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Frankfurter Zeitung, 21. 12. 1926
In einem Moskauer Theater sah ich ein schlechtes, kitschiges, rohes, aber sehr aufschlußreiches Stück. Es heißt: »Jewgraf, iskatel' prikljucenij« (Jewgraf, der Schmied seines Schicksals). Wer ist Jewgraf? Ein junger Mann, Neffe eines Friseurladenbesitzers und selbst von Beruf Barbiergehilfe, am Geschäft seines Oheims beteiligt, ein aussichtsreicher Kompagnon, geliebt von der hübschen Kassierin des Oheims und berechtigt, eine Zukunft zu erwarten, die selbst in dieser verworrenen Zeit, selbst in diesem revolutionären Lande eine solide genannt werden kann. Jewgraf aber verschmäht Beruf, Kassierin und Zukunft, er will nicht Barbier sein, er will ein Held sein. Natürlich sinkt er jene bekannten »Stufen« hinunter, die es auch in Rußland gibt, und endet durch reuigen Selbstmord, nachdem er einen jüdischen Nep-Mann umgebracht hat. Weshalb will Jewgraf nicht Barbier und am Leben bleiben? Weil er ein revolutionärer Held war, weil er die Zeit nicht vergessen kann, in der er in den Reihen der Roten Armee kämpfte, Güter konfiszierte, satte Bürger aus ihren Häusern hinauswarf, sie vor sich auf den Knien liegen sah, ihr Leben und eine berauschende Macht in der Hand hielt. Wie soll man denn wieder vor allen diesen oder vor noch schlimmeren neuen Bürgern Verbeugungen machen und Türen aufreißen, wie es schließlich auch Friseurgehilfen in Rußland machen müssen?
»Jewgraf« ist, wie gesagt, ein rohes Stück (eines jener vielen kleinbürgerlich-brutalen Stücke, die jetzt in Rußland so oft gespielt werden und über die ich noch sprechen werde), der Autor packt das Problem mit beiden Fäusten und erdrosselt es beinahe, er übertreibt nicht künstlerisch, sondern didaktisch, also nach falschen Richtungen, er ist ein »Moralist«, er will zeigen, daß die Zeit gekommen ist, in der die Heroen Bürger werden müssen, soll es ihnen nicht schlecht ergehen. Aber gerade deshalb wird er selbst ebenso charakteristisch für diese Epoche der Revolution wie sein Held. Mir ist Jewgraf sympathischer als der Autor und als die augenblicklich im Lande der Revolution herrschende bürgerliche Moral; obgleich ich glaube, daß man Nep-Leute rasieren und dennoch ein Revolutionär sein kann. Aber Jewgraf ist hier, so plump er auch gelungen ist, ein repräsentativer, symbolischer Typus, sein Schicksal ist das eines Revolutionärs, der aus den nüchternen Tagen des augenblicklichen oder wirklichen »Aufbaus« herausfällt. Wer aber nicht nur ihn und seinen Fall betrachtet, sondern auch den »Aufbau« (was der Autor natürlich nicht tut), der wird fragen: Sind die Jewgrafs wirklich selbst schuld an ihrem Schicksal oder sind es die »aufbauenden Kräfte«? Gibt es nur zweierlei: Heroen oder Spießer? Wenn die Handgranate den Revolutionär, das Rasiermesser den Kleinbürger macht – was ist denn der »Bürger«, gegen den man so viel Handgranaten anwendet? Ist er nicht eher eine häßliche Schöpfung der Natur als ein gefährliches Produkt wirtschaftlicher Ordnungen? Wenn man nicht einmal die Methode seines Erwerbs zu ändern braucht, wenn man nicht einmal aus einem »Arbeitnehmer« ein »Arbeitgeber« werden muß, sondern sich einfach aus einem proletarischen Revolutionär in einen proletarischen Spießer verwandeln kann – wo ist die Grenze zwischen »Bürger« und »Freiem«? Ist es der »Geldschrank«, der den »satten Bourgeois« macht, so ist es die Liebe zur Ruhe, zum behaglichen Sonntag, zum Bierkrug, zum Grammophon, zu Frau und Kind, zum Besuch im Museum, zur Schachpartie im Klub, die den mageren Bourgeois macht. Auf den Körperumfang aber kommt es nicht an. Daß Sonntag, Bier, Grammophon, Museum und Schach bürgerliche Erbschaft sind und daß sie in einer nicht kapitalistischen Gesellschaft nicht hätten gedeihen können, kann kein Theoretiker behaupten: sie werden ja auch von der Revolution nicht abgelehnt, sondern freudig akzeptiert, verwaltet, gepflegt. Selbst wenn die typisch bürgerliche geistige Struktur als eine direkte Folge der kapitalistischen Wirtschaftsform erkannt wird, ist es dennoch noch nicht ausgeschlossen, daß eine natürliche Veranlagung zur »Bürgerlichkeit« a priori vorhanden ist. Ja, die kleinbürgerlichen Neigungen und Hemmungen des Proletariers beweisen es gerade. Es kann nicht der Sinn der Revolution sein, den Bürger durch Bürger abzulösen, den ausbeutenden Bourgeois durch den ausgebeuteten Bourgeois, den grausamen Spießer durch den leidenden Spießer. Es kann nicht ihr Sinn sein, alle Welt mit Grammophon, Museum, Schach zu beglücken. Es kann nicht ihr Schicksal sein, zu »verbürgerlichen«.
In Rußland aber »verbürgerlicht« sie. Fast aller revolutionären Ideen, Einrichtungen, Organisationen hat sich der kleinbürgerliche Geist bemächtigt, der in der Politik schon lange sichtbar ist, der den Heroismus liquidiert, die Bürokratie aufbaut, selbst wenn er sich einbildet, sie »abzubauen«, indem er Beamte entläßt. Es kommt eben nicht auf die Zahl an, wie die heutigen Verwalter der russischen Revolution glauben und wie sie immer wieder betonen. Es herrscht in Rußland ein Fanatismus der Statistik, eine Anbetung der Ziffer, die man in den Rang eines Arguments erhebt. Niemand ist, wie man weiß, stolzer, glücklicher und lächerlicher als ein Ideologe, der Gelegenheit findet, »Tatsachen« aufzuzählen. Jetzt, so bildet er sich ein, hat er die »Realität« am Kragen gepackt. (Er ist niemals weiter von der Realität entfernt gewesen.) Auf allen Versammlungen, auf allen Konferenzen, in allen Schulvorträgen, in allen Zeitungen erklingen diese stolzen »Feststellungen«: »Im Jahre 1913 hatte Rußland siebzig Prozent Analphabeten, zwanzig oder dreißig Prozent Schulbesucher – jetzt haben wir fünfzig und fünfzig.« Oder: »1913 hatten wir nur soundso viel Prozent Universitätsprofessoren, jetzt haben wir sechsmal mehr.« (Die Zahlen sind willkürlich angenommen.) – So geht es seit ungefähr drei Jahren in einem fort. Aber aus keiner Statistik geht hervor, ob man nicht statt der siebzig Prozent Analphabeten fünfundneunzig Prozent Spießer bekommt, kleine Reaktionäre; ob der sechshundertste Bauer das liest, was ihn klüger macht oder das, was ihn dümmer macht (denn man kann durch Lesen dumm werden); ob der tausendste neue Professor auch sein Amt ausfüllen kann; ob die dreißig Prozent proletarischer Universitätshörer auch genügend Vorbildung haben. Die verantwortlichen Männer Rußlands leben im Rausch der Zahlen, und die großen, runden Nullen verdecken die wahren Gesichter der Realitäten.
»Wir haben drei Millionen Pioniere, eine Million Komsomols! Die Zukunft der Revolution!« – Aber diese Zahlen verraten mir nicht, daß die ganze bürgerliche Jugend mit Freuden in die Pionierorganisationen strömt und daß auch die Proletarierkinder bürgerlich werden, daß die rote Farbe ihrer Fahnen nicht anders wirkt als eine gelb-grün-blaue, daß gerade die braven Streber, die typisch-kleinbürgerlichen Naturen, die früher zaristische Stipendien bekommen hätten, heute Komsomols werden und die Parteibeschlüsse auswendig büffeln. Ich sah im Hause eines befreundeten Kommunisten eine alte gutbürgerliche jüdische Großmutter ihr Enkelkind wiegen und sie sprach dazu: »Pawelchen, Pawelchen wirst ein Komsomolchen!« Eine achtjährige Pionierin erklärt mir deklamatorisch: »Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an die Masse!« »Ich muß unbedingt in die Partei kommen«, sagt mir ein Komsomol, »ich will ins Ausland mit einem staatlichen Stipendium.« Die Partei ist nun glücklich von »unzuverlässigen Elementen«, revolutionären Naturen, »kleinbürgerlichen« Anarchisten gesäubert. Jetzt strömen ihr streberische, zuverlässige, kleinbürgerliche »Marxisten« zu. Die Säuberung, welche die Partei alljährlich vornimmt, trifft höchstens die plumpen Karriere-Macher. Aber die braven Vorzugsschüler des Kommunismus, die eigentlichen Bürger bleiben selbstverständlich. Sie sind ja so schwer zu agnoszieren. Welch eine Entwicklung! Die Revolution, die Partei, die leitenden Männer sind gewiß nicht verantwortlich für die groben Geschmacklosigkeiten der Fabrikanten und der Händler. Und dennoch muß man an den Geist denken, der jetzt die Revolution verflacht, wenn man in Briefpapierläden, in Apotheken und in Delikatessengeschäften häßliche Büsten revolutionärer Männer sieht, Lenin auf einem Tintenfaß, Marx als Papiermesser-Griff, Lassalle über Kaviarbüchsen, Schleier, Glasperlen, die Porträts darstellen, revolutionäre Führerphysiognomien auf Beeten in öffentlichen Parks, aus Gras gezeichnet. Das alles soll nicht »kleinbürgerlich« sein? Den Männern der Statistik fällt dergleichen nicht auf und die fremden Beobachter haben so viel zu »besichtigen«, daß ihnen das Sehen vergeht. Es ist auch nicht jedem gegeben, einer Geschmacklosigkeit soviel Bedeutung beizumessen und in ihr die wüste Reaktion zu sehen, die revolutionäre Embleme herabwürdigt. Es gibt angeblich »wichtigere« Dinge, zum Beispiel: noch eine Ziffer.
Ich kann die Jewgrafs sehr gut verstehen. Sie werden wild. Sie rebellieren vor Enttäuschung. Sie sehen die Revolution bürgerlich werden, mit der Verzweiflung, mit der man eine geliebte Frau dick werden sieht. Ein Vergleich mit alten zaristischen Zeiten, der immer wieder als Trost gemacht wird, kann niemanden befriedigen. Denn der Zar ist schon lange tot und diese Revolution wollte ja mehr sein als eine antizaristische. Lenin hat sie geführt – welch ein Trost ist da ein Blick auf die zaristische Epoche! ...