Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es ist gewiß, meine Freunde: das Schicksal lenkt unsere Wege, eine billige Erkenntnis, alt wie das Schicksal selbst. Wir sehen es zuweilen. Meist wollen wir es gar nicht sehen. Auch ich gehörte zu jenen, die es nicht gerne sehen wollten, und allzuoft schloß ich sogar krampfhaft die Augen, um es nicht zu sehen, so wie ein Kind in der Finsternis die Augen schließt, um sich vor der Finsternis ringsum nicht zu fürchten. Mich aber – vielleicht war ich verflucht, vielleicht auserwählt, wie man will – zwang das Schicksal auf Schritt und Tritt in allzu offensichtlicher, fast schon banaler Weise, die Augen wieder zu öffnen.

Als ich die Botschaft verließ – sie lag in einer der vornehmsten Straßen, wie ihr wissen werdet, neben mehreren anderen Botschaftspalästen –, spähte ich nach einem Bistro aus. Denn ich gehöre zu den zahlreichen Menschen, die nicht im Gehen, sondern beim Sitzen und nur vor einem Glase einigermaßen Klarheit gewinnen können. Ich spähte also nach einem Bistro aus, es gab erst etwa vierzig Schritte weiter rechts eines, es war ein sogenanntes ›Tabac‹, – und nicht mehr als zwanzig Schritte entfernt ein anderes. Ich wollte nicht ins Tabac, ich wollte ins andere. Ich ging also weiter. Als ich aber vor dem anderen stand, kehrte ich aus einem mir ganz und gar nicht mehr erklärlichen Grunde wieder um und ging ins Tabac zurück. Ich setzte mich an einen der winzigen Tische in der rückwärtigen Abteilung des Ladens. Durch die Glastür, die das Büfett von mir trennte, sah ich die Zigarettenkäufer kommen und gehen. Ich saß dieser Glastür zugewandt, ich hatte gar nicht bemerkt, daß sich hinter meinem Rücken noch eine andere Tür befand, eine gewöhnliche hölzerne. Ich bestellte einen Marc de Bourgogne und beschloß nachzudenken.

›Da sind Sie, alter Freund‹, hörte ich hinter meinem Rücken. Ich wandte mich um. Ihr werdet erraten, wer es war, meine Freunde! Es war mein Freund Lakatos.

Ich gab ihm nur zwei Finger, aber er drückte sie so, als wär's meine ganze Hand.

Er setzte sich auch sofort, er war heiter, aufgeräumt, seine weißen Zähne blitzten, sein schwarzes Bärtchen schimmerte bläulich, den Strohhut schob er seitlich auf das linke Ohr. Es fiel mir auf, daß er heute kein Stöckchen trug, zum erstenmal sah ich ihn ohne Stock. Noch auffallender war seine Aktentasche, eine Tasche aus rotem Saffianleder.

›Gute Nachricht!‹ sagte er und wies auf die Aktentasche. ›Die Prämien sind erhöht.‹

›Was für Prämien?‹

›Prämien für Staatsfeinde‹, sagte er, als handelte es sich um Prämien für Schnelläufer und Radfahrer – wie es um jene Zeit üblich war.

›Ich komme soeben von Herrn Charron‹, fuhr Lakatos fort, ›er erwartet Sie.‹

›Er mag warten!‹ sagte ich. Aber ich war unruhig.

Während Lakatos sein Gebäck in den Kaffee tauchte – ich erinnere mich noch genau, es war ein Kipfel, croissant, wie man es nennt –, warf er so nebenbei hin: ›Apropos, Sie haben ja hier Freunde, die Rifkins.‹

›Ja‹, sagte ich schamlos.

›Ich weiß‹, sagte Lakatos, ›das Fräulein muß nach Rußland. Schwer, schwer, solch einen braven Menschen auszuliefern.‹ – Er schwieg, tauchte wieder den Kipfel in den Kaffee und sagte, indem er den aufgeweichten Teig schlürfte: ›Zweitausend‹ – und dann, nach einer längeren Pause: ›Rubel!‹

Wir schwiegen ein paar Minuten. Plötzlich stand Lakatos auf, öffnete die Glastür, warf einen Blick auf die Wanduhr über dem Büfett und sagte: ›Ich muß gehen, ich lasse hier Hut und Tasche. In zehn, höchstens fünfzehn Minuten bin ich zurück.‹

Und schon war er zur Tür hinaus.

Mir gegenüber lehnte die feuerrote Tasche Lakatos'. Der Strohhut lag neben ihr wie ein Knecht. Das Schloß der Tasche funkelte wie ein goldener, geschlossener Mund. Ein lüsterner Mund.

Eine berufliche – aber nicht allein eine berufliche, sondern auch eine Art übersinnlicher, einer teuflischen Neugier befahl mir, immer wieder über den Tisch zu schielen und die Tasche anzustarren. Ich konnte sie öffnen, bevor Lakatos wieder hier war. Zehn Minuten! hatte er gesagt. – Zehn Minuten! Ich hörte durch die geschlossene Glastür das harte Ticken der Wanduhr über dem Büfett. Ich fürchtete mich vor der Tasche. Zu beiden Seiten, über dem mittleren Schloß, das, wie gesagt, einem Mund ähnlich sah, hatte sie noch zwei kleine Schlösser, und die erschienen mir jetzt wie Augen. Ich trank noch zwei Doppelte, und schon begannen die Augen der Tasche zu zwinkern. Indessen tickte die Uhr, und die Zeit ging, und ich glaubte auf einmal zu wissen, wie kostbar die Zeit ist.

Zuweilen, in manchen Augenblicken, schien es mir, daß sich die feuerrote Ledertasche des Lakatos von selber gegen mich vorneigte, auf dem Stuhl, auf dem sie lehnte. Schließlich, in einem Augenblick, in dem ich wähnte, sie wolle sich mir ganz darbieten, griff ich nach ihr. Ich öffnete sie. Da ich die Uhr immer noch hart und grausam ticken hörte, dachte ich daran, daß Lakatos jeden Augenblick zurückkommen könnte, und ich ging mit ihr in die Toilette. Kam Lakatos inzwischen wieder, so konnte ich sagen, ich hätte sie aus Vorsicht mitgenommen. Es war mir, als nähme ich sie nicht einfach mit, sondern als entführte ich sie.

Ich öffnete sie mit fiebrigen Fingern. Ich hätte eigentlich schon wissen müssen, was sie enthielt – wie hätte ich es auch nicht wissen sollen, ich, der ich den Teufel so gut kannte und sein Verhältnis zu mir. Aber wir erkennen, meine Freunde, oft – wie es bei mir der Fall war – mit ganz anderen Fähigkeiten als mit den Sinnen oder dem Verstand – und aus Faulheit, Feigheit, Gewohnheit wehren wir uns gegen diese Erkenntnis. So erging es damals auch mir. Ich mißtraute meiner richtigen Erkenntnis; vielmehr, ich machte noch gewisse Anstrengungen, ihr zu mißtrauen.

Der eine oder andere unter euch, meine Lieben, wird vielleicht erahnen, was für Papiere sich in der Aktentasche des Lakatos befanden: Was mich betrifft, ich kannte sie gut, diese Papierchen, von Berufs wegen kannte ich sie. Es waren jene gestempelten, unterfertigten Paßformulare, die unsere Leute den armen Emigranten einzuhändigen pflegten, damit sie nach Rußland heimkehrten. Unzählige Menschen pflegte unsere Gesellschaft auf diese Weise den Behörden auszuliefern. Die armen Ahnungslosen fuhren in einer fröhlichen Sicherheit heim, mit legalen Pässen, wie es ihnen schien, an der Grenze aber hielt man sie zurück, und erst nach martervollen Wochen und Monaten kamen sie vor das Gericht und hierauf ins Zuchthaus und nach Sibirien. Die Unseligen hatten unsereinem, einem meinesgleichen vertraut. Die Stempel waren echt, die Unterschriften waren echt, die Photographien waren echt – wie sollten sie zweifeln? Auch wußten nicht einmal die offiziellen Behörden etwas von unseren schändlichen Methoden. Es gab nur ganz kleine, ganz winzige Anzeichen, an denen unsere Leute an der Grenze die Pässe der Verdächtigen von denen der Unverdächtigen unterscheiden konnten. Einem gewöhnlichen menschlichen Auge entgingen natürlich diese Anzeichen. Auch änderte man sie häufig. Einmal war es ein kleiner Nadelstich an der Photographie des Paßbesitzers; dann wieder fehlte ein halber Buchstabe im runden Stempel; das drittemal war der Name des Paßinhabers mit einer nachgezeichneten Druckschrift aufgeschrieben statt mit der gewöhnlichen Schreibschrift. Von all dem wußten die offiziellen Behörden in der Tat nicht mehr als die Opfer. Nur unsere Leute an den Grenzen kannten diese teuflischen Zeichen. Tadellose Stempel und Stempelkissen, rote und blaue und schwarze und violette, fand ich in der Aktentasche des Herrn Lakatos. Ich kehrte mit ihr wieder an meinen Tisch zurück und wartete.

Nach einigen Minuten kam Lakatos, setzte sich, zog mit einiger Feierlichkeit einen Umschlag aus der Rocktasche und überreichte ihn mir, ohne ein Wort. Während ich mich anschickte, das Kuvert zu öffnen, das das Siegel unserer Botschaft trug, sah ich, wie er seiner roten Ledermappe eines der Paßformulare entnahm, und hörte ich, wie er Tinte und Feder bestellte. In dem Schreiben, das ich las, teilte die kaiserliche Botschaft dem Fürsten Krapotkin mit, daß die besondere Gnade des Zaren die Brüder Rifkin befreit habe und daß auch der Schwester Channa Lea Rifkin keinerlei Gefahr drohe, wenn sie nach Rußland zurückkehre. Ich erschrak, meine Freunde, ich erschrak gewaltig. Aber ich stand nicht etwa auf, um wegzugehen, ja, ich schob nicht einmal das Papier Lakatos zu. Ich sah nur, wie Lakatos, ohne sich um mich zu kümmern, mit einer schönen, kalligraphischen Kanzleibeamtenschrift den Paß für die Jüdin Rifkin langsam, sorgfältig, behaglich ausstellte.

Meine Lieben! Ich zittere jetzt, während ich all dies erzähle, vor Selbsthaß und Selbstverachtung. Damals aber war ich stumm wie ein Fisch und gleichgültig wie ein Henker nach seiner hundertsten Hinrichtung. Ich glaube, daß ein tugendhafter Mensch seine edelste Tat ebensowenig zu erklären vermag wie ein Schuft von meiner Art seine niedrigste. Ich wußte ja, daß es darum ging, das edelste Mädchen, das ich kannte, zu verderben. Ich sah schon, mit meinem geübten Berufsauge, den geheimnisvollen, den teuflischen Nadelstich über dem Namen. Ich zitterte nicht, ich rührte mich nicht. Ich Unseliger dachte an die unselige Lutetia. Und, so wahr ich ein Schurke bin, ich hatte damals nur vor einem Angst: Ich mußte selbst zu den Rifkins gehen und dem Mädchen und dem Bruder die tückisch frohe Nachricht bringen.

Dermaßen zitterte ich davor, daß ich mich seltsamer-, das heißt schamloserweise von jeder Schuld befreit fühlte, als Lakatos, nachdem er mit dem Löschblatt sorgfältig seine Inschriften im Paß getrocknet hatte, aufstand und sagte: ›Ich gehe selbst zu ihr! Schreiben Sie nur zwei Zeilen: Der Überbringer dieses ist ein Freund, gute Reise, auf Wiedersehn in Rußland, Krapotkin.‹ Zugleich schob er mir Tintenfaß und Papier zu und drückte mir die Feder in die Hand. Und – meine Freunde – erlaubt ihr noch, daß ich euch Freunde nenne? – ich schrieb. Meine Hand schrieb. Noch nie hatte sie so schnell geschrieben.

Ohne das Papier zu trocknen, nahm es Lakatos. Es flatterte in seiner Hand wie eine Fahne, als er hinausging. Unter seinem linken Arm flackerte die rote Tasche.

All dies ging viel schneller, als ich es zu erzählen vermag. Knapp fünf Minuten später sprang ich auf, zahlte hastig und lief vor die Tür, um nach einem Wagen zu suchen. Aber es kam kein Wagen. Statt eines Wagens sah ich einen Lakaien der Botschaft stracks auf mich zu laufen.

Solowejczyk ließ mich rufen.

Selbstverständlich wußte ich sofort, daß Lakatos gesagt hatte, wo ich zu finden sei. Statt nun eine Ausrede zu gebrauchen und nach einem Wagen zu suchen, folgte ich dem Diener und ging zu Solowejczyk.

Ich saß zwar allein im Vorzimmer der Eingeweihten, aber er ließ mich lange warten. Es vergingen zehn Minuten, zehn Ewigkeiten, da rief er mich erst. Ich begann sofort: ›Ich muß fort, es ist ein teures Menschenleben, ich muß fort!‹

›Um wen handelt es sich?‹ fragte er langsam. ›Um die Rifkins!‹ sagte ich. ›Kenne ich nicht, weiß nichts von ihnen‹, sagte Solowejczyk. ›Bleiben Sie sitzen! Sie haben Geld gebraucht. Hier! Für besondere Dienstleistungen!‹ Er gab mir meinen Lohn! Meine Freunde! Wer nie einen Lohn für einen Verrat erhalten hat, kann das Wort Judaslohn für einen abgebrauchten Ausdruck halten. Ich nicht. Ich nicht. Ich nicht.

Ich lief hinaus, ohne Hut, ich erwischte einen Wagen, ich trommelte mit der Faust von Zeit zu Zeit gegen den Rücken des Kutschers, er schlug und knallte immer heftiger mit der Peitsche. Wir kamen zum Schweizer. Ich sprang ab. Der gute Mann begrüßte mich mit einem glücklichen Gesicht. ›Sie sind endlich frei und gerettet‹, rief er, ›Dank Ihnen! Sie sind schon zur Bahn. Ihr Sekretär, Durchlaucht, hat sie sofort mitgenommen. Oh, Sie sind ein edler Mensch!‹ Er hatte Tränen in den Augen, er griff nach meiner Hand, er bückte sich, um sie zu küssen. Der Kanarienvogel zwitscherte.

Ich entriß ihm die Hand, grüßte ihn nicht, stieg wieder in den Wagen und fuhr ins Hotel.

Unterwegs nahm ich den Scheck aus der Tasche und behielt ihn krampfhaft in der Hand. Er war mein Sündengeld, aber er sollte mein Sühnegeld werden. Es war ein unwahrscheinlich hoher Lohn, heute noch schäme ich mich, die Zahl zu nennen – obwohl ich euch doch alles andere Schändliche erzähle. Keine Lutetia mehr, kein Schneider mehr, kein Krapotkin mehr. Nach Rußland! Mit Geld konnte man sie noch an der Grenze erreichen. Meinen Kollegen telegraphieren. Man kennt mich. Mit Geld kann man sie zurückschicken! Keine lächerlichen Ambitionen mehr! Gutmachen! Gutmachen! Koffer packen und nach Rußland! Retten! Die Seele retten!

Ich bezahlte das Hotel. Ich ließ die Koffer packen. Ich bestellte zu trinken. Ich trank. Ich trank. Eine wilde Fröhlichkeit ergriff mich. Ich war schon gerettet. Ich telegraphierte dem Chef unserer geheimen Grenzpolizei Kaniuk, er möchte die Rifkins aufhalten. Ich packte eifrig, neben dem Personal.

Kurz vor Mitternacht war ich fertig. Mein Zug ging erst um sieben Uhr morgens. Ich griff in die Tasche und faßte einen Schlüssel. An seiner Form, an seinem Bart erkannten meine Finger, daß es der Schlüssel zu Lutetias Wohnung war. Ah, also ein Fingerzeig des guten Gottes. Man muß heute auch zu ihr, gesegnete Nacht, man gesteht und erzählt alles. Man nimmt Abschied und gibt ihr und sich selbst die Freiheit.

Ich fuhr zu Lutetia. Ich glaubte zu spüren, als ich ins Freie trat, daß ich zuviel getrunken hatte. Ich sah ringsum singende, aufgeregte Menschen. Ich sah Menschen mit Fahnen, aufgeregte Redner, weinende Frauen. Damals war, wie ihr wißt, Jaurès in Paris erschossen worden. Alles, was ich da sah, bedeutete natürlich den Krieg. Ich aber war damals in mich eingesponnen, ich begriff nichts, ein töricht und trunken Taumelnder ...

Ich war entschlossen, ihr zu sagen, daß ich sie belogen hatte. Einmal auf dem Wege der sogenannten Anständigkeit angelangt, gab es für mich kein Halten mehr. Ich berauschte mich jetzt geradezu an der Anständigkeit, wie ich mich vorher am Bösen berauscht hatte. Viel später erst erkannte ich, daß derlei Räusche nicht beständig sein können. Es ist unmöglich, sich an der Anständigkeit zu berauschen. Die Tugend ist immer nüchtern.

Ja, ich wollte alles beichten. Ich wollte mich – ich stellte es mir sehr tragisch vor – vor der geliebten Frau meines Lebens erniedrigen, um dann Abschied von ihr auf immer zu nehmen. Der noble und fromme Verzicht erschien mir in jenem Augenblick weitaus erhabener als die verlogene Noblesse, in der ich bis jetzt gelebt hatte, und als die Leidenschaft sogar. Ein Leidender, Erniedrigter, aber ein namenloser Held, wollte ich von nun ab durch das Leben irren. Wenn ich bis jetzt ein jämmerlicher Held gewesen war, so sollte ich von nun ab ein wirklicher, ein echter werden.

In dieser gehobenen Düsterkeit – wenn ich so sagen darf – begab ich mich zu Lutetia. Ich schloß auf. Es war die Zeit, in der Lutetia gewohnt war, meinen Besuch zu erwarten. Ich wunderte mich schon im Vorzimmer, daß mir ihr Stubenmädchen nicht entgegenkam, denn auch sie pflegte mich um diese Zeit zu erwarten. Alle Türen waren offen. Man mußte an dem ekelhaften Papagei und an dem Getier anderer Art vorbei in den erleuchteten Salon, dann in den Toilettenraum und schließlich in das sanftblau belichtete Schlafzimmer, das Lutetia ihr ›Boudoir‹ zu nennen pflegte. Ich zögerte zuerst, ich weiß nicht, warum. Ich ging mit sachteren Schritten als gewöhnlich. Die dritte Tür, die des Schlafzimmers, war zugemacht, aber nicht verschlossen.

Ich öffnete zaghaft.

Im Bett, neben Lutetia, den Arm um ihren Nacken, lag ein Mann, und es war, wie ihr euch vielleicht denken könnt, der junge Krapotkin. Beide schienen sie so fest zu schlafen, daß sie mich nicht kommen gehört hatten. Ich näherte mich dem Bett auf den Zehenspitzen. Oh, es war gar nicht meine Absicht, eine sogenannte Szene zu machen. In jenem Moment bereitete mir der Anblick, der sich mir bot, einen tiefen Schmerz. Aber eifersüchtig war ich keineswegs. In der heroischen Verzichtsstimmung, in der ich mich damals befand, war mir der Schmerz, den mir die beiden bereiteten, beinahe erwünscht. Er bestätigte gewissermaßen meinen Heroismus und meine Entschlüsse. Es war eigentlich meine Absicht, sie sanft zu wecken, ihnen Glück zu wünschen und beiden alles zu erzählen. Aber es geschah, daß Lutetia erwachte, einen schrillen Schrei ausstieß, der den Jungen natürlich weckte. Ehe ich noch etwas sagen konnte, saß er aufrecht im Bett, in einem knallblauen, seidenen Pyjama, das seine nackte Brust offen ließ. Es war eine weiße, schwächliche, unbehaarte Jünglingsbrust, eine Knabenbrust, ich weiß nicht, warum sie mich in jenem Augenblick so ärgerte. ›Ah, Golubtschik‹, sagte er – und rieb sich die Augen, ›Sie sind immer noch nicht abgefertigt? Hat Sie mein Sekretär nicht endgültig ausbezahlt? Geben Sie mir meinen Rock, nehmen Sie meinetwegen die Brieftasche.‹

Lutetia schwieg. Sie sah mich an. Sie mußte schon alles wissen. Da ich mich nicht rührte und den Fürsten nur traurig anblickte, während er, in seiner Dummheit, glauben mochte, ich sähe ihn frech oder herausfordernd an, begann er plötzlich zu brüllen: ›Hinaus, Spitzel, Lump, bezahlter, hinaus!‹

Und da ich in dem gleichen Augenblick sah, wie sich Lutetia, nackt, mit nackten Brüsten, aufrichtete, entbrannten in mir, trotz allen Vorsätzen und obwohl ich bereits losgelöst war von aller fleischlichen Lust sozusagen, erwachte also in mir, sage ich, beim Anblick der nackten Frau, die mir, nach den stupiden männlichen Begriffen, eigentlich ›gehören‹ mußte, die alte böse Wut.

Es fiel mir im Augenblick gar nichts ein, nur das Wort Golubtschik erfüllte mein Hirn und mein Blut, und mein Haß fand keinen anderen Ausdruck. Die nackte Lutetia verwirrte mich vollends, und lauter noch, als der Fürst Krapotkin geschrien hatte, brüllte ich ihm ins Gesicht: ›Golubtschik heißt du! Nicht !ich Wer weiß, mit welchen Golubtschiks deine Mutter geschlafen hat! Keiner weiß es. Mit meiner aber hat der alte Krapotkin geschlafen. Und ich bin sein Sohn!‹

Er sprang auf, er faßte mich an der Gurgel, der Schwächling. Schwächer noch war er, weil er entkleidet war. Seine zarten Hände konnten meinen Hals nicht umfassen. Ich stieß ihn zurück. Er fiel aufs Bett. Von nun an weiß ich nicht mehr, was eigentlich geschah. Ich höre heute noch die schrillen Schreie Lutetias. Ich sehe heute noch, wie sie, ganz nackt, schamlos erschien sie mir damals, aus dem Bett springt, um den Jungen zu schützen. Ich weiß nicht mehr, was ich tue. In meiner Tasche liegt ein schweres Schlüsselbund, an dem ein eisernes Schloß befestigt ist, jenes Schloß, das ich aus besonderer Vorsicht an meinem Geheimkoffer anbringe, wenn wichtige Papiere darin sind. Ich habe keine wichtigen Papiere mehr. Ich bin kein Spitzel mehr. Ich bin ein anständiger Mensch. Man reizt mich. Man zwingt mich zum Mord. Ich greife, ohne daß ich wüßte, was ich tue, in meine Hosentasche. Ich schlage los, auf den Kopf Krapotkins, auf den Kopf Lutetias. Ich hatte bis zu jener Stunde noch niemals im Zorn geschlagen. Ich weiß nicht, wie es andern ergeht, wenn sie Zorn ergreift. Mir jedenfalls ging es so, meine Freunde, daß jeder meiner Schläge eine mir bis dahin unbekannte Wollust bereitete. Zugleich glaubte ich fast zu wissen, daß meine Schläge auch meinen Opfern Wollust bereiteten. Ich schlug, ich schlug – ich schäme mich nicht, es zu schildern – so schlug ich, meine Freunde.«

Hier erhob sich Golubtschik von seinem Stuhl, und sein Antlitz, zu dem wir Zuhörer alle emporblickten, wurde abwechselnd käseweiß und violett. Er ließ seine Faust ein paarmal auf den Tisch niedersausen, die halbgefüllten Schnapsgläser fielen kläglich um und rollten auf den Boden, und der Wirt beeilte sich, die Karaffe zu retten. Obwohl er aufgeregt die Bewegungen Golubtschiks beobachtete, fand er doch noch die – berufliche – Geistesgegenwart, die Karaffe in seinem Schoß zu bergen. Golubtschik riß die Augen zuerst auf, dann schloß er sie, hierauf begannen wieder seine Augenlider zu zucken, eine dünne Speichelspur bildete einen weißen Saum um seine bläulichen Lippen. Ja, genauso mußte er damals ausgesehen haben, als er gemordet hatte. In diesem Augenblick wußten wir Zuhörer es alle: Er war ein Mörder ...

Er setzte sich wieder, sein Angesicht nahm die gewöhnliche Farbe an. Er trocknete den Mund mit dem Handrücken, hierauf die Hand mit dem Taschentuch und fuhr fort:

»Ich sah zuerst an der Stirn Lutetias, oberhalb des linken Auges, einen tiefen Riß. Das Blut spritzte hervor und überströmte das Gesicht und färbte die Kissen. Obwohl Krapotkin, mein zweites Opfer, hart danebenlag, gelang es mir dennoch (es war geradezu eine wunderbare Fähigkeit, mit offenen Augen nicht zu sehen, was ich nicht schauen wollte), mir einzubilden, er wäre gar nicht vorhanden. Ich sah nur das strömende Blut Lutetias. Ich erschrak nicht vor meiner Untat. Nein! Ich war nur erschrocken über den unaufhörlichen Fluß, den Überfluß des Blutes, das in einem menschlichen Schädel enthalten sein konnte. Es war, als müßte ich bald – wollte ich noch warten – in dem Blut ertrinken, das ich selbst vergossen hatte.

Ich bin plötzlich ganz ruhig. Nichts beruhigt mich so sehr wie die Sicherheit, daß sie jetzt beide schweigen werden. In alle Ewigkeit werden sie schweigen. Es ist ganz still, nur die Katzen kommen geschlichen. Sie springen auf die Betten. Vielleicht riechen sie das Blut. Aus dem Nebenzimmer krächzt der Papagei meinen Namen, meinen gestohlenen Namen: ›Krapotkin, Krapotkin!‹

Ich stelle mich vor den Spiegel. Ich bin ganz ruhig. Ich betrachte mein Gesicht und sage zu meinem Spiegelbild mit lauter Stimme: ›Du bist ein Mörder!‹ Ich denke gleich darauf: Du bist ein Polizist! Man muß sein Handwerk gründlich kennen!

Hierauf gehe ich in die Toilette, gefolgt von den lautlosen Katzen. Ich wasche meine Hände und mein Schlüsselbund und das Schloß.

Ich setzte mich an den unangenehm zierlichen Schreibtisch Lutetias und schrieb mit verstellter Schrift, mit lateinischen Buchstaben, ein paar Worte; sinnlose Worte; sie lauteten: ›Wir hatten ohnehin sterben wollen. Nun sind wir durch dritte Hand gestorben. Unser Mörder ist ein Freund meines Liebhabers, des Fürsten!‹

Es machte mir damals ein besonderes Vergnügen, die Schrift Lutetias genau nachzuahmen. Es war übrigens nicht schwierig, mit ihrer Tinte und ihrer Feder. Sie hatte die Schrift aller kleinen und plötzlich erhobenen Kleinbürgerinnen. Trotzdem verwandte ich eine ungewöhnlich lange Zeit auf die ganz genaue Nachahmung dieser Schrift. Um mich herum schlichen die Katzen. Der Papagei rief von Zeit zu Zeit: ›Krapotkin, Krapotkin!‹

Nachdem ich fertig geworden war, verließ ich das Zimmer. Ich sperrte das Schlafzimmer von außen zweimal ab, auch die Wohnung zweimal. Ich ging seelenruhig und gedankenlos die Treppe hinunter. Ich grüßte höflich, wie ich gewohnt war, die Hausmeisterin, die trotz der späten Stunde immer noch in der Loge saß und strickte. Sie stand sogar auf, denn ich war ein Fürst – und fürstliche Trinkgelder hatte sie oft von mir bekommen.

Ich stand noch eine Weile, seelenruhig und gedankenlos, vor dem Haustor. Ich erwartete einen Fiaker. Als ein freies Gefährt vorbeikam, winkte ich und stieg ein. Ich fuhr zum Schweizer, bei dem die Rifkins gewohnt hatten. Ich weckte ihn und sagte: ›Ich muß mich bei Ihnen verbergen.‹

›Kommen Sie‹, sagte er nur und führte mich in ein Zimmer, das ich bis jetzt nicht gekannt hatte. ›Hier können Sie sicher bleiben‹, sagte er. Und er brachte mir Milch und Brot.

›Ich habe Ihnen etwas zu sagen‹, sagte ich. ›Ich habe nicht aus politischen Motiven getötet, sondern aus privaten.‹

›Das geht mich nichts an‹, erwiderte er.

›Ich habe Ihnen noch mehr zu erzählen‹, sagte ich. ›Was denn?‹ fragte er.

In diesem Augenblick – es war allerdings ganz finster – nahm ich mir den Mut zu sagen: ›Ich bin ein Spitzel, seit langen Jahren. Heute aber habe ich privat gemordet.‹

›Sie bleiben hier bis zum Morgengrauen!‹ sagte er. ›Bis dahin – und keine Sekunde länger bleiben Sie in diesem Haus.‹ Und dann, als wäre in ihm der Engel erwacht, fügte er hinzu: ›Schlafen Sie wohl! Und Gott verzeihe Ihnen!‹

Ich schlief keineswegs – brauche ich euch das noch zu sagen, meine Freunde? Lange noch vor dem Morgengrauen erwachte ich. Ich hatte in meinen Kleidern schlaflos dagelegen. Ich mußte das Haus verlassen, und ich verließ es. Ich wanderte ziellos durch die erwachenden Straßen. Als es acht Uhr von den verschiedenen Türmen schlug, begab ich mich auf den Weg nach der Botschaft. Ich hatte nicht falsch gerechnet. Ich trat, ohne mich angemeldet zu haben, in das Zimmer Solowejczyks. Ich erzählte ihm alles.

Nachdem ich geendet hatte, sagte er:

›Sie haben sehr viel Unglück im Leben, aber doch auch ein klein wenig Glück. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Es ist Krieg in der Welt. Er wird in diesen Tagen ausbrechen. Vielleicht um die Stunde, in der Sie Ihre Missetat, oder sagen wir lieber, Ihren Mord begangen haben. Sie müssen einrücken! Warten Sie ein halbes Stündchen. Sie werden einrücken!‹

Nun, meine Freunde, ich rückte ein, und mit Freuden. Vergeblich fragte ich an der Grenze nach den Rifkins. Auch Kaniuk war nicht mehr da. Von meinem Telegramm wußte man gar nichts. Euch allen, die ihr den Krieg mitgemacht habt, brauche ich nicht zu erzählen, was er war, dieser Weltkrieg. Der Tod war uns allen nahe. Vertraut waren wir mit ihm, ihr wißt es, wie mit einem vertrauten Bruder. Die meisten von uns fürchteten ihn. Ich aber, ich suchte ihn. Ich suchte ihn mit aller Liebe und mit aller Gewalt. Ich suchte ihn im Schützengraben, ich suchte ihn auf den Vorposten, zwischen und vor den Stacheldrähten, im Kreuzfeuer und beim Sturmangriff, im Giftgas und überall sonst, wo ihr wollt. Ich bekam Auszeichnungen, aber niemals eine Verwundung. Der gute Bruder Tod entzog sich mir einfach. Der gute Bruder Tod verachtete mich. Ringsherum fielen sie, meine Kameraden. Ich beweinte sie keineswegs. Ich beklagte die Tatsache, daß ich nicht sterben konnte. Ich hatte gemordet, und ich konnte nicht sterben. Ich hatte dem Tod Opfer geschenkt, und er bestrafte mich: Mich, mich allein wollte er nicht haben.

Ich sehnte mich damals nach ihm. Denn ich glaubte damals noch, der Tod sei eine Qual, durch die man büßen könne. Später erst begann ich zu ahnen, daß er eine Erlösung ist. Ich hatte ihn nicht verdient; und deshalb war er auch nicht gekommen, mich zu erlösen.

Es ist überflüssig, euch, meinen Freunden, die ihr es wißt, von dem Unheil zu berichten, das dann über Rußland hereinbrach. Es gehört nicht zu meiner Geschichte übrigens. Zu meiner Geschichte gehört nur die Tatsache, daß ich, gegen meinen sehnsüchtigen Willen heil geblieben, vor der Revolution flüchtete. Ich gelangte nach Österreich. Ich gelangte nach der Schweiz. Erlaßt mir bitte die einzelnen Etappen. Es zog mich nach Frankreich, es zog mich nach Paris. Es zog mich, nachdem mich der Tod verschmäht hatte, nach der Stätte meiner jämmerlichen Freveltaten, wie jeden Mörder.

Ich kam in Paris an. Es war ein fröhlicher Tag, obwohl es Herbst war, fast Winter – aber der Winter sieht ja in Paris fast so aus wie bei uns der Herbst. Man feierte den Sieg und den Frieden. Was ging mich der Sieg, was ging mich der Frieden an? Ich schleppte mich nach dem Hause in der Avenue des Champs-Élysées, wo ich einst meinen Mord begangen hatte.

Die Hausmeisterin, die alte Hausmeisterin von dazumal, stand noch vor der Tür. Sie erkannte mich nicht. Wie hätte sie mich auch erkennen sollen? Ich war grau geworden – grau, wie ich heute bin.

Ich fragte nach Lutetia – und mein Herz klopfte.

›Dritter Stock links‹, sagte sie.

Ich stieg die Treppe hinauf. Ich klingelte. Lutetia selbst öffnete mir. Ich erkannte sie sofort. Sie erkannte mich keineswegs. Sie machte Anstalten, mich nicht einzulassen.

›Ah!‹ sagte sie nach einer Weile – trat zurück, schloß die Tür und öffnete sie wieder aufs neue. ›Ah!‹ wiederholte sie und breitete die Arme aus.

Ich weiß nicht, meine Freunde, weshalb ich eigentlich in diese Arme fiel. Wir umarmten uns lange und ausführlich. Ich hatte die deutliche Empfindung, es ereignete sich etwas unerhört Banales, Lächerliches und sogar Groteskes. Man denke: die Frau, die ich mit eigenen Händen umgebracht zu haben glaubte, hielt ich in den Armen.

Nun, meine Freunde, es dauerte nicht lange, und ich erfuhr, ich erlebte die höchste, die tiefste – wenn ihr so wollt – aller Tragödien: die Tragödie der Banalität nämlich.

Ich blieb erstens bei Lutetia. Sie hieß übrigens längst nicht mehr so und auch nach dem mondänen Schneider krähte kein Hahn mehr – wie man so zu sagen pflegt. Ich blieb bei ihr: aus Liebe, aus Reue, aus Schwäche: Was kann man wissen, meine Freunde?

Ich hatte keinen von beiden getötet. Ich hatte wahrscheinlich nur die Rifkins getötet. Vorgestern erst traf ich im Jardin du Luxembourg den jungen Fürsten Krapotkin. Begleitet von seinem backenbärtigen, silbrigen und schwarzen Sekretär, der immer noch lebt und, wenn auch schäbiger und armseliger als einst, dennoch immer noch nicht wie ein Begleiter des Fürsten aussieht, sondern wie sein Leichenträger, ein Leichenbegleiter sozusagen, ging der junge Fürst einher, an zwei Stöcken humpelte er – vielleicht die Folge der Verletzung am Kopfe, die ich ihm damals beigebracht hatte.

›Ah, Golubtschik‹ rief er, als er mich erblickte – und es klang anders, freudig beinahe.

›Ja, ich bin es!‹ sagte ich. ›Verzeihen Sie mir!‹

›Nichts, nichts, nichts von der Vergangenheit!‹ sagte er und richtete sich mit Hilfe seiner zwei Stöcke zu seiner vollen Größe auf. ›Wichtig ist die Gegenwart, die Zukunft!‹

Ich sah sofort, daß er schwach von Sinnen war, und sagte: ›Ja, ja!‹

Plötzlich erglomm ein leichtes Feuerchen in seinen Augen, und er fragte:

›Das Fräulein Lutetia? Lebt sie?‹

›Sie lebt!‹ sagte ich – und verabschiedete mich hastig.

 


 << zurück weiter >>