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Der Gasthof »Zur Eisenbahn« in Sollihögda hatte seit zwei Tagen seinen Bestand an Logiergästen verdoppelt: Joe Jenkins hatte das Zimmer Nummer Vier belegt. Zur stolzen Genugtuung des Herrn Andersen, des rundlichen Besitzers. Seine Frau, die ihn an Rundlichkeit noch übertraf, dachte zwar ein wenig anders über diesen Zuwachs. Wenn sie die hohe Gestalt des Amerikaners nur von fern kommen sah, dann zog sie sich in die Küche zurück; denn da fühlte sie sich am sichersten. Von dort sah sie dem Amerikaner mit einem Blick entgegen, in dem sich maßloser Respekt mit einem maßlosen Grauen mischte.
Wenn sich eine Zahl durch die Hinzufügung einer Eins verdoppelt, so kann die erste Zahl ebenfalls nur eine Eins gewesen sein. Das ist eine einfache rechnerische Tatsache. Diese andere Eins hatte bis dahin den einzigen Gast des Eisenbahnhotels dargestellt. Dieser Gast hieß: Laurids Morck; er wohnte auf Zimmer Fünf.
Der Sonnabend und der Sonntag waren ohne besondere Ereignisse vorübergegangen. Joe Jenkins war am Sonnabend abend mit einem kleinen Koffer erschienen, hatte heißes Wasser zum Waschen verlangt und war dann in den Steinbruch gewandert, als schon die Dunkelheit über dem Plateau von Sollihögda lag. Er war spät zurückgekommen, hatte in aller Eile eine kleine Flasche Punsch mit Sodawasser getrunken und sich mit den beiden Herren, an deren Tisch er Platz genommen hatte, über dies und jenes unterhalten. Diese beiden waren Herr Morck und der Postagent Herr Tryde.
Herr Tryde war der Salomo von Sollihögda. Es gab nichts, was er nicht wußte, und es gab vor allem nichts, was er nicht besser wußte als alle anderen zusammengenommen. Vor seiner überlegenen Dialektik gab es keine Rettung; und selbst das dickste Konversationslexikon war eine armselig stumpfe Waffe gegen seinen durchdringenden Verstand. Denn was da auf dem geduldigen Papier stand, das konnte man so auslegen oder so auslegen. Sicher aber war's, daß die Auslegung, für die man sich entschieden hatte, vor dem Forum des gestrengen Herrn Tryde die falsche war. Ja – es kam sogar zum Beispiel vor, daß man sich zu der mit überlegenem Sarkasmus dargelegten Ansicht des Herrn Tryde bekehrt hatte und das Gespräch am nächsten Tage wieder auf das gleiche Thema brachte – und siehe da – Herrn Trydes Dialektik hatte über Nacht noch an Stärke zugenommen, und er bewies einem heute unwiderleglich, daß die Ansicht von gestern bereits überholt und über Nacht ins Gegenteil umgeschlagen war. Nicht etwa, daß Herr Tryde seine eigene Meinung von gestern revidiert oder gar desavouiert hätte – Gott bewahre! »Seien Sie doch kein Kind«, sagte Herr Tryde; »Sie haben mich eben falsch verstanden!«
Herr Tryde war täglicher Gast des Eisenbahnhotels und Gegenstand der allgemeinen Bewunderung; der Stolz von Sollihögda.
Am Sonnabend war es auf diese Weise ziemlich spät geworden. Herr Tryde hatte seine Ansichten über Gespenster im allgemeinen entwickelt und sich dabei über die physische und psychische Grundlage dieser Erscheinungen des langen und breiten geäußert. Das war keine leichte Abhandlung; denn sie reicht ungefähr bis zur Erschaffung der Welt zurück. Herr Tryde verfehlte nicht, seine Darlegungen mit Stellen aus dem Neuen und dem Alten Testament zu belegen, und als die Gäste um halb zwei in der Nacht schlafen gingen, da hatten alle den Eindruck, daß alle bisher erschienenen Bibelauslegungen an der Sache vorbeigegangen wären und daß es erst Herrn Anders Tryde gelungen sei, die Bibel auf ihren wahren Inhalt zu erforschen. Dieser aber war nichts anderes als eine Aufzählung von Gespenstererscheinungen.
Am Sonntag nach der Predigt versäumte man nicht, das interessante Gespräch fortzusetzen; aber Joe Jenkins ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken. Was Herrn Tryde nicht hinderte, nunmehr die Weltgeschichte auf ihren Bestand an Geistermanifestationen zu untersuchen und zu zerpflücken.
»Es gibt keine Geister«, sagte Herr Morck. »Was man so nennt, sind physikalische Phänomene, für die wir vielleicht noch keine Aufnahmeapparate haben – Ausdrucksformen für rein natürliche Kräfte, die wir mit unseren fünf Sinnen nicht wahrnehmen können, die einer Vermittlung bedürfen, die uns noch fehlt.«
»Seien Sie doch kein Kind«, erwiderte Herr Tryde. »Daß es Geister gibt, steht außer jeder Frage. Kennen Sie nicht die Erscheinung, die Karl der Elfte im Schloß von Stockholm hatte?«
»Die kenne ich schon. Das hatte nichts mit Geistern zu tun, sondern nur ein zeitliches Fernsehen, das – wie ich unumwunden zugebe – eingetroffen ist.«
»Wenn man an ein solches Fernsehen glaubt, so muß man auch an Geister glauben«, beharrte Herr Tryde. »Denn das Fernsehen ist eine Manifestation von Kräften des Jenseits, die ohne die Vermittlung der Abgeschiedenen nicht denkbar ist.«
»Oho«, sagte Herr Morck.
»Nicht denkbar ist«, wiederholte Herr Tryde. »Seien Sie doch kein Kind und denken Sie ein bißchen nach: sehn Sie, Sie sagen ›zeitliches Fernsehen‹. Das bedeutete, daß zwischen den Dingen, die hundert Jahre oder tausend Jahre oder mehr auseinanderliegen – wohlverstanden: zwischen Dingen des menschlichen Erlebens – Verbindungsbrücken bestehen. Unser irdisches Leben ist mit einem Höchstmaß von achtzig oder sagen wir schon neunzig Jahren begrenzt. Eine Intelligenz, die Zusammenhänge über weitere Zeitmaße hinaus vermittelt, muß eine menschliche Intelligenz sein, denn sie befaßt sich mit menschlichen Dingen und mit menschlichen Interessen. Sie kann aber keinem lebenden Menschen angehören – ich meine keinem auf der Erde lebenden Menschen, weil sie eben über die dem Menschen gewährte Lebensdauer hinausreicht. Also kann es sich nur um Wesen handeln, die nach ihrem Tode in veränderter Form weiterleben. Haben Sie mich verstanden?«
»Nein.«
»Dann kommen Sie mal zu mir. Ich werde Ihnen das alles zu Hause mal in Ruhe vorlesen – ich wollte sagen vortragen.«
»Sie glauben also an ein Leben nach dem Tode?« fragte der eine der beiden Werkmeister der Waggerydwerke, die mit am Tisch Platz genommen hatten.
Herr Tryde lachte, daß es schallte. »Ob ich an ein Leben nach dem Tode glaube? Glauben Sie, daß auf dem Grunde des Sees von Sollihögda Algen wachsen?«
»Ja«, antwortete der Werkmeister erstaunt.
»Sehen Sie wohl, Sie glauben es, obwohl Sie die Algen nicht sehen. Denn auf Grund der Erfahrungen, die Sie gemacht haben und die Sie von Ihren Vätern übernommen haben, wissen Sie, daß es Algen auf dem Meeresgrunde gibt. Genau so steht es mit den Geistern.«
»Das ist kein Vergleich, der mich überzeugen kann«, brummte der andere Werkmeister. »Die Algen kann ich greifen, schmecken, sehen.«
Herr Tryde kicherte. »Bevor man das Mikroskop erfunden hatte«, sagte er und blickte den Zweifler durchbohrend an, »da gab es hier und da Leute, die behaupteten, in einem Wassertropfen, wie man ihn etwa aus einer Blumenvase nimmt, müßten lebende Wesen sein – kleine Tiere, die sich bewegten, fortpflanzten und stürben, wie wir. Diese Leute lachte man aus oder man sperrte sie ein. Warum tat man das, Herr Levsen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete dieser mürrisch.
»Doch – Sie wissen es. Man stand auf demselben Standpunkt, auf dem Sie stehen: man konnte doch die kleinen Lebewesen, deren Existenz hier behauptet wurde, weder sehen noch fühlen noch schmecken; man hatte einfach keine Brücke zu ihnen, keine Apparate, die sie uns zugänglich machten. Folglich existierten sie nicht. So dozierte die Wissenschaft. Und siehe da – eines Tages kam ein Mann und erfand das Mikroskop. Und plötzlich stellte es sich heraus, daß jene Leute recht gehabt hatten: nicht Hunderte, nein, Tausende von Lebewesen zeigten sich im Wasser – sie pflanzten sich fort, starben und benahmen sich überhaupt wie wir. Glauben Sie mir, mein lieber Herr Levsen – alles was uns zur Erforschung der Geisterwelt bis heute noch fehlt, ist jenes Mikroskop.«
»Wenn es eine Geisterwelt gibt,« sagte Morck kopfschüttelnd, »die uns verborgen ist, so wird das wohl seinen guten Grund haben. Sie ist eben nicht für uns bestimmt – sie soll uns verborgen bleiben. Sonst hätten wir schon die Sinne mitbekommen, die uns in den Stand setzen, sie zu erfassen.«
»Das ist die Logik eines Steinklopfers. Damit können Sie ebenso gut beweisen, daß uns auch die Welt des Mikroskops nichts angeht – denn auch diese können wir ja mit den uns von der Natur mitgegebenen Sinnen nicht erfassen. Wollen Sie darum im Ernst behaupten, daß uns die Bakterien der Cholera und der Tuberkulose und des Typhus nichts angehen?«
»Was wäre schon damit gewonnen, wenn wir plötzlich Einblick in die Geisterwelt bekämen«, sagte Herr Holm, der andere Werkmeister. »Glauben Sie, wir würden dadurch glücklicher?«
»Glücklicher …« spottete Herr Tryde. Glauben Sie etwa, wir sind auf der Welt, um glücklich zu sein? Wir sollen die Wahrheit erforschen – darauf kommt es an.«
Das Gespräch hätte sich wohl bis ins Unendliche fortgesetzt, wenn nicht die Uhr, die auf halb eins zeigte, unerbittlich daran gemahnt hätte, daß das Essen auf dem Tisch stand; so stoben drei der Herren davon. Nur Herr Morck, der im Restaurant aß, blieb in seiner Ecke sitzen. – –
Am Montag abend war Joe Jenkins kurz vor zehn Uhr heimgekommen. Herr Andersen, der Wirt, machte einen Kratzfuß; seine Frau machte ein grauliches Gesicht und goß schnell ein Glas Aquavit hinunter. Der Detektiv setzte sich mit kurzem Gruß an den Tisch, an dem Tryde, Morck und die beiden Werkmeister saßen.
»Etwas Neues, Mr. Jenkins?« fragte Tryde.
»Leider nicht«, sagte der Amerikaner, indem er eine Zigarette aus dem runden Etui zog.
»Das sind ja schöne Geschichten, die man jetzt plötzlich erfährt. Wenn ich Detektiv wäre: das wäre die Stelle, wo ich den Hebel ansetzen würde. Denn mit dieser Heirat stimmt's nicht, mein lieber Mr. Jenkins. Ich kannte den seligen Waggeryd wie meinen Bruder. Er hatte Vertrauen zu mir wie zu keinem zweiten. Er hat es mir selbst mehr als einmal gesagt: Anders, hat er gesagt, so einen wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Und da sollte er's mir nicht gesagt haben, wenn er geheiratet hätte! Was sagen Sie, Herr Morck?«
Morck zuckte die Achseln. Er schrieb an einem Brief und hatte das ganze Gespräch sichtlich überhört.
Eben erschien die Wirtin mit einer großen Platte, auf der ein zartes Roastbeef schimmerte.
Statt aller Antwort zog Joe Jenkins ein zusammengefaltetes Telegramm: »Da, Herr Tryde. Lesen Sie.«
Der Aufgeforderte entfaltete den Zettel und las laut seinen Inhalt vor:
Am 18. Februar Hjalmar Jens Waggeryd mit Karin Sigrid Heggblom beide aus Christiania unter Assistenz der Zeugen John Forest und Kennedy Clarke in der Trinity Church getraut.
Blackburn B. A.
»Sind Sie jetzt überzeugt, daß die Trauung tatsächlich erfolgt ist?«
Tryde machte ein verblüfftes Gesicht und gab das Telegramm zurück. Dann, indem er triumphierend lächelte, sagte er plötzlich:
»Na ja – ob Waggeryd verheiratet war oder nicht ist ja schließlich ganz egal. Die Hauptsache ist: Mord oder Selbstmord? Ich höre da so allerhand: der Schlittschuhläufer von Sollihögda soll ja wohl aufgetaucht sein?«
Morck horchte auf. »Was ist es mit diesem Schlittschuhläufer?«
Tryde machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der übliche Geisterblödsinn. Kein aufgeklärter Mensch glaubt an so was.«
»Nanu,« sagte Morck, »Sie glauben doch daran, Herr Tryde.«
»Ich? Wie kommen Sie darauf?«
»Ich dachte« – Morck zwinkerte dem Amerikaner lächelnd zu – – »weil Sie doch auf dem Standpunkt stehen: es fehle uns nur sozusagen der Sinn, um diese Dinge zu erfassen …«
»Da haben Sie mich vollständig falsch verstanden. Ich leugne nicht, daß es Unerklärlichkeiten gibt. Wie zum Beispiel das Fernsehen; Karl der Elfte soll ja wohl so etwas erlebt haben …«
»das sich nur durch den Glauben an vermittelnde Geister erklären läßt …«
»Seien Sie doch kein Kind! Was soll das mit Geistern zu tun haben? Telepathie ist ein zeitliches Fernsehen, das auf rein physikalischen Grundlagen beruht; die Wissenschaft ist drauf und dran es zu erklären. Nein, mein lieber Herr Morck – mit solchen Dingen dürfen Sie mir nicht kommen.«
Die beiden Werkmeister sahen sich ängstlich an, zahlten und gingen.
Inzwischen kroch eine dunkle Frühherbstnacht über Nordland herauf. Der Himmel, der sich sternenübersät vom Tyrifjord bis weit hinüber nach Dalarne gespannt hatte, war nun eine einzige lichtlose Fläche. Das Dunkel glitt in die einsamen Straßen des Örtchens Sollihögda und füllte sie mit undurchdringlichem Schwarz; hier und da der schwache Schimmer eines fernen Lichts, das aus einem der stillen Häuser kam und wie der schwache Schein einer Blinklichtboje in unendlicher Wasserwüste schimmerte. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Irgendwo am anderen Ufer dieses Meeres von trostlosem Dunkel antwortete ein zweiter; dann wurde es still über Sollihögda.
»Der Schlittschuhläufer –« sagte Morck plötzlich und faltete den Brief zusammen, den er geschrieben hatte. »Ich möchte ihn wohl einmal sehen, den Schlittschuhläufer.«
Frau Andersen zuckte zusammen und trank einen Aquavit.
Joe Jenkins warf die ausgerauchte Zigarette in den Aschbecher. »Man soll sich so etwas nicht wünschen, Herr Morck. Ja – man soll jede Begegnung mit irrationalen Dingen zu vermeiden suchen. Sie nehmen Besitz von uns, ehe wir es uns versehen und – sie sind stärker als wir.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Herr Tryde streng. »Dahinter steckt sicher eine Gemeinheit.«
»Aber Herr Tryde …« Joe Jenkins präsentierte ihm eine Zigarette, die er halb beleidigt, halb geschmeichelt annahm.
Morck hatte den Brief couvertiert und mit seinem Füllfederhalter die Adresse geschrieben. Dann, indem er sich erhob, sagte er: »Ich habe Sie auch nicht ganz verstanden; aber ich kann mir ungefähr denken, was Sie meinen. Eins möchte ich gerne wissen: glauben Sie an den Schlittschuhläufer?«
Joe Jenkins zuckte die Achseln. »Ich möchte fast sagen …«
Herr Tryde goß sich eben den Rest seines Punsches ein und sagte, indem er Morck mit glänzenden Äuglein aus seinem geröteten Gesicht heraus anblinzelte: »Was heißt das: Glauben Sie an den Schlittschuhläufer? Darüber ist doch gar keine Debatte möglich: der Schlittschuhläufer existiert.«
»Ich meine den Mann, der im August auf dem See von Sollihögda Schlittschuh läuft und dessen Erscheinen einen Todesfall bedeutet …«
»… natürlich – natürlich,« sagte Herr Tryde eigensinnig, »den meine ich auch.«
»An den glauben Sie?«
»Selbstverständlich glaube ich an den.«
»Ich denke, Sie halten allen Geisterglauben für Unsinn?«
»Seien Sie doch kein Kind«, antwortete Herr Tryde. »Wie können Sie mir etwas so Unlogisches zutrauen!« Und indem er eine kleine Note auf den Tisch warf und seinen Hut nahm, sagte er:
»Die Geisterwelt ist nicht verschlossen
dein
Sinn ist zu – dein Herz ist tot
sagt Goethe. Und der verstand was davon. Guten Abend, meine Herren.«
Frau Andersen blickte ihm nach und trank einen Aquavit.
*
Auch über dem Hause Waggeryd lag die sternenlose Nacht. Alle Fenster des Parterres waren durch Jalousien verhängt. Und wie ein dunkler Würfel standen die Umrisse des Hauses in der Finsternis.
Der Tote lag im Arbeitszimmer im ersten Stock aufgebahrt; der Gerichtsarzt hatte ihn heute zur Beerdigung freigegeben.
Im Mittelzimmer des Parterres saßen Jarl und seine Frau um den großen Tisch; vor ihnen lagen Dutzende von Papieren, die sie eins nach dem andern durchlasen und ordneten. Auch hier waren die Jalousien geschlossen, und kein Lichtstrahl drang in die schweigende Finsternis hinaus.
Im Hause war es totenstill. Jarl hatte den Diener, die Köchin und das Mädchen bis nach der Beerdigung beurlaubt – was sollten sie in diesem Hause, über dem es wie lähmende Starre lag!
Vom fernen Bahndamm her schrillte ein langer, tiefer Pfiff. Kurz darauf kamen tiefe Schläge von der Kirche: Mitternacht.
»Wir wollen hinübergehen«, sagte Jarl und klappte fröstelnd den Kragen aus. »Mir ist kalt.«
Sie nickte und raffte die Papiere zusammen. – –
In diesem Augenblick ging gellend und schneidend der Klang der elektrischen Glocke durch das Haus.
Die beiden fuhren zusammen; dann, als ob er sich vor sich selber schäme, sagte Jarl: »Wie kann man nur so nervös sein! Sicher ein Telegramm.«
Er ging auf den Korridor hinaus; Thora folgte ihm.
»Ist da jemand?«
Draußen blieb alles still.
Die beiden sahen sich an; Jarl schloß auf. Das Klingen des Metalls haltein lautem Echo von dem hohen Plafond des Korridors zurück.
Er öffnete die Tür. Niemand war draußen.
Thora schüttelte den Kopf. »Es muß jemand dagewesen sein«, sagte sie leise.
Er nickte gleichmütig mit einer Ruhe, die sichtlich ein bißchen erzwungen war. »Wir wollen heimgehen«, sagte er.
Fast im selben Augenblick ging der schrille Klang zum zweiten Male durch das Haus.
Die beiden fuhren herum. Jarl riß mit einem Ruck die Tür auf.
Niemand war draußen.
»Zum Donnerwetter – was bedeutet das?«
»Wir wollen auf dem Tableau …« sagte Thora, »wo die Nummern …«
Jarl hatte sich der Tür zugewandt. Ein ächzender Laut ließ ihn sich mit einem Ruck umwenden.
»Um Gotteswillen – was ist dir? Du bist totenblaß!«
Statt aller Antwort deutete Thora auf das Nummerntableau. Sie taumelte zurück; er fing sie auf; sie zitterte am ganzen Körper.
Er trat näher an das Tableau heran, die Willenlose mit sich ziehend.
Und während er ihrem Blick folgte, wurden seine Augen groß und starr. Auf dem Nummerntableau war das Schild mit der Bezeichnung
Arbeitszimmer
vorgefallen.
»Arbeitszimmer«, flüsterte Thora und öffnete die Augen. »Das Signal kommt aus dem Zimmer, wo meines Vaters Leiche steht.«
Er zog die Brauen zusammen und nickte. »Ich werde hinaufgehen«, sagte er.
»Nein. Du bleibst hier.«
»Unsinn. Ich muß hinauf. Übrigens habe ich meinen Revolver bei mir.«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung; dann sagte sie, fester werdend: »Also gut; wir wollen zusammen hinaufgehen.«
»Meinetwegen.«
Die beiden gingen die Treppe empor, deren trockenes Holz durch die Stille des Hauses knarrte. Er schloß auf, trat auf die Schwelle und schaltete das Licht ein.
Der Tote lag unberührt auf seinem Bett. Nichts hatte sich verändert. Die beiden gingen an den Schreibtisch; die leeren Schubladen waren unversehrt, sichtlich unangerührt.
Die Blicke der beiden irrten ineinander, wanderten hinüber zu dem Toten, glitten durch den Raum.
»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat«, sagte Jarl flüsternd.
»Wir wollen wieder hinuntergehen«, nickte Thora scheu.
Jarl warf noch einen Blick unter das Bett – dann zog er den Vorhang auf.
»Das Fenster steht offen« sagte er.
»Mein Gott,« ihre Stimme zitterte. – »Ich habe es heute mittag geschlossen. Ich weiß es genau.«
Er blickte in die undurchdringliche Finsternis hinaus, aus der kein Laut kam. Dann schloß er das Fenster und zog den Vorhang herunter.
»Selbst wenn man glauben wollte, es wäre jemand dagewesen,« sagte er kopfschüttelnd, »was sollte der gewollt haben? Und vor allem: was für einen Grund hätte er gehabt zu klingeln.«
»Wir wollen heimgehen«, sagte Thora.
Eben streckte Jarl die Hand nach dem Schalter aus, als plötzlich Thora nach der Uhr wies.
»Sieh dort …« sagte sie in ängstlichem Ton. » Die Uhr geht.«
Er hob den Kopf. Tackend ging das Pendel hin und her.
»Du hast heute früh um zehn Uhr das Pendel angehalten, als die Leiche aufgebahrt wurde.«
»Ja.«
»Es muß jemand dagewesen sein, der die Uhr wieder in Gang gebracht hat.«
Er sah noch immer schweigend auf die Uhr, deren Pendel in gleichmäßigem Rhythmus hin und her ging – dann sagte er, wie sich zu einem Entschluß aufraffend:
»Welch ein Glück, daß Joe Jenkins da ist! Ich werde ihn holen!«
*
Thora stand vor der Tür und spähte in das Dunkel. Aus der Finsternis kamen die rätselhaften Geräusche der Nacht: ferne unerklärliche Klänge, ein Rollen wie von unsichtbaren Wagen; über der lichtlosen Straße lag es wie ein fühlbares Brausen. Der Himmel war eine einzige dunkle Fläche. Nur fern drüben im Osten lag ein feiner rötlicher Streif: das waren die Lichter von Christiania, die jenseits des Horizonts ihre Reflexe gegen den Himmel warfen. Aus dem Dunkel wuchs ein rhythmischer Klang, der schnell näher kam: Schritte. Und gleich darauf tönte eine bekannte Stimme. Der Kies knirschte: vor Frau Thora stand ihr Gatte mit Joe Jenkins.
»Es tut mir leid, Mr. Jenkins«, sagte Thora und öffnete die Haustür. Ein greller Lichtschein flutete in das Dunkel hinaus, »es tut mir leid, daß wir Sie aus dem Schlaf gestört haben.«
»Er schlief nicht«, lachte Jarl. »Ich glaube, er schläft überhaupt nicht. Denke dir, er stand vor der Tür des Eisenbahnhotels mit einem jungen Mann, der bestimmt nicht aus Sollihögda ist. Dem gab er einen Zettel; darauf schwang sich besagter junger Mann auf ein Motorrad und sauste in der Richtung nach Christiania davon.«
»Mein Adlatus«, sagte Joe Jenkins, gleichfalls lachend; »ich habe ihm ein Telegramm mitgegeben.«
Die drei gingen die Treppe hinauf. Jarl schloß auf und knipste das Licht ein.
Joe Jenkins trat ins Zimmer; die beiden andern folgten zögernd. Der schwüle Duft seltener Blumen schlug ihnen warm und fremdartig entgegen; das ganze Zimmer war von diesem betäubenden Geruch erfüllt.
Joe Jenkins warf einen langen Blick in der Runde. Das Pendel ging noch immer in gleichmäßigem Ticktack hin und her.
»Sie wissen genau, daß Sie die Uhr angehalten haben?«
»Ganz genau«, sagte Frau Thora, und auch Jarl nickte. »Es ist kein Zweifel möglich. In ganz Nordland hält man die Uhren an, wenn ein Toter im Zimmer liegt.«
Joe Jenkins stieg geräuschlos auf einen Stuhl, zog ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und betrachtete schweigend die Uhr. Die beiden sahen ihm erwartungsvoll zu. Er winkte Jarl heran: »Nehmen Sie einmal diese Linse und sehen Sie sich diese Uhr an.«
Jarl stieg auf den Stuhl und blickte durch das Glas. »Ich sehe Fingerabdrücke«, sagte er. »Sie zeichnen sich deutlich im Staub ab.«
»Richtig.«
»Jemand muß also hier gewesen sein und sich an der Uhr zu schaffen gemacht haben.«
»Ohne Zweifel.«
»Aber zu welchem Zwecke, um alles in der Welt, sollte jemand hier ins Zimmer steigen bloß um die Uhr in Gang zu bringen – mitten in der Nacht – darauf zweimal klingeln und das Zimmer wieder durchs Fenster verlassen?«
»Es ist wohl ungefähr so, wie Sie annehmen. Aber doch nicht ganz so. Der Einsteigende hatte offenbar andere Absichten als die, die Uhr wieder in Gang zu bringen – wahrscheinlich hat er gar nicht bemerkt, daß er das Pendel streifte.«
»Auf alle Fälle aber muß er sich an der Uhr zu schaffen gemacht haben; das beweisen die Fingerabdrücke.«
»Ich denke, wir werden einmal in die Uhr hineinsehen« – der Detektiv faßte in den kleinen Haken und zog ihn aus der Öse:
»Halloh – was ist das?«
Joe Jenkins griff mit beiden Händen in die Uhr hinein und brachte einen Haufen Banknoten zum Vorschein.
»Tausendkronennoten«, sagte Jarl erschrocken und blickte seine Frau an.
»Wir wollen sie in aller Eile einmal zählen.«
Der Detektiv nahm den Rest der Banknoten aus ihrem Versteck, stieg vom Stuhl und ließ die Roten durch die Hände blättern: »Hunderttausend Kronen.«
»Hunderttausend Kronen«, wiederholte Thora Jarl fast flüsternd.
»In neuen Noten. Wenn nicht alles täuscht, sind das die Hunderttausend Kronen, die Herr Waggeryd am Mittwoch früh hat von der Bank holen lassen – und die für jemanden bestimmt waren, dessen Name mit einem M anfängt.«
Thora warf einen scheuen Blick hinauf zu der Uhr; dann wanderten ihre Augen hinüber zu dem Gelde und ein hilfloser Ausdruck trat in ihr Gesicht. »Während meines ganzen Lebens habe ich nicht so viel Unerklärliches gesehen und gehört wie in diesen letzten fünf Tagen«, sagte sie endlich.
»Wir wollen hinuntergehen – es graut mir in diesem Zimmer.« Sie sah wie unwillkürlich hinüber zu dem Toten, der friedlich auf seinem Bett schlummerte; dann verließen die Drei den Raum und gingen die Treppe hinunter.
Jarl öffnete die Tür zum Wohnzimmer, aus dem warm und tröstend das Licht quoll. »Sie sagen, das sind die hunderttausend Kronen, die mein Schwiegervater am Mittwoch früh hat von der Bank holen lassen. Das klingt wahrscheinlich, und ich glaube selbst, daß Sie recht haben. Aber im Ernst, Mr. Jenkins, finden Sie eine Erklärung für alle diese Dinge? Daß mein Schwiegervater das Geld für irgendeinen ganz privaten Zweck gebraucht hat, ist wohl ziemlich sicher – für einen Zweck, an dessen Geheimhaltung ihm gelegen war. Daß er nur den Anfangsbuchstaben schrieb, spricht – ich möchte sagen – Bände. Denn es läuft seinen sonstigen Gepflogenheiten absolut zuwider. Daß dieser geheimnisvolle Herr M aber mitten in der Nacht kommt und das Geld zurückbringt – das ist noch hundertmal unbegreiflicher. Am unbegreiflichsten aber ist es, daß der Bringer, als er das Zimmer betrat, zweimal klingelte. Lang und anhaltend – alles spricht dagegen, daß das Klingeln unbeabsichtigt war.«
»Das Klingeln,« sagte Joe Jenkins nach einer kleinen Pause, »war, wenn nicht alles täuscht, Absicht. Der Bringer wünschte, Ihnen klar zu machen, daß jemand dagewesen war.«
»Das kann ich nicht im Ernst glauben, Mr. Jenkins«, sagte Frau Thora. »Der nächtliche Besucher mußte doch damit rechnen, daß jemand auf sein Klingelsignal sofort hinaufeilen und ihn entdecken würde.«
»Darauf kann ich Ihnen nur antworten: er klingelte nicht, als er kam – er klingelte, als er ging.«
»Warum aber dies Versteck in der Uhr?« mischte sich Jarl hinein. »Warum legte er das Geld nicht einfach auf den Tisch und verschwand?«
»Nun – auch darauf kann ich Ihnen – glaube ich – Antwort geben: der Mann, der eben hier war, steht dem Hause nicht nahe genug, um wissen zu können, daß das Personal beurlaubt ist. Er rechnete damit, daß der eine oder der andere der Dienerschaft das Totenzimmer betreten könne. Und ein Fund von Hunderttausend Kronen, den niemand im Hause vermissen würde, ist für einen nicht ganz gefestigten Charakter immerhin eine gewisse Versuchung. Ich glaube, das ist der Grund, warum er das Geld nicht auf den Tisch legte, sondern in die Uhr.«
»Er konnte doch aber gar nicht wissen, ob wir aus das Versteck in der Uhr jemals kommen würden.«
»Nun –« Joe Jenkins lächelte ein wenig »– der Besucher weiß, daß ich zur Stelle bin. Er traut mir schon soviel Kombinationsgabe zu, daß er sich sagt: Joe Jenkins wird in der Uhr suchen – wenn das wieder in Gang gesetzte Pendel ihn darüber belehrt, daß sich jemand an dieser Uhr zu schaffen gemacht haben muß.«
»Sie meinten aber vorhin, der Eingestiegene habe wahrscheinlich gar nicht bemerkt, daß …«
»Ich muß mich korrigieren. Nach diesem Fund muß ich annehmen: der nächtliche Besucher hat nicht nur mit voller Überlegung geklingelt – er hat auch in ganz bestimmter Absicht das Pendel wieder in Gang gesetzt – nämlich um mir zu zeigen, daß es mit dieser Uhr eine ganz besondere Bewandtnis habe, – daß ich meine Recherchen auf diese Ahr zu richten habe. Und nun Gute Nacht – es ist spät geworden.«
*
Joe Jenkins hatte wohl ein halbes Dutzend Mal an dem kleinen roten Hause geschellt, bis jemand erschien. Es war der Bahnhofsvorsteher selbst. Sein verschlafenes Gesicht wurde um eine Schattierung freundlicher, als er den Amerikaner erblickte. »Halloh – Mr. Jenkins! Na – wenn Sie's nicht wären, würde ich jetzt ein paar Flüche riskieren. Aber von Ihnen kann ich ohne weiteres annehmen, daß es nichts Unwichtiges ist. Also in Gottes Namen – was gibts?«
»Es tut mir leid, Herr Oevelund, daß ich Sie aus Ihrem warmen Bett geholt habe; aber wie Sie sehr richtig vermuten, hängt es mit meiner Mission zusammen und ist deshalb unvermeidbar. Also kurz und gut: können Sie mir sagen, wer heute abend in Sollihögda angekommen oder abgereist ist?«
»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: niemand. Sie wissen: der Montag ist stets der ruhigste Tag bei uns.«
»Ich danke Ihnen. Rauchen Sie diese Zigarre vor dem Wiedereinschlafen und seien Sie mir nicht böse. Gute Nacht, Herr Oevelund.«
»Gute Nacht, Mr. Jenkins.« – –
In der Küche des Eisenbahnhotels brannte noch Licht. Joe Jenkins warf einen Blick hinein; die rundliche Frau Andersen hantierte mit einer Schüssel mit Wasser und war eben dabei, Herrn Morck, der mit aufgekrempelten Hosen neben ihr stand, das rechte Bein zu verbinden.
»Nanu, Herr Morck, haben Sie Malheur gehabt? Ich dachte, Sie wären längst im Bett?«
»Ich habe mir in der Dunkelheit das Bein verstaucht. Oder um das Kind beim rechten Namen zu nennen – ich habe mir eine ganz hübsche Hautwunde zugezogen. Sehen Sie hier.«
»Alle Wetter! Wie haben Sie das angestellt?«
»Ich weiß es selbst nicht. Wahrscheinlich ein großer Stein, gegen den ich gerannt bin.«
»So kommt es, wenn man bei dieser Dunkelheit Liebespfade geht.«
»Wo denken Sie hin!« Morck lachte sichtlich ein wenig geschmeichelt. »Ich habe nur einen Brief in den Kasten geworfen – an meine Braut.«
»Was – auf dem kleinen Weg bis hinüber zur Post ist Ihnen das passiert? Mitten auf der Landstraße?«
»Ich bin noch einmal zum See gegangen – die Geschichte mit diesem Schlittschuhläufer ist so gruselig schön, daß sie mir keine Ruhe läßt. Ich hoffte so im stillen, er würde mir begegnen – aber proste Mahlzeit!«
»Jedenfalls – gute Besserung, Herr Morck.«
»Sie können gleich durch diese Tür gehen«, sagte Morck. »Sehn Sie, dort ist schon die Treppe.«
»Mir fällt eben ein,« erwiderte Joe Jenkins, »da Sie gerade von dem Briefkasten sprechen, ich habe ja vergessen, meine Post einzustecken! Ich gehe noch einmal fort. Sie brauchen nicht auf mich zu warten, Frau Andersen – ich habe den Schlüssel.«
Frau Andersen drückte mit scheuem Gesicht die Tür hinter dem Amerikaner zu, der in der Dunkelheit verschwand. Dann ging sie schleunigst ins Schenkzimmer, wo eine gewisse Flasche stand.
Auf der Post schimmerte Licht. Joe Jenkins klopfte. Eine Tür öffnete sich – in einer undurchdringlichen Wolke von Tabaksdampf erschien in Schlafrock, Filzpantoffeln und mit einer Schlafmütze auf dem Kopf Herr Anders Tryde.
»Das freut mich, daß Sie mal kommen, Mr. Jenkins. Wenn's auch schon spät ist! Denken Sie sich, ich habe hier ein Buch von Cazotte gefunden: Sie wissen wohl – das ist der Mann, der die französische Revolution viele Jahre vorher prophezeit hat. Mit allen Einzelheiten: er hat in einer Gesellschaft von Aristokraten einem Dutzend der Gäste genau gesagt, wann und wie sie hingerichtet werden würden. Und da kommt er auch auf das Thema …«
»Lassen wir Herrn Cazotte bis morgen«, unterbrach ihn Joe Jenkins. »Ich muß Sie im Moment um etwas bitten, was keinen Aufschub duldet: Sie müssen einmal den Briefkasten vor der Tür leeren.«
»Warum?« fragte Herr Tryde verblüfft.
»Es liegt mir an einem bestimmten Brief, den eben jemand eingesteckt hat. Wenn Sie etwa Bedenken haben – hier ist meine Legitimation.«
Herr Tryde wehrte ab. »Ich weiß, das Sie von der Polizeidirektion Christiania mit allen Vollmachten ausgerüstet sind, Mr. Jenkins. Sie sind also richtig dieser Mordgeschichte auf einer Spur?«
»Ich hoffe es. Und nun wollen wir einmal nachsehen.«
»Ich komme schon.« Herr Tryde nahm ein klirrendes Schlüsselbund vom Tisch; Joe Jenkins knipste die Taschenlampe an, und die beiden gingen zum Briefkasten, den Herr Tryde aufschloß. Er beklopfte den Kasten von allen Seiten, langte mit dem Arm hinein und schüttelte endlich enttäuscht den Kopf. »Sie sind im Irrtum, Mr. Jenkins«, sagte er. »Der Briefkasten ist leer.«
»So – so. Ich danke Ihnen.«
»Wollen Sie nicht auf alle Fälle hören, was Cazotte schreibt? Jetzt ist doch wohl Ihr Arbeitstag endlich zu Ende.«
»Morgen, mein lieber Herr Tryde. Und nun ganz unter uns eine Frage: was wissen Sie von Herrn Morck?«
»Von Herrn Morck?« wiederholte Tryde erschrocken. »Ein netter junger Mann. Zwar – ein bißchen unzuverlässig: heut glaubt er dies und morgen behauptet er das Gegenteil. Für solche Charaktere habe ich nun mal kein Verständnis.«
»Hat er viel Korrespondenzen?«
»Kürzlich kamen zwei Eilbriefe für ihn.«
»Können Sie sich entsinnen, wann das war?«
»Ja – ich weiß es zufällig. Es war am Tag vor dem Mord: am Mittwoch, in aller Frühe. Der eine kam um sechs, der andere um neun.«
»Wissen Sie zufällig, woher die Briefe kamen?«
»Ich glaube aus Christiania. Da fällt mir übrigens etwas ein: mit dem Abendzug ist ein Wertpaket für Herrn Morck gekommen – deklariert mit Fünfzehntausend Kronen.«
»Ich muß Sie bitten, Herr Tryde, mir dies Wertpaket auf Grund meiner Vollmacht auszuliefern.«
»Hat das nicht Zeit bis morgen früh?«
»So leid es mir tut – nein.«
»Also gehen wir in Gottes Namen in den Packraum.«
Die beiden stapften in den kleinen Raum, der mit Kisten und Bündeln bis zur Decke vollgepfropft war, und Herr Tryde suchte mit seinen langen spitzen Fingern in dem Fach, in dem die Wertpakete lagen. Endlich nahm er ein Päckchen heraus und gab es dem Detektiv.
»Wenn nicht daraufstände Wert Fünfzehntausend Kronen,« sagte er, »so könnte man denken, es wäre eine Kiste mit fünfundzwanzig Zigarren.«
»Und nun lassen Sie sich nicht weiter stören, Herr Tryde; schlafen Sie wohl. Und denken Sie nicht zu viel an Herrn Cazotte – denn das ist für die Nerven nicht das Richtige. Im übrigen rechne ich auf Ihre absolute Diskretion.«
»Gute Nacht, Mr. Jenkins.«
Der Amerikaner ging mit seinen gleichmäßigen, ruhigen Schritten über die dunkle Straße. Dort oben im ersten Stock schimmerte noch Licht; das war das Zimmer des Herrn Morck.
Eben als Joe Jenkins sich dem Hause näherte und den Schlüssel zog, erlosch es mit einem Schlage und das Gasthaus lag nun wie ein länglicher Block in der bläulichen Dämmerung.
Als Joe Jenkins auf seinem Zimmer anlangte, schimmerte über den Kronen des fernen Hochwaldes das Licht des jungen Tages.
Er öffnete behutsam das Paket. Es enthielt einen Saphirschmuck, dem man auf den ersten Blick den hohen Wert ansah. Das Etui trug die Firma
F. H. Hall,
Christiania.
Auf dem Schmuck lag ein Zettel mit dem Worten:
Gib auch dies zurück.
Fünf Minuten später klopfte der Amerikaner an die Tür seines Nachbarn. »Sind Sie noch wach, Herr Morck?«
Eine höfliche Stimme antwortete: »Gewiß, Mr. Jenkins. Ich lese noch, ich weiß selbst nicht warum – ich kann nicht schlafen!«
»Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Kommen Sie nur herein.«
Joe Jenkins trat ein. Morck warf einen Blick in sein Gesicht. Dann sagte er plötzlich mit veränderter Stimme: »Sie sehen so aus, als ob Sie amtlich mit mir sprechen wollen.«
Joe Jenkins lächelte ein wenig. »So ungefähr ist es, Herr Morck. Wir wollen in aller Ruhe und vor allem in aller Sachlichkeit ein paar Worte reden.«
Morck wies auf einen Stuhl: »Darf ich bitten?«
Joe Jenkins steckte die Hände in die Taschen; er schien die Einladung überhört zu haben.
»Sie waren um zwölf Uhr heute nacht in der Villa Waggeryd!«
Morck sah den Amerikaner betroffen an. Dann – indem er die Zigarre aus dem Mund nahm und sie nachdenklich vor sich auf den Tisch legte, sagte er ruhig:
»Ja.«
»Ihr Besuch hatte einen ungewöhnlichen Zweck. Sie haben etwas gebracht. Hunderttausend Kronen.«
Wieder blickte Morck den Amerikaner erstaunt an. Endlich sagte er leise:
»Ja.«
»Diese Hunderttausend Kronen haben Sie am letzten Mittwoch von Herrn Waggeryd im Hotel Nobel in Christiania erhalten.«
Morck antwortete nicht.
»Mit der Post ist heute ein Paket für Sie gekommen; es enthält einen Saphirschmuck und eine Aufforderung an Sie, diesen Schmuck ebenfalls › zurückzubringen‹ – das heißt wohl an das Haus Waggeryd zurückzugeben – ebenso wie die hunderttausend Kronen. Der Schmuck ist wahrscheinlich identisch mit einem Paket, das Herr Waggeryd am Mittwoch nachmittag geschickt bekommen hat. Die Unterschrift des Zettels G ist offenbar der Anfangsbuchstabe eines Frauennamens – denn die Handschrift ist weiblich. Wer ist G, Herr Morck?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sie wissen, daß es sich um einen Mord handelt. Sie bringen sich in Gefahr, Herr Morck, wenn Sie nicht in jeder Hinsicht offen sprechen.«
»Halten Sie mich für den Mörder?«
Der Amerikaner sah dem Ingenieur ins Gesicht. »Sie waren am Mittwoch – gleichzeitig mit Herrn Waggeryd – in Christiania.«
»Ja.«
»Sie besuchten Herrn Waggeryd im Hotel Nobel und erhielten von ihm Hunderttausend Kronen.«
Morck nickte.
»Ja.«
»Wofür bekamen Sie diese Hunderttausend Kronen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Es ist gut. Sie hören noch von mir.«