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– morgen –
Mit diesem Worte enden die Schriften.
Zwei lange Regentage hatte ich gelesen. Aus dem vorigen Jahrhundert hatte ich mich durch ein merkwürdiges Leben herangelesen bis zu dem letztvergangenen Weihnachtsfeste.
– morgen –
Der Kopf war mir heiß und schwer, ich blickte nach der Tür. Der Mann muß ja hereintreten und weiterschreiben, was am nächsten Morgen gekommen, wie es weiter gewesen war. Denn das ist kein Abschluß und kein Abschied, das ist ein hoffender Blick in die Zukunft, ein Morgenstern.
Fast wie eine Überzeugung empfand ich's: der Schulmeister lebt. In der Fremde wird er wandern und irren, der arme Mann mit der großen Sehnsucht, die keinen Namen hat. Es ist die Sehnsucht, die wir alle empfinden, ob seichter, ob tiefer, die Sehnsucht nach dem Ganzen, Allgemeinsamen, nach dem Wahren, aber Unfaßbaren, in dem unsere drängende, strebende, bangende Seele Ruhe und Erlösung zu finden hofft.
Mir war, als müßte ich auf und davon und den alten, guten, kindlichen Mann suchen allerwege. – Was war das für ein großes Streben und Ringen gewesen! Ein vergebliches Aufraffen nach den Zielen der Gesellschaft; ein krampfhaft unterdrücktes Auflodern jugendlicher Leidenschaft, ein verzweifeltes Hineinstürzen in die Wirren des Lebens, ein begeisterter Flug durch die Welt, ein furchtbares Erwachen aus Täuschung, ein Fliehen in die Öden der Wildnis, ein stilles, stetes Wirken in Ergebung und Aufopferung, ein großes Gelingen, eine tiefe Befriedigung. Da naht das Alter, ein junges Volk und neue Verhältnisse bieten keine Gelegenheit zu Taten mehr; ein betrübtes Zurückziehen in sich selbst, Verlassenheit und Einsamkeit, Zweifeln, Grübeln und Träumen und ein stilles Ergeben und Versickern. In Alter, Unbehilflichkeit und Einfalt ist er ein Kind geworden; ein in Träumen lächelndes, glückliches Kind. Aber die Sehnsucht und das Ahnen des Jünglings ist ihm geblieben. Und ein großer Lohn ist ihm geworden, ein Entgelt, das uns mit seinen Schicksalen versöhnt; ein Entgelt, wie es die Welt nimmer gibt und geben kann, wie es nur aus treuer Erfüllung des Lebens entsteht: der Frieden der Seele.
Die Wachtel der Uhr schlug achtmal. Ich verschloß die Blätter sorgsam in die Lade und ging hinab gegen das Wirtshaus. Es dunkelte schon; eine frostige Trübe lag allerseits, und eine scharfe Luft strich durch den feinrieselnden Regen.
Der Lazarus stand vor der Haustür, wendete sein Gesicht nach allen Himmelsgegenden und sagte: »'s wird anders werden.« Er sagte es zu sich selbst. Er hatte gewiß keine Ahnung, daß der junge, fremde Mensch, der ihm nun nahte, seine ganze Geschichte wisse.
Der Wirt war an demselben Abend recht redselig, aber ich war schweigsam und begab mich bald wieder in mein Schulhaus zur Ruhe.
Wie sah ich nun alles ganz anders an als vor zwei Tagen. Fast daheim war ich in diesem Alpendörfchen, in welchem ich gleichsam mit dem Schulmeister jung gewesen und alt geworden.
Und der Mann, der die Gemeinde gegründet und großgezogen mit seinem Lebensmark, sollte fremd sein und vergessen?
Nein, er ist überall zu spüren. Unsichtbar steigt er in Winkelsteg herum Tag und Nacht, zu jeder Stund'! – hatte nicht so der Kohlenbrenner gesagt?
Der nächste Morgen war so hell, daß er mir durch das geschlossene Augenlid drang. Als ich es öffnete, sah ich einen lichten, klaren Wintertag. Ich sprang auf.
Es hatte geschneit; die weiße Hülle lag über dem ganzen Tale, auf allen Dächern und Bäumen. Der Himmel war rein.
Bald war ich gerüstet zu meiner Alpenfahrt.
»Heut' wohl!« sagte die Wirtin, »heut' ist es fein auf der Höh', wenn den Herrn der Schnee nicht irrt. Wer Geduld hat, sag' ich fort, der erwartet alles auf der Welt, gar ein schön' Wetter in Winkelsteg. Mitnehmen muß der Herr halt wen.« Dann zu ihrem Manne: »Du, 'leicht will sich der Reiter-Peter einen feinen Führerlohn verdienen?«
»Der Reiter-Peter«, sage ich, »der ist mir schon recht; das Schwätzen unterwegs ist mir ohnehin zuwider.«
»Ei, der Herr weiß es schon, daß der Peter nicht schwätzt; ja, der ist fein still, hat er die Geigen nicht bei sich.«
Der Peter war jener stumme junge Mann, der mir vor zwei Tagen nach der Messe an der Kirchtür begegnete. So stieg ich denn mit dem Patenkind des Schulmeisters, mit allem Nötigen wohl versorgt, das Gebirge hinan.
Der Schnee war weich und leuchtete in der Morgensonne und hub an zu schmelzen. Bald standen die niedergedrückten Pflanzen und Blumen wieder auf, und die Vögel sangen und hüpften in dem Geäste und schüttelten die Flocken von den Bäumen. Frisch und neulebendig grünte es zwischen dem rosig angehauchten Weiß, und in einer großen Klarheit lagen die Waldberge. Es war in einer wundersamen Weise der Sommer vermählt mit dem Winter.
Wir gingen an dem Schachen des Friedhofes vorüber; der Peter zog seinen Hut vom Kopfe und trug ihn so lange in der Hand, bis wir vorbei waren. Die alten Bäume flochten hoch über den wenigen Gräbern die Äste und Kronen so ineinander, daß es war wie in einem gotischen Dome. Wohl legte sich über den Wipfeln noch der Schneeschleier hin, im Schatten auf den Gräbern aber prangte frisches Gras und Moosgeflechte, und darüber ragten und lehnten an den Stämmen oder lagen verwahrlost hingestreckt die grauen, bild- und inschriftlosen Holzkreuze.
Ich wollte mir die Ruhestätte des Pfarrers Paulus und des Reim-Rüpels zeigen lassen. Der Peter sah mich fragend an; davon wußte der junge Mann nichts.
Später kamen wir auf einen Bergsattel.
»Wir sind auf der Lauterhöhe?« fragte ich meinen stillen Gefährten. Er nickte bejahend mit dem Kopfe. Ich dachte an den zerstörten Ameishaufen, an das Rind, das den Alpenstrauß fraß, an die Schirmtannen da hinten, an den Schirmtanner, und plötzlich fragte ich den Peter: »Die Schirmtanner-Rosel, die kennst du?«
Er wurde rot wie eine Alpenrose.
Von diesem Bergsattel aus hatte sich gegen Mitternacht hin eine ganz neue Gegend auf getan; Täler und Waldberge zogen sich in tiefer Klarheit hin; links erhoben sich Felswände, die weit über die Wälder weg einen schrundig durchbrochenen Wall bildeten. In dieser Richtung hin dachte ich mir die Gegenden der Lautergräben, Karwässer, der Wolfsgrube und des Felsentales.
Der Weg führte talab; wir aber bogen links ein und stiegen durch Fichtenwald, Zirmgesträuche immer höher empor bis zu den Almblößen, die sich hinanziehen gegen die ragenden Felsmassen.
Die Schneehülle war hier zwar etwas dichter und spröder, hinderte aber nicht sonderlich im Wandern. Ein paar Hütten standen da, aus deren Dachfugen Rauch hervordrang und in deren Ställen die Rinder schellten. Diese mußten heute Heu fressen, aber nach dem Schnee sollen gute, warme Tage kommen. In welchem Fenster dieser Hütten wohl der Meisterknecht Paul gesteckt sein mochte?
Wir schritten weiter; bald merkte ich, daß mein Begleiter selbst den Weg nicht kenne. Der Schnee war hier schon fast geschmolzen in der Sonne. Wir gingen den Felsen zu, stiegen an den Mulden empor, wie ich mich erinnerte, daß der Schulmeister gegangen war, und endlich kamen wir auf den Grat.
Das Bild war unvergleichlich. Der Schulmeister hat es geschildert.
Wir gingen dem Grat entlang, ruhten dann ein wenig, um uns mit Brot und Fleisch zu laben und die Steigeisen an die Füße zu schnallen. Hierauf gingen wir langsam über das Gletscherfeld gegen den Kegel.
Die Luft war außerordentlich rein und ruhig; ich empfand in mir eine Frische und ein Wohlbehagen zum Aufjauchzen. Je näher wir der Spitze kamen, je flinker förderten wir unsere Schritte; auch der Peter war lustig geworden.
Nun waren wir oben, standen auf der Spitze des Zahnes. Mir war zumute, als wäre ich schon früher mehrmals auf dieser Höhe gewesen. Um uns lag in einer unendlichen Ruhe – wie der Schulmeister sagt – die Krone der Alpen.
Selbst dort hinter den weiten Wäldern, im sonnendurchwobenen Mittag, ragten die Kanten und Spitzen eines fernsten Gebirgszuges noch deutlich, und darüber hinaus, schnurgerade hingezogen, lag ein schimmerndes Band – das Meer!
Mir war zumute, als müßte ich fortrasen hinab von Fels zu Fels und hin über Berg und Tal, den Schulmeister zu suchen, ihm zuzurufen: »Kommet und sehet!«
In lauter Begeisterung und in stiller Versunkenheit habe ich wohl lange hinausgestarrt. Dann stiegen wir einige Schritte niederwärts unter den Steinvorsprung, wohl denselben, an welchem der Mann vor fünfzig Jahren gesessen war und geträumt hatte.
Hier war noch ein wenig Schnee. Wir setzten uns auf trockene Klötze und hielten Mahlzeit. Der Peter spielte mit seinem Stock im Schnee; er zeichnete Buchstaben hin; ich meinte, er wolle mir etwa seine Gedanken und Empfindungen aufschreiben. Aber er zerstörte die Zeichen wieder, und es war nur loses Spiel. Meine Auge schweifte hinaus, flog von einem Berg zum andern, bis zu den fernsten, italischen Höhen. Es glitt hin, es trank vom Meere. Über den Wassern sah ich das Lichtwogen der mittägigen Sonne...
Plötzlich gellte neben mir ein Schrei. Der Bursche war emporgesprungen und wies mit beiden Händen auf den hügeligen Schneeboden hin.
Ich forschte nach der Ursache, da waren noch des Jungen Buchstabenreste, da war aufgewühlter Flaum, da war –
Es war grauenhaft zu sehen. Von der Schneehülle halb bloßgelegt, starrte ein Menschenhaupt hervor.
Nur wenige Augenblicke war der Bursche schreckerstarrt, tatlos dagestanden; dann eilte er, die Erscheinung von der Schneehülle vollends zu befreien. Mit Fieberhast arbeitete er, und als ein ganzer Menschenkörper dalag, da verbarg er sein Gesicht, sank mir in die Arme und wimmerte.
Da lag ein mumienhafter Mann, gerollt in einen braunen Mantel, die Züge eingetrocknet, die Augen tief gehöhlt, die wenigen Locken des Hauptes wirr –
»Kennst du ihn?« fragte ich den Burschen.
Er neigte traurig den Kopf.
»Ist es der Schulmeister?« rief ich aus.
Der Peter neigte das Haupt. –
Als wir endlich einige Fassung gewonnen hatten, huben wir an, den Toten näher zu betrachten. Er war sorgsam in den Mantel geschlagen, an die Schuhe waren Steigeisen geschnallt, daneben lag ein Bergstock. In dem halb offenen Ledertäschchen fanden sich einige verdorrte Brotkrumen und ein zusammengeknülltes feuchtes Papier. Nach diesem griff ich und zog es auseinander. Da standen Worte, Worte in schiefen, regellosen Zeilen, mit Bleistift unsicher hingedrückt.
Die Worte sind leserlich und lauten:
»Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das Augenlicht verloren.« – – –
So hatte er sein Ziel geschaut. Als Erblindeter hatte er das Blatt beschrieben, das letzte Blatt zu seinen Schriften. Dann hatte er sich wohl hingelegt auf den Steinboden, hatte die eisige Winternacht erwartet und war in derselben gestorben.
Wir bauten aus Steinen einen Wall um den Toten und wölbten ihn notdürftig ein. Dann stiegen wir nieder zu den Almen und den kürzeren Weg über Miesenbach nach Winkelsteg.
Des anderen Morgens zur frühen Stunde stiegen ihrer viele empor gegen den grauen Zahn und ich mit ihnen. Der alte Schirmtanner war auch dabei, der wußte vieles von dem Schulmeister zu erzählen, und seine Worte stimmten mit den Schriften überein.
Und so trugen wir den alten Andreas Erdmann, der in der trockenen, kalten Alpenluft fast zur Mumie vertrocknet war, herab in das Tal der Winkel zur Pfarrkirche, die unter seinem Walten erbaut worden war, trugen ihn auf den Friedhof, den er selbst angelegt hatte im Schatten des Waldes.
Die Nachricht, der alte Schulmeister sei aufgefunden worden, hatte sich bald verbreitet in den Winkelwäldern, und alles strömte herbei zum Begräbnisse, und alles pries den guten Mann.
Der Winkelwirt weinte wie ein Kind. »Der hat meinen verlassenen Vater gesegnet auf dem Todbett!« rief er.
Den Peter mußte der Schirmtanner von der Bahre hinwegführen.
Der Förster vom Herrenhaus war da. Ganz in der Nähe des Grabes wuchs eine Waldlilie.
Der Branntweiner-Schorschl hielt einigen, die am Friedhofseingange standen, eine Rede; er habe nichts, gar nichts gegen den Schulmeister gehabt, doch der Schulmeister sei eigensinnig gewesen. Das eine sei zu bedenken: hätte der Schulmeister ein Fläschel Wacholderbranntwein bei sich gehabt, er wäre nicht erfroren.
Zur Abendstunde unter Fackelschein ist der gute alte Mann in die Erde gesenkt worden.
Die Schriften, zu denen ich in so eigentümlicher Weise gekommen bin, habe ich mir von der Gemeinde Winkelsteg erbeten, auf daß ich sie der Öffentlichkeit übergebe, als Zeugenschaft von einem armen, reichen, fruchtbaren und selbstlosen Leben in der Verborgenheit des Waldes.
In schmerzlicher Bewegung habe ich das letzte Blatt mit den Bleistiftworten zu den Schriften gelegt.
Schlage nach, mein Leser, es wird dir ein Umstand nicht entgehen: das erste Blatt ist von einem Kinde an das Jenseits gerichtet. Und von demselben Kinde wird nach der Erfüllung der Zeit das letzte Blatt gleichsam aus dem Jenseits herübergesandt, uns Ringenden auf Erden als des Vermächtnisses Siegel mit der Inschrift:
Entsagung und Ergebung!