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Frankfurter Zeitung, 18. 1. 1927
Es galt, in einem Land, in dem eine unzuverlässige und eher unterschätzende als übertreibende Statistik 75 Prozent Analphabeten feststellte, die Massen lesen und schreiben zu lehren. Vor dieser stofflich, zahlenmäßig schwer überwindlichen Aufgabe trat die Verpflichtung einer revolutionären Schulbehörde, die Verpflichtung, revolutionäre Erziehungsmethoden auszuprobieren und anzuwenden, zuerst in den Hintergrund. Heute noch, nach sieben Jahren, in denen unzählige Experimente gelungen oder mißlungen sind, nachdem Hunderte neuer Methoden, Tausende neuer Schultypen eingeführt und wieder aufgegeben worden sind, stehen die russischen Schulbehörden noch mitten im heißen Kampf gegen den Analphabetismus. Das vergessen Fremde, die nach Rußland kommen und die Einheimischen, die den Fremden neue Schulen und neue Ergebnisse zu zeigen berufen sind. Vorläufig lautet die Frage immer noch nicht: welche Erfolge hat die neue Erziehungsmethode in Sowjetrußland? – Sie lautet immer noch: Wie viele Analphabeten hat Sowjetrußland?
Die Antwort auf diese Frage erwartet man von der Statistik. Diese ist im neuen Rußland leider nicht nur im allgemeinen unzuverlässig. Sie ist im besonderen auch optimistisch. Sie verleitet die Phantasie, zu der Zahlen eindringlicher sprechen als Kunstwerke, zu Additionsfehlern; besonders in einem Lande, in dem die Statistik doch beinahe keine reale Voraussetzung hat. Ich erwähne bei dieser Gelegenheit, was man in Rußland und in Europa bis jetzt übersehen hat, daß seit 1910 in Rußland keine Volkszählung stattgefunden hatte. Auch die vom Jahre 1910 war höchst unzuverlässig. Erst kürzlich (also 1926) begann man in Rußland, die Menschen zu zählen. Und ob man damit fertig wird, weiß nicht einmal die Kommunistische Partei. Eine Volkszählung, im Jahre 1922 eingeleitet, führte zu keinem Resultat. (Damals ließen sich in einem abgelegenen Gouvernement zwanzig Bauern lebendig begraben, um nicht mitgezählt zu werden. Als der Tag, an dem der Schreiber gekommen war, verstrich, grub man die Bauern wieder aus. Fünf sollen erstickt sein.) Heute noch kann man in Rußland nicht etwa wie bei uns jeder Familie einen Fragebogen zustellen. Man muß Beamte in die Häuser schicken und die Leute im wörtlichsten Sinne: zählen lassen. Wo ist da die Zuverlässigkeit aller bisher gemachten Statistiken? Woher weiß man, um wieviel Prozent weniger Analphabeten sind, wenn man die Zahl aller Einwohner des Landes gar nicht kennt?
Es wird, oberflächlich geschätzt, jetzt nur noch 10 Prozent Analphabeten geben. Man ermißt daran die verhältnismäßig geringe Rolle der Schulreformen. Man ermißt daran die ungeheuren Schwierigkeiten: erstens befiehlt die agitatorische Reputation, alle bürgerlichen europäischen Länder auf dem Gebiet des Schulwesens zu überholen; zweitens muß man Europa, hinter dem man um hundert Jahre zurückgeblieben ist, wenigstens erreichen. Mit etwa 20 Prozent der Bevölkerung kann man die allermodernsten Erziehungsexperimente machen. Bei weiteren dreißig Prozent muß man das Experimentiertempo mäßigen. Der ganze Rest muß erst eine mühsame Bekanntschaft mit dem Alphabet schließen.
Man sieht also in Rußland zuerst nicht etwa lauter überraschend neue Schulen – vorausgesetzt, daß man nicht zu Besichtigungszwecken herumgeführt wird –, sondern lauter Analphabetenkurse. (Das ist kein Tadel, sondern ein Lob.) Sie sind überall eingerichtet: in den Fabriken, in den Arbeiterheimen, in manchen Sanatorien, in den Rekonvaleszentenheimen, in Gefängnissen, in den Kasernen, in den Klubs auf dem Lande, in den Klubs in den Städten. Eine allgemeine Schulpflicht im westeuropäischen Sinn ist immer noch nicht durchgeführt. Immer noch kommen in den Dörfern etwa nur 50 Prozent von den schulpflichtigen Kindern in die Schule. Aber wichtiger als eine rigorose Durchführung der allgemeinen Schulpflicht ist der allgemein geweckte, sehr lebendige Ehrgeiz der Halbwüchsigen und der Erwachsenen, lesen und schreiben zu können. Das Alphabet, der Druck, die Zeitung und das Buch sind nicht mehr gefürchtetes oder gescheutes »Teufelswerk« wie im zaristischen Rußland. Die Verhältnisse werden kompliziert, und das gesprochene Wort reicht selbst innerhalb der engen Gemeinschaft eines einzigen Dorfes nicht mehr als Verständigungsmittel aus. Die weitaus größere Hälfte des Budgets für Erziehung und Unterricht wird für den Kampf gegen das Analphabetentum ausgegeben.
Daneben – aber erst an zweiter Stelle – stehen die neuen Erziehungsanstalten, die neuen Schulmethoden, die neuen – geglückten und mißlungenen – Experimente. Sie haben drei Grundtendenzen verfolgt: erstens, die Jugend mit dem sogenannten »kollektivistischen Bewußtsein« zu erfüllen; zweitens, sie für eine praktische Tätigkeit innerhalb einer dem Sozialismus entgegenschreitenden Gemeinschaft heranzubilden; drittens, sie zur Areligiosität, wenn nicht zur Antireligiosität zu erziehen.
Man sieht, daß die Tendenzen der Erziehungsreformen viel klarer sind als die heute mögliche Einsicht in die geschichtliche Entwicklung der russischen Revolution und des russischen Landes. In diesen paar Jahren aber zeigte es sich, daß die Entwicklung nicht so grade verläuft, wie ein übersichtlich aufgezeichneter Schulplan; daß die Spannung, die schon von vornherein zwischen den Dimensionen des Lebens und den ihm nur scheinbar angepaßten Theorien besteht, sich noch vergrößert, je mehr man den Zwischenraum einengt, der zwischen der Anschauung und der Realität naturnotwendig vorhanden ist; daß zwischen dem Tempo, das man berechnete, und dem Tempo, das dann einsetzt, ein Unterschied fühlbar wird; und daß allein die Anzahl der Experimente noch nicht ihren Erfolg sichert.
Aber nur um den Erfolg handelt es sich. Wir fragen nicht nach dem Weg, sondern nach dem Ziel. Wir fragen nicht nach dem Beginnen, sondern nach dem Ergebnis. Uns interessiert der Schüler mehr als der Lehrer und die Schule – und was einer geworden ist, scheint uns wichtiger, als wie er es geworden ist. Es gibt in Sowjetrußland einige Musterschulen, die sich allen Fremden zeigen dürfen; eine Unmenge schöner pädagogischer Ideale, die man jedem vorträgt: ein ungeheures quantitatives Wachstum von Schulen, Instituten, Schülern, auf das man stolz ist; Programme, die man überall abdruckt, und die sehr repräsentativ sind. Ich wiederhole hier, was man in vielen Zeitschriften finden kann und vielleicht schon gefunden hat:
In Rußland gibt es nicht »Volks«- und »Mittelschulen«. Es gibt die sogenannte Einheitsschule. Sie hat zwei Grundabteilungen: die erste für Kinder von drei bis sieben Jahren, mit Kindergärten, Spielplätzen, Erziehungshäusern; die zweite, die wieder in zwei Unterabteilungen zerfällt: in den vierjährigen Allgemeinbildungskurs und in den fünfjährigen Kurs der »praktischen Orientierung«. Der letzte fünfjährige Kurs zerfällt wieder in zwei Unterabteilungen: die ersten drei Jahre bereitet sich der Schüler praktisch und theoretisch auf seinen Beruf vor; in den letzten zwei soll er seine allgemeine Bildung vertiefen und zugleich die Vorbereitung für seinen Beruf noch konkreter und enger erleben. Für aktive Arbeiter und Lehrlinge gibt es die sogenannte »professionell-technische Ausbildung«, und zwar: a) den vierjährigen Kurs der unteren professionell-technischen Schule und b) den vierjährigen »Spezialisierungskurs in einer technischen Lehranstalt«. Es gibt verschiedene »Technica«: mechanische, handelsökonomische, künstlerische, kunstgewerbliche, elektrotechnische, landwirtschaftliche. An »allgemeiner Bildung« vermitteln sie: Kulturgeschichte, Gesellschaftskunde, Literatur, Politik, Ökonomik usw. Es gibt 524 derlei »technische Hochschulen«, die keineswegs unseren Hochschulen entsprechen, sondern eher unseren Gewerbeschulen. Außerdem sind bei jeder höheren Schule sogenannte »Arbeiter-Fakultäten« (»Rab-fak«) für erwachsene Arbeiter errichtet. Der dreijährige Kurs einer Arbeiterfakultät soll den Schüler reif zum Studium an der Universität machen.
Von einer ganz besonderen Art sind die Dorfschulen, ländliche Formen der unteren Einheitsschule. Sie sind das ganze Jahr offen, auch während ein Teil der Kinder bei der Sommerarbeit ist. Der Unterricht findet im Sommer im Freien statt. Es gibt keine Klassen im alten Sinn. Die Hauptgegenstände sind: Lesen, Schreiben, Rechnen, landwirtschaftliche Allgemeinkenntnisse und »politische Grammatik«, das heißt: die politischen Elementarbegriffe. Von besonderer Wichtigkeit sind die Feste und Feiertage, die geschickt zu didaktischen Zwecken ausgenutzt werden.
Selbstverständlich sind die Schultaxen gering. Sie betragen 1 Rubel im Monat, wenn die Eltern bis zu 100 Rubel Einkommen haben, und steigen mit der Höhe des Einkommens bis zu 12 Rubel. Kaufleute und »unproduktive Elemente« zahlen ungefähr 25 Rubel monatlich. Mittellose Studenten erhalten eine Bettstelle umsonst, ein Essen und 30 Rubel monatlich. Deshalb ist das Professorenhonorar sehr gering, es beträgt etwa 100 Rubel. Es gibt einen gewissen, sehr schüchternen und nicht mehr aufrechtzuerhaltenden numerus clausus, dem zufolge 70 Prozent der Studierenden aus dem Arbeiter- und Bauernstand hervorgegangen sein müssen. Nach der letzten Statistik waren nur 26 Prozent Bauern- und nur 24 Prozent Arbeiterkinder. Der Rest kam aus dem Angestelltenstand und aus den Häusern geistiger Arbeiter. Selbstverständlich werden bei drohender Überfüllung – und überfüllt sind jetzt die meisten russischen Hochschulen – zuerst Arbeiter und Bauern beziehungsweise deren Kinder berücksichtigt. Nachkommen der sogenannten »unproduktiven Elemente« oder der neuen Bürger haben einen schweren Stand an den russischen Hochschulen.
Es gibt 71 Universitäten (die in einem andern Zusammenhang behandelt werden), von denen nur 18 unseren Universitäten entsprechen, 19 landwirtschaftliche Hochschulen, 10 pädagogische Institute und viele andere spezielle Hochschulen. Von den Lehrern sind etwa 6 Prozent kommunistisch. Es ist charakteristisch, daß im allgemeinen die Dorfschullehrer einen größeren Prozentsatz der Partei liefern als die Stadtschullehrer. Auch wird den Dorflehrern der Eintritt in die Partei sehr leicht gemacht. Von den städtischen Lehrern sind die meisten früheren Mittelschullehrer konservativ, die meisten Volks- und Bürgerschullehrer sowjetfreundlich. Von den Hochschullehrern sind verhältnismäßig wenige mit der neuen Ordnung der Dinge einverstanden. Die meisten bleiben auf dem neutralen Gebiet der Wissenschaft, schweigen gründlich über Politik und genießen eine gewisse Achtung als Verwalter des wissenschaftlichen Kulturgutes, das es zu erben gilt. Man bewahrt die Professoren ungefähr so wie museale Werte, auch wenn sie eine deutliche und sogar tendenziöse, wenn auch passive Reminiszenz an die alten Zeiten darstellen. Das gehört zu den stillschweigenden Waffenstillstandsbedingungen, die sich im Laufe der Jahre konstituiert haben und im allgemeinen eingehalten werden. Übrigens gibt es auch kommunistische Universitätsprofessoren und mehrere (aufrichtig oder diplomatisch) »sympathisierende«, wie man hierzulande die Bewahrer einer wohlwollenden Neutralität nennt.
Es ist die schlimmste Eigenschaft der russischen Statistiken, daß sie sogenannte »nackte Tatsachen« verhüllten Ergebnissen vorziehen.
Ein Zufall führt mich in Leningrad zu einem Vortrag, zu einem Bericht über psychotechnische Prüfungen an Hochschulkandidaten in der Stadt Leningrad. Der Vortrag war nicht für mich bestimmt, sondern nur für Ärzte und Pädagogen. Die Nachlässigkeit eines Türhüters, der nicht nach Legitimationen fragte, verschaffte mir Kenntnis von den überraschenden Resultaten einer psychotechnischen Prüfung, die der Vortragende, ein ernster Wissenschaftler, ein Professor, der übrigens der Sowjetregierung ein Freund ist, vorgenommen hatte.
Der Professor erzählte, daß er Absolventen der Mittelschule (das heißt in Rußland: der höheren Kurse der Einheitsschule), also die jungen Leute, die Universitäten beziehen, einen einfachen Satz zu konstruieren gebeten hatte, dessen wichtigste begriffliche Bestandteile gegeben waren. Es galt also, aus den drei Begriffen, zum Beispiel: Papier, Bleistift, schreiben – einen Satz zu bilden. Und es geschah das Merkwürdige, daß achtzig von hundert Schülern vollkommen versagten; daß einige den Satz zwar bildeten, aber grammatikalisch falsch, zum Beispiel: ich schreibe mit des Bleistifts auf das Papier – wobei zu beachten ist, daß im Russischen jeder Fall die Endung des flektierten Substantivs verändert, so, daß grammatikalische Fehler leichter unterlaufen als im Deutschen, wo der Artikel selbst schon starke Hemmungen hervorruft. Nur einige wenige konnten einen einwandfreien Satz bilden.
Ebenfalls in Leningrad wurde die Feststellung gemacht, daß die besten Fortschritte die im Zentrum lebenden Schüler zu verzeichnen hatten, die langsamsten die an der Peripherie wohnhaften. Das heißt: daß die bourgeoisen Schüler leichter lernen als die proletarischen. Die gehässige Freude, mit der das russische Bürgertum diese Nachricht und ähnliche aufnimmt, ist nicht nur unangebracht, sondern auch verfrüht. Denn es ist selbstverständlich, daß der Abkömmling einer alten Beamten- oder Gelehrtenfamilie eine leichtere Auffassungsgabe ins Leben mitbringt als der Nachkomme von Bauern und Arbeitern. So was gibt sich mit der Zeit. Aber man vergißt die Vorläufigkeit dieser Ergebnisse, wenn man an die offizielle und chronische Tendenz der Regierung und der Schulbehörde denkt, den proletarischen Kindern das Studium zu erleichtern, den bürgerlichen zu erschweren; ferner an die programmatische Neigung der Behörden, derlei Talente wie leichte Auffassungsfähigkeit, flinke Intelligenz, Kombinationsgabe als spezifisch »bürgerliche« Begabungen geringer einzuschätzen als etwa den geraden, einfachen und gewiß heroisch-edlen Gemeinschaftssinn der simpleren Individualität. Dann kommt man zu der Einsicht, daß auf die Dauer die Erziehung zum »Kollektivismus« die Ausbildung zum wissenden, also freien Menschen behindert. Zu dieser Einsicht kommen allmählich auch die russischen Schulbehörden. Und je mehr Experimente mißlingen, desto sorgfältiger greift man hier auf alte Methoden und alte Bildungsprinzipien zurück. Deshalb kann ein abschließendes Urteil nicht gegeben werden. Alle Ergebnisse sind vorläufige.
Vorläufig sind glücklicherweise auch die negativen Ergebnisse – also zum Beispiel die oben erwähnten Resultate der psychotechnischen Prüfungen in Leningrad. Sie sehen übrigens nur auf den ersten Blick so verblüffend aus. Sie beweisen nämlich nicht etwa die rettungslose Dummheit jener Hochschulkandidaten, sondern nur ihre Einseitigkeit. Der junge Mann, der keinen einfachen Satz bilden konnte, kann wahrscheinlich eine Versammlung leiten, einen Kassenbericht machen, einen der heute üblichen Zeitungsartikel hersagen oder auch schreiben – denn alle Bestandteile eines Zeitungsartikels, einer Rede, eines Berichtes liegen fix und fertig da, die Phrasen, die Weltanschauung, die Argumente sind in Konservenbüchsen vorhanden, man braucht nichts zu kochen, nichts vorzubereiten. Der junge Mann weiß gewiß, was ein Ausbeuter und was ein Ausgebeuteter ist, eine Sozialisierung und eine politische Reaktion, eine »bürgerliche Ideologie« und der Bergarbeiterstreik in England. Aber er kann eben keinen Satz bilden – denn er ist nicht erzogen zum Kombinieren. Man hat ihm die natürliche Veranlagung des menschlichen Geistes, Zusammengehöriges zu verbinden, Fremdes zu eliminieren, gründlich abgewöhnt. Man hat ihn mit festen, für die Ewigkeit geschmiedeten Gedanken- und Wortkomplexen genährt und ihm die fruchtbare Mühe der selbständigen Synthese und Analyse abgenommen. Man hat ihn ferner aus Angst vor der »Philologie«, die in Rußland bürgerlich verdächtig ist, von der Sprache weggeführt, vom Wort, von der Logik der Grammatik – zur simpleren Logik der »Tat« und der Maschine, zu der robusteren Struktur des Mechanismus und der menschlichen Gesellschaftsformen. Nicht die philologische Unkenntnis rächt sich, sondern die künstliche, wenn auch nicht absichtliche Entfremdung von der Sprache, in deren Gesetzen die primäre, gründliche, fundamentale Logik des menschlichen Geistes eingeschlossen ist. Man hat aus Angst vor dem »Humanismus« den Schüler aller »Humanität« im geistigen (nicht im ethischen) Sinn beraubt, der natürlichen humanitären Talente. Man hat ihn zu einem »Mitglied der Gemeinschaft« erzogen und zu einem »Fachmann«, zu einem gläubigen Optimisten und einem Fanatiker der »Realität« und ihres Ausdrucks: der Statistik. Es ist grotesk, wenn mir ein Universitätshörer von einer »Kommunikation« spricht, innehält, zweifelt, sich besinnt und mich mit einem plötzlichen Entschluß fragt: »Wissen Sie, was das ist: Kommunikation?« – Er glaubt, der Arme, »Kommunikation« sei eines der vielen neuen russischen Worte.
Ich möchte den Wert zufällig erlauschter Geständnisse nicht überschätzen. Ich halte die Ergebnisse der Leningrader psychotechnischen Prüfungen nicht einmal für typisch. Sie erklären nur den augenblicklichen Stand der Dinge. Sie erläutern nur die Tatsache, daß vorläufig die neuen Methoden in Sowjetrußland die Hoffnungen nicht erfüllen. Der Zustand ist kein chronischer, sondern ein akuter. Es ist theoretisch möglich, daß die Erziehungssysteme in Rußland auch bessere Erfolge zeitigen und eine vollkommenere Bildung vermitteln.
Frankfurter Zeitung, 19. 1. 1927
Der junge russische Mensch ist »Komsomol«, das heißt: er muß nicht etwa nur marschieren, trommeln, organisieren, leiten – – er muß sich mit der »Ideologie« anfüllen, er muß ein »Staatsbürger« sein, er muß in »Kommissionen« beraten, was in der nächsten Woche zu unternehmen sei, er muß Versammlungen einberufen, in denen »Resolutionen abgefaßt werden« – »gegen« oder »für« einen Lehrer, ein Buch, eine Theateraufführung, er muß einer Zeitung »berichten«, er muß mit seiner Klasse ein »Patronat« übernehmen, für ein Dorf, für eine Fabrik, für obdachlose Kinder. Man ahnt gar nicht, wie schwer es ist, ein Staatsbürger zu sein. Man muß in Fabriken gehen, um dort »das Leben« kennen zu lernen denn »Leben« ist natürlich das »rollende Rad«, und die Intensität des Lebens ermißt man an der Zahl der »rauchenden Schlote«.
Was die sogenannten »Schul«- und »Hausaufgaben« betrifft, so schreibt man zum Beispiel nicht mehr die Inhaltsangabe eines kitschigen Lesebuchstückes, wie wir es taten, sondern die eines fürchterlich schlechten Feuilletons der »Iswestija« über Traktoren, – wobei die Nützlichkeit der Traktoren-Kenntnis reichlich aufgehoben wird durch die Schädlichkeit, die ein hohler, phrasenreicher, unselbständiger Zeitungsartikel aus zehnter Hand verursacht. Man lernt nicht mehr die Jahreszahlen der Könige und Kriege, sondern die statistischen Daten der Landwirtschaft, des Handels, der Industrie der europäischen und amerikanischen Staaten, zeichnet lange, längere und kurze Säulen mit grüner, blauer und roter Tusche – in jede Säule mit schwarzer Tinte eine Zahl und weiß dann, wieviel die Ernteerträgnisse in Deutschland, England, Frankreich sind. Aber die richtigen historischen Jahreszahlen, die wir gelernt haben, waren nicht mehr totes Material als die nur relativ richtigen statistischen Zahlen, die man in Rußland auch so tot sein läßt wie unsere Könige. Toter als jedes verschimmelte Lesebuch ist eine schlechte Zeitung, und die »Aktualität« hängt nicht vom Jahrhundert ab, in dem sie sich ereignet, sondern von der Bedeutung eines Ereignisses für heute. Es ist unbedingt falsch und töricht, etwa die Kreuzzüge als die Folge der Expansionsbestrebungen der mittelalterlichen italienischen Kaufmannschaft, also der »Bourgeoisie« jener Zeit, zu erklären und dadurch im Schüler die Vorstellung hervorzurufen, die Kreuzritter wären so etwas wie die modernen Heeresleitungen gewesen und hätten für die »Eröffnung neuer Absatzmärkte« ihr Blut vergossen. Die Pharaonen waren eben keine »Arbeitgeber« und die unterdrückten Kinder Israels kein »ausgebeutetes Proletariat«. Es geht nicht mit der Zwangseinquartierung der willkürlich konstruierten »Parallelität« in die Geschichte. Es geht nicht mit der Einimpfung eines banalen Optimismus, der nur proletarisch gefärbt, aber im Wesen derselbe ist, wie er in Amerika grassiert und die evangelische Pastorenphilosophie vom »Unfug des Sterbens« erzeugt. Es ist bürgerlich – und nicht revolutionär –, Gefühlswerte zu unterschätzen, wie es bürgerlich ist, sie zu überschätzen. Die Angst vor der »Sentimentalität« ist ebenso reaktionär wie die Sentimentalität. Man erzieht durch Arbeit und Wissen zur Freiheit, nicht durch die Übersetzung der Boy scout-Idee in die rote Pionier-Idee und auf keinen Fall durch das ewige Einexerzieren der toten ideologischen Formeln und der Versammlungs-Liturgien. Es handelt sich auch nicht nur darum, gläubige Staatsbürger zu erziehen, tüchtige Spezialisten und gesunde Normal-Proletarier, sondern Menschen mit gleichmäßig ausgebildeten Organen und Fähigkeiten. Die russische Schule, so, wie sie heute ist, erzieht zur einseitigen – und was noch schlimmer ist – zur halben Bildung.
Vor kurzer Zeit noch konnte jeder, der drei Jahre lang eine Arbeiter-Fakultät besucht hatte, in die Universität gelangen. Jetzt macht man Prüfungen. Vor kurzer Zeit noch bekamen Arbeiter eine »Komandirowka« in die Universität – sie wurden zur Hochschul-Bildung kommandiert. Jetzt, da die Prüfungen eingeführt sind, überzeugt man sich sehr schnell, daß ganz andere Voraussetzungen für das Studium nötig sind, als zum Beispiel eine gute Gesinnung und ein gewisser Grad von Intelligenz. Sehr viele Kandidaten fallen durch. Die Hochschulen füllen sich langsam wieder mit den Söhnen der Bourgeoisie, der großen, der kleinen, der alten, der neuen. In der Statistik figurieren sie freilich als Söhne der »Angestellten« (»slushastschie«), der »Dienenden«. Aber man muß schon in Rußland sein, um zu sehen, daß achtzig Prozent dieser »Angestellten« vor der Revolution Kaufleute, Gutsbesitzer, Beamte, Offiziere, Bankiers, Direktoren großer Unternehmungen und freie Berufe waren.
Vor noch nicht langer Zeit mußte ein ausgesprochen bourgeoiser junger Mann, also einer, der kein Komsomolbillett hatte, noch schnell zu einem Schmied oder einem Schneider in die Lehre gehen, um auf dem Umwege über den »Gehilfen« oder den »Arbeiter« die Hochschule beziehen zu können. Was war die Folge? Die doppelte Überlegenheit des begabten Bourgeois, der auch noch arbeiten gelernt hatte. Eine »Arbeiter-Psychologie« hat so ein Kaufmanns- oder Professorensohn nicht bekommen. Noch weniger »Arbeiter-Psychologie« bekommen die Bürgersöhne in den Pionier- und Komsomol-Organisationen. Sie wissen, was es bedeutet, Komsomol zu sein und daß es die Karriere in Rußland sehr erleichtert, wenn man brav am Sonntag marschiert, Manifeste lernt, Zeitungsartikel memoriert und schließlich einmal durch die enge Pforte der Partei schlüpft. Sie marschieren also, stellen sich vor der Pforte an, warten geduldig – und man müßte ein außergewöhnlich begabter Prophet sein, um zu erkennen, wer aus egozentrischem Drang zur Wirkung und wer aus Idealismus am Sonntag marschiert. In unsern Schulen waren die Idealisten sehr schnell von den Duckmäusern zu unterscheiden. Jene waren revolutionär, obwohl ihnen Gefahr drohte. Diese waren kleine Tartüffes und hatten ein ausgezeichnetes »sittliches Betragen«. Da aber in Rußland die revolutionäre Gesinnung keine Gefahren mehr birgt, sondern nur Auszeichnungen verspricht und der Zutritt zur Partei vom »sittlichen Betragen«, vermehrt durch Marsch- und Versammlungs-Übungen abhängig ist – woran sollte man den Revolutionär erkennen? Er sieht dem Tartüffe verdächtig ähnlich, aber er hält kein Gebetbuch und keinen Rosenkranz in der Hand, sondern einen Stern und eine Fahne.
Was ist denn an unserem Lesebuch, unserer Schule, unserer Erziehung kleinbürgerlich? Die Enge des Gesichtsfeldes und weniger, was in diesem Gesichtsfeld gelegen ist; die Monotonie der Lehre und weniger ihr Inhalt; die Form des Ideals und nicht sein Gehalt. Und selbst wenn es der Inhalt des Gesichtsfeldes, der Lehre, des Ideals gewesen wäre – um wieviel dringender bedürfen neue Ziele neuer Wege? Aber die ungerechte, kurzsichtige, im Grunde reaktionäre Verachtung des offiziellen Kommunismus für die Form, das Gewand, den Weg erzeugt den Glauben, daß man ungestraft neuen Wein in alte Schläuche gießen könnte. Der offizielle Kommunismus leugnet die natürliche Einheit von Körper und Haut, Stoff und Kleid, er nennt den Glauben an diese Einheit »bürgerlich«, er hält es für revolutionär, die Form gering zu schätzen, ja, er hat keinen Sinn für sie. Die Folge davon ist, daß er in die Sprache der bürgerlich-mittelmäßigen Welt, die er selbst zertrümmern wollte und die er mehr beerbt als zerschlagen hat, die neuen Ideen packt. Er hat, unendlich primitiv, die uralte Phrase, abgewetzt, durchsichtig, billig, für seine neuen Zwecke gut zu verwenden geglaubt. Er hat ja kein Ohr für den schäbigen Klang einer »Äußerlichkeit«, und wenn es ihm gegeben ist, verstopft er es. Zu den Märschen, die uns zum letzten Gang für Kaiser und Reich begleiteten, kann man nicht in die Weltrevolution ziehn. Man kann nicht Pioniere der Revolution mit denselben Mitteln erziehen wie patriotische Jugendbünde, man kann ihnen nicht schlechte Gedichte zu lernen aufgeben, die statt einer königstreuen Tendenz eine revolutionäre haben, man kann nicht vom Proletariat in demselben Ton sprechen, in dem man etwa vom alten »Vaterland« oder von den »heiligen Gütern der Nation« gesprochen hat, ein »frommer Spruch« bleibt immer verlogen, ob er uns nun erzählt, daß Morgenstunde Gold im Munde hat oder daß der Kapitalismus des Westens in Agonie darniederliegt. Es ist töricht und selbstmörderisch, jeden Tag die Grammophonplatte vor den Schülern rotieren zu lassen, die das Lied vom nahen Sieg der Weltrevolution, von Rußland als dem Land der Zukunft, von der überwältigenden Abnahme des Analphabetismus enthält, und darüber die Stimme des Lebens zu überhören. Man gibt den russischen Kindern und jungen Menschen eine festgefügte Anschauung von den Dingen ihres Landes, ihrer Klasse, ihrer Zeit, während gerade diese Dinge sich mit einer unglaublichen Schnelligkeit verändern. Man fälscht ihnen das augenscheinlich Relative in Absolutes um. Man zeigt ihnen als Ergebnis, was gerade jetzt ein Experiment ist. Was Rußland erst ausprobiert, serviert man der jungen Generation als gelungen. Der russische Schüler tritt genau so unvorbereitet ins Leben wie wir. Das russische Leben ist von der russischen Schule genau so weit entfernt, wie zu unserer Zeit die Wahrheit von der Sentimentalität entfernt war, mit der wir gefüttert wurden. Eine kitschige Büste von Lenin im Klassenzimmer ist genau so schädlich wie ein kitschiger Öldruck vom Kaiser. Es ist die Draperie und nicht die Farbe, welche die Wirkung der Fahne auslöst, und auf den Farbenunterschied allein darf man sich nicht verlassen. Was machte denn unsere Kadettenschulen so lächerlich? – Der Korpsgeist in einer banalen Darstellung. In Rußland sind die meisten Schulen Kadettenschulen. Statt der Erziehung zum Korpsgeist eine Erziehung zum Klassengeist – wie gut wäre das noch! Aber die Darstellung ist von der Kadettenschule übernommen. Man verwechselt Kollektivismus mit Uniformität; man erzieht zwar zu einem Idealismus, aber zu einem, der wenig kostet und manches einbringen kann; zu einer Hingabe an die Sache, die aller Voraussicht nach belohnt wird. Man erzieht zu der Hingabe an ein »Ideal«, das in einem braven bürgerlichen Rahmen an der Wand hängt, über der Schultafel, und darunter steht nicht mehr: »Mit Gott für König und Vaterland!« sondern: »Justament ohne Gott für die ›Ideologie‹, für das Proletariat, für die Industrialisierung, gegen die Philologie und gegen die ›Romantik‹.« Um den Schüler vollkommen mit der »Realität des Tages« vertraut zu machen, läßt man ihn Zeitungsartikel lesen, deren orthodoxe Umfälschung der Tatsachen einen jungen Menschen gewiß tausendmal mehr der Realität entfremdet als etwa eine Fleißlektüre der Äschylus-Dramen. Man fürchtet den kritischen Individualismus wie eine ansteckende Krankheit, deshalb steckt man den jungen Menschen mitten in eine fiktive Gemeinschaft, läßt ihn Wurzel schlagen in einem sozialen Phantasiegebilde, erweckt in ihm den Glauben an nicht-existente Gewalten, an Siege, die nicht errungen, an Niederlagen, die nicht erlitten wurden. Man lehrt ihn, eine Maschine zusammensetzen, mit der Hand arbeiten und glaubt: er wäre dadurch »praktisch« geworden. Aber ein Mensch, der nie in seinem Leben eine Fabrik gesehen hat und Plato studiert, kann – er muß freilich nicht – tausendmal praktischer das Leben angreifen und es betrachten als ein Student, der sich die »schwielige Faust« erstudiert hat, weil man praktisch ist, wenn man gelernt hat, kritisch zu sein, und höchst unpraktisch, wenn man dressiert wurde, mit einem ahnungslosen, banalen, amerikanischen Optimismus zu glauben. Das ist das »Coué-System« auf Politik und Erziehung angewandt. In ganz Rußland sagt man sich jeden Morgen: »Es geht mir mit jedem Tag besser und besser.«
Dennoch wäre es falsch und ungerecht, die positiven Wirkungen zu verschweigen, die in Rußland die Durchbrechung des Anciennitätsprinzips gebracht hat. Daß das Rekrutenerziehungssystem abgeschafft ist, der Schüler über den Lehrer urteilen darf und über das Gelernte; daß der junge Mensch aufhört, nur deshalb weniger Mensch zu sein, weil er weniger Jahre zählt; daß weißhaarige Dummköpfe auch von Bartlosen Dummköpfe genannt werden dürfen – – das führt zu Ausschreitungen freilich, zu unbegründeten Frechheiten, zur arroganten majestas des Grünschnabels – – aber es bedeutet auch die Eröffnung neuer Möglichkeiten, die Befreiung bisher unterdrückter kritischer Kräfte und Instinkte. Es bedeutet auch, daß die Kritik der Jugend nach einigen Jahren gerade jene Gottheiten angreifen wird, zu denen sie heute täglich beten muß. Ja, diese Kritik beginnt heute schon. Einzelne Schüler empören sich heute schon gegen ewig wiederholte Banalitäten, gegen offizielle Schulfeier-Reden, gegen den Kitsch der pathetischen Lesebuch-Verherrlichungen, gegen die Einseitigkeit der angeordneten Welt-Betrachtung. Sie benützen ausdrücklich das Recht der freien Meinungs-Äußerung. Es gibt wieder Rebellion gegen die neue Mittelmäßigkeit, nachdem es wieder Vorzugsschüler der kommunistischen Ideologie gibt. Es ist das Verdienst der Revolution, daß diese Rebellen gegen die heutigen Sachwalter der Revolution rebellieren dürfen, freier, als wir es in unseren Schulen konnten. Und diese befreite Kritik ist die Zukunft Rußlands und der Revolution – nicht die Million der braven, gehorsamen, gläubigen Komsomols.