein Winseln und kein Jammern! Sonst war ich blamiert für ewige Zeiten. Kopf in die Höhe, denn nun galt es den Stolzen, den Selbstbewußten zu spielen.
»Ich hab' auch mein Teil erlebt,« sagte ich und stemmte die Arme in die Hüften. »O ja, ich hab' auch mein Teil erlebt, seit wir uns nicht mehr gesehen haben.«
»Du?«
»Ja ich! Meinst du vielleicht, dir liefen die Leute allein nach?«
Sie sah mich erstaunt an.
»Ich dächte, du wärst immer sehr unglücklich gewesen?«
»Ach, fällt mir ja gar nicht ein.«
»Oder du hättest gelitten um mich?«
»Ich werd' so dumm sein!«
»Bitte!«
»Vernagelt müßt ich sein!«
»Warum hast du's denn behauptet?«
»I, das war ja lauter Schwindel!«
»Recht nett, recht nett von dir.«
»Auf den Leim wollt' ich dich locken, weil mir das Spaß machte, weiter gar nichts.«
»Pfui, das ist abscheulich.«
Von oben bis unten maß ich sie mit verächtlichen Blicken.
»Hältst du mich wirklich für so albern, daß ich dir eine Träne nachgeweint hätte, wo ich bei allen Frauen die höchste Gunst genießen durfte?«
»Du … bei allen Frauen?«
»Spotte nur, aber ich sag' dir: ich wenn reden wollt', ich wenn reden wollt'!«
»Nun, so red' halt.«
»Fällt mir nicht ein, aber ich weiß, was ich weiß.«
»Was weißt du denn?«
»Ein furchtbares Geheimnis! Du könntest Augen machen, aber ich sag' dir's nicht. Wenn ich dir's aber sagte, und wenn ich dir's sagen möchte, dann würdest du's glauben, daß ich mehr gelte bei den Frauen, als du bei deinen saubern Herren!«
»Bitte! Du wirst dich überzeugen heute Abend …«
»Ich werd' dir was,« schrie ich wütend. »Keinen Fuß setz' ich in euer Haus.«
»Wo gehst du denn hin?«
Noch stolzer warf ich mich in die Brust.
»Ich geh zu Tante Mali,« sagte ich feierlich.
Sie sah mich spöttisch an und hob den Finger.
»Dort liegt ihr Haus, keine zehn Minuten.«
»Danke schön, ich hoffe den Weg allein zu ihr zu finden.«
Da stimmte sie ein lautes Gelächter an.
»Ist sie vielleicht deine Verehrte, bei der du die höchste Gunst genießen darfst?«
»Darauf hab' ich keine Antwort zu geben.«
Sie lachte wieder, daß nur alles Blut zu Kopfe stieg.
»Jetzt hab' ich's,« rief sie frohlockend. »Das ist die Glückliche, die du liebst.«
»Natürlich! Und von der weißt du auch das furchtbare, furchtbare Geheimnis! Hab' ich's erraten?«
»Nichts hast du erraten! Gar nichts!«
»Doch, doch. Aber darauf darfst du dir gar nichts einbilden. Das saubere Geheimnis kenn' ich auch. Gerade so gut wie du.«
Ich glaubte, die Berge müßten auf uns herunterstürzen.
»Du – du in deinem Kloster, du willst etwas erfahren haben?«
»Ach, halt mich nur nicht für so dumm.«
»Netty!«
»Diese alte Geschichte kennt alle Welt.«
»Von ihrem Schwager?« platzte ich heraus.
»Schwager? Schwager? Unsinn! Die hat gar keinen Schwager! Ein Verhältnis hat Tante Mali, das wissen wir alle!«
Ich starrte sie ganz entsetzt an. Diese vermeintliche Klosterfrau hatte sich in eine wahrsagende Zigeunerin verwandelt. Schreckliche Dinge offenbarte sie mir, die ich selbst wohl mit Schaudern geahnt, aber niemals gefaßt hatte.
»Siehst du,« sagte sie höhnisch, »ich kenne mich aus.«
Allerdings, das mußte ich ihr zugeben. Sie kannte sich aus. Aber einen rasenden Zorn empfand ich gegen sie, die sich als die Klügere so frech vor mir brüstete, und nicht minder gegen die niederträchtige Tante, die mich belogen hatte wie den dümmsten Buben. Wem sollte ich noch glauben, was sollte ich anfangen?
Das freche Mädchen weidete sich an meiner Zerknirschung.
»Jetzt geh',« begann sie wieder. »Geh', du großer Frauengünstling.«
»Netty, das ist nur deine Wut, deine ohnmächtige Wut, die dich so reden läßt.«
»Wut? So was kenne ich nicht. Dazu hab' ich mich schon zu lang in der Welt bewegt.«
»In der Welt? Was weißt du von der Welt?«
»Mehr wie du! Ich dächte, ich hätte dir's bewiesen.«
»Das will gar nichts sagen. Ich weiß doch mehr wie du.«
»Du weißt gar nichts,« höhnte sie. »Aber ich kenne ältere Herren, ich kenne Literatur, ich kenne Romane und überhaupt ich … ich bin …«
»Du bist, du bist, weißt du, was du bist?« schrie ich außer mir. »Ein dummer Institutsfratz!«
»Und du ein frecher Schulbengel!«
Das war unser Wiedersehen!
*
In der Kirche die Orgel ist lange verstummt. Auch das traurige Lied von der Trennung hat ausgeklungen. In alle Winde zog es hinweg, nur ganz aus der Ferne summte ein einziger, klagender Ton, während ich langsam in Schlummer verfiel und Jahre um Jahre verträumte.
Da plötzlich prallt's von den Ufern herüber, aufrüttelnd und weckend mit ehernen Klängen. Was ich wiedergeschaut von meinem Leben, liegt hinter mir in weiter Vergangenheit, ich reib' mir die müden, verschlafenen Augen und blicke hinüber zum Festland. Dort sah ich mich eben, trotz Zank und trotz Streit, im Traume herabkommen die sonnigen Höhen, Arm in Arm mit meiner Hochzeiterin zum ländlichen Mahle. Jetzt aber horche ich auf, denn stärker und stärker tönt es herbei, wie Kriegslärm, wie Waffengeklirr und Trompetengeschmetter. Aus der Ebene wälzt sich's herein, ein ungeheurer Troß von Soldaten und trampelnden Pferden. Wo er entlang zieht, wirbelt es auf von den staubigen Straßen in gelben, verdichteten Wolken, und um die Ruhe des Seegaus ist es getan.
Wie mich das wieder ins Leben zurückruft, in die frohe, schöne Soldatenzeit! Vergessen sind Hochzeiter und Hochzeiterin, vergessen die Küsse, die mir Tante Mali verführerischer als jemals im Traume gegeben; mir ist's, als trüge mich der befreiende Weckruf in kühnem Flug über Wasser und Jahre an die Spitze des endlosen Zuges! Dort reite ich jetzt vor den Fanfaren als Wegweiser der einmarschierenden Truppe. Der Kommandeur kann nicht stolzer zu Pferde sitzen. Was kümmert mich die massige Dienstplempe, der simple Knopf auf dem roten Kragen und die weißblaue Schnur um die Achselklappen? Der Erste bin ich ja doch, und so führ' ich die ganze Armee in die mordende Schlacht zum Tod oder Siege. Sicher lenk' ich die Zügel meines Rappen, und komm' ich vorbei an gaffenden Menschen, dann drück' ich ihn fester, dann muß er die Beine herauswerfen nach dem Takte des fröhlichen Marsches.
»Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! In den Kampf, in die Freiheit gezogen!«
Die Trompeten blasen's hinaus in den heißen Sommerabend, und ich sing' es nach, ganz leise für mich, damit die Soldaten, die mich begleiten, nicht den schuldigen Respekt verlieren vor dem jungen Feldherrn, der mit hochgeschwungenem Säbel die Richtung weist und die Brust herausstreckt, daß das kreidebestrichene Bandelier auf der grünen Uniform abfärbt.
So kehr' ich zurück an den See als kühner Eroberer, der erlittene Schande zu tilgen hat. Niemals hab' ich stolzeren Einzug gehalten. Hinter mir eine gewaltige Armee, bereit auf jeden Wink loszubrechen, und vor mir die ansteigenden Höhen mit der Burg und den Höfen, die ich erstürmen will. Heute noch sollen sie mich wiedersehen da oben, mein Feldlager will ich dort aufschlagen.
»Nehmt euch in acht, die Feinde rücken heran!«
Und abermals schwing' ich die blinkende Waffe und weise hinüber in neue Richtung zur Straße hin, die zu den Bergen führt.
Die Truppen haben mein Zeichen gesehen. Kommandorufe ertönen kurz nacheinander die ganze Reihe hinunter, und die Musik stimmt einen heiteren Walzer an, indem sie mir folgt.
Auch diese lockenden Klänge summe ich nach wie den feurigen Marsch für die Schlachten. Aber jetzt bin ich nicht mehr der finstere Krieger, der die Feinde vernichtet, sondern der ruhmbedeckte Held, der, den blutigen Lorbeer auf dem jugendlichen Haupte, nach Kämpfen und Siegen die wohlverdienten Ehren der Heimat genießt bei schönen Frauen und Mädchen. Weit weg von dem staubigen Rosse tragen mich die schaukelnden, prickelnden Töne in eine glänzende vornehme Welt.
Tanzende Paare schweben vorüber an mir, und von den Lichtern des Prachtsaals blitzt es auf an Hals und Schultern entzückender Damen von kostbaren Geschmeiden und Steinen, von Epauletten und Orden. Auf und nieder hebt sich die funkelnde Pracht zwischen Palmen und Spiegeln. Wie sich das alles bewegt in geschmeidigen Windungen auf dem glatten, schwankenden Boden! Wie die Füße ineinander greifen, wie sich die Arme verschlingen, wie die Gesichter glühen!
Unter dem Kronleuchter tanzt Fräulein Netty in ausgeschnittenem Kleide mit einem hochgewachsenen jungen Herrn, der das Monokel fest ins Auge geklemmt hat. Sie ist die flinkste von allen, und schöner ist sie wie je. Leicht und elastisch fliegt sie dahin, ihre Füße, die wieder beinahe so zierlich geworden sind wie zur Kinderzeit, scheinen kaum den Boden zu berühren. Manchmal ist es, als hafteten ihre glänzenden Augen auf mir, aber gleich darauf dreht sie sich wieder herum am Arm ihres bleichen Kavaliers, dessen Haar so schwarz ist, wie sein eleganter Frack. Mühelos trägt er sie durch den ganzen Saal, und schaut lachend zu ihm empor. Nicht ein einziges Mal setzt sie aus, es ist ja ihr Lieblingswalzer, der gespielt wird. Den tanzt sie durch, und ist er zu Ende, dann beginnt sie aufs neue und hört nicht auf, bis sie zusammenbricht. Denn ihr ganzes Leben ist nur noch ein Traum von einem Feste zum andern. Um sie herum taumelt ein Schwarm von Verehrern, so dicht und so blind wie die Schar der wütenden Bremsen, die meinem armen Rappen seit Sonnenaufgang um Hals und um Mähne schwirren.
Aber mir fällt es nicht ein, sie zu verscheuchen oder gar totzuschlagen, weder die Bremsen noch die Verehrer. Mein Rappe soll auch sein Teil tragen, und Netty konnte das Fliegengeschmeiß ja selber vertreiben, wenn es ihr wirklich zu viel wurde. Jung Siegfried mochte ihr helfen, ihr flottester Tänzer und, wie die Welt sagte, ihr heimlicher Verlobter. Wenn der sich's gefallen ließ – mir konnte es recht sein.
Ich pfeife mein Liedchen und pfeif auf die Welt,
Auf die Mädels, die mich nicht lieben!
Blast mir den Walzer nur weiter, Trompeter, dann leb' ich ihn noch einmal durch, den großen Abend, wo ich den Netzen der Circe entrann. Heißa! Da drehte ich mich auch so im Kreise herum wie die glänzenden Paare, und im Arme lag mir das herrliche Mädel, deren Bild ich jetzt im doppelreihigen Waffenrock trage.
Franziska, Franziska!
Was war mir noch Netty, was Bertchen, Hermine oder gar Tante Mali, diese Trugbilder vergangener Zeiten? Ich hatte gefunden, was ich gesucht hatte, beim ersten Blicke waren die Würfel gefallen, ganz wie ich's immer geträumt hatte. Was mir mißlungen war im Gewand des Bürgers, dem Soldaten sollte es glücken, denn eben hatte ich sie kennen gelernt. Ei, Fräulein Netty, wie giftig sahen Sie doch drein, als ich jede Tour mit dem holden Geschöpf tanzte und den ganzen Abend nicht von ihrer Seite wich! Jetzt auf einmal konnte sie mich finden im Ballsaal, nachdem sie mich erst nicht gesehen hatte.
»Du hast es ja bös mit der Franzi. Schau, schau!«
»Sehr einfach, ich liebe sie.«
»Ach, du guter Gott, wenn das wieder so lang dauert wie bei den andern.«
»Nein, diesmal hab' ich's gefunden.«
»Und in vier Wochen schwörst du mir ewige Treue.«
Aber ich lachte sie heimlich aus und freute mich wie ein Schneekönig, daß mir ihre wütenden Feuerblicke nichts mehr ankonnten. Lange genug hatte sie mich an der Nase herumgeführt, jetzt aber war ich gefeit und neigte mich zärtlich herab zu dem jungen, unschuldigen Wesen, dem dieses Wunder gelungen war.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie beglückt ich bin,« flüsterte ich.
Auch ihr schien etwas aufzudämmern von innerer Glückseligkeit, denn sie schmiegte sich beim Tanze zärtlich an mich. Und Netty mußte in der Ferne stehen und bersten vor Wut. Ich hatte keine Augen für sie. Wie der Kranke, der den Hauch erster Genesung spürt, atmete ich auf:
»Franziska, Franziska!«
Dort auf den sonnigen Hügeln soll ich dich Wiedersehen, an derselben Stelle, wo ich mit Netty zankend auseinanderging. Seltsame Fügung! Der wechselvolle Krieg hat mich wieder hierher verschlagen, an den großen, einsamen See, der mich jedesmal anzieht, wenn ein Lebensabschnitt vollendet ist. Aber schöner sah ich ihn niemals wie heute. Wie verklärt glänzt er herüber, und durch die goldene Luft zittert immer wieder ein warmer, voller Hauch: der teure Name der Geliebten. Ach, Franziska! Auf wenige Stunden darf ich mich deines Anblicks freuen und darf dein silbernes Lachen hören. Dann geht's wieder hinaus nach kurzer Rast ins ruhelose Soldatenleben, in den eisernen Dienst, in die Schlachten! Doch im Herbst werd' ich das Roß abzäumen, das Schwert an die Wand hängen und dir gestehen, was du schon ahnst. Mag's einen heißen, erbitterten Kampf auch kosten, unser herrliches Bündnis, einen Kampf mit einem strengen, hartherzigen Vater, der von Liebe nichts wissen will, dein Anblick läßt mich ihn führen.
Ich hole ihr Bild hervor und betrachte es, während wir langsam die Straße hinaufziehen, ich und drei Mann meiner Schwadron. Die Truppe hat sich zerstreut und überschwemmt die umliegenden Dörfer. Ungestört reit' ich dahin und schaue in das liebe Gesicht. Keine Blondine, wie ich mir immer geträumt hatte, sondern eine Brünette, nicht groß und gewaltig wie die Walküre, sondern untersetzt und rund wie Figaros Susanne. Aber das Antlitz so kindlich, so unschuldsvoll, wie ihr ganzes Wesen. Das eben war's, was mich gefangen hielt und was man bei Netty und ihrer blasierten Umgebung vergebens gesucht hätte. Ein reiner Engel war Franziska!
Tod und Teufel über die ganze Sippschaft da oben, wenn sie mir das junge Geschöpf etwa verderben wollten! Dieser Gedanke peinigte mich seit dem Tage, wo Franziska Nettys Landhaus betreten hatte, und jetzt überkam er mich wieder. Tante Mali, mein immerwährendes Schreckensgespenst, tauchte auf vor mir, und sie verzog ihr Gesicht wieder so höhnisch wie stets, wenn sie mir begegnete.
»Was treibt der glückliche Bräutigam?« fragte sie immer.
Oh, die Elende! Nicht umsonst wich ich ihr aus. Das schändliche Geheimnis dünkte mich eine frevelhafte Sünde, wie ein ekler Schmutz an meiner jungen Liebe. Hätte ich's aus meinem Gedächtnis wischen können, ich wäre der Glücklichste unter der Sonne gewesen. Hingetreten wäre ich vor Franziska als entsündigter Büßer, dem eine Zentnerlast von der Seele genommen wird, und tief in innerster Brust hätt' ich auch ihre Verzeihung erfleht.
Aber sei ruhig, mein Lieb, sei nur ruhig! Mit hocherhobener Stirn will ich dieser Gesellschaft unter die Augen treten, begrüßen will ich sie, die spöttische Tante und die hinterlistige Netty, so kalt und gemessen wie der General, der die gefangenen Feinde salutiert. Dann mag ihnen die Lust an Höhnen schon vergehen. Hab' ich die Feuerprobe glücklich bestanden, seit ich dich kenne, besteh' ich auch diesmal, du brauchst nicht zu zittern. Klar und lauter wie die Sonne, die da hinuntergeht, soll meine Liebe zu dir sein!
Ich blickte froh über die Landschaft hinweg. Unter mir lag der See in tiefen Flammengluten, auf den Bergen glänzte es auf, und die Klosterglocken läuteten wieder wie damals, als ich mit Netty zu dem Dorfe zog. Nur feierlicher, mächtiger tönten sie herauf am Vorabend des großen Rasttages und mir war's, als dringe durch die Luft tausendstimmiger Jubel herauf, weil die Waffen auf kurze Zeit ruhen sollten nach Krieg und Schlachtengetümmel.
Ehrenpforten hatten sie gebaut und Fahnenmaste errichtet, die frohen, dankbaren Menschen, denn auf der Insel flatterten lustige Wimpel aus den Gebüschen hervor, und auf der Höhe reit' ich durch mächtige Bogen aus Tannenreisern und Eichenlaub, dort in der Ferne aber grüßt mich das Dorf, von der Burg herab bis zur ärmlichsten Hütte mit wehenden Flaggen.
Einen Augenblick halte ich ein, ganz überwältigt von Staunen und Freude, dann aber bau' ich mich fester in den Sattel, rücke Helm und Bataillenband, Säbel und Kragen zurecht, und meine Haltung wächst heraus zur Reiterstatue eines sieggekrönten Feldherrn und Fürsten, dem seine Untertanen mit offenen Armen entgegeneilen. Ohne nach rechts und links zu blicken, streb' ich dem Dorfe zu, langsam und siegesbewußt.
Den feierlichen Zug mit Franziska an der Spitze, den sah ich zwar immer noch nicht, auch keine Ehrenjungfrauen, die mir in goldenem Becher den Willkommentrunk brächten, aber Landvolk erblick' ich auf einmal Männer und Frauen in altmodischer Tracht. Sie ziehen die Straße einher, und einer, der auf zehn Schritte vorangeht, ein baumlanger Kerl mit grünem, weitschößigem Rocke, der winkt mir zu mit seinem schlotartigen Hut und mit dem laubumwundenen Stabe, von dessen vergoldeter Spitze buntseidene Bänder baumeln. Eilig hüpft er heran, und die dürren Beine schlenkert er wie ein Sperber in die Luft hinaus. Als er aber ganz dicht vor mir angelangt ist, ruft er mir höhnisch hinauf:
»Wo bist den nur 'blieben, du Kerl, du fader.
Jetzt gehst glei' mit mir, dem Hochzeitlader.«
Ich pariere mein Pferd vor einer neuen Triumphpsorte und schaue erstaunt auf den Burschen. Statt der Ansprache des Bürgermeisters, statt Franziskas errötendem Antlitz dieser derb poetische Gruß, den ich gar nicht begriff. Außerdem kam mir dieses Gesicht so sonderbar, so bekannt vor. Ich mußte es schon einmal wo gesehen haben, aber in der Stadt, nicht auf dem Land, es war gar kein Bauernschädel. Der Kerl aber kümmert sich nicht um mein Staunen, schlägt mit der flachen Hand auf das Knie, wirft einen Jauchzer hinaus und beginnt aufs neue:
»Steig' runter vom Pferd, ich lade dich ein,
Auch du sollst morgen ein Gast bei uns sein,
Aber recht fidel und ganz ohne Trauer,
Bei der riesigen Hochzeit vom Dumpfinger Bauer.
Ja wundre dich nur, die Sach' is net ohni,
Der heiratet morgen die Brandstätter Toni!«
Der Dumpfinger Bauer – die Brandstätter Toni – und was der Kerl noch alles faselte, ich verstand es nicht und ärgerte mich über ihn, weil er mit roher Faust meine große Stimmung zerstört hatte. Was gingen mich denn seine dummen Bauern an? Wenn die Ehrenpforten für niemand anders errichtet waren, dann wollte ich hübsch vorbeireiten. Aber plötzlich fuhr ich zusammen. Ich hatte den Burschen noch einmal angesehen, und da erkannt' ich ihn trotz seiner Verkleidung. Daß dich der Satan – dieser bäuerliche Hochzeitlader, das war ja der verschollene Schwager aus Indien!
Ich starrte ihn an wie eine Erscheinung von oben. Aber ehe ich mich von meinem Schrecken erholen konnte, kamen schon die andern heran mit lautem Hallo. Und nun ist mir's auf einmal, als sei ich mit meinem Rappen in die tollste Faschingszeit versetzt. Diese Bauern, diese Bäuerinnen, die kenne ich ja vom Ersten bis zum Letzten. Überall, wohin ich schaue, lacht mir ein wohlbekanntes Gesicht aus der Stadt entgegen, und alle, wie sie sich da herandrängen, freuen sich diebisch über den einziehenden Krieger, weil er gar so verdutzt dreinguckt und keine Worte findet.
»Nicht einmal für Franziska hat er Augen,« tönt es.
Auch diese Stimme klingt mir bekannt, Tante Mali ist's im rotseidenen Faltenrock und weitem Prachtmieder. Kostbare Taler baumeln an den engverschlungenen Silberketten, und eine goldene Haube ruht auf den reichen, braunen Haaren. Stattlich steht sie vor mir, um die vollen Lippen spielt das bekannte, spöttische Lächeln, das ich so fürchte.
»Schau mich nur an,« sagt sie, »ich bin die Hollerbäuerin.«
So eine Dummheit, dachte ich mir. Und sie war nicht die einzige, die hier Komödie spielte. Gleich darauf stellte sich mir Bertchen vor, dann Hermine, dann Nettys Mutter und weiß Gott noch wer von bekannten Damen, bis endlich als holdes Mädchen vom Lande meine Franziska erscheint, bescheiden wie immer, im Hintergrunde. Heiß fuhr es mir in die Wangen, als ich sie erblickte, aber anzureden wagte ich sie nicht. Ich griff nur stumm nach dem Helm und salutierte die ganze Versammlung.
Mit lautem Gelächter antwortete sie:
»Er hat keine Ahnung, keine Ahnung, zu nett, zu himmlisch,« ging es durch die Reihen.
Hol der Kuckuck die kichernden Frauenzimmer! Am liebsten hätte ich sie alle über den Haufen geritten! Dieser blödsinnige Mummenschanz einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft, die am hellen Tag in Maske herumspazierte, empörte mich.
»Seid ihr denn verrückt?«
Wieder lachten sie unbändig.
»I, wir sind gar nicht verrückt!«
»Na, was ist denn dann los hier?«
Sie taten sehr pfiffig und geheimnisvoll.
»Eine Hochzeit gibt's, eine Hochzeit, gibt's morgen.«
»Eine wirkliche Hochzeit?«
Alle lachten wieder:
»Ja, ja, freilich, eine wirkliche Hochzeit!«
»Wo denn?«
»Auf der Insel drüben.«
»Wer heiratet denn?«
»Die Toni,« sagte Tante Mali und blickte mich spöttisch an.
»Welche Toni?«
»Na, die Brandstätter Toni!«
»Merkst du denn noch gar nichts?« riefen die Mädchen.
Ich merkte gar nichts oder wollte nichts merken. Heftig riß ich mein Pferd am Zügel herum, daß ihm die Zähne krachten.
Tante Mali sah mir lächelnd zu.
»Ist der begriffsstutzig!«
Jetzt aber wurde ich wütend.
»Laßt mich aus mit dieser blöden Spielerei, mir ist es ganz wurscht, wer heiratet.«
»Na, wer weiß?« rief Tante Mali.
»Ich versichere dich …«
»Nichts beschwören vorher!« mahnte ich lachend.
Ich wollte schon grob werden, aber zur rechten Zeit unterbrach mich der närrische Hochzeitlader, der mit hochgeschwungenem Stabe die lachenden Weiber auseinandertrieb:
»Platz, Platz für den Hochzeiter und für die Hochzeiterin!«
Hochzeiter und Hochzeiterin! Nach Jahren klangen sie mir wieder, die fast vergessenen Worte, aber ganz anders wie früher, nüchtern und gleichgültig. Die bissigen Bemerkungen und die höhnischen Blicke Tante Malis hatten mir ja längst verraten, wer die Hochzeiterin sein mußte, und wenn ich feierlich vor den Leuten versicherte, daß mich das gar nicht berühre, dann sagte ich wahrhaftig keine Unwahrheit. Stand doch Franziska mit holdem Erröten in meiner Nähe, und das half mir über alles hinweg, über Hohn, über Spott und dumme Verlegenheit. Aber trotzdem war mir's eben durch die Brust gezogen, wie Jugenderinnerung vergangener Tage! Sehen mußte ich ihn, den sonderbaren Burschen, den sich Netty erwählt hatte, um das seltsame Spiel auch jetzt noch zu spielen, nachdem ihr der Hochzeiter der Kindheit verächtlich valet gesagt hatte. Als aber gleich darauf Jung Siegfried hervortrat aus dem Kreise, der feingeschniegelte Graf in gewöhnlicher, bäuerlicher Tracht, die ihm um die dürren Glieder schlotterte wie einem Kleiderständer, da mußte ich hell auflachen.
Allmächtiger Himmel! Wie sah der aus! Ich konnte mich gar nicht beruhigen, und das Drolligste war: die Mädchen da unten lachten noch lauter als ich über den traurigen Ritter, als sähen sie ihn eben zum erstenmal:
»Wer ist denn das?« riefen sie. »Ist das der Herr Hochzeiter? So sieht er aus? Ach, Sie schöner Herr Hochzeiter! Sie feiner Herr Hochzeiter!«
Ausgelassen sprangen sie alle um ihn herum, und je toller sie lärmten, um so stärker schien sich Netty zu ärgern, die mit hochrotem Gesicht daneben stand und ihre zarten Finger in den silbernen Schnüren des Mieders verwickelte.
Eine glückliche Brautschaft! Das mußte ich gestehen! Wie sich Netty so verrechnen konnte, das verstand ich nicht. Der vornehme Graf sah ja ganz erbärmlich aus in Wadenstrümpfen und Lodenjoppe.
Aber was ging es mich an? Munter sprang ich vom Pferd und der verlegenen Braut reichte ich mit eleganter Bewegung die biedere Rechte:
»Ich gratuliere,« sagte ich.
Dann ging ich, ohne die Antwort abzuwarten, zu Franziska und bot ihr den Arm.
Die andern neckten den dürren Hochzeiter noch immer und schoben ihn langsam vorwärts in der Richtung zum Dorfe hin.
»Vorwärts, vorwärts, Herr Hochzeiter! Die glückliche Braut kommt schon nach. Nur nicht so viel poussieren am Vorabend. Das kommt alles morgen, Sie schöner Herr Hochzeiter, Sie!«
Und dann lachten sie alle zu Netty herüber, halb spöttisch, halb bedauernd. Die gepeinigte Braut schlich zu Tante Mali und ging gesenkten Hauptes einher. Ich hielt mich mit Franziska in gewissem Abstand, immer noch ganz betreten von dem sonderbaren Empfang.
»Was ist denn das für ein Unsinn mit dieser Hochzeit?« fragte ich. »Wie man nur auf eine so abgeschmackte Idee kommen kann.«
»Ach, es ist doch ganz hübsch,« meinte sie lachend.
»Ja, wenn es Ihnen gefällt …«
»Gewiß! Und ich hoffe auch Ihnen.«
Na, ob es mir jetzt gefiel! Ich war schon auf dem besten Wege, die Idee ganz ausgezeichnet zu finden. Nur der Herr Graf, der wollte mir immer noch nicht recht passen als strammer Hochzeiter, und ich sah eigentlich mehr auf die Mädchen, die fortwährend um ihn herumsprangen, als auf meine reizende Begleiterin, die mir jetzt langsam ihr Antlitz zuwandte.
»Wollen Sie nicht meinen Kranzlherrn abgeben?« fragte sie.
»Wieso?«
Sie lachte laut.
»Ich bin ja Brautjungfer bei der Toni.«
Die jähe Verwandlung eines Kriegshelden in einen Bauernburschen wollte mir zuerst zwar ebensowenig einleuchten, wie der Herr Hochzeitlader vor der Ehrenpforte oder gar der Bräutigam selbst, aber ich hütete mich wohl, Franziska davon zu reden.
»Also das gibt wirklich eine regelrechte Hochzeit mit allen Zutaten?«
»Zu merkwürdig! Auf so einen Einfall kann nur Netty kommen.«
»Nein, die wollte erst gar nicht recht,« sagte Franziska.
»Warum denn?«
»Sie fand den Grafen viel zu schön für einen Bauern.«
»Allerdings, dumm genug sieht er aus in dem Kostüm.«
»Nicht wahr?«
»Ich kann's den Damen nicht verdenken, wenn sie ihn gehörig verspotten mit seinen dünnen Beinen.«
Sie lachte schon wieder:
»Alle haben wir's gefürchtet, und nun, wo er sich zum erstenmal in Kostüm zeigt, ist's richtig so eingetroffen.«
»Unbegreiflich, wie sich der Siegfried zu so etwas hergeben kann.«
»Mein Gott …« sagte Franziska, »er ist eben verliebt.«
Und abermals lachten sie, diesmal sogar so lange, daß ich sie fast gebeten hätte aufzuhören, denn plötzlich kam mir dieses Lachen, das mich sonst immer berauscht hatte, recht sonderbar, ja fast hölzern vor.
Aber ich bezwang mich natürlich und kam wieder auf den Grafen zurück:
»Hat er denn selbst gewollt?«
»Freilich, er hat ja nicht geruht, bis er's durchsetzte.«
»Wie ist das nur möglich, wie ist das nur möglich …?«
»Ich weiß nicht. Aber … Sie reden ja nur von den andern.«
Hastig griff ich mir an die Stirn.
»Seien Sie mir nicht böse … ich … war nur ein bißchen perplex von diesem Empfang! Jetzt darf ich Ihnen wohl verraten, wie sehr ich mich freue, Sie wiederzusehen.«
Sie reichte mir ihre Hand hin und lachte wieder dabei.
Netty, die sich schon mehrmals nach uns umgedreht hatte, schien der Lärm ihrer Freundinnen endlich fatal zu werden. Sie kam auf uns zu.
»Was sagt ihr?«
»Wir? Gar nichts.«
Nun gesellte sie sich an meine Seite.
»Machst du mit?« begann sie wieder.
»Wo Fräulein Franziska mitwirkt, bin ich selbstredend dabei.«
Wie freute ich mich, daß ich ihr's gleich am Anfang tüchtig hinausgeben konnte!
Sie lächelte:
»Sehr liebenswürdig.«
»O bitte, so bin ich immer.«
Wir schritten ein Stückchen dahin und ich ließ sie nebenherlaufen, ohne mich um sie zu kümmern. Aber das eine merkte ich doch, trotzdem ich meine Augen auf das Dorf wie auf eine Zielscheibe gerichtet hatte, daß sie immer zu mir herüberlugte.
»Hat es dich denn gar nicht gewundert?«
»Was denn?«
»Meine Hochzeit.«
»Du kannst doch heiraten, wen du willst.«
»Nun, es ist ja nur Scherz.«
Franziskas Anwesenheit schien ihr lästig zu sein. Sie blickte erregt auf die Kleine; als die aber gar keine Miene machte zu gehen, brachte sie's endlich heraus, was sie sagen wollte.
»Weißt du, ich hab' mir eigentlich einen Vorwurf gemacht, daß ich darauf eingegangen bin, und zwar deinethalben.«
»Wie denn?«
»Du bist doch immer mein Hochzeiter gewesen und da hab' ich geglaubt, du müßtest auch dies mal …«
»Was, was?«
»Nun … eben …«
»Ich verstehe nicht.«
»Hätten wir geahnt, daß du kommst …«
Mir wurde es schwül. Ich drückte Franziskas Arm so fest an mich, als es Anstand und gute Sitte erlaubten. Dann, als ich merkte, daß mich mein Schutzengel nicht verlassen hatte, sah ich der Netty trotzig in die Augen.
»Tu dir meinethalben gar keinen Zwang an! Das wäre mir leid. Ich kann dir nur noch einmal sagen, was ich schon Tante Mali versichert habe: Mir ist es sehr wurscht, wen du heiratst, wirklich sehr wurscht.«
So barsch und roh waren diese Worte herausgekommen, daß sich Franziska ins Mittel legte.
»Die arme Netty.«
»Ach, laß du mich gehn mit deinem Mitleid.«
Jetzt aber hielt ich mich nicht länger:
»Netty! Wer Fräulein Franziska beleidigt, hat's mit mir zu tun. Merk dir's ein- für allemal. Sie kann nichts dafür, wenn dein bleicher Boleslaw wie ein Rohrspatz daherkommt.«
Das saß! Leichenblaß war sie geworden und fassungslos starrte sie mich an.
Ich weidete mich an ihrem Schrecken, wußte ich doch, daß man Netty nie tiefer beleidigen konnte, als durch Zweifel an ihrem guten Geschmack.
»Willst du vielleicht gar behaupten, daß er besonders hübsch aussieht?« fragte ich. »Du, da irrst du dich! Schau nur die Damen an, wie die sich über ihn lustig machen … den Hochzeiter, … den … den gönn' ich dir, da kannst du unbesorgt sein, denn mit dieser Jammerfigur blamierst du dich doch vor aller Welt, … jawohl … jawohl, gründlich blamierst du dich, das kann ich dir sagen.«
»Um Gottes willen,« mahnte Franziska, als sie mich in solcher Wut sah.
Ich klopfte ihr beruhigend die Hand, aber Netty richtete ihre funkelnden Augen auf das arme Mädchen, und die Antwort, die wohl eigentlich für mich bestimmt war, gab sie an Franziskas Adresse:
»Tu mir den einen Gefallen und sei du still. Dich geht das gar nichts an. Wenn mir dieser Hochzeiter recht ist, hast du dich nicht dreinzumischen.«
»Aber ich hab' ja gar nichts gesagt,« wagte Franziska zu entgegnen.
»Du hast nichts gesagt, aber ich weiß, was du denkst. Wart' nur, mit dir werd' ich noch fertig.«
Franziska zog ihren Arm aus dem meinen und fing zu schluchzen an.
»Kreuzmillionen!« schrie ich außer mir, »Netty, gibst du jetzt Frieden oder nicht?«
Sie hob trotzig den Kopf:
»Die da hat sich nicht dreinzumischen!«
»Die da, die da! Eine solche Titulatur ist unverschämt.«
»Na, die Franzi mein' ich.«
»Fräulein Franziska tut, was sie will.«
»Ei, ei! Was du jetzt für ein galanter Ritter bist!«
»Das ist meine Sache.«
»So warst du nicht immer, aber natürlich die Franzi …«
»Du – du …«
In meiner bodenlosen Wut hätte ich beinahe hier auf freiem Felde meine bevorstehende Verlobung mit Franziska proklamiert, um dieser giftigen Natter wenigstens zu beweisen, welches Anrecht ich auf das holde Wesen zu besitzen glaubte. Aber zur rechten Zeit besann ich mich noch, daß ich noch nicht einmal ihr Jawort hatte, deshalb bezähmte ich mich, wenn ich ihrer Liebe auch noch so sicher war. Aber wie ein schnaubendes Ungetüm schritt ich neben Netty einher, die hartnäckig auf ihrem Thema bestand.
»Ja, ja,« fing sie wieder an. »Du bist jetzt auffallend höflich. Gegen mich warst du es nie so.«
»Das freut mich, das freut mich, wenn du mir das hier vor Fräulein Franziska bestätigst, freut mich sehr.«
Sie sah mich erregt an. Jetzt erst schien sie zu merken, wie sehr sie sich verrannt hatte.
»Ich will damit sagen …«
»Du willst damit sagen, daß du mir immer gleichgültig gewesen bist.«
»Doch, doch! Hab ich dir's nicht gesagt vor fünf Jahren, sogar hier auf demselben Flecke? Besinn' dich gefälligst.«
»Allmächtiger Himmel! Seitdem hast du mir ja schon hundertmal wieder beteuert und geschworen, daß du nur mich …«
»Nein, nein, nein, das ist nicht wahr, das ist gelogen!« schrie ich mit Aufwand meiner Lungen.
Ich mußte sie niederbrüllen, denn war Netty wirklich so schamlos, vor Franziska auszuplaudern, was ich ihr nach unserer Versöhnung noch alles vorgefaselt hatte, oder war sie am Ende gar so gemein, ihr zu erzählen, wie ich mich immer in die Rolle des blondhaarigen Waldemar einzuleben versuchte, dann gab es eine Katastrophe, und ich konnte abermals die dornenvolle Wanderung beginnen nach einem reinen Engel, der mich aus ihren Klauen befreite.
Fürs erste sollte mein Mittel leider nicht wirken. Mit einem weiten Schritt trat sie zwischen mich und die weinende Franziska, und nun schrie sie so laut, daß es die Gesellschaft vor uns hören mußte, wenn sie nicht taub war:
»Was hab' ich? Gelogen hab' ich? Das mußt du mir noch einmal sagen, aber ins Gesicht, fest ins Gesicht.«
Ich hütete mich wohlweislich, diesen funkelnden Augen zu begegnen und drehte mich um. Am liebsten hätte ich diese rasende Megäre als Kriegsbeute meinen Soldaten geschenkt, die hinter uns mit meinem Pferde einherzogen. Sie stieß mich fest in die Seite:
»Sag's, sag's und schau mich an dabei.«
Noch einmal schwankte ich, als ich aber Franziskas Augen ängstlich auf mich gerichtet sah, entschloß ich mich endlich zum Äußersten und schrie:
»Du hast gelogen, jawohl hast du gelogen! Ich hab' dich nie geliebt, nie, nie, nie! So und jetzt red', was du willst.«
Aber sie redete nichts mehr, sondern blickte mich so entsetzt an, daß es mir selber eiskalt über den Rücken lief. Dann holte sie ein feines Spitzentuch hervor und schluchzte noch dreimal so stark wie Franziska.
Ich fluchte alle Heiligen vom Himmel herab. Mit verkniffenen Lippen ging ich neben den heulenden Mädchen, und als jetzt zu allem Überfluß gar noch Tante Mali mit erstaunten Blicken auf uns zukam, da spielte ich erregt mit dem Säbel, um ihr beim ersten, bissigen Worte die blanke Waffe über den Kopf zu hauen.
»Kinder? Was habt ihr denn?«
Von uns antwortete keines.
Sie sah auf Netty, sah auf Franziska, sah auf mich und lächelte.
»Was hat's denn gegeben?« fragte sie leise, indem sie so nahe an mich herantrat, daß mich die Falten ihres Rockes berührten.
Mir war dieses Weib widerwärtiger als je. Ich ließ sie stehen und begab mich an Franziskas Seite. Als dann die Mädchen immer noch so schweigsam waren wie zuerst, übernahm ich endlich die Rolle des Sprechers:
»Was es gab? Einen kleinen Wutanfall! Die Brandstätter Toni ist sehr erregt, weil ihr Hochzeiter so miserabel aussieht. Darum wird sie ungezogen gegen andre Leute.«
Natürlich glaubte sie weder das eine noch das andre, das sah man ihrem Gesicht an. Aber sie tat, als sei ihr das alles sehr einleuchtend.
»Hab' ich dir's nicht gesagt, Netty?« rief sie lebhaft. »Der Siegfried paßt nicht zum Bauern. Warum hast du ihm doch nachgegeben.«
Die Angeredete machte eine unwillige Bewegung.
»Laß mich aus mit der dummen Hochzeit! Ihr habt sie arrangiert, du, dein Mann, der Baron, weil ihr alle vor Langweile nicht gewußt habt, was ihr anfangen sollt in dem elenden, schmutzigen Bauernnest hier.«
»Aber wir haben's doch dir zu Liebe …«
»Mir zu Liebe! Ich danke!«
»Nun freilich.«
»Ach was, wenn ihr noch viel sagt, dann lauf' ich hinunter und spring in den See hinein.«
»Sei doch gescheit,« besänftigte Tante Mali. »Wegen solch einer Bagatelle sich so aufzuregen! Paßt dir der Graf wirklich nicht, dann nimm dir doch einfach einen andern.«
»Ich mag keinen mehr.«
»Na, na, na, so weit ist es noch nicht. Es gibt doch noch genug, die viel besser aussehen als Bauern wie der junge Graf.«
»Ach, wen denn?«
Tante Mali wendete ihre großen Augen langsam zu mir herüber und lächelte wieder.
Mir ward noch schwüler als bei Nettys Ankunft. Ängstlich zog ich Franziska aus der Nähe dieser unheimlichen Frau und fing mit ihr ein gleichgültiges Gespräch an über Wetter und Bälle. Aber es half nichts. Jedes Wort der Tante drang zu mir, und zwar immer deutlicher, immer schärfer, immer anzüglicher. Endlich hielt ich es nicht mehr aus. Mit hochrotem Gesichte wandte ich mich zu den beiden.
»Wenn ihr vielleicht meint, ich sei so dumm, den Hochzeiter zu spielen bei der verrückten Maskerade, da irrt ihr euch bedeutend.«
Mit liebenswürdigem Erstaunen drehte sich Tante Mali nach mir um:
»Was meinst du, lieber Josef?«
»Ihr habt mich schon verstanden.«
Verächtlich und kalt maß mich Netty:
»Wer hat was von dir gesagt?«
»Ich hab's wohl bemerkt.«
»Aber du irrst, mein Bester,« sagte Tante Mali so freundlich wie möglich. »Von dir war wirklich gar keine Rede.«
»Ja, leugnet es nur!«
»Beweis uns, daß wir deinen Namen in den Mund genommen haben.«
»Ich bin nicht so begriffsstutzig, wie du immer meinst, liebste Tante.«
»Aber unverschämt bist du,« rief Netty, »doch, doch, du bist unverschämt, weil du dir so was überhaupt einbildest in deinem maßlosen Dünkel. Glaubst du, ich nähme dich? Da müßte ich doch ehrlos sein.«
Ihre infame Art mit mir zu reden brachte mich immer mehr auf:
»O ja! Mit beiden Händen nähmst du mich, beste Netty. Da wär' mir nicht bange. Aber die Sache hat einen andern Haken. Ich mag nicht. Verstehst du das? Ich mag nicht!«
»Das heißt, du darfst nicht,« rief sie mit frechem Gelächter und Tante Mali stimmte mit ein.
Ich sah sie drohend an:
»Ich darf nicht? Wer hat mir was zu befehlen?«
»Na, nicht gar so renommieren,« kicherte die Tante.
»Kein Mensch hat mir was zu befehlen, sag' ich.«
»Alle Hochachtung vor deiner Selbständigkeit, aber … aber … ich weiß nicht, so was dürftest du dir vielleicht doch nicht herausnehmen.«
Und beide lachten wieder so bissig wie zuvor. Ächzend rang ich nach Luft. Wie sollte ich diesen Frauenzimmern beweisen, daß ich mein Herr und eigener Gebieter war? Wie konnte ich ihre Angriffe auf meine Ehre mit Zins und Zinseszinsen hinauszahlen? Herrgott im Himmel! Laß mir etwas einfallen, etwas Rechtes, etwas Niederschmetterndes, daß sie beide die Sprache verlieren! Ja, wäre Franziska nicht hier gewesen, dann … dann hätte ich vielleicht ein ganz verzweifeltes Mittel ergriffen, das jeden Widerspruch für immer vernichten mußte, aber dieser gefährliche Ausweg, der mir da plötzlich aufdämmerte, hätte auch über Franziska bittres Leid gebracht. So was konnte ich ihr nicht antun! Darum würgte ich's noch einmal hinunter, was ich sagen wollte, und blickte unschlüssig bald auf die Geliebte, bald auf die andern, die jede meiner Bewegungen mit aufmerksamen Augen verfolgten.
Es war eine peinliche Situation, diese letzte Sekunde vor dem losbrechenden Gewitter – ein einziger Ruck noch und es ging hernieder mit verheerendem Hagel und zündenden Blitzen.
Netty war's, die es entfesselte:
»Schau nur,« sagte sie zu Tante Mali, »schau nur, er fürchtet sich.«
Jetzt platzte es los:
»Wer? Wer fürchtet sich?« schrie ich wie ein Rasender.
»Du fürchtest dich,« sagte sie mit künstlich erzwungener Ruhe und richtete sich dabei stolz vor mir auf.
»Du bist so frech, mir das zu sagen, mir, einem Soldaten, einem Kavalleristen, einem erwachsenen Mann?«
»Jawohl, das sag' ich.«
»Netty, wenn ich dein Geschlecht nicht respektierte …«
»Du kannst ja zuschlagen, wenn du willst, aber deswegen behaupt' ich doch, du fürchtest dich.«
»Vor wem?«
»Nun, das ist doch nicht so schwer zu raten,« mischte sich Tante Mali hinein und blickte lächelnd zu Franziska hinüber.
Aber Netty winkte ihr ab:
»Beileibe nein! Nicht nur vor der! Vor mir fürchtet er sich.«
»Vor dir, Netty? Vor dir?«
»Weil du ein schlechtes Gewissen hast.«
»Das hab' ich nicht.«
»Oho, du kannst mir nicht einmal fest in die Augen schauen, du traust dir kaum neben mir herzugehen, du läufst davon, wenn du mich nur siehst seit langer Zeit. Und darum hast du auch Angst, den Hochzeiter zu spielen, weil du ganz gut weißt, daß ich dir und deiner Franzi gar sehr gefährlich werden könnte!«
Pest und Verdammnis! Das war mir zu viel! Ich kannte nichts mehr, keine Besonnenheit, keine Überlegung, ich vergaß die arme Franziska, meine Vorsätze, meine Taktik als Soldat, als Weltmann – mit einem lauten Schrei sprang ich auf Netty los, packte sie wütend beim Arm und riß sie herum, daß ich ihr frei ins erregte Gesicht schauen konnte. Dann aber, als ich ihr Aug in Aug trotzig gegenüberstand, brüllte ich mit einer Stimme, die die Berge zurückgaben:
»Ich will dir zeigen, ob ich mich fürchte vor dir. Ich will dir's zeigen, dir und deinen häßlichen Augen zum Trotz. Mach dich gefaßt, Netty, und krebs' mir nicht … krebs' mir nicht … sonst nenn' ich dich eine Schwindlerin, denn jetzt … jetzt in drei Teufelsnamen, jetzt bin ich dein Hochzeiter!«
Was in der nächsten Sekunde mit mir geschah, weiß ich selber kaum. Ich hörte nur noch Tante Malis gellendes Beifallsgeschrei, ich sah Franziskas entsetztes Gesicht und Nettys stolztriumphierende Augen; plötzlich aber sprang es ausgelassen um mich herum, was da von allen Seiten herbeistürmte, Mädchen und Burschen, und alle jauchzten und klatschten in die Hände, als brennten Johannisfeuer auf den Bergen. Helm, Säbel und Kartusche rissen sie mir herunter, und ehe ich mich besinnen konnte, warfen sie mir eine Tannengirlande um die Schultern und stülpten einen grünen Filzhut mit kecker Feder und roten Mohnblumen auf mein unbedecktes Haupt. Und so, als frischgebackener Hochzeiter, schwebte ich auf einmal hoch über der bunten, wimmelnden Menge, die wie auf Kommando in einen jubelnden Schrei ausbrach:
»Der Seppl! hurra, der Seppl, der Hochzeiter, der Hochzeiter!«
Unter donnerndem Beifallsgeschrei geht es vorwärts. Die Mädchen schwenken die Tücher, die Burschen werfen die Hüte in die Luft, und wer uns entgegenkommt, streckt mir die Hand hin oder schickt seinen Gruß herauf zu mir, dem dies alles vorkommt wie ein ungeheurer Rausch von Wein und Begeisterung. Jeden Augenblick meine ich, erwachen zu müssen aus dem Taumel, aber das geht so fort mit immer lauterem Hallo ins Dorf hinein, wo jung und alt zusammenläuft, das geht so fort bis zum Hause von Tante Mali, wo man mich einquartiert, und wo flinke Burschen mich im Handumdrehen zum Hochzeiter umkleiden, und das geht so fort den ganzen Abend, wo man der Toni den Seppl wiederbringt, und die Nacht geht es fort mit Tanz und Gesang bis zum grauenden Morgen, und da beginnt es wieder aufs neue mit krachenden Böllerschüssen.
Ein sinnloser Taumel hatte sie alle gepackt, diese maskierten Bauern, und ich, der Hochzeiter, dem sie alle zujubelten, wo sie ihn sahen, ließ mich treiben von ihnen wie in reißendem Wasser von einer Welle zur andern. Was ich angerichtet hatte mit dem zornigen, kampfbereiten Worte, merkte ich kaum, so jählings stürmte es auf mich herein, Schlag auf Schlag, daß ich kaum zum Bewußtsein kam. Hatte ich im Augenblicke meiner Erhebung einen stolzen Triumph empfunden, als ich den mageren Grafen, den ausgestochenen Bräutigam, mit wütendem Gesichte zu meinen Füßen bemerkte, hatte ich heimlich frohlockt, als ich nun doch als Held und Sieger in das Dorf einzog, gefeiert wie niemals zuvor, so war ich wieder aufs tiefste erniedrigt, als ich am späten Abend meiner Franziska hoch und heilig versichern wollte, daß das alles ja nur geschehen sei, um ihr zu zeigen, daß ich der Netty mit ruhigem Gewissen unter die Augen treten konnte und diese hinterlistige Kokette nicht zu fürchten brauchte. Eine Maskerade – nichts weiter, die übermorgen wieder vergessen wäre und unsern innigen Beziehungen keinerlei Gefahr, nein, sogar neue Festigung bringen mußte.
Umsonst! Das tiefgekränkte Mädchen hatte mich kaum angesehen, und auf meine verzweifelte Frage, ob sie denn nicht wenigstens meinen Mut und meine Selbständigkeit bewundere, nur verächtlich die Lippen verzogen. Das versetzte mir einen scharfen Stich in mein liebendes Herz, aber zum Glück ließen mir die besessenen Menschen keine Zeit, die blutende Wunde zu spüren. Sie holten mich von Franziska fort, denn am Polterabend da gehörte ich zu der Hochzeiterin, wie sie meinten, und erst dann waren sie wieder zufrieden, wenn das junge Paar Arm in Arm durch den Saal schwebte. Was ich auch anfing, man ließ mich nicht mehr von Nettys Seite hinweg, alle Gäste wollten das Brautpaar bewundern; und forderte mich Tante Mali, die jetzt wieder gar freundlich blickte, oder eine hübsche Kranzljungfer zum Tanz auf, dann ertönten sofort spöttische Rufe, bis ich wieder neben der Hochzeiterin stand, wo ich Glück- und Segenswünsche von Leuten empfing, die ich niemals gesehen hatte. Die ganze Welt schien mir betrunken zu sein.
Oftmals, wenn die Trompeten am lautesten bliesen und der Staub über die Lampen und Blumengewinde emporschlug, blickte ich wie geistesabwesend über den ganzen Saal und schüttelte den Kopf. War es denn Scherz oder Ernst, was sie da aufführten? Tanzte ich denn wirklich am Vorabend meines Hochzeitsfestes? Oder war ich plötzlich verrückt geworden? Ich, der Verehrer Franziskas, sollte dieses Mädchen heiraten, das kalt und ruhig neben mir stand, als ginge ich sie nichts an? Diese Toni, die ich bis in den Tod haßte, sollte morgen mit mir vor den Traualtar treten? Nein, nein, nein, es war ja nur ein Spiel, glücklicherweise nur ein Spiel! Aus Trotz hatte ich diese alberne Rolle übernommen, übermorgen war alles vorbei. Gott sei Dank! Bis dorthin aber heißt's aushalten und sich mit Anstand ins Unvermeidliche finden.
Ich folgte Nettys Beispiel und nahm mit verbindlichem Lächeln jedes Kompliment, jede Gratulation und jeden Witz entgegen, unermüdlich wie ein Fürst, der der Repräsentationspflicht genügt, aber kaum standen wir wieder allein nebeneinander, da sahen wir stumm in das bunte Getriebe hinein, als gingen wir uns gar nichts an. Nur manchmal, wenn ich mich unvermutet nach der Seite wandte, traf mich ein seltsamer Blick aus Nettys schwarzen Augen.
Aber ich tat so, als hätte ich's nicht gesehen und setzte sofort wieder eine gleichgültige Miene auf.
»Treibt's nur nicht zu auffallend,« warnte mich Tante Mali, als ich wieder mit ihr tanzte.
»Was geht es mich an, wenn es auffällt?«
»Nun, wer wird so schroff sein?«
»Es ist ja nur ein dummer Scherz.«
»Na, wer weiß, ob es nicht ernst wird?«
»Lächerlich.«
»Nimm dich in acht, nimm dich in acht, stolzer Hochzeiter.«
»Vor wem denn?«
»Netty hat schöne Augen, da hast du mal tief hineingeguckt.«
»Das ist lange vorbei.«
»Wer weiß?«
»Niemals, ich liebe Franziska und …«
»Ach, du großes Kind.«
»Sei so gut.«
»Besinnst du dich noch? Ich hab's euch Zweien immer gesagt, es wird noch einmal Ernst mit euch. Draußen im Garten hab' ich's euch gesagt.«
Im alten Garten! Mir ward es plötzlich wieder zumute wie an dem dämmerigen Frühlingsabend, als sie den dummen Jungen an sich preßte und herzhaft küßte! Diesmal hielt ich sie umschlungen, die schöne Frau, aber auch heute konnte ich nicht von ihr wegkommen, wie damals, wo sie mich solange ansah mit den seltsamen, durchdringenden Augen und mir geheimnisvoll zuflüsterte:
»Du sagst es niemand, niemand?«
Aufgeregt stürzte ich ein Glas Wein hinunter und dann noch eins. Ein drittes ließ ich mir eingießen, das hielt ich von weitem Tante Mali hin, die mir eifrig zunickte.
»Prosit, schöne Hollerbäuerin!« rief ich lebhaft und blieb stehen mit dem Glas in der Hand.
Sie lachte mir zu:
»Was denkst du dir jetzt?«
»Ich … ich wundere mich, was du für schöne Taler an deinem Mieder hast.«
»Nichts andres hast du gedacht?«
»Nein.«
»Du Schlingel, du.«
Ich winkte ihr noch einmal zu und trank aus. Dann schritt ich merkwürdig bewegt zweimal durch den Saal, kniff eine Brautjungfer in die roten Backen, zwickte im Vorbeigehen den Siegfried in die dürren Waden, und schließlich sprang ich zu Netty zurück, packte sie bei der Hüfte und schwang sie herum, daß mir fast der Atem verging, und mir selbst die Decke mit dem Boden vertauscht schien.
»Nur nicht so rasend,« rief Netty.
»Was liegt denn daran? Man kann sich ja auch einmal zu Tode tanzen.«
»Ich danke dafür.«
»Jetzt kommst du nicht aus, jetzt bleibst du da.«
Und wieder drehte ich sie wütend herum. Freilich streifte ich dabei Franziskas finstre Augen und begegnete auch den stechenden Blicken ihrer übelgelaunten Frau Mama, die mich durch die Brille fast zu durchbohren schienen. Aber nun war es einmal begonnen, das närrische Spiel, nun mochte es meinetwegen auch bis zum Ende getrieben werden, ich konnte Franziska nicht helfen. Warum mußte sie denn auch gar so eifersüchtig sein?
Die besessene Menschheit um mich ließ mir nicht Zeit, darüber nachzudenken. Sie zerrte uns mitten im Tanze durch den ganzen Saal mit lautem Gelächter, sie versteckte die Hochzeiterin und verband mir die Augen, sie ließ uns tanzen mit Brautvater und Brautmutter, sie brachte mich mit brennenden Kienspänen am frühen Morgen nach Hause und holte mich bald darauf wieder zur Toni zurück, sie legte uns Baumstämme und Steine in den Weg und endlich geleitete sie uns noch kurz vor der Abfahrt zur Insel zum hochgelegenen Schlosse hinauf, zur alten Baronin.
Und dort war es, wo mir zum erstenmal klar wurde, was diese Feier bedeutete. Mit Schreck mußte ich's gewahren und der armen Franziska gedenken.
Die Schloßherrin hatte nach uns verlangt, und wie wir nun beide so vor ihr standen, die Hochzeiterin im herrlichen Blütenkranz und kostbarem Brautstaat, ich selber im langen, braunen Rocke, den Rosmarinzweig und einen Blumenstrauß in Händen, da überkam es mich, trotz dem, was mich bis jetzt von der Hochzeiterin trennte, mit einemmal ganz wunderbar. Ich hatte mir vorgenommen, nur die Rolle zu spielen und wieder von dannen zu gehen, aber jetzt war mir plötzlich zu Mute, so feierlich wie vor vielen Jahren nach der Prozession. Freilich, wir waren nicht mehr dieselben, ich stand einer Fremden gegenüber, nicht mehr dem reizenden Kinde, das den Herzallerliebsten stürmisch liebkoste. Aber wegleugnen ließ er sich doch nicht, der unvergeßliche Tag, und vielleicht besann sich auch Netty darauf, denn ihre zarten Finger, die sie so leicht in meine gelegt hatte, daß ich nur die schweren Goldreifen und Brillanten fühlte, fingen zu zittern an.
Auch andre Erinnerungen wurden in mir wach. Die vornehme alte Dame saß vor uns in reichgeschnitztem Stuhl, und durch die offene Balkontür des hohen Gemachs flutete die Sonne herein, die ihre Strahlen weit umherstreute über Berge und See. Eine trotzige Freude erfaßte den Hochzeiter. Der Waldemar hatte gesiegt, Magda stand als Braut neben ihm, und Boleslaw existierte nicht mehr.
Wie eine Trauung vor Gott und den Menschen kam es mir vor. Alle Zuschauer hielten den Atem an, die Baronin aber, die der tiefsten Gefühle fähig schien, hatte Tränen in den Augen und küßte Toni wie eine scheidende Tochter. Dann reichte sie auch mir die Hand, die ich in tiefster Ehrfurcht an die Lippen führte.
Alles wie bei der wirklichen Vermählung, nur noch größer, noch erhabener, noch weihevoller, dieser ganz ungewöhnlichen Begebenheit entsprechend.
Gesenkten Hauptes schritten wir beide aus dem Burghof heraus, und ich atmete auf, als uns dort die Menge noch lauter zujubelte als zuvor. Mit einem schallenden Juchzer antwortete ich, um mir die Brust zu erleichtern, dann ging es hinunter mit reichgeschmückten Pferden und Leiterwagen durch die weiten Felder zum Ufer des Sees, den brüllenden Hochzeitlader und eine schmetternde Musikbande an der Spitze, und von dort ging es über den glitzernden Wasserspiegel dahin zur gastfreien Insel, wo man Hochzeiter und Hochzeiterin mit schäumendem Wein an der Spitze der reichgedeckten Tafel begrüßte.
Da saßen wir nun nebeneinander unter den alten Linden und Buchen, und wußten nicht, was wir reden sollten. Um uns die lärmenden, singenden Menschen, die sich erschöpften in Witzen und Scherzen, und ringsherum der blaue, leuchtende See, der mit den grünen Gebüschen der Insel die ganze bunte Gesellschaft umrahmte. Es war schon ein tolles Leben, das sich entfaltete vor dem schweigsamen Hochzeiter und der schweigsamen Hochzeiterin. Erst hatte ich selber versucht mitzuschreien, aber bald hatte ich's aufgegeben. Mir wollten die Worte nicht fröhlich heraus. Immer wieder sah ich die Szene auf dem Schloß und dachte an Magda und Waldemar. Auch Toni war gänzlich verstummt. Weit in den Stuhl lehnte sie sich zurück und blickte starr in die Gesellschaft hinein, die unermüdlich schien in Lärmen und Feiern. Bald wurde ein Toast auf uns ausgebracht, dann schrie der Hochzeitlader dazwischen, dann führten die Brautjungfern einen Reigen vor uns auf, und schließlich kam eine Schar reizender, pausbäckiger Kinder zur Hochzeiterin, um ihr Blumen zu bringen.
Die Toni neigte sich freundlich herab, ich aber blickte scheu auf sie hinüber, weil sie das kleinste der Kinder auf den Schoß nahm und mit Küssen bedeckte. Ganz reizend sah sie aus dabei, wieder mußte ich, ob ich wollte oder nicht, an den alten Garten denken, wo die junge Mutter die Puppe so sorgsam gepflegt hatte. Da konnte ich mich nicht mehr halten. Ich sah fester hin und legte meinen Arm um die Lehne ihres Stuhles.
»Netty,« sagte ich weich.
Sie blickte nicht auf, sondern beschäftigte sich eifrig mit dem Kind, aber ich hatte gemerkt, wie sie leise zusammengezuckt war.
»Netty,« begann ich noch einmal. »Schau mich an.«
Immer noch zögerte sie.
»Bitte, bitte.«
Da wandte sie mir ihr Antlitz zu wie in den Tagen der Kindheit. Ihr schönes Auge sprühte von Erinnerung und Leben.
Glühend fuhr es mir durch den Kopf:
»Weißt du's noch,« fuhr ich lebhaft fort, »weißt du's noch, draußen … draußen im Garten …«
Sie lächelte.
»Mit unserm Kinde?«
»Ja, ja, du hast also auch daran gedacht?«
»Schon den ganzen Tag!«
»Das ist schön … das ist lieb von dir … und … und denk dir nur, Netty, unser Kind, die Puppe, die hab' ich noch!«
»Wo? Wo?«
»Zu Hause, fest verwahrt in meinem Schranke.«
»Ach, die muß ich wiedersehen.«
»Willst du wirklich?«
»Ob ich will!«
Ich griff nach ihrer Hand. Ein neuer Morgen von Glück und Verheißung schien mir aufzudämmern, aber da, da kam es auch schon wieder dazwischen, was uns trennen mußte für immer.
»Pardon,« tönte es neben mir. »Pardon, wenn ich störe.«
Ein fetter, dicker Kerl, der kaum mehr Haare auf dem Kopfe hatte, setzte sich plump neben Netty, und sie wies ihn nicht zurück in diesem Augenblicke, wo wir den ersten warmen Ton wieder gesprochen hatten seit vielen, vielen Jahren. Nein, sie lächelt ihm zu, dem feisten Bauern, mit der freundlichsten Miene, sie nennt ihn »lieber Kommerzienrat« und redet mit ihm eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde das dümmste, erbärmlichste Zeug.
Mir wurde es immer heißer, immer enger auf unserem Platze. Wie ein Gefangener kam ich mir vor, den sie hierher gebracht hatten auf das verrufene Eiland, um ihn nie wieder fortzulassen. Ich rückte den Stuhl nach vorn und nach hinten, plötzlich aber hielt ich's nicht mehr aus in der Nähe der beiden.
Ich sprang auf, ohne Gruß, ohne Wort, und suchte Franziska. Auf dem Tanzplatze fand ich sie, ganz allein und verlassen, weit abseits von den andern, die sich fröhlich herumtummelten.
»Fräulein Franziska,« begann ich. »Fräulein Franziska, ich habe Sie beleidigt.«
Sie sah mich an.
»Sie – mich?«
»Leugnen Sie's nur nicht, ich sehe es ja ein, jetzt, wo es zu spät ist, mit Schrecken seh' ich's ein.«
Sie tat sehr gleichgültig.
»Sie irren sich.«
»Fräulein Franziska, sagen Sie nichts, es müßte ja ein Wunder sein, wenn's nicht so wäre … aber … aber dieses ganze Fest … von gestern an … bis zu der Szene mit der alten Baronin, mir ist es so leid, daß Sie das sehen mußten. Aber, ich kann ja doch nichts dafür.«
»Wirklich?« fragte sie spöttisch.
»Ich schwöre es Ihnen!«
»Ach, Ihre Schwüre!«
»Bitte, glauben Sie mir und beruhigen Sie sich.«
»Wer sagt Ihnen überhaupt, daß ich beunruhigt bin?«
»Mein Gott, das liegt doch sehr nahe.«
»Durchaus nicht. Ich finde es anmaßend von Ihnen, so etwas überhaupt zu glauben.«
Ich bezwang mich.
»Seien Sie gut, Fräulein Franziska,« sagte ich, »morgen ist ja alles wieder vorbei.«
»Es ist heute schon alles vorbei,« sagte sie schnippisch. »Echauffieren Sie sich nicht.«
»Fräulein Franziska, Sie müssen's nicht zu weit treiben … sonst …«
»Wollen Sie mir drohen?«
»Ich drohe Ihnen nicht, aber hetzen Sie mich nicht zum Äußersten, die Menschheit hat mich schon weit genug gebracht – ich kenn' mich nicht mehr aus, und wenn es so fortgeht, dann schieß' ich mir hier auf der Insel noch eine Kugel vor den Kopf.«
»Tun Sie's doch, wenn's Ihnen Spaß macht.«
»Ja – Sie brauchen mir gar nicht viel zu sagen.«
»Also – los.«
Ich sah ihr wütend ins Gesicht.
»Sie sind zu jung, um zu verstehen, welche Kämpfe ich durchzumachen habe.«
»Ich kann mir's beiläufig denken, trotz meiner Jugend.«
»Das können Sie nicht!« schrie ich heftig.
»Sollten Ihre Gefühle gar so schwer zu ergründen sein?«
Und sie lachte wieder so dumm, so albern, wie sie es immer tat, in einem Atem, ohne auszusetzen.
»Lachen Sie nicht!« schrie ich wütend. »Sie wissen nicht, was … was es heißt, wenn man jemanden von … von Kindheit an geliebt hat.«
»Gestern sprachen Sie aber ganz anders.«
Ich nickte verzweifelt.
»Da hab' ich auch gelogen.«
»Ach, das ist ja sehr schön.«
»Jawohl,« schrie ich immer erregter, »ich hab' gelogen, denn der Netty wollt' ich's nicht zugeben … Ihretwegen, Franziska, wollt' ich's nicht zugeben, aber jetzt seh' ich, daß Sie das Opfer nicht einmal wert waren.«
»Warum stehen Sie denn überhaupt noch hier? Gehen Sie fort, gehen Sie zu Netty, wenn Sie wirklich so verliebt sind.«
»Verdrehen Sie nicht meine Worte! Zwischen Netty und mir ist es aus, aus für immer, ist es aus trotz Hochzeiter und Trauung. Das hab' ich eben wieder erfahren, aber doch hat es einmal eine Zeit gegeben, eine schöne, herrliche Zeit, und da hab' ich sie geliebt, wie ich niemals wieder lieben werde auf der Welt.«
Ich hatte gesprochen mit tränenerstickter Stimme und träumerisch in die Lüfte geblickt. Jede Antwort wäre mir schrecklich gewesen, und wenn sie gar wieder gelacht hätte, dann wäre ich in Raserei geraten. Darum ließ ich sie stehen und rannte auf und davon. Zum Ufer stürzte ich hinab, wo das Schilf am dichtesten war. Dort warf ich mich unter eine Weide und stierte in die untergehende Sonne. Langsam ging sie hinab am wolkenlosen Firmament, und ich wünschte mir, sie möge nie wieder emporsteigen über diese trugvolle Erde. O Netty, Netty! Warum hatte das alles so kommen müssen? In wilder Verzweiflung ballte ich die Faust gegen das nahe Kloster. Eine Welt von Niedertracht bargen diese schmutzigen Mauern. Da drinnen hatte man sie erzogen, da hatte sie gelernt die Männer an der Nase herum zu führen, von einer Hand zur andern zu gehen und die heiligen Erinnerungen der Jugend mit Füßen zu treten. Dreifachen Fluch über diese giftige Höhle! Und abermals ballte ich die Fäuste und vergrub mein Gesicht in die Erde.
Die Tanzmusik drang herunter zu mir, und dazwischen tönte der Lärm meiner sogenannten Vermählungsfeier. Ha, ha, ha! Der Herr Hochzeiter! Vielleicht ließen sie ihn leben bei Bier und Champagner, und nun lag er hier am Ufer, verlacht und verlassen von der Hochzeiterin, die sich beim Tanze die Cour schneiden ließ von Grafen, Baronen und abgelebten Gaunern, für die ich als dummer Hochzeiter zur rechten Gelegenheit die passende Zielscheibe abgeben durfte. O, ich dreifacher Narr, ich Esel, ich Dummkopf! Warum ließ ich mir alles gefallen, warum heulte ich hier unten wie ein hungriger Schloßhund, während sich oben die Bande auf meine Kosten den Bauch vollachte? Warum? Ich war ja der Hochzeiter und sie meine Frau! Ein paar Stunden noch dauerte die Herrlichkeit, das konnte ich doch ausnützen und mit Bauernhieben hineinfahren in das elende Geschmeiß, daß es zerplatzte wie die Fliegen an der Wand. Mochten sie dann auch brüllen, soviel sie wollten, warum hatten sie mich zum Hochzeiter gemacht? Netty! Netty! Gnade dir Gott, wenn ich wieder so einen geschniegelten Kerl oben im Wirtshaus an deiner Seite finde! Jetzt bin ich einmal der biedere Landmann, der von seinem Hausrecht Gebrauch macht und die frechen Buben samt der liederlichen Ehehälfte zerwalkt, daß man am silbernen Hochzeitstage die blauen Beulen noch sehen soll.
Böse Ahnungen stiegen auf in mir, während ich so dahinrannte. Meine Phantasie spiegelte mir in dem seltsamen Dämmerlicht der Insel immer zärtlichere Szenen zwischen Netty und ihren Verehrern vor, und ich blies den Atem heftig von mir, während ich beide Fäuste erprobte an den nächsten Ästen und Büschen. Aber plötzlich hielt ich ein und blieb stehen, als hätte ich mitten im tollsten Lauf einen Schlag vor die Brust bekommen.
Vor mir stand, wie aus der Erde gewachsen, die Hochzeiterin mit tränenüberströmtem Gesicht und fuhr zusammen, als wäre sie einem Gespenst begegnet.
»Um Gottes willen, du bist's?«
»Ja,« schrie ich außer mir, »ich bin's. Du hast wohl einen andern erwartet hier unten am Wasser?«
Sie zögerte mit der Antwort.
»Red, red!« schrie ich noch lauter.
»Ich hab' gedacht, der Siegfried käme daher.«
Diese zynische Offenheit brachte mich aus Rand und Band.
»Ich hab's gewußt,« tobte ich, »du gibst diesem Burschen ein Stelldichein.«
»Nicht doch,« wehrte sie ab. »Er verfolgt mich, seit du fort bist von mir.«
Ich lachte bissig.
»Er verfolgt dich, und du willst mir weismachen, daß dir's unangenehm wäre. Geh' mir doch mit diesen Flausen.«
»Bei Gott …«
»Hör' auf – du scharmierst mit dem, dann wieder mit jenem, und ich darf herumlaufen um diese gottverdammte Insel und soll mich geduldig in die Büsche verkriechen?«
»Nein,« schrie sie heftig, »wenn du wüßtest …«
Wütend packte ich sie bei den Schultern und schüttelte sie:
»Ich weiß alles, alles! Deinen Jugendfreund hast du hintergangen, sogar heute an deinem Hochzeitstage …«
»Hör' mich doch an!« rief sie verzweifelt.
»Ich brauche nichts zu hören, ich kenne dich und deine Schliche. Aber wart, Netty, wart, wart! Jetzt geh' ich dir nicht mehr weg, und wenn der Siegfried daherkommt, dann hau ich ihn nieder wie einen Hund.«
»Ja, ja, schlag' ihn nieder,« schrie sie frohlockend. »Ich bitte dich.«
»Netty … Netty, willst du mich foppen?«
»Nein, nein.«
»Ich sag' dir, nimm's nicht zu leicht, ich bin im stande und mach Ernst, glaub's mir!«
»Tu's doch! Alle schlag' ich tot, wie sie um mich herum sind, die greulichen Menschen. Ich mag sie nicht mehr sehen, drum bin ich fortgelaufen, denn ich komm' ja um bei ihnen. Ich bin ja totunglücklich schon Jahre, viele Jahre.«
Aufgeregt faßte ich nach ihrer Hand.
»Ist's wahr?«
Sie hob flehend die Hände:
»Glaub mir's, alter Hochzeiter, glaub mir's.«
»Netty … ich kann's … ich kann's nicht glauben.«
»Du mußt,« rief sie jubelnd und sprang mir an den Hals.
»Netty!«
Ich wollte noch abwehren, ich konnte mir's noch nicht zusammenreimen, ich dachte an Lug und Trug, an höllische Finten einer geriebenen Kokette, aber alle meine Zweifel wurden im nächsten Augenblick erstickt durch die glühenden Lippen meiner Jugendgefährtin, durch ihre heißen Umarmungen, und da vergaß ich denn alles und küßte sie, küßte sie wieder, immer stürmischer, immer wilder und hielt sie umschlungen, als müßte ich all das Leid, das wir uns zugefügt hatten, tief in unsern Herzen zerpressen.
Dann, als wir wieder zu uns kamen, nickte ich ihr lachend zu:
»Jetzt laß den Siegfried kommen! Jetzt gehörst du mir allein.«
»Dir, dir allein.«
»Netty, Toni! Ich fass' es ja noch nicht.«
Sie küßte mich zärtlich:
»Ich hab' ja nie einen andern gern gehabt.«
»Den Grafen?«
»Keine Spur.«
»Der ist also nicht dein Verlobter?«
»Was denkst du denn?«
»Auch den Kommerzienrat hast du nie geliebt?«
»Nur dich, nur dich.«
Nun war die Reihe des Beteuerns an mir.
»Ja, glaubst denn du, Toni, ich hätte mich was gekümmert um die andern? Um Jakobine, Bertchen, Franzi oder wie sie alle heißen.«
»Aber toll hast du's schon getrieben.«
»Weil du so schlimm warst.«
»Ich war ja verrückt.«
»Nein, lieb warst du.«
»Ach, laß dir wieder einen Kuß geben.«
»Da … da … da … du kleine Hochzeiterin.«
»Du fahnenflüchtiger Deserteur, du!«
»Ha, ha, ha! Jetzt bin ich keiner mehr, jetzt bleib' ich bei dir.«
»Freilich, ich bin ja deine Frau.«
»Sie haben uns ja selbst getraut.«
»Zum zweitenmal sogar,« rief ich jubelnd.
»Nun gehören wir wirklich zusammen.«
»Was denn sonst?« lachte sie. »Drum laß uns hinaufspringen, schnell, schnell. Sie sollen uns sehen im vollen Glanz, Arm in Arm.«
»Freilich … freilich … ich kann's nur noch gar nicht begreifen.«
»Du wirst schon, nun komm! Die müssen sich schön giften!«
»Versteht sich. Am liebsten möchte ich mein Glück gleich in alle Welt hinausschreien.«
»Du lieber Kerl! Aber nun komm, nun los, los!«
»Halt! Eine Bedingung!«
»Was?«
»Alle zehn Minuten gehen wir da herunter zum Ufer.«
Sie griff mir hastig in die Haare und strich sie aus der Stirn:
»Braucht's nicht, ich küss' dich gleich vor aller Welt.«
»Um so besser! Was sollen wir uns genieren?«
»Vorwärts, vorwärts!« rief sie.
»Galopp! Die sollen 'mal was kennen lernen von einem feinen, richtigen Ehepaar.«
Und eng verschlungen eilten wir mit weiten Sprüngen hinauf zum Tanzplatz unter die bunten Laternen und Linden.
Dort empfing uns dröhnender Jubel:
»Hurra, der Hochzeiter kommt mit der Hochzeiterin!«
Und gleich darauf flogen wir beide von Arm zu Arm.
Der Hochzeitlader aber schwenkte wieder den Stab und schrie wie besessen:
»Jetzt hebt's nur glei' Köpf' und Füß' in die Höh',
Das Brautpaar, das glückliche Brautpaar, juche!«
»Juche!« schrieen die andern und hüpften um uns herum, während sie laut in die Hände schlugen.
Ich nahm diese Huldigungen entgegen wie der Weltumsegler, der nach zahllosen Irrfahrten in die nie vergessene, teure Heimat zurückkehrt. Mit brennenden Augen sah ich hinweg über alle, wie sie uns zuwinkten, über die flatternden Bänder und Tücher, und als nun gar die Musik einen Tusch schmetterte und das letzte volle Rot der entschwundenen Sonne durch die dunklen Blätter der Linden auf dem glücklichen Antlitz meiner Hochzeiterin wiederstrahlte, da zuckte es auf in der Brust von seliger Rührung über die wiedergefundene Geliebte und von froher Erwartung auf die nahende herrliche Nacht.
Ich juchzte hinaus in die brüllende Menge und hob die Toni hoch in die Luft.
»Jawohl,« schrie ich, »jetzt sind wir wirklich Hochzeiter und Hochzeiterin und jetzt bleiben wir's. Spielt's was Lustiges auf, der Brauttanz kommt dran.«
Damit warf ich der Musik einen frisch gepumpten Taler hinüber und hüpfte mit Netty über den sammetweichen Rasen dahin.
»Bravo, bravo!« riefen die andern und gebärdeten sich, als wäre eine Rakete in sie gefahren.
»Bravo!« rief Tante Mali, an der wir eben vorbeischwebten.
Ich überließ meine Toni einen Augenblick den singenden Brautjungfern, die uns immer umtänzelt hatten, und drehte mich um.
»Recht hast b'halten, schöne Hollerbäuerin,« schrie ich und schlug die Hände zusammen. »Recht hast b'halten. Jetzt wird's Ernst.«
»Wird's wirklich Ernst?«
»Und ob, und ob!«
»Siehst du, ich hab's gewußt.«
»Freilich, drum möcht ich dir auch gleich um den Hals fallen.«
»Oho,« rief sie lachend.
»Ach, sei nicht bös, sei nicht bös, ich bin ja so glücklich, so rasend glücklich.«
»Also darf man gratulieren?«
»Wie du willst, gratulieren oder nicht, glücklich sind wir doch, aber jetzt muß ich wieder fort, schnell wieder fort, denn die Hochzeiterin wartet. Adieu, schöne Bäuerin!«
Sie hielt mich fest bei der Hand:
»Du sollst mir erst noch etwas sagen.«
»Was du dir gestern gedacht hast, als du mir zutrankst?«
»Laß mich jetzt fort.«
»Sag mir's vorher.«
»Die Hochzeiterin wartet.«
»Bitte, sag's.«
»Ein ander Mal.«
»Nein, jetzt gleich.«
»Was werd' ich gedacht haben? Deine schönen Taler hab' ich bewundert.«
»Du Tropf, du!«
»Glaubst du's nicht? Wenn sie dir nicht gefallen, dann schenk' mir doch den heiligen Georg da.«
»Was fällt dir denn ein?«
»Das wäre was für einen flotten Reitersmann.«
Sie lächelte:
»O ja, aber den Taler bekommt nur mein Ritter.«
Ich neigte mich übermütig zu ihr:
»Ist das vielleicht der verschollene Schwager?«
Heftig fuhr sie zusammen:
»Bist du still?«
»Es hört's ja niemand. Onkel Ralph, den habe ich eben sitzen sehen, schwer bekneipt unter einer Linde, und zwar ganz gemütlich neben dem Hochzeitlader aus Indien.«
»Du frecher Bursch, du.«
»Ach, ich möcht' dich ja nur aufzwicken wegen des Talers.«
»Den bekommst du nicht.«
»Wirklich?«
»Was würde deine Gemahlin sagen?«
»Gar nichts. Zwischen uns gibt's keine Eifersucht mehr, wir wissen, wie wir dran sind.«
»Na, da schau mal hin.«
Sie wies mich zu Netty hinauf. Dort standen zudringliche Bauern und redeten heftig in sie hinein. Jung Siegfried und der Kommerzienrat waren darunter.
»Läßt du dir so etwas gefallen?« fragte Tante Mali.
»Nein, das allerdings nicht.«
»Aha.«
»Warte nur, die hab' ich gleich draußen.«
Mit einem Satze sprang ich in den Tanzsaal hinein und schwang meine Arme:
»Burschen, Burschen! da her zu mir! Jetzt tritt der Hochzeiter in sein Recht. Alle mir nach, und dann 'naus, 'naus, 'naus mit den Verehrern.«
Das war das rechte Signal! Unter schallenden Juchzern jagte die ganze Rotte mit mir an der Spitze zu Toni, und sofort waren alle Hausfriedenstörer vom Tanzplatz gefegt.
»Um Gottes willen,« rief Netty, »muß es denn gar so schlimm sein. Was denken die Herren?«
Ihr Schrecken amüsierte mich.
»Jetzt bin ich der Herr. Verstehst mich? Und was ich dir g'sagt hab', das halt' ich. Ich räum' auf mit dem ganzen Gesindel.«
Jubelnd stimmten die Burschen bei, und als plötzlich im Dunkel der Herr Graf wieder auftauchte, stürzten sie auf ihn los und faßten nach seinen dürren Beinen. Aber der Angegriffene wehrte sich aus Leibeskräften:
»Laßt mich durch,« schrie er, »ich verstehe keinen Spaß.«
Ich ging auf ihn zu:
»Was willst du?«
»Ich will dir meine Meinung sagen. Diese Geschichte da, diese Trauung auf dem Schloß und der Spektakel hier, das ist ein Unfug, ein grober Unfug.«
»Geht's dich was an, wenn ich der Hochzeiter bin?«
»Hochzeiter! Dummheit!«
»Jee! der käm' uns recht,« schrieen die Burschen und rückten ihm wieder auf den Leib.
»Laßt mich los,« rief er ärgerlich. »Ihr führt euch grade so auf, als ob eine wirkliche Hochzeit wäre.«
»Nun, und wenn's eine wirkliche wäre?« fragte ich patzig.
»Unsinn.«
»Was?«
»Seid doch still!« rief Netty.
»Ich hab' zu befehlen,« brüllte ich, »und mit meiner Frau redet mir keiner mehr ein Wort von den dummen Laffen.«
»Laffe? … Laffe? Dafür entschuldigst du dich,« schrie der Siegfried.
»Entschuldigen? Das gibt's net bei einem rechtschaffenen Bauern.«
Der Herr Graf zitterte vor Wut und spielte mit seinem Monokel:
»Gut – gut, wenn du in dieser Maskerade bleibst, dann werde ich dich Näheres wissen lassen, sobald du wieder abgesetzt bist als Hochzeiter.«
»Ich werde dich schon finden.«
»Schick' mir deine Zeugen, das ist mir sehr lieb. Aber jetzt hast du die höchste Zeit.«
Ich winkte den Burschen zu und gleich darauf war der Herr Graf wieder von der Bildfläche verschwunden.
»Guter Gott,« rief Netty, »jetzt kriegst du eine Forderung.«
»Na, dann schlag' ich mich eben.«
»Aber, das ist ja gräßlich.«
»Was ist da gräßlich? So 'nen Kerl schieß' ich gern über den Haufen.«
»Nein, nein.«
Ich ergriff ihre Hände und sah ihr tief in die glänzenden Augen beim Scheine der Fackeln:
»Es geschah ja dir zu Liebe.«
»Das sollst du doch nicht,« sagte sie langsam.
»Alles tu ich für dich, alles, Netty, alles! Aber mir allein gehörst du dafür auch. Verstehst du, Netty, nur mir.«
»Droh' mir nur nicht gleich mit der Faust.«
»Ja, in dem Punkte kenn' ich gar keinen Spaß. Hausfreunde gibt's nicht.«
»Aber reden darf ich doch noch mit andern.«
»Nein, nein, das duld' ich nicht.«
»Allmächt'ger Himmel! Du hast's ja gut vor.«
»Ich wahr' mir mein Recht, und wenn dir noch einmal einer nahe kommt, dann hau' ich ihn krumm und lahm.«
Sie starrte mich ganz erschreckt an. Ihr Auge hatte etwas Fremdes und Scheues bekommen, so daß ich sofort einlenkte.
»Komm mit,« sagte ich ruhiger.
»Wohin?«
»Du weißt schon,« flüsterte ich und legte meinen Arm um sie. Langsam führte ich sie heraus aus dem Getriebe der Menschen. Wir gingen vorüber am Gasthaus, an den mattbeleuchteten Tischen, wo alles wüst durcheinander brüllte, und wanderten wieder hinab, Schritt für Schritt, zu den Weiden am Ufer. Die Nacht war lange heraufgezogen über die weiten, endlosen Gewässer und hatte Berge und Ufer verschlungen. Schwül und drückend schlich sie durch die buschigen Wege, die wir entlang gingen.
Ich holte tief Atem und preßte Netty fester an mich.
»Sei wieder gut,« begann ich endlich, »ich war so heftig, heut an unserm Hochzeitsabend!«
Sie verhielt sich noch immer ganz schweigsam.
»Schau, ich kann's nicht sehen, daß sie um dich herumspringen, und wahrhaftig, wenn mir heute noch einer in den Weg gekommen wäre, ich wüßte nicht, was ich angefangen hätte.«
»Und was tust du denn morgen?« fragte sie leise. »Übermorgen und in den nächsten Jahren? Willst du da auch jeden totschlagen, der mich anspricht?«
»Ach, Netty, an morgen, da denk' ich noch nicht, das ist furchtbar, furchtbar.«
»Wieso?«
»O wenn wieder diese verruchte Prosa des Lebens daherhumpelt.«
»Mußt du schon wieder weg?«
»Um fünf Uhr soll ich auf meinem Rappen sitzen.«
»Und dann?«
»Dann … dann … dann geht's noch im Manöver herum ein paar Wochen.«
»Und dann – dann?«
»Ja, dann kommt das Schrecklichste – im Herbst soll ich fort in die Fremde.«
»Fort, ganz fort?«
»Ja, auf Jahre.«
»Ach, du armer Junge. Was sollst du denn da?«
»Lernen soll ich was, sagt mein Vater.«
»So ein Unsinn! Was brauchst du denn noch zu lernen?«
»Nicht wahr? Als ob man sich nicht schon genug geplagt hätte! Ach, das Hundeleben! Laß uns nicht daran denken, Netty.«
»Doch, reden wir nun von der Zukunft.«
»Nein, nein, nur ja nicht! Ich will nichts hören von der Zukunft und vielleicht … vielleicht lauf' ich sogar von meiner Schwadron noch weg.«
»Du wirst doch nicht.«
»Ich weiß nicht, was ich noch alles anfange. Jetzt aber bin ich bei dir, bei dem Liebsten, was ich hab' auf der Welt, und will nicht denken, was morgen alles kommt. Gib mir einen Kuß, komm, komm, geh her.«
Wir umschlangen uns wieder und schritten langsam über die Insel hinweg, beide ganz versunken in tiefe Gedanken. Netty hatte ihren Arm in den meinen gelegt und ließ sich führen durch das nächtige Dunkel. Still und heimlich war's in den dichten Gebüschen, nur manchmal tönte es leise vom Strande herauf von feinen, kräuselnden Wellen in die stille, lauwarme Sommernacht. Wir wanderten lange herum, ohne zu reden, ohne aufzusehen.
Ich konnte Nettys Antlitz nicht mehr erkennen, aber das leise Zittern, das ihren Arm durchlief und ihr schneller Atem verrieten mir, was in ihr vorging, und wenn ich die dunkle Gestalt feurig an mich preßte, war mir's, als käme über ihre heißen Lippen eine bange, ängstliche Frage. Gleich darauf schritt sie wieder wortlos an meiner Seite dahin, und erst dann, als die Tanzmusik herunterschmetterte, und der ganz heisere Hochzeitslader mit dem Reste seiner Stimme ein Lied an die Gäste brüllte, fuhr sie zusammen und packte mich fester.
»Es muß schon spät sein?«
»Ich weiß nicht.«
»Wollen wir nicht hinaufgehen ins Gasthaus?«
»Bleib, bleib hier.«
»Aber …«
»Ich bitte dich, Toni, ich bitte dich.«
»Und wenn sie fortfahren?«
»So laß sie zum Henker gehen.«
»Mein Gott, wir müssen doch hinauf.«
»Warum denn? Warum können wir nicht hier bleiben?«
»Aber Seppl, wir …«
Ich unterdrückte ihren Einwand mit einem Kuß und führte sie ganz hinaus an das weite, dunkle Gewässer. Still, ganz still war es wieder geworden. Gäste und Tanzmusik waren verstummt. Wir hörten nichts mehr als unsern eigenen, hastigen Atem. Noch zärtlicher drückte ich die Hochzeiterin an mich.
»Ach, Netty, schau, diese Pracht, diese Ruhe! Hier auf der Insel, fern von aller Menschheit, so ganz, ganz allein – wär' das nicht herrlich?«
»Ganz abgeschieden, nein, das könnt' ich nicht.«
»Wenn du bei mir wärst, könnte ich es sofort.«
»Aber doch nicht immer, doch nicht ein Leben lang?«
»Netty, Netty! Wo ist deine einstige Poesie, deine Schwärmerei für das romantische Schloß mit Magda und Waldemar?«
»Ja, das ist was anderes, auf Schlössern da empfängt man Gesellschaften, da sieht man Welt und Leute, aber hier auf der Insel? Nein, nimmermehr.«
Und sie eilte ein paar Schritte voran, als fürchte sie sich bei dem Gedanken.
Sofort war ich wieder an ihrer Seite:
»Wenn ich dich aber bitte, bleib' doch, bleib' bei mir, laß die andern hingehen, wohin sie wollen, Netty, wenn ich dich bitte?«
»Sei doch vernünftig!«
»Hochzeiterin, bleib' bei mir, wenigstens jetzt, nicht diesen Abend zurück in das elende Alltagsleben.«
»Es geht nicht.«
»Laß uns das Fest nicht beschließen mit diesen betrunkenen Bierphilistern da oben.«
Sie umarmte mich lachend:
»Du alter, närrischer Seppl, du!«
»Netty,« rief ich glückselig, »Netty, jetzt gehörst du erst recht mir.«
»Sei doch nicht gar so stürmisch!«
»Ach, ich möcht' dich ja am liebsten totdrücken.«
Sie erwiderte meine Küsse:
»Jetzt seh' ich, du bist der gleiche geblieben.«
»Wie denn, du Herzensmädel?«
»Derselbe alte Phantast.«
»Phantast?«
»Ach, sei still, ein lieber Kerl bist du ja doch trotz deiner Einfälle.«
Ich wollte ihr erwidern, aber plötzlich fuhr sie zurück und hielt den Atem an:
»Horch, horch, da kommt jemand.«
Ich ließ sie los und sah mich erschreckt um. Wir waren am Ende der Insel angelangt. Zu unsern Füßen die glucksenden Wellen und ein herrenloser Kahn im leise raschelnden Schilf, das sich wie ein trotziger Wall gegen Wasser und Menschen aufbaute. Sonst weit und breit nichts zu hören und nichts zu sehen in der finstern Nacht.
»Du hast dich geirrt,« sagte ich leise.
»Nein, ich hab's deutlich gehört.«
»Ach was, du bist ein herziges, furchtsames …«
»Sei doch still,« rief sie und hielt mir den Mund zu. »Da – da.«
Jetzt hörte ich's auch. Von der Insel kamen Menschen herab. Rote Fackeln leuchteten von weitem durch die dichtverschlungenen Zweige und jetzt rief es auch zweimal nacheinander.
»Hochzeiter und Hochzeiterin!« drang es herbei aus der Ferne.
Jählings fuhr Netty zusammen.
»Die suchen uns. Um Himmels willen, die suchen uns.«
»Aber finden werden sie uns nicht,« rief ich entschlossen.
»Das ist sehr einfach.«
»Wir gehen hinauf,« drängte sie, »wir gehen hinauf.«
»Fällt uns gar nicht ein.«
»Aber wir können doch nicht hierbleiben, bis sie uns erwischen.«
»Nein, das tun wir nicht.«
»Nun, was denn?«
»Netty, Netty! Wir reißen aus.«
»Seppl!«
»Für was steht denn der Kahn da?«
»Bist du bei Trost,« schrie sie. »Wohin sollen wir denn? Wohin denn?«
»Wohin's uns eben treibt, ganz gleich.«
Ganz entsetzt riß sie sich los von mir.
»Da geh' ich nicht mit,« sagte sie fest.
Ich umfing sie aufs neue und drängte sie hastig zum Schiffe:
»Du wirst mitgehen, Netty, du wirst mitgehen.«
»Niemals, niemals.«
»Netty, ich sag dir, du folgst mir.«
»Josef! Noch ein einziges Wort und ich schrei' so laut, daß sie alle hierherkommen.«
Statt aller Antwort faßte ich sie mit beiden Armen und hob sie schnell in das Boot. Dann stieß ich mit einem festen Ruck weit ab vom Ufer durch Sand und durch Schilf, indem ich ihr nachsprang.
Jetzt erst, als der Kahn pfeilgrade ins dunkle Wasser hinausflog, kam sie zu sich.
»Kehrst du um oder nicht?« schrie sie.
»Jetzt geht's 'naus in den See, Hochzeiterin.«
»Jawohl, jetzt wird's Ernst.«
»Dorthin, nach der Insel fährst du sofort.«
Sie sprang über beide Bänke zu mir herüber und griff nach den Rudern:
»Mach' was du willst, ich tu's nicht.«
»Nach der Insel, hörst du nicht?«
»Nein, es gibt kein Zurück mehr.«
Und immer weiter trieb ich in die Nacht, ins Ungewisse.
Nun aber richtete sie sich auf in ganzer Größe.
»Zum letztenmal, du kehrst um!«
»Nein, sag' ich.«
»Pfui, das ist niederträchtig von dir.«
Jetzt sprang auch ich in die Höhe, daß der Kahn umzuschlagen drohte. Und nun schwang ich beide Fäuste vor ihr, als müßte ich in der gähnenden Finsternis die glühenden Funken aus den Augen treiben.
»Schrei doch um Hilfe, wenn du mich los sein willst, aber, das sag' ich dir, beim ersten Laut, da spring' ich ins Wasser, und dich, dich nehm' ich mit.«
Sie erwiderte nichts mehr. Aber aus ihrer Brust kam es heraus mit einem unterdrückten, ohnmächtigen Wutschrei, ächzend und stöhnend. Mit beiden Armen machte sie eine verzweifelte Bewegung gegen mich, dann ließ sie sich schwer in das Boot fallen und schlug die Hände vor das Gesicht.
Eine Weile trieben wir so dahin. Ich stand immer vor ihr und starrte in das Dunkel hin. Noch huschten einige Lichter auf und nieder in der Richtung, wo die Insel liegen mußte, noch tönte es ganz aus der Ferne herüber, das Rufen nach Hochzeiter und Hochzeiterin, aber auf einmal brach es ab, ganz plötzlich, ganz jäh, und gleich darauf verschwanden auch die feurigen Punkte, als hätte ein Windhauch sie alle verweht.
Wir waren in Sicherheit. Niemand mehr konnte uns finden in der gähnenden Finsternis, in die wir immer tiefer hinausgezogen wurden, wohlgeborgen vor Menschen und Spürhunden.
Jetzt beugte ich mich leise herab:
»Netty,« begann ich ruhig. »Netty, gib mir deine Hand.«
Unbeweglich blieb sie sitzen.
»Netty, sei verständig, ich lieb' dich ja über alles auf der Welt.«
Da stampfte sie vor Zorn auf den Boden:
»Nein, das ist aus.«
»Was ist aus, du närrisches Ding du?«
»Alles … alles, mit dir bin ich fertig.«
Ich setzte mich neben sie und faßte sie sanft um die Hüfte.
»Netty, hör' mich mal an. Ich bin dir doch so gut …«
»Geh weg von mir!«
»Nein, ich geh nicht weg, du Herzensmädel. Schau, jetzt sind wir endlich ganz allein, kein Licht ist mehr zu sehen von der ganzen Hochzeit, nur du und ich, wir sind noch beisammen und bleiben beisammen fürs Leben.«
»Wir? Wir sind fertig für immer.«
»Red' doch nicht so, du süße, kleine Frau.«
»Laß diese Scherze,« schrie sie wütend. »Für dich hab' ich nur noch Verachtung.«
»Was?«
»Netty, du sprichst auf eine Weise …«
»Wie dir's gebührt. Du hast gemein gehandelt, du hast mich kompromittiert als Dame vor den Leuten, du hast …«
Ich sprang auf und unterbrach sie mit wütendem Gelächter.
»So? So? Das ist's, damit kommst du jetzt daher? Ha, ha, ha, ha! Die Komödie mit der Hochzeit habt ihr inszeniert, halb verrückt habt ihr mich gemacht, aber wenn's drauf und dran kommt, und der Herr Hochzeiter zieht nicht wieder zur rechten Zeit Schlafrock und Filzpantoffeln an, dann – dann geht das zimperliche Geschrei los!«
»Was du dir nur herausgenommen hast, von mir zu glauben?« schrie sie entrüstet.
»Jedenfalls was ganz andres, als was du von mir geglaubt hast, teure Netty.«
»Ja, das mag stimmen.«
»Allerdings,« rief ich. »Dir hat es grade gepaßt auf einen Tag mit mir spielen zu können, weil ich zufällig des Weges kam und der Rechte war mit meinem Bauernschädel. Jetzt ist die Hochzeit vorbei, der Bräutigam fliegt wieder hinaus und morgen kommt ein andrer dran.«
»Das weißt du so sicher?«
»Die Reihenfolge will ich dir sagen, vom Herrn Grafen zum Baron, bis zum dicken, alten Kommerzienrat herunter.«
»Und wenn's der Kommerzienrat wäre!« schrie sie heftig. »Ich nehm' tausendmal lieber noch den, der mich verehrt, auf Händen trägt, der mir alles gibt, was ich will, als einen Burschen, der noch gar nichts ist und meine Ehre aufs Spiel setzt.«
»Du entpuppst dich ja reizend.«
»Ich sag' nur die Wahrheit.«
»Ich dank' dir, ha, ha, ha, Netty, ich dank' dir für deine Offenheit! Immerzu! Heirat' ihn, den Kommerzienrat, es wird eine herrliche Ehe voll schmachtender Liebe.«
»Liebe?« schrie sie rasend, »das will ich nicht mehr, darüber bin ich hinaus! Liebe gibt's nicht, das hab' ich kennen gelernt an all den girrenden Tröpfen, die immer herumhüpfen und mir das ganze Leben verekelten, an dem Siegfried hab' ich's kennen gelernt, der mir die Cour schneidet und doch immer der hochmütige Aristokrat bleibt, und heute mit dir und deiner gemeinen Gesinnung hab' ich's wieder kennen gelernt. Nun ist's aber auch aus – da gleich besser eine Vernunftheirat!«
Mir war es, als müsse uns beide das Wasser verschlingen! Vor einer Stunde noch die brennendsten Küsse, die zärtlichsten Schwüre, und jetzt eine Rechnung, so kalt und so klar, wie mit Kreide auf die blanke Wirtshaustafel geschrieben. Ich konnte es noch nicht glauben.
»Netty, Netty! Es ist ja nicht wahr, was du redest, du fieberst ja, du bist ja wahnwitzig.«
»Doch, das ist mein Glaube, mein Evangelium.«
»Das lügst du nur alles, ich – ich will sagen, das … das übertreibst du!«
»Nein, nein.«
»Ach du bist trotzig, und ich bin's ja auch, du weißt nicht mehr, was du gesagt hast.«
»Wort für Wort will ich dir aufzählen.«
»Aber du bist ja viel zu gut, du glaubst es ja selber nicht. Geh', du hast mich ja doch lieb, du herzige Hochzeiterin.«
»Hochzeiterin?« schrie sie außer sich. »Sag mir's nicht noch einmal, das Schandwort.«
»Netty!«
Sie zerrte den Blütenkranz aus den Haaren und zerriß ihn in Stücke.
»Da … da … fort, fort damit, mit der Hochzeiterin!«
Wie vom Schlage getroffen taumelte ich zurück. Dann aber lachte ich auf, noch wütender als zuvor:
»Gut denn, wirf's nur herunter, dein Maskenzeichen, jetzt ist mir's recht, ganz recht, denn nun ist's vorbei mit uns beiden.«
Mit rasender Wut stampfte ich auf die abgefetzten Blüten und warf sie ins Wasser hinaus. Dann aber sprang ich entschlossen mit einem Satze zu den Rudern zurück.
»Wohin soll ich fahren? Gib Antwort, schnell, schnell.«
»Zu den andern.«
Ich blickte über den See. Dort zum Festland hinüber bewegten sich schaukelnde, leuchtende Punkte in langer Reihe. Das mußten die Kähne der heimkehrenden Gäste sein.
Ohne ein Wort zu verlieren, steuerte ich nach den Lichtern mit rasender Schnelligkeit. Noch gingen sie hintereinander, lautlos und ernst, als trügen sie schlafende Menschen zum Festland hinüber, bald darauf aber sammelten sie sich und fuhren auf, eines nach dem andern, am dunklen Ufer, eine weite, lange glänzende Perlenschnur.
Ich trieb direkt darauf zu und setzte keinen Augenblick aus. Erst als wir näher kamen und beim Schein der Laternen und Fackeln Nettys verzerrtes Gesicht wieder auftauchte, zog ich die Ruder hoch und ließ das Boot in den Kies laufen. Knirschend fuhr es über die Steine hinweg mit einem schrillen Ton, der mir durch Mark und Knochen ging.
»So, jetzt, mein Fräulein, jetzt sind wir am Ende.«
Damit wies ich meine Begleiterin auf die gaffenden Menschen am Ufer, die sich eilig herandrängten, und sprang aus dem Boot, ohne mich umzusehen.
Im nächsten Augenblick war ich umzingelt von allen Seiten, aber nicht mehr jubelnd und jauchzend stürmten sie auf mich los, die biederen Landleute und Gäste der frohen Hochzeit, wie drüben auf der Insel oder gestern zum Polterabend, sondern scheu, verlegen und ängstlich, als erwarteten sie alle von dem, der dem Kahn entstiegen war, die furchtbare Kunde, daß im finstern See an die Tausend ertrunken seien.
»Wo seid ihr denn geblieben? Was ist denn das? Überall hat man euch gesucht!«
So tönte es um mich herum die wenigen Schritte, die ich zum Festland hinaufging. Ganz im Hintergrund aber hörte ich die Stimmen meines adligen Jugendfreundes und des dicken Kommerzienrates, und die beiden unentwegten Verehrer meiner verflossenen Zukünftigen leiteten das holde Lied ein, das nun bald von Mund zu Mund ging:
»Ein netter Skandal – ein netter Skandal!«
Ja, ja, die Feier war vorbei! Die Fackeln brannten schon trüber und näherten sich dem Erlöschen, die Blumen begannen zu welken, die Gäste gingen nach Hause. Aber der Hochzeiter darf nicht mit der Hochzeiterin gehen ins Brautgemach mit der großen Himmelbettstatt und der frühbereiten Wiege, sondern bleibt barhäuptig am Wege stehen, wie er gelandet ist, als ein Geächteter, als ein Verfemter. Alle sieht er vorüberziehen, wie sie ihn da gefeiert haben, aber keiner mehr hatte einen Blick für ihn, höchstens einen spöttischen oder einen entrüsteten.
Sonderbar war es anzusehen. Der Herr Hochzeitlader ging schweigend voran, einen eleganten Paletot über dem bunten Kostüm, dann kamen die Brautjungfern, ganz dicht verhüllt in große Schals, die Musiker mit den verpackten Blechinstrumenten, wankende Bauern mit Frauen und Kindern, Fackelträger und Ruderknechte und ganz am Schlusse die leichenblasse Hochzeiterin mit zerzausten Haaren am Arm ihrer zornglühenden Mutter.
Ich blickte dem geisterhaften Zuge nach, wie zu Stein verwandelt. Kein Gefühl, keine Empfindung hatte sich geregt, als diese verkaterten Gestalten mit dem letzten Aufwand sittlicher Entrüstung an mir vorüberzogen, und auch als ich sie wieder erblickt hatte, die mir heute so heiß in den Armen gelegen und mir tausend Küsse gegeben hatte, da war ich gleichgültig geblieben und nicht aufgewacht aus der dumpfen Betäubung. Wie etwas längst Erstorbenes war sie vorbeigezogen.
Und nun stand ich immer noch da und blickte stier in die Nacht hinein, wo sie verschwunden war, ein obdachloser Wanderer, der den Weg und den Anschluß verfehlt hat.
Aber plötzlich drehte ich mich um. Dort vom Ufer kam etwas herauf mit langsamen Schritten. Ein Nachzügler wohl, der jetzt erst gelandet war. Auch diesen wollt' ich vorüberlassen, ohne ihn anzureden. Aber was da im Dunkeln herauswuchs, das war eine hohe, stattliche Frau, und die ging nicht vorbei wie die andern, sondern blieb stehen vor mir und legte die Hand gar sanft auf meine Schulter.
»Armer Hochzeiter,« sagte sie.
Ich horchte auf. Wie Berge fiel es mir von der Brust, als ich diese Stimme erkannte, und all meine dumpfe Umnachtung löste sich mit jäher Gewalt in lauten, jubelnden Schrei:
»Hollerbäuerin, du … du bist's?«
»Freilich, du alter Junge,« sagte sie.
»Und du kommst noch zu mir, wo die ganze Gesellschaft mich verächtlich verstoßen hat?«
»Ach, was geht mich die Gesellschaft an? Um die hab' ich mich niemals gekümmert im Leben.«
Mir wirbelte es durch den Kopf von Freude und stolzer Genugtuung.
Die Hochzeiterin war mir entrissen, aber an ihrer Stelle stand die herrliche Frau vor mir, die dem dummen Buben von Kindheit an freundlich zugelacht hatte bei all seinen verliebten, großen Torheiten, und die ihn auch jetzt nicht verließ, wo er einsam herumirrte in seiner Hochzeitsnacht, den verwelkten Rosmarinzweig im langen, schweren Rocke.
Ganz glückselig ergriff ich ihre Hände und zog sie abwechselnd an meine Lippen.
»Hurra,« schrie ich, »jetzt kann mir die ganze Bande gestohlen werden.«
»Bist du doch so vergnügt, du abgeblitzter Hochzeiter, du?«
»Hast du's gemerkt?«
»Ich hab' alles gemerkt.«
»Na, dann sag' selbst, ob ich nicht lachen soll über mich und die andern, wie sie da 'naufgezogen sind?«
»Also nahe geht's dir nicht?«
»Wenn ich endlich merk', was ich für ein Esel gewesen bin?«
»Wirklich?«
»Der ewige Hochzeiter, der schmachtende Liebhaber, den alle an der Nase herumführen? Ach, Dummheit, ich pfeif' auf die albernen Mädels. Du, geh her, schöne Hollerbäuerin, und gib mir einen Kuß!«
»Und wenn du morgen wieder vor der Netty kniest?«
»Dann kannst du mir eine Ohrfeige geben, jetzt aber möcht' ich den Kuß.«
»Oder vor der Franzi?«
»Nix da, nix da, frei will ich sein.«
Sie fiel mir lachend um den Hals.
»Bravo,« rief sie, »das lob' ich mir. Führ's aber auch durch.«
Ich drehte sie im Kreise herum, daß ihre Taler klirrten.
»Das versteht sich! Jetzt fang' ich zu leben an, jetzt geh ich in die Welt hinaus, aber von dir, du schöne Hollerbäuerin, laß ich mir den Segen spenden.«
Dreimal küßte sie mich nacheinander.
»Da – genügt dir das?«
»Nein,« lachte ich und faßte nach ihrem Mieder.
»Ich will schon noch etwas haben.«
»Was denn?«
»Den Georgitaler, den will ich auch, schöne Bäuerin, mit dem reit' ich in die Welt hinaus.«
Zweifelnd wiegte sie den Kopf:
»Du,« sagte sie leise, »das ist eine gefährliche Geschichte.«
»Warum? Warum? Ein Soldat kennt keine Gefahr.«
»Ja, den Georgitaler geb' ich nur meinem Ritter.«
»Bin ich das nicht?« rief ich übermütig.
Sie lachte:
»Bis jetzt warst du nur Knappe, ein sehr verliebter Knappe.«
»Nun, so schlag' mich zum Ritter und gib mir den Taler!«
»Gut, du sollst ihn haben!«
»Das ist ein Wort,« rief ich jubelnd, »ich schenk' dir auch was dafür.«
»Nun?«
»Den Hochzeitsstrauß, zum ewigen, bleibenden Andenken.«
Und wieder fielen wir uns in die Arme und küßten uns stürmisch.
*
Weithin über den schweigenden See und die dämmernden Täler blasen Alarmtrompeten den Weckruf. Hoch herauf tönen sie über die Hügel und hinaus schmettern sie den Anbruch des Tages in die Ebene, wo sich's sammelt für neue Schlachten und Taten. Von allen Seiten strömt es herbei; aus Dörfern und Wäldern, von Soldaten und Pferden unter Trommelwirbel und Fanfarengeschmetter. Aber keiner zieht so keck in den Streit, als der junge Ritter, der da herabkommt die leuchtenden Höhen auf stolzem, tänzelndem Roß und langsam hinauszieht in den glänzenden Morgen voll Licht und voll Zukunft. Die aufgehende Sonne bestrahlt sein Gesicht, der Frühwind bläst ihm durch die Haare, und ein stolzes Lächeln spielt um seine Lippen, denn dort, wo der Degen blitzt, am ledernen Gürtel, trägt er den Talisman, den er errungen hat, den schweren, schönen Georgitaler.
*