Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Als ich ins Hotel kam – es war schon ziemlich spät, und einzelne Lämpchen brannten schon in der Halle –, sagte man mir, ein Herr erwarte mich im Schreibzimmer.

Ich dachte, es sei Lakatos, und ging, ohne etwas zu sagen, ins Schreibzimmer. Aus dem breiten Sessel hinter einem der Schreibtische erhob sich aber keineswegs mein Freund Lakatos, sondern, zu meiner Verwunderung, der mondäne Schneider, der Schöpfer der ›Kreationen‹.

Es herrschte im Schreibzimmer eine Art Halbdunkel, das noch verstärkt wurde durch die grün beschirmten Lichter an den anderen Schreibtischen, statt durch sie geschwächt zu werden. Die Lämpchen kamen mir vor wie beleuchtete Giftfläschchen.

In diesem sonderbaren Licht erschien mir das breite, fahle Gesicht des Schneiders etwa wie ein Teig im Ofen, ein Teig, der aufquillt. Ja, je näher er mir kam, desto größer wurde sein breiiges Angesicht, größer und breiter selbst im Verhältnis zu seinen übermäßig weiten, weibischen, flatternden Kleidern. Er verbeugte sich vor mir, und es war, als verneigte sich vor mir eine Art quadratischer Kugel. Ich war nicht mehr geneigt zu glauben, daß der Schneider ein leibhaftiger, wirklicher Mensch sei.

›Fürst‹, sagte er, indem er seinen vierschrötigen und zugleich kugeligen Oberkörper wieder mühsam erhob, ›darf ich eine Kleinigkeit mit Ihnen besprechen?‹

Es kam mir lächerlich vor, daß man mich immer noch ›Fürst‹ nannte, aber es beruhigte mich dennoch. Ich bat den mondänen Mann zu sagen, was er auf dem Herzen hätte.

›Eine Kleinigkeit, Fürst‹, versicherte er, ›eine Lächerlichkeit‹, und dabei zog seine rundliche, teigige Hand einen vollendeten Bogen in der Luft. – ›Es handelt sich um eine kleine Schuld. Es ist mir sehr peinlich, ja sogar zuwider. Es handelt sich um die Kleider Fräulein Lutetias.‹

›Was für Kleider?‹ fragte ich.

›Es ist schon zwei Monate her‹, sagte der Herr Charron. ›Fräulein Lutetia ist eine besondere Person, Frau, Dame, wollte ich sagen. Es ist manchmal schwer, mit ihr auszukommen. Sie ist, ich muß sagen, eine wirkliche Dame, nicht wie die anderen. Obwohl die Tochter eines meiner gewöhnlichen, was sag' ich, eines meiner allergewöhnlichsten Kollegen, hat sie (mit Recht) Ansprüche wie eine Dame aus den Kreisen unserer vornehmsten Kundschaft. Ich muß gestehen, Fürst, ich muß gestehen, ich habe ihr, das heißt Fräulein Lutetia, drei meiner besten Modellkleider verkauft, die sie selbst vorgeführt hatte. Auch wäre ich nicht gekommen, um zu stören, wenn ich nicht gerade gewisse akute Schwierigkeiten im Augenblick zu überwinden hätte.‹

›Wieviel?‹ fragte ich, wie ein echter Fürst.

›Achttausend!‹ sagte Charron prompt.

›Gut!‹ sagte ich, wie ein echter Fürst. Und ich entließ ihn.

Nachdem er gegangen war, fuhr ich sofort zu Lutetia. Achttausend Francs, um jene Zeit, meine Freunde – es war keine Kleinigkeit für mich, einen armen, armseligen Spitzel. Gewiß hätte ich auch vielleicht gar nichts tun dürfen. Aber, liebte ich nicht immer noch? War ich nicht immer noch gefangen?

Ich ging zu Lutetia. Sie saß am gedeckten Abendtisch und erwartete mich wie gewöhnlich – auch an den Abenden, an denen ich nicht kommen konnte –, wie es sich für eine sogenannte ›ausgehaltene Frau‹ gehört.

Ich gab ihr den üblichen Kuß, zu dem man sozusagen verpflichtet ist gegenüber einer Frau, die man erhält. Es war ein Pflichtkuß, wie ihn große Herren verabreichen.

Ich aß, ohne Appetit, und ich muß gestehen, ich sah mit einiger Mißgunst, trotz all meiner Verliebtheit, den gesunden Appetit Lutetias. Ich war damals niedrig genug, an die achttausend Francs zu denken. Vieles kam noch zusammen. Ich dachte an mich selbst, an den echten Golubtschik. Ein paar Stunden früher war ich froh gewesen, wieder ein wahrer Golubtschik zu sein. Jetzt aber, mit Lutetia am selben Tisch, erfüllte mich Bitterkeit darüber, daß ich ein wahrer Golubtschik sein sollte. Zugleich aber war ich doch noch irgendwo ein Krapotkin, und ich hatte achttausend Francs zu bezahlen. Als ein Krapotkin hatte ich sie zu bezahlen. Auf einmal erbitterte mich, der ich niemals gezählt und gerechnet hatte, die Höhe der Summe. Es gibt, meine Freunde, bestimmte Augenblicke, in denen das Geld, das man zu zahlen hat, für eine Leidenschaft, beinahe so wichtig erscheint wie die Leidenschaft selbst und ihr Gegenstand. Ich dachte nicht daran, daß ich Lutetia, die Geliebte meines Herzens, mit schändlichen und schurkischen Lügen erworben hatte und behalten, sondern ich machte es ihr zum Vorwurf, daß sie meinen Lügen glaubte und von ihnen lebte. Ein unbekannter, fremder Zorn stieg in mir hoch. Ich liebte Lutetia. Aber ich zürnte ihr. Bald schien es mir, noch während wir aßen, sie allein sei schuld an meiner Schuld. Ich suchte, forschte, ich grub gleichsam nach Fehlern in ihr. Ich fand, daß es einem Betrug glich, wenn sie mir nichts von den Kleidern erzählt hatte.

Deshalb sagte ich langsam, während ich ebenso langsam die Serviette zusammenfaltete: ›Herr Charron war heute bei mir!‹

›Schwein!‹ sagte Lutetia nur.

›Warum?‹ fragte ich.

›Altes Schwein‹, sagte Lutetia.

›Warum?‹ wiederholte ich.

›Ach, was weißt du!‹ sagte Lutetia.

›Ich soll achttausend Francs für dich bezahlen‹, sagte ich, ›warum hast du's nicht gesagt?‹

›Ich muß dir nicht alles sagen‹, erwiderte sie.

›Doch, alles!‹ sagte ich.

›Nicht Kleinigkeiten!‹ sagte Lutetia. Sie stützte die gefalteten Hände unter das Kinn und sah mich an, kampfsüchtig und beinahe böse.

›Nicht alles!‹ wiederholte sie.

›Weshalb nicht?‹ fragte ich.

›So!‹

›Was heißt: so?‹

›Ich bin eine Frau!‹ sagte sie.

Welch ein Argument! dachte ich, und ich nahm mich zusammen, wie man sagt, und sagte:

›Ich habe nie daran gezweifelt, daß du eine Frau bist!‹

›Du hast es aber nie verstanden!‹ sagte sie.

›Sprechen wir praktisch und sachlich‹, sagte ich, immer noch ruhig, ›warum hast du mir nichts von den Kleidern gesagt?‹

›Kleinigkeit!‹ erwiderte sie, ›was kosten sie schon?‹

›Achttausend!‹ sagte ich. – Dabei fürchtete ich – obwohl ich bereits entschlossen gewesen war, ein einfacher Golubtschik zu sein –, ich hätte nicht so gesprochen, wie ein Fürst Krapotkin in der gleichen Lage gesprochen hätte.

›Kleinigkeit!‹ sagte sie. ›Ich bin eine Frau. Ich brauche Kleider!‹

›Warum sagst du mir nichts vorher?‹

›Ich bin eine Frau!‹

›Das weiß ich!‹

›Das weißt du nicht! Sonst würdest du darüber kein Wort verlieren.‹

›Du hättest mir den Besuch Charrons ersparen können‹, sagte ich, ›ich mag es nicht. Ich will keinerlei Überraschungen!‹ Ich redete immer noch so daher wie ein Fürst – indessen beschäftigten mich die achttausend Francs.

›Willst du noch weiter mit mir streiten?‹ fragte Lutetia. Und schon entzündete sich in ihren schönen, aber seelenlosen Augen, die mir damals wie Glasmurmeln erschienen, jenes zornige Feuerchen, das ihr wahrscheinlich schon alle, ihr, meine Freunde, in den Augen eurer Frauen gemerkt haben werdet – in bestimmten Stunden. Wenn Feuer ein Geschlecht hat, ich glaube es, es gibt ein ganz gewisses weibliches Feuer. Es hat keinen Grund, keine ersichtliche Ursache. Ich habe den Verdacht: es glimmt immer in den Seelen der Frauen, und manchmal lodert es auf und brennt in den Augen der Frauen: ein gutes und gleichzeitig ein böses Feuerchen. Wie man's ansieht. Ich habe jedenfalls Angst davor.

Lutetia erhob sich, warf die Serviette hin, mit jener wollüstigen Heftigkeit, mit der die Frauen so oft spielen und die ebensooft sehr echt ist, und sagte noch einmal:

›Ich lass' mir das nicht mehr gefallen! Ich hab' genug!‹ Und als hätte sie es nicht schon ein paarmal gesagt, wiederholte sie: ›Du wirst das nie verstehen! – Ich bin eine Frau!‹ Auch ich erhob mich. – Ich dachte, unerfahren, wie ich damals war, man könne durch eine zärtliche Berührung eine Frau besänftigen und versöhnen. Das Gegenteil, meine Lieben, das Gegenteil ist der Fall! Kaum hatte ich einen Arm voller Zärtlichkeit ausgestreckt, da schlug mich die süße Lutetia, die Geliebte meines Herzens, mit beiden Fäusten ins Gesicht. Zugleich stampfte sie mit beiden Füßen – eine seltsame Eigenschaft, die wir nicht haben, wir Männer, wenn wir schlagen –, und sie schrie dabei: ›Zahlen wirst du, zahlen, morgen, morgen vormittag, ich verlange es!‹

Wie hätte sich da Fürst Krapotkin benommen? – meine Freunde. Wahrscheinlich hätte er gesagt: Natürlich! – und er wäre fortgegangen. Ich aber, ich war eben ein Golubtschik, und also sagte ich: ›Nein!‹ und blieb.

Auf einmal lachte Lutetia hell auf, so ein Lachen, wißt ihr, das man ein ›Theaterlachen‹ nennt, das aber gar kein Theaterlachen ist. Die Frauen auf der Bühne nämlich machen es einfach nur den Frauen im Leben, sich selber, nach. Wo hört das sogenannte Leben auf, und wo fängt das sogenannte Theater an?

Sie lachte also, die Geliebte meines Herzens. Es dauerte eine geraume Weile. Schließlich hat alles ein Ende, wie ihr wißt, meine Freunde. Nachdem Lutetia zu Ende gelacht hatte, sagte sie, plötzlich ganz ernst, beinahe tragisch und mit leiser Stimme: ›Wenn du nicht zahlst, wird dein Cousin zahlen.‹

Es erschreckte mich, was Lutetia gesagt hatte, ja, es erschreckte mich, obwohl ich doch vor nichts mehr zu erschrecken hatte. Wenn mein sogenannter Bruder schon bei Lutetia gewesen war, so konnte es ihr doch nicht lange mehr verborgen bleiben, wer ich wirklich sei. Und warum – so fragte ich mich – hätte es ihr auch verborgen bleiben sollen? Hatte ich nicht eben erst, bevor ich hierhergekommen war, gewünscht, meine schrecklichen Verkleidungen abzulegen und einfach der einfache Golubtschik zu sein?

Weshalb tat es mir jetzt wieder leid, meine so verwirrende und verworrene Existenz aufzugeben? Liebte ich Lutetia in diesem Maße? Genügte ihr Anblick allein, um alle meine Entschlüsse umzuwerfen? Gefiel sie mir denn eigentlich, gerade jetzt in dieser Stunde? Sah ich nicht, wie sie log, sah ich nicht, daß sie käuflich war? Ja, ich sah alles, und ich verachtete sie auch dafür. Und vielleicht, wäre es nicht mein sogenannter Bruder gewesen, der mir wieder, gerade hier wieder den Weg vertrat, ich hätte sie verlassen. Ich war edelmütig gegen ihn gewesen, ich hatte sein Geld zurückgewiesen – und siehe da: jetzt trat mir der elende Mächtige wieder entgegen.

Freilich konnte ich diese unermeßlich hohe Summe nicht aufbringen, nicht einmal ein Drittel. Was hätte ich alles tun müssen, um auf einen Schlag auch nur dreitausend Francs zu bekommen und mit Abzahlungen wenigstens zu beginnen? Und konnte ich, selbst wenn ich bezahlte, es überhaupt verhindern, daß Lutetia erfuhr, wer ich wirklich war? Wenn ich nur Geld hätte, dachte ich damals in meiner Verblendung, ich würde ihr sagen, wer ich wirklich bin, und daß ich ihretwegen die allerschlimmsten meiner Schurkereien begehe, und auch ein Golubtschik kann einen Krapotkin bei jeder Frau wettmachen. So dachte ich. Obwohl ich sah, daß sie log und ein Wesen ohne Gewissen war, traute ich ihr doch den Edelmut zu, meine Aufrichtigkeit nicht nur vertragen, sondern auch schätzen zu können. Ich glaubte sogar, daß Aufrichtigkeit sie rühren könnte. Die Frauen – und, um gerecht zu sein, auch die Männer – aber lieben vielleicht von vornherein aufrichtige Menschen; jedoch aufrichtige Geständnisse von Lügnern und Verstellern hören sie nicht gern.

Um aber in meiner Erzählung fortzufahren: Ich fragte Lutetia, ob sie meinen Cousin schon gesehen habe. Nein! sagte sie, er hätte ihr nur geschrieben; aber sie erwarte über kurz oder lang seinen Besuch, wahrscheinlich im Atelier des Schneiders. ›Du wirst ihn sofort abweisen!‹ sagte ich. ›Ich liebe das nicht!‹ – ›Es ist mir ganz gleichgültig, was du liebst oder nicht! Überhaupt, ich hab' dich satt!‹ – ›Liebst du ihn denn?‹ fragte ich, ohne sie anzusehen. – Ich war so töricht zu glauben, daß sie mir ja oder nein antworten könnte. Aber sie sagte: ›Und wenn ich ihn zum Beispiel liebte? – Was dann?‹ – ›Hüte dich!‹ sagte ich. ›Du weißt nicht, wer ich bin, wozu ich imstande bin.‹ – ›Zu nichts!‹ erwiderte sie, trat an den Käfig des abscheulichen Papageis und begann, seine karmesinrote Kehle zu kitzeln. Im nächsten Augenblick knarrte er auch schon dreimal hintereinander: ›Krapotkin, Krapotkin, Krapotkin.‹ Lutetia hatte ihn so abgerichtet. Es war, als wüßte sie eigentlich schon alles über mich und als wollte sie es nur durch den Papagei sagen lassen.

Ich ließ den Papagei aussprechen, aus Höflichkeit, als wäre er ein Mensch. Dann sagte ich: ›Du wirst sehen, wozu ich fähig bin!‹ – ›So zeig's doch!‹ sagte sie. Sie geriet plötzlich in Zorn, oder sie tat so, als sei sie in Zorn geraten. Es schien mir, daß ihre Haare auf einmal zu wehen begannen, und es war doch kein Wind im Zimmer! Zugleich sträubten sich auch die Federn des Papageis. Sie ergriff die metallene Schaukel, auf der der gräßliche Vogel zu hocken pflegte, sobald er seinen Käfig verlassen hatte, und schlug blind auf mich ein. Die Schläge spürte ich wohl, sie schmerzten mich auch, obwohl ich sehr kräftig bin. Allein weit stärker als die Schläge war die Überraschung, die wohlvertraute Frau, die Geliebte meines Herzens, in eine Art wohl überlegenden, parfümierten Orkan verwandelt zu sehen, einen verlockenden Orkan, der mich dennoch reizte, zum Versuch einer Bändigung reizte. Ich griff nach den Armen Lutetias, sie schrie vor Schmerz auf, der Vogel krächzte schrill, als riefe er Nachbarn gegen mich zu Hilfe, Lutetia taumelte, entfärbte sich und sank auf den Teppich. Sie riß mich nicht etwa mit, dazu bin ich freilich zu schwer. Aber ich ließ mich fallen. Sie umfing mich mit den Armen. So blieben wir vereint, lange Stunden, in einem seligen Haß.

 

Ich erhob mich, es war noch tiefe Nacht, aber ich fühlte schon den Morgen kommen. Ich ließ Lutetia liegen. Ich dachte, sie schliefe. Sie aber sagte mit einer zärtlichen, lieblichen Kinderstimme: ›Komm morgen bestimmt ins Atelier! Bewahr mich vor deinem Cousin. Ich kann ihn nicht leiden! Ich liebe dich!‹

Ich ging nach Hause, durch die stille, allmählich verbleichende Nacht. Ich ging vorsichtig, denn ich erwartete, jeden Augenblick irgendwo Lakatos zu treffen.

Mir war es auch, als hörte ich von Zeit zu Zeit einen sachten, schleifenden Schritt. Obwohl ich meinen Freund fürchtete, glaubte ich doch, ihn in dieser Nacht noch dringend zu brauchen. Ich bedurfte, so glaubte ich, seines Rates. Und ich wußte doch, daß es ein höllischer Rat sein mußte.

 

Am nächsten Tage, bevor ich zum Schneider, das heißt, eigentlich zu Lutetia ging, trank ich ausgiebig. Während ich mich also betäubte, glaubte ich, ich würde immer klarer und schmiedete immer klügere Pläne.

Der Schneider begrüßte mich begeistert. Die Gläubiger – auf den ersten Blick zu erkennen an dem düstern Lächeln und dem beredten Schweigen – warteten auf ihn im Vorzimmer.

Ich wußte nicht genau, was ich sprach. Ich wollte Lutetia sehen. In ihrer Garderobe stand sie, zwischen drei Spiegeln, man probierte verschiedene Stoffe an ihr herum, hüllte sie ein und entblößte sie wieder, und es sah aus, als wollte man sie mit hundert Nadeln langsam und elegant zu Tode martern.

›Ist er dagewesen?‹ fragte ich, hinweg über die öligen Haare der drei Jünglinge, die mit den Stoffen und Nadeln hantierten.

›Nein! Nur Blumen hat er geschickt!‹

Ich wollte noch etwas sagen, aber erstens war mir die Kehle zugeschnürt, und zweitens gebot mir Lutetia hinauszugehen. ›Heute abend!‹ sagte sie.

Der Herr Charron erwartete mich schon vor der Tür. ›Heute nachmittag bestimmt!‹ sagte ich, um nichts mehr mit ihm sprechen zu müssen, obwohl ich noch gar keine feste Hoffnung hatte, daß mir Solowejczyk das Geld geben würde.

Ich ging schnell hinaus und fuhr zu Solowejczyk.

Ich wußte wohl, daß er um jene Stunde selten anzutreffen war. Sein Zimmer hatte zwei Vorzimmer, und zwar an den entgegengesetzten Seiten je eins. Die Vorzimmer hingen so gleichsam an der Kanzlei wie zwei Ohren an einem Kopf. Das eine Vorzimmer war durch eine weiße Tür mit vergoldeten Leisten abgeschlossen. Das andere, an der gegenüberliegenden Seite, durch eine schwere grüne Portiere abgedichtet. In dem erstgenannten Vorzimmer pflegten die Ahnungslosen zu warten, jene, die nichts von den wirklichen Funktionen Solowejczyks ahnten. Im zweiten aber warteten wir, die Eingeweihten. Ich kannte nicht alle, nur einige. Durch die Portiere konnten wir alles hören, was Solowejczyk mit den Ahnungslosen besprach. Es handelte sich um lächerliche Angelegenheiten: Aus- und Einfuhr von Getreide, besondere Bewilligungen für Hopfenkommissionäre in der Saison, Verlängerung von Reisepässen für Kranke, Empfehlungen für Händler an fremde Regierungen. Uns, die Eingeweihten, interessierten alle diese Dinge nicht, aber unsere Ohren, zum Lauschen bestimmt, nahmen alles auf. Wir hätten leicht miteinander ins Gespräch geraten können, während wir so warteten, aber keiner von uns vermochte etwas über den Horchzwang, den unsere Berufsohren auf uns ausübten, und also vermieden wir Unterhaltungen, die uns nur am Lauschen gehindert hätten. Auch mißtrauten wir uns gegenseitig, ja, wir verabscheuten uns sogar. Sobald Solowejczyk die Ahnungslosen abgefertigt hatte, schlug er die grüne Portiere zurück, warf einen Blick in unser Vorzimmer und rief, je nach der Wichtigkeit der Person und des Falles, einen von uns zuerst zu sich. In diesem Augenblick mußten die andern ›Eingeweihten‹ hinaus und über den Hof in das andere Vorzimmer, in jenes durch die Tür getrennte, durch die man nichts hören konnte.

Solowejczyk kam an jenem Nachmittag spät, aber die Ahnungslosen – mit denen er übrigens laut zu sprechen, ja oft sogar zu schreien pflegte – fertigte er damals in ganz kurzer Zeit ab – und wir waren unser etwa sechs, die auf ihn warteten. Mich rief er zuerst.

›Sie haben getrunken?‹ sagte er. ›Setzen Sie sich!‹

Freundlich, wie er noch nie zu mir gewesen war, reichte er mir sogar eine Zigarette aus seiner großen, schweren Dose aus Tulasilber.

Ich hatte mir den Anfang meiner Rede wohl zurechtgelegt, aber seine Freundlichkeit betäubte mich gewissermaßen, und ich wußte nichts mehr.

›Ich habe nichts Besonderes zu melden!‹ sagte ich. ›Ich habe nur eine Bitte: ich brauche Geld!‹

›Freilich‹, sagte Solowejczyk. ›Der Fürst ist hier.‹ Er blies ein paar Rauchwölkchen in die Luft. ›Junger Mann‹, begann er, ›Sie werden diese Konkurrenz nicht auf die Dauer aushalten. Sie werden elend zugrunde gehn.‹ Er zerhackte, zerlegte das Wort ›elend‹. Es war ein ewiges, ein uferloses ›elend‹. ›Sie sind‹, fuhr er fort, ›ein Mensch, über den selbst ich‹ – und zum erstenmal merkte ich an ihm eine Art Eitelkeit – ›selbst ich‹, wiederholte er, ›mir noch nicht ganz klar bin. Sie haben kein Geld nehmen wollen. Sie wollen die Rifkins auslösen. Aber: Sie sind begabt, gewiß. Sie sind nicht vollkommen. Wie soll ich sagen, Sie sind noch ein Mensch. Sie sind schon ein Schurke – verzeihen Sie das Wort, in meinem Munde ist es nicht persönlich, es ist sozusagen literarisch. Sie haben noch Leidenschaften. Entscheiden Sie sich.‹

›Ich habe mich entschieden‹, sagte ich.

›Sagen Sie aufrichtig‹, fragte Solowejczyk, ›wollten Sie eigentlich dem Fürsten eine Falle stellen, indem Sie ihn veranlaßten, sich für die Rifkins einzusetzen?‹

›Ja‹, sagte ich, obwohl es nicht wahr war, wie ihr wißt.

›So‹, sagte Solowejczyk, ›dann sind Sie eben doch vollkommen. Es hätte Ihnen nichts genützt. Der Fürst läßt sich nie darauf ein. Aber dann können Sie auch das Geld haben. Sie bringen also die kleine Rifkin nach Rußland.‹

›Wie denn?‹ fragte ich. ›Die Leute sind mißtrauisch.‹

›Wie, das ist Ihre Sache›‹, sagte Solowejczyk. ›Sie werden fälschen.‹

Ich drückte die Zigarette in dem schweren, schwarzen, achatnen Aschenbecher aus.

›Ich weiß nicht, wie man fälscht‹, sagte ich, hilflos, ein Kind.

Ach, meine Freunde! Vor meinen Augen stand damals das edle Mädchen Rifkin. Vor meinen Augen stand damals auch die Geliebte meines Herzens, Lutetia. Vor meinen Augen stand damals der Feind meines Lebens, der junge Krapotkin. Vor meinen Augen hinkte plötzlich Lakatos daher, mit schleifendem Fuß. Alle, alle, so schien es mir, beherrschten mein Leben, Was war es nur? War es noch mein eigenes Leben? Gegen alle vier erfüllte mich eine jähe Empörung. Eine gleich große Empörung, meine lieben Freunde, obwohl ich genau wußte, wie zwischen ihnen zu unterscheiden, obwohl ich genau wußte, daß ich eigentlich das edle Mädchen Rifkin liebte, daß ich Lutetia begehrte und geringschätzte und nur deshalb begehrte, weil ich über Krapotkin einen kleinen, billigen, elenden Triumph davontragen wollte, und daß ich Lakatos fürchtete als den leibhaftigen Abgesandten des Teufels, der mir, mir besonders, einen kleinen Sonderteufel zugedacht hatte. Es erfüllte mich auf einmal eine unsägliche und beseligende Begierde, stärker zu sein als sie alle, gleichsam stärker zu sein als meine eigenen Gefühle, die ich ihnen allen entgegenbrachte; stärker zu sein als meine wirkliche Liebe zu dem edlen Mädchen Rifkin; stärker als mein Haß gegen Krapotkin; stärker als meine Gier nach Lutetia; stärker als meine Furcht vor Lakatos. – Ja, stärker als ich selbst wollte ich sein, meine Lieben: das heißt es eigentlich.

Ich stürzte mich in das größte Verbrechen meines Lebens. Ich wußte aber noch nicht, wie man es begeht, am sichersten begeht, und ich fragte noch einmal zaghaft: ›Ich weiß nicht, wie man fälscht.‹

Solowejczyk sah mich mit seinen toten, blaßgrauen Augen an und sagte: ›Ihr alter Freund wird Ihnen vielleicht raten. Gehen Sie hier hinaus.‹ – Und er wies nicht auf die Tür hin, sondern auf die Portiere, durch die ich hereingekommen war.

 


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